Silvia Stolzenburg

Das Reich des

Teufelsfürsten

Roman

BOOKSPOT

Impressum

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Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2014 by Edition Aglaia, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage 2014

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Karten Vorsatz/Nachsatz: Joachim Ullmer

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Lektorat: Lena-Maria Frank

Korrektorat: Susanna Abt

E-Book: Mirjam Hecht

Made in Germany

ISBN 978-3-937357-92-8 (EPUB)

ISBN 978-3-937357-93-5 (MOBI)

www.bookspot.de

Vorbemerkung der Autorin

Dies ist ein Roman über die historische Figur des Woiwoden Vlad Draculea, durch Bram Stoker weltbekannt als Graf Dracula. Es ist keine Geschichte über Vampire oder andere blutsaugende Kreaturen, welche die Nächte unsicher machen. Es ist die Geschichte einer Person aus Fleisch und Blut, die Geschichte eines Überlebenskampfes, eines Kampfes um Macht, Liebe und Anerkennung.

Dieser Roman schließt nahtlos an seinen Vorgänger »Der Teufelsfürst« an, dessen Gegenstand Kindheit und Jugend des Fürsten sind.

Namensverzeichnis

(historisch verbriefte Figuren sind kursiv hervorgehoben)

Vlad Draculea: Woiwode der Walachei

Stefan von der Moldau: Sein Vetter und später Woiwode des Fürstentums Moldau

Zehra von Katzenstein: Vlads Geliebte

Elisabeta: Seine Gemahlin

Radu: Sein Bruder

Carol: Sein Sohn

Sultan Mehmed: Sultan des Osmanischen Reiches

Matthias Corvinus: König von Ungarn

Sophia von Katzenstein: Eine junge Ulmerin

Utz von Katzenstein: Ihr Mann und Zehras Bruder

Johann von Katzenstein: Ihr Vater, ein Ritter

Hans und Jakob: Ihre beiden Söhne

Hans Multscher : Ulmer Bildhauer und Freund der Familie

Vorwort

Im Jahre des Herrn, Anno Domini 1456

Beinahe acht Jahre sind vergangen, seit Vlad Draculea nach seiner kurzen ersten Regierungszeit wieder aus der Walachei vertrieben worden und an den Hof des Sultans in Edirne zurückgekehrt ist. Nachdem er dort mit zahlreichen Wesiren und selbst mit seinem Erzfeind Prinz Mehmed ohne Erfolg konferiert hat, riskiert er den Bruch mit dem Sultan und flieht in das Fürstentum der Moldau zu seinem Vetter Stefan. Allerdings herrschen auch in Stefans Heimat turbulente Verhältnisse. Die beiden jungen Männer müssen den moldauischen Hof bei Nacht und Nebel verlassen, um den Feinden von Stefans Vater zu entkommen. Da dieser im Zuge einer Adelsverschwörung ermordet worden ist, droht auch seinem Sohn und dessen Verwandten ein gewaltsamer Tod. Mit feindlichen Reitern im Rücken überqueren die beiden Fürstensöhne den Bergsattel des Borgopasses und gelangen schließlich nach Transsylvanien. Dort bringen sie die folgenden Jahre damit zu, Verbündete unter den deutschen Händlern von Kronstadt und Hermannstadt zu suchen. Vlad knüpft Kontakte zu unzufriedenen walachischen Bojaren. Er verhandelt so intensiv, dass er schließlich das Interesse von Johann Hunyadi erregt – dem Mann, den er für den Tod seines Vaters und die Anwesenheit Wladislaws auf dem walachischen Thron verantwortlich macht. Hunyadi, der Reichsverweser des Königreichs Ungarn, teilt dem Kronstädter Magistrat in scharfem Ton mit, dass er keine Veranlassung sieht, Wladislaw zu ersetzen. Zudem fordert er die Transsylvanier auf, den Störenfried Vlad festzunehmen und aus dem Land zu jagen. Zu Vlads Glück nehmen die Kronstädter diesen Befehl nicht sehr ernst und er genießt weiter ihre Gastfreundschaft.

