Alles Märchen
von
Ulrike Blatter
Impressum:
Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency
Foto: fotolia
© 110th / Chichili Agency 2015
EPUB ISBN 978-3-95865-514-0
MOBI ISBN 978-3-95865-515-7
Urheberrechtshinweis:
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Was wäre wenn wir „Es war einmal, vor nicht allzu langer Zeit…“ ernst nehmen würden und die uns bekannten Märchen hätten erst vor Kurzem stattgefunden? Dieser Frage ging Ulrike Blatter nach. Und auch wenn sie die Geschichten um den Froschkönig, Schneewittchen und Rumpelstilzchen in unsere Zeit versetzt, sie bleiben skurril, grausam und fantastisch.
Es kam die Zeit, als die Königin gebären sollte.
Während der Schwangerschaft hatte sich der Froschkönig rührend um sie bemüht und auch die Dienerschaft dazu angehalten, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Insbesondere der eiserne Heinrich hatte sich darin hervorgetan, ihr die absonderlichsten Wünsche und Gelüste zu erfüllen.
Die Königin war ja erst vor kurzer Zeit noch ein verspielter Teenager gewesen, der den goldenen Speedball jagte. Es war offensichtlich, welch ungeheure Umstellung es für sie bedeutete, Mutter zu werden. Aber alles Stöhnen und Jammern half ihr nicht – ein Thronfolger musste her.
Der Hofpsychologe sprach von Anpassungsleistung und Maturität, während der eiserne Heinrich ein feines, diskretes Lächeln aufsetzte. Der König tat das, was er am besten konnte: er küsste seine mittlerweile kugelrunde Herzallerliebste. Die Dienerschaft wuselte durch das Schloss und alle miteinander bangten der Stunde der Geburt entgegen.
Die Niederkunft selber verlief dann überraschend leicht. Zu mitternächtlicher Stunde gebar die Königin – plopp-plopp-plopp – zehn winzig-kleine, grasgrüne Kinderchen. Glubschäugig und dickbäuchig waren sie und hatten einen weichen Flaum auf den Köpfen. Sie waren so klein, dass alle zehn bequem in der vorbereiteten Wiege Platz fanden.
Die Königin war entsetzt.
Der Froschkönig hingegen platzte fast vor Stolz.
Die laut quakende Brut betrachtend, nahm er seine Frau in den Arm.
„Ich schaff das nicht“, murmelte sie. „Es sind so viele.“
„Aber Frau, was sagst du nur? In unseren Kreisen sind auch hundert Kinder keine Seltenheit.“
Er blähte sich ein wenig auf.
Sie zitterte.
„Sind sie nicht wunderschön?“
„Aber Mann, siehst du es nicht? Sie sind GRÜN! Grasgrün!“
„Na und? Hast du mich damals nicht auch geküsst, als ich noch grün im Gesicht war?“
Die Königin schwieg. Da hatte er eine peinliche Erinnerungslücke und beide vermieden es tunlichst, daran zu rühren.
Zuerst mein Lieber dachte die Königin, zuerst habe ich dich gegen die Wand geklatscht. Und erst dann, jetzt schaute sie ihn zärtlich an, erst dann küsste ich dich!
Der König zog sie liebevoll an sich. „So ist es recht“, flüsterte er. „Und jetzt, meine Liebe, jetzt küsst du sie.“
„Alle?“
Ihre Stimme brach schier im Schluchzen.
„Alle zehn.“
Der König blieb unerbittlich. Manchmal konnte er sein wie ihr Vater.
„Später“, sagte sie und versuchte einen Aufschub zu gewinnen.
Vielleicht wagte sie es ja später – obwohl ihr eigentlich mehr danach war, die ganze Wiege samt Inhalt gegen die Wand …. Nein, nein, das war unmöglich! Ihr eigen Fleisch und Blut!
„Los. Bring es hinter dich.“
Des Froschkönigs Stimme war streng. Widerwillig setzte sie eines der Kinderchen auf die flache Hand. Das quakte zutraulich, die goldenen Augen leuchteten und der Haarflaum stand wirr nach oben. Eigentlich ganz niedlich. Sie spitzte die Lippen und schloss die Augen.
Huh, war das kalt!
Aber sie tat es.
Das Fröschlein schmatzte herzhaft zurück. Seine Augen wurden wasserblau und die Haut rosa und warm. Auf einmal sah es aus, wie ein richtiges, winziges Baby.