Dann geschieht etwas, das nicht nur bewirkt, dass Hunyadis Interesse an Vlad plötzlich schwindet, sondern das die gesamte westliche Welt erschüttert: Mehmed, der inzwischen Sultan des Osmanischen Reiches ist, erobert den alten Kaisersitz Konstantinopel. Dieser Schock sorgt dafür, dass Hunyadi alle alten Feindschaften vergisst und sich, unter anderem, auch mit Vlad Draculea aussöhnt. Er vertraut dem jungen Mann die Schutzwacht Transsylvaniens an, nachdem es mit seinem ehemaligen Protegé Wladislaw zum Streit gekommen ist. Als Sultan Mehmed mehr und mehr Landstriche in türkische Provinzen verwandelt und schließlich ganz Südserbien besetzt, ergreift Hunyadi Gegenmaßnahmen, da er einen Großangriff auf Ungarn fürchtet. Er nimmt Vlad Draculea mit an den ungarischen Hof in Buda, wo er ihn dem König vorstellt – ein Schritt, der allen deutlich signalisiert, dass der junge Walache wieder die Gunst der Mächtigen genießt. Während Vlad, mehr oder weniger zufrieden mit den Entwicklungen, nach Transsylvanien zurückkehrt, rüsten die Ungarn für die Schlacht, die inzwischen unausweichlich scheint. Sultan Mehmed befindet sich mit einer Streitmacht von über 100 000 Mann auf dem Weg nach Belgrad – dem »Schlüssel des ungarischen Königreiches«.

Die Geschwindigkeit, mit der sich das türkische Heer nähert, überrumpelt die Ungarn völlig. Daher stehen der osmanischen Streitmacht im Juli des Jahres 1456 gerade einmal 15 000 ungarische Streiter und 6 000 eingeschlossene Verteidiger gegenüber. Die riesigen Kanonen, denen schon die Stadtmauern von Konstantinopel nicht standhalten konnten, donnern Tag und Nacht. Den Ungarn bleibt nichts weiter übrig, als auf ein Wunder zu hoffen. Tatsächlich nimmt dieses Wunder in dem päpstlichen Legaten Capistrano Gestalt an. Wohingegen der ungarische Adel sich entmutigt abwendet, ziehen die feurigen Predigten des Franziskanermönches Bauern, Handwerker, Geistliche und Studenten an wie das Licht die Motten. Mit 35 000 schlecht bewaffneten Eiferern im Gefolge macht der Wanderprediger sich auf den Weg, um Belgrad vor den Osmanen zu retten. Es kommt zu einer wahrhaftig unglaublichen Schlacht um eine der wichtigsten Städte des Balkans, deren Ausgang den Lauf der Geschichte auf Jahrzehnte hinaus bestimmen soll.

Prolog

Belgrad, in der Nacht zum 22. Juli 1456

»Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist meiner nicht wert! Und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der ist mein nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden! Und wer verlässt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, der wird’s hundertfältig nehmen und das ewige Leben ererben!«

Die Stimme der Vogelscheuche, die sich am Kopf einer unübersichtlichen Menge zerlumpter Gestalten näherte, zerschnitt kreischend die Nachtluft vor der belagerten Stadt. Jedem Satz folgte frenetischer Jubel, kaum hatte ein weiterer, wesentlich korpulenterer Kuttenträger die lateinischen Worte übersetzt. Pechfackeln machten die Nacht zum Tage. Nicht nur Sultan Mehmeds Aufmerksamkeit schweifte einige Augenblicke lang von den Mauern ab. Nachdem es den Ungarn unter Johann Hunyadi vor einer Woche gelungen war, die türkische Flotte zu versenken, hatte sich das Blatt wieder gewendet. Mehmed war sich sicher gewesen, Belgrad noch in dieser Nacht einzunehmen. Doch das Nahen dieses aufgepeitschten Haufens eifernder Narren brachte ihn nichtsdestotrotz für einen kurzen Moment aus dem Gleichgewicht.