Da freute sich die Königin über alle Maßen und küsste alle zehn. Aus den Fröschlein wurden zehn winzige Kinder. Froschbäuchig zwar und mit schwach entwickelten Beinchen, auch die leicht hervorquellenden Augen waren etwas eigenartig – aber das würde sich auswachsen, konstatierte der Hofmedicus: „Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Nur essen müssen die Kinderchen – dann werden sie ganz von alleine groß und schön!“
Ja, essen – das wollten sie. Zehn kleine hungrige Mäuler quakten Tag und Nacht. Und wenn sie nicht aßen, dann taten sie das Gegenteil. Und waren sie auch noch so winzig – für die Königin gab es keinen Augenblick der Ruhe. Wohl gab es Dienerinnen, und auch der eiserne Heinrich half wo er nur konnte – aber die Mädchen waren junge ungeschickte Dinger, denen man die Babys nicht anvertrauen konnte. Und der eiserne Heinrich, nun ja – der eiserne Heinrich war und blieb eben ein Mann. Der König musste regieren. Du machst das schon, war seine stereotype Antwort. Das haben schon viele Frauen vor dir geschafft. Dann ging er wieder in den Kronsaal. Sie sah ihm mit scheelen Blicken nach.
Nach vielen durchwachten Nächten, wurde die Königin immer dünnhäutiger. Beim geringsten Anlass musste sie weinen oder ihr war danach zumute, alles gegen die Wand zu klatschen.
„Du bist kalt wie ein Frosch“, beschwerte sich ihr Mann abends im Bett.
„Kein Wunder“, murrte sie „wenn du den ganzen Tag im Brunnen hockst.“
„Im Kronsaal, meine Liebe, im Kronsaal „hocke“ ich – einer von uns beiden muss ja schließlich arbeiten!“
Dann drehten sich beide beleidigt auf die Seite. Er schlief sofort ein. Sie jedoch lag noch lange wach – grün vor Wut und Neid.
Als sie am nächsten Morgen in den Spiegel blickte, erschrak sie. Ihr hübsches Gesicht war vom Weinen ganz verquollen, die Augen glubschten groß und aufgerissen. Der Mund so breit, wie... Entsetzt schlug sie die spinnenfingrigen Hände vors Gesicht. Wie bei einem Frosch, flüsterte sie. Ich werde zum Frosch!
Es musste etwas geschehen.
Der Hofmedicus wusste keinen Rat. Er sprach von postpartaler Gewebeschlaffheit, verordnete Rückbildungsgymnastik, Vitamine und ein Eisenpräparat. Davon wurde es auch nicht besser.
Der Hofpsychologe murmelte postnatale Depression und tat einen beherzten Griff in die Truhe mit den Drogen. Aber das wollte die Königin nicht. Nicht noch einmal.
So blieb nur noch der eiserne Heinrich. Der kluge Ratgeber, der sein Herz von sieben eisernen Ringen befreit hatte. Der eiserne Heinrich wusste dann auch tatsächlich, wie die Königin wieder zu heilen war. Es dauerte eine geraume Weile und es waren viele kürzere und längere Treffen dazu notwendig. Anfangs trafen sie sich in der Wäschekammer neben dem Kinderzimmer, später im Gartenpavillon direkt neben dem Brunnen. Und dann, als die Kinder größer wurden und von der Dienerschaft betreut werden konnten, mieteten sie sich sogar inkognito für ein Wochenende im Palasthotel der Hauptstadt ein.
Der eiserne Heinrich war ein zärtlicher und diskreter Liebhaber. Unter seinen Händen erblühte die Königin wieder zu ihrer vollen Schönheit. Der König sah es mit besorgtem Blick. Ihm verweigerte sie sich noch immer. Was hatte er nur falsch gemacht? Er arbeitete hart. Sein Königreich stand gut da in den internationalen Statistiken. Das war keine leichte Aufgabe in den Zeiten der Globalisierung. Während seine Frau sich auf Charity-Veranstaltungen herumtrieb und ihre zehn Prinzen und Prinzesschen vorführte, wie eine Schar wohl dressierter Haustiere, plagte, und mühte er sich bei den alltäglichen Regierungsgeschäften.
Der Rücken war ihm krumm geworden unter der Last der Verantwortung und ein froschartig dicker Bauch quoll ihm unförmig über die Hose.
Die Haare gingen ihm auch aus.
Er fand sich hässlich und missgestaltet, neben seiner Frau, die schön und alterslos war.
Da kamen auf einmal böse Gerüchte auf in der Hauptstadt. Paparazzi hatten die Königin mit dem eisernen Heinrich dabei erwischt, wie sie sich am offenen Hotelfenster küssten. Mit den Jahren waren sie eben etwas unvorsichtig geworden.
Der König las es beim Frühstück in der Zeitung.
Er ächzte vor Empörung.
„Wie lange geht das schon?“
Seine Frau, die Schöne, zuckte nur die Achseln und lächelte fein. Sie musste sich um die Kinder kümmern. Zehn Butterbrote schmieren. Zehn Schulranzen kontrollieren. 10 Paar Schuhe binden. Es gab genug zu tun, um einem Gespräch mit ihrem schwerblütigen Gatten auszuweichen.
Der sah sich dieses Spiel jedoch nicht allzu lange an. Die Medien waren gnadenlos, wenn sie erst einmal Blut geleckt hatten. Es gab nur eine Lösung: aus Gründen der Staatsräson musste diese ehrenrührige Verbindung getrennt werden. Den Medien gegenüber konnte man dann immer noch frech alles abstreiten.
So kam es, wie es kommen musste: in einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde der eiserne Heinrich über die Grenze abgeschoben und musste den Rest seines Lebens im Exil verbringen. Die ganze peinliche Angelegenheit wurde hübsch fein ausgebügelt und geriet in Vergessenheit.
Und die Kinder kamen in die Pubertät.
Der König und die Königin saßen abends auf dem Sofa und stritten sich um die Fernbedienung.
Beide waren mit den Jahren fett geworden. Kugelbäuchig, glubschäugig, breitmäulig vom Streiten und mit abgemagerten Ärmchen und Beinchen, mehr großen Fröschen ähnlich, als Menschen. Sie wurden alt, und es war an der Zeit, dass ein Nachfolger die Regierungsgeschäfte übernahm.
Aber fünf überaus hochmütige Prinzen und fünf überaus verwöhnte Prinzessinnen konnten sich – wie so oft – nicht einigen, und so drohte das Reich zu zerfallen.
Da verfiel der König in tiefe Schwermut.
Eines Abends sah ihn die Königin von der Seite an. Sie schaltete den Fernseher aus. „Du bist hässlich geworden“, stellte sie sachlich fest.
„Du aber auch“, entgegnete er.
Beide schwiegen. Dann schauten sie sich wieder an.
Und begannen zu kichern.
„Du hast immer noch schöne Augen!“
„Du auch …“
Ihr Kichern wurde zu einem schallenden Lachen, in das sich quakende Geräusche mischten.
Sie wurden wieder still und betrachteten sich gegenseitig.
„Komm, sei kein Frosch“, flüsterte er.
„Du aber auch nicht!“
Mit geschlossenen Augen näherten sich ihre Gesichter. Sie küssten sich. Und auf einmal war alles wie früher.
Am nächsten Morgen fanden die Diener das Fernsehzimmer verlassen. Die Fernbedienung lag auf dem Boden, ebenso wie ein Haufen zerknüllter Kleider, deren sie sich offensichtlich in großer Hast entledigt hatten.
Im ganzen Schloss suchten sie König und Königin – aber vergeblich.
Das Küchenmädchen, das immer in der warmen Asche schlief, behauptete, sie habe um Mitternacht zwei übergroße, splitternackte Frösche auf der Freitreppe des Schlosses gesehen. Die seien Hand in Hand in Richtung Brunnen davon gehüpft.
Aber das war natürlich die Spinnerei eines halbblöden Küchenmädchens und nicht weiter ernst zu nehmen.
Es blieb nichts anderes übrig: Die Prinzen und Prinzesssinnen mussten das Regieren lernen. Und unter uns gesagt: sie machten es noch nicht einmal schlecht.
VERKAUFEN SICH IM WALD
Es war einmal eine typische Kleinfamilie. Vater, Mutter und zwei Kinder, die lebten in einem Land gar nicht so weit weg von hier. Die beiden Kinder hießen Hänsel und Gretel. Das Mädchen war acht und der Junge etwa zehn Jahre alt. Die beiden waren ganz normale Kinder. Gretel ein wenig verträumt und ängstlich. Hänsel ein eher mittelmäßiger Schüler, der sich lieber mit dem Computer beschäftigte als mit den Hausaufgaben.
Die Mutter war eigentlich ihre Stiefmutter aber das sagte in diesem Lande nicht, denn dieser Begriff war unangemessen und hoffnungslos veraltet. Das Wort Patchwork-Familie hingegen erschien den Menschen wesentlich angemessener und sie gebrauchten es gerne und oft. Hänsel und Gretel hatten viele Freunde, deren Mütter beispielsweise alleinerziehend waren oder die jedes Wochenende in einer anderen Familie verbrachten. Und den Überblick über Erst- und Zweiteltern, angeheiratete Tanten, Stief- und Halbgeschwister schon längst verloren hatten. In diesen Familien gab es häufig Spannungen und Streitereien, wobei die Kinder sich zwischen den verschiedenen Familien hin und her gerissen fühlten.