»Wer ist das?«, fragte Radu, der niemals von Mehmeds Seite wich. »Soll das ein Witz sein?«

Mehmed blähte verächtlich die Nasenflügel und schüttelte den Kopf. »Kein Witz, nur eine Ablenkung«, brummte er, wandte sich seinen Kanonieren zu und herrschte sie an: »Worauf wartet ihr? Wendet die Wagen und schießt diese Giaur dorthin zurück, woher sie gekommen sind!«

Mit der gewohnten Geschwindigkeit folgten die Männer seinem Befehl. Innerhalb weniger Minuten zeigten die Kanonenläufe auf die Herannahenden. Aber zum maßlosen Erstaunen des Sultans sorgten die ersten Schüsse nicht dafür, dass der Haufen auseinanderspritzte. Vielmehr brachen die Männer und Frauen in ein wildes Geheul aus und warfen sich mit ausgebreiteten Armen den Kanonenkugeln entgegen, während ihr Anführer schrill seine Worte wiederholte.

»Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden!«, tobte er. »Finden im Himmelreich, an der Seite des Herrn!« Als eines der Geschosse einen Mann dicht vor ihm in Fetzen riss, hob der Prediger die Hände zum Himmel und lächelte selig. Das Blut der Getöteten, das nicht nur ihn besudelte, schien ihn genauso wenig zu stören wie die Pfeile der Bogenschützen, die sich zu den Kanonenkugeln gesellten. »Folgt dem Ruf des Herrn, denn sein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen!«

»Amen!«, schmetterten tausende von Kehlen als Antwort und Mehmed spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichteten. Hatten diese Shaitane denn keine Angst vor dem sicheren Tod?

»Gott will es!« Selbst das Donnern der Geschütze konnte den Ruf nicht übertönen. Mehmeds Blick hing noch wie gebannt an dem Anführer der einfältigen Angreifer, als ihn ein Gefühl beschlich, das er nur allzu gut kannte.

Mit einem Fluch wirbelte er zu der Stadt in seinem Rücken herum und sah gerade noch, wie sich die gewaltigen Flügel des Osttores öffneten. Die Ungarn versuchten, die Verwirrung auszunutzen und den Belagerern in den Rücken zu fallen! »Angriff!«, brüllte er den Sipahi-Reitern zu, die augenblicklich auf die Stadtmauer zupreschten. Doch der Befehl kam zu spät. Durch das Abwenden der Kanonen zum Mut der Verzweiflung angespornt, schwappten die Ungarn aus der Stadt wie eine gewaltige Woge. Innerhalb kurzer Zeit schlugen sie nicht nur die Sipahi zurück, sondern drängten auch die Janitscharen so weit in Richtung Donau, dass viele von ihnen in voller Rüstung in die Fluten stürzten und ertranken. Schneller als ein Kind eine Süßigkeit verschlingen konnte, sprengte der Feind die geordneten Reihen der Osmanen und sorgte – gemeinsam mit den immer näher rückenden Eiferern – dafür, dass die Sipahi zu Hunderten von ihren Pferden stürzten. Entsetzt sah der Sultan dabei zu, wie seine Kanoniere mit Dreschflegeln und Mistgabeln zu Brei geprügelt oder aufgespießt wurden. Von heiliger Märtyrerwut ergriffen überrollten Bauern, Knaben und Frauen die türkischen Soldaten, schlugen ihnen die Schädel ein und warfen ihre Geschütze ins Wasser oder in die Gräben der Stadt. Grell loderte der Feuerschein in den Nachthimmel, als die Palisaden des osmanischen Schutzwalles in Flammen aufgingen. Das Undenkbare war passiert! Mehmed wendete seinen tänzelnden Hengst und drehte sich einmal um die eigene Achse. Doch egal, wohin er blickte, überall wichen seine Männer vor der Übermacht der Ungarn zurück.

»Erschießt den Prediger!«, donnerte er. Aber weder seinen Bogenschützen noch den wenigen verbliebenen Kanonieren gelang es, den Mann zu treffen. Beinahe schien es, als halte Gott seine schützende Hand über ihn. Mehmed stöhnte und bemerkte beunruhigt, dass sich der Ring der Janitscharen enger um ihn zog. Seine Leibwache fürchtete um sein Leben! Er wollte gerade das Krummschwert ziehen, um sich selbst um den Eiferer zu kümmern, als ihn etwas mit gewaltiger Wucht aus dem Sattel hob. Der Aufprall auf dem harten Boden sandte glühenden Schmerz durch seinen Körper. Erst als Radu mit kalkweißem Gesicht neben ihm auf die Knie fiel, spürte er die warme Feuchtigkeit unter seinem Kettenhemd.

»Ihr seid getroffen, Padischah!«, wisperte Radu. Allein die Tatsache, dass seinem Liebhaber Tränen in die Augen schossen, ließ Mehmeds Blut erkalten. »Nicht bewegen«, sagte Radu tonlos. Er bat mit einem Blick in Mehmeds Gesicht um die Erlaubnis, ihn vor den Janitscharen berühren zu dürfen.

»Mach schon«, presste dieser mühsam hervor und versuchte, sich aufzusetzen. Der Stich, der ihm dabei von der Schulter bis tief ins Mark fuhr, ließ ihn die Zähne zusammenbeißen. Doch erst als er die Befiederung des Pfeils sah, wurde ihm klar, was geschehen war. Er war getroffen! »Hilf mir zurück in den Sattel«, ächzte er, packte den Schaft und brach das Geschoss kurz über der Eintrittswunde ab. Obwohl ihm der Schmerz den kalten Schweiß aus den Poren treten ließ, stützte er sich schwer auf Radus Arm und ließ sich von ihm und seinem Steigbügelhalter zurück auf den Rücken des Hengstes helfen. Der Hekim konnte sich später um die Wunde kümmern! Jetzt musste Mehmed erst einmal dafür sorgen, dass seine Männer der religiösen Trunkenheit der Angreifer etwas entgegenzusetzen hatten.

Aber das hatten sie nicht. Schließlich, als das Morgengrauen bereits im Osten heraufzog, gab Mehmed den Befehl zum Rückzug. Er war geschlagen! Geschlagen von einem Haufen tollwütiger Hunde! Mehr als ein Viertel seiner Männer war gefallen und er war nicht bereit, noch mehr Soldaten zu opfern. Dem Toben dieser Fanatiker konnte er nichts entgegenhalten. Der Schmerz in seiner Schulter hatte sich inzwischen über seinen gesamten Oberkörper ausgebreitet. Auch die Furcht davor, was geschehen würde, wenn er die Pfeilspitze nicht bald aus der Wunde entfernen ließ, veranlasste ihn zu der schmachvollen Entscheidung. Um wenigstens einen Teil ihrer Ehre zu wahren, zogen sich die demoralisierten Truppen geordnet nach Süden zurück, wo sie die schrecklichen Verluste der Nacht in Sicherheit beweinen konnten. Nicht nur der Sultan selbst war verletzt – der Befehlshaber der Janitscharen war vom Pöbel zu Tode getrampelt und der gesamte Artilleriepark vernichtet worden. Es war eine so verheerende Niederlage, dass der Sultan sich fragte, ob Allah ihm zürnte.

Teil 1

Kapitel 1

Ulm, Ende Juli 1456

Gedankenverloren drehte Sophia von Katzenstein den Ring, den Utz ihr vor acht Jahren zur Geburt ihrer Kinder geschenkt hatte, am Finger hin und her. Rot wie Blut und funkelnd wie ein Wassertropfen bezauberte sie der Rubin immer wieder aufs Neue. In den breiten Goldreif waren ihr Name und ein frommer Spruch, der sie vor allem Bösen bewahren sollte, eingraviert. Manchmal vermeinte sie, sein Gesicht tief im Inneren des Steins ausmachen zu können. Doch das war nur Einbildung, das wusste sie. Zumal sie dieser Sinnestäuschung nur erlag, wenn Utz sich auf Geschäftsreisen befand. So wie jetzt. Vor vier Wochen war er nach Nürnberg aufgebrochen, um dort neue Kontakte zu knüpfen und einige Finanzgeschäfte abzuschließen, die ihm schon länger unter den Nägeln brannten. Davor war er in Venedig gewesen. Auf dem Weg nach Nürnberg hatte er lediglich ein paar Tage in Ulm Halt gemacht. Sophia seufzte. Wie hätte sie es ihm verübeln können? War es nicht ihre Schuld, dass Utz sein Haus mied als ob darin der Leibhaftige auf ihn warten würde? Lustlos kaute sie an einem bereits arg mitgenommenen Federkiel und starrte auf den Stapel Briefe vor sich. Wie viele Schuldner musste sie noch mahnen? Und warum überließ sie diese Arbeit nicht einfach Thomas, ihrem Verwalter? Weil es dich ablenkt, beantwortete sie sich ihre Frage selbst und holte tief Luft, um den Druck in ihrem Brustkorb loszuwerden.

Sophia griff nach einem kleinen Messerchen und spitzte die Feder neu an. Dann tauchte sie den Kiel in die Tinte und fuhr fort, die Patrizier der Stadt höflich aber bestimmt darauf hinzuweisen, dass der Kauf einer Ware auch deren Bezahlung erforderte. Lange Zeit saß sie tief über den Schreibtisch gebeugt da. Ihr Rücken fing bereits an zu schmerzen, als sie endlich helle Stimmen und das Toben von übermütigen Kindern im Untergeschoss vernahm.

»Fang mich doch!« Der Aufforderung folgte ein Lachen, das halb im Schlagen der Kirchturmuhr unterging.

»Da ist ja eine Schnecke schneller!«

Ein Lächeln erhellte Sophias Gesicht. Sie schob hastig den Stuhl zurück, um in den Korridor hinauszutreten. Der Wildfang, der ihr keine zwei Glockenschläge später um den Hals fiel, wedelte mit etwas in der Luft herum, das Sophia nicht erkennen konnte. »Sieh nur, Mutter«, schnaufte er, ließ von ihr ab und hielt ihr etwas unter die Nase, das aussah wie eine Holzscheibe mit seltsamen Mustern und einem Zeiger. »Magister Lieber hat mit uns ein Astrolabium gebaut!«

»Es ist kein echtes Astrolabium«, warf der zweite Knabe ein, der wesentlich langsamer die Treppe hinauf gekommen war. »Es soll nur die Funktionsweise darstellen.« Er reckte seiner Mutter die Wange entgegen, sodass diese einen Kuss darauf drücken konnte.

Wie weich die Haut der Kinder war, dachte Sophia. Ob sie jemals aufhören würde, sich darüber zu wundern?

»Aber wirklich ablesen kannst du darauf nichts«, fügte Jakob hinzu und warf seinem Bruder Hans einen tadelnden Blick zu. »Das hat der Magister doch lang und breit erklärt.«

»Ach, das ist mir doch egal«, hielt der Gescholtene dagegen, »für mich ist es ein echtes Astrolabium! Und ich kann darauf sehr wohl die Position der Sterne ablesen!« Er schob eigensinnig die Unterlippe vor.

»Schon gut«, beschwichtigte Sophia den Jüngeren der Zwillinge. Ihr Blick fiel auf die Scheibe, die der Ältere der beiden, Jakob, in der Hand hielt. Anders als das Astrolabium von Hans war Jakobs Scheibe kunstvoll verziert und zeugte von einer Sorgfalt, die für einen Achtjährigen ungewöhnlich war. »Jetzt wascht euch erst mal die Hände und kommt in die Stube. Es gibt bald Essen.«

Jakob nickte wortlos und schulterte sein Schulbündel, während Hans noch einen Moment lang ärgerlich die Stirn runzelte.

»Und es ist doch ein echtes Astrolabium«, murmelte er schließlich, ehe er seinem Bruder hinterher trottete.

Ob die beiden jemals einer Meinung sein würden? Sophia blickte nachdenklich auf die Tür, durch die auch Hans in die Kammer der Zwillinge verschwunden war. Wie konnten zwei Menschen, die sich glichen wie ein Ei dem anderen, nur so grundverschieden sein? Die Liebe für ihre beiden Söhne sorgte wie so oft dafür, dass ihr die Kehle eng wurde. Sie griff sich an die Brust und versuchte, all die furchtbaren Ängste im Zaum zu halten, die sie tagein, tagaus marterten. War es nicht beinahe ein Wunder, dass die beiden so gesund und munter waren, als ob Krankheit und Tod nur für andere existierten? Kannte sie nicht genügend Mütter, die zehn von zwölf Kindern zu Grabe getragen hatten? Was sollte sie nur tun, wenn Hans oder Jakob etwas zustieß? Der Gedanke bereitete ihr beinahe körperliche Pein. Dann bist du mutterseelenallein, flüsterte ihr eine Stimme tief aus ihrem Inneren zu. Ohne Mann und ohne Familie! Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und presste die Lippen aufeinander. Warum nur überkam sie manchmal solch unglaubliche Trauer über Verluste, die sie noch gar nicht erlitten hatte? Wer sagte denn, dass Gott sie noch mehr strafen wollte? Hatte er nicht schon dafür gesorgt, dass das Unrecht, das ihr Vater und ihre Großmutter über andere gebracht hatten, gesühnt worden war? Dadurch, dass Sophia nie wieder würde empfangen können!

Ehe ihre Gedanken unweigerlich zu ihrem Gemahl weiterwandern konnten, schüttelte sie die düsteren Ängste ab. Dann stieg sie die Treppe hinab, um der Köchin zu sagen, dass sie bald auftragen konnte. Als sie auf dem Rückweg allerdings einen Blick in den Hof erhaschte, wo ein Knecht gerade einen von Utz’ Lieblingshengsten abrieb, begab sich ihr Verstand gegen ihren Willen erneut auf Wanderschaft. Wann würde er wohl aus Nürnberg zurückkehren? Wie lange würde er dieses Mal in Ulm bleiben? Ohne zu wissen warum, vermisste sie ihren Gatten in den langen, einsamen Nächten, in denen sie häufig kaum Schlaf fand. Allzu oft fühlte sie sich zurückversetzt in die schreckliche Zeit auf Burg Katzenstein. Obwohl Utz ein Teil dieser schlimmen Erfahrungen war, sehnte sie sich immer öfter danach, ihn zurück an ihrer Seite zu haben. Zwar hatte sie sich geschworen, nie wieder das Bett mit ihm zu teilen. Aber warum sollte es nicht möglich sein, in Freundschaft mit ihm zusammenzuleben? Immerhin hatte sie ihre Aufgabe als Ehefrau erfüllt. Gab es nicht viele Eheleute, die eher wie Bruder und Schwester lebten als wie Mann und Frau? Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Das war ganz gewiss nicht das, was Utz sich vorstellte! Mit einem Seufzen raffte sie die Röcke, um zurück ins Obergeschoss zu gehen. Doch ein Klopfen an der Eingangstür ließ sie mitten in der Bewegung innehalten. War Utz am Ende schon wieder in Ulm? Ihr Herzschlag beschleunigte sich und wie gebannt verfolgte sie, wie eine Magd das schwere Tor aufstemmte.

Das Gesicht, das sie erblickte, kaum dass der Spalt groß genug war, vertrieb ihre Aufregung allerdings schneller, als sie gekommen war. Resignation und kalter Zorn traten an ihre Stelle. Ihr Vater! Was, bei allen Heiligen, wollte er jetzt schon wieder von ihr? Hatte sie ihm bei seinem letzten Besuch nicht klar und deutlich gesagt, dass sie ihn nicht mehr sehen wollte? Wann würde sie diesen Fluch endlich abschütteln können? Sie bohrte den Blick in seine Augen. Ihre Züge verhärteten sich.

»Herrin?«, fragte die Magd schüchtern, da sie nicht wusste, was sie tun sollte. Nicht umsonst hatte Sophia allen Bediensteten ihres Haushalts eingeschärft, niemanden ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis ins Haus zu lassen.

»Sag ihm, ich habe keine Zeit«, erwiderte sie schroff, wobei sie ihren Vater kalt musterte. Was immer er wollte, von ihr würde er es ganz gewiss nicht bekommen! Vermutlich war er ohnehin nur gekommen, um sie um Geld anzugehen – schließlich wusste bereits die ganze Stadt, dass er so gut wie bankrott war. Und das, nachdem er durch seine Raffgier Mitschuld an ihrer unglücklichen Lage hatte! Ohne auf den fragenden Blick der Magd einzugehen, machte sie auf dem Absatz kehrt und hastete hinauf in die Stube zurück.

Kapitel 2

Kronstadt, Juli 1456

»Sobald Wladislaw vertrieben ist, komme ich zurück«, versprach Vlad Draculea und machte sich von seinem Kronstädter Gastgeber los, der ihn in eine rippenbrechende Umarmung gezogen hatte. »Und dann wird Verlobung gefeiert.« Die Worte hinterließen einen schalen Geschmack in seinem Mund, doch er zwang sich zu einem dünnen Lächeln. Gegen seinen