So gesehen ging es Hänsel und Gretel gut. Der Vater arbeitete in einer kleinen Schreinerei und die so genannte Stiefmutter kümmerte sich liebevoll um die Kinder als ob es ihre eigenen wären. Ihre leibliche Mutter hatten sie nie kennengelernt, angeblich war sie bei einem tragischen Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Was auch erklärte, warum es kein Grab gab. Weder Hänsel noch Gretel konnten sich an ihr Gesicht erinnern. Es gab keine Fotos von ihr, noch nicht einmal ein Hochzeitsbild. Die Zeiten, da die Kinder Fragen gestellt hatten waren schon lange vorbei. Sie hatten auch niemals eine Antwort bekommen. Auch die Zeiten der Fantasien waren vorbei. Nur Gretel malte sich manchmal, im Bett liegend aus, wie es wäre, wenn ihre Mutter eine Agentin geheimer Mächte wäre. Eine Königin, ein berühmter Filmstar oder irgendetwas Exotisches in dieser Art. Manchmal betrachtete sie sich lange im Spiegel auf der Suche nach Ähnlichkeiten, die sie mit der fernen Mutter verbänden. Merkmale, die sie ganz sicher nicht vom Vater und er Stiefmutter haben könnte.
Mit den Jahren kamen aber Krise und Teuerung in das Land. Die Menschen begannen um ihre sozialen Standards zu fürchten und alles, was sie bis dahin erwirtschaftet hatten, wurde in Frage gestellt: das eigene Haus, das Aktiendepot, die Altersvorsorge. Ja sogar die Gesundheitsversorgung und die Ausbildung der Kinder.
Oberflächlich betrachtet änderte sich im Alltag der kleinen Familie nicht viel. Als aber die Monate ins Land gingen, kehrte allmählich ein neues Gefühl immer wieder. Ein Gefühl, welches sie vorher noch nicht gekannt hatten. Es war der Hunger. Nein, nicht, dass sie nicht mehr satt geworden wären. Kühlschrank und Vorratskammer waren immer noch reichlich gefüllt und auch das Brot im Kasten wurde nicht alt und hart. Aber es gab zum Beispiel keine Restaurantbesuche mehr. Als große Ausnahme spendierten die Eltern gelegentlich einmal einen Besuch in einem Hamburger-Restaurant. Aber auch nur dann, wenn es dafür entsprechende Rabatt-Gutscheine gab. Die Stiefmutter studierte am Wochenanfang die Sonderangebote sorgfältig und schrieb einen Haushaltsplan. Am Monatsende verglichen die Eltern besorgt die Kontoauszüge und murmelten beschämt, dass der Sommerurlaub in diesem Jahr wohl eine Woche kürzer ausfallen würde.
Auch die Kinder spürten, dass sich etwas veränderte. Sie konnten aber nicht benennen, was es war, aber auch sie verspürten inzwischen dieses allgemeine, diffuse Hungergefühl, das auf die Stimmung der ganzen Familie drückte.
Ganz schlimm wurde es, als im Herbst der Vater ohne Vorankündigung seine Arbeit verlor. Der Sommerurlaub war noch nicht abgezahlt und Weihnachten stand bald vor der Tür, als die alteingesessene Möbelschreinerei in Konkurs ging und alle Mitarbeiter auf die Straße gesetzt wurden.
Da kam das Gefühl des Hungers über sie mit Macht und die Eltern wussten sich nicht zu lassen vor Sorge. Wie ihnen ging es vielen Familien im Land und gleich ihnen traf es diejenigen am härtesten, die Kinder hatten. Nicht nur, dass Kinder viel Geld kosteten, unmäßig aßen und ständig ihre Kleider zerrissen, nein, das war es nicht. Es war in diesem Land einfach so, dass es unmodern geworden war, Kinder zu haben. Es gab bestimmte Zauberworte, die dort die Türen und Tore zu Reichtum und Erfolg öffneten. Flexibilität war eines davon, Leistungsbewusstsein, Konkurrenz und Mobilität lauteten die Anderen. Die Vokabeln Kinder oder Familie gehörten nicht zum Kanon der magischen Begriffe ja, ganz im Gegenteil: allzu oft verschlossen sich bei ihrem Klang die goldenen Tore der gesellschaftlichen Akzeptanz mit dumpfem Ton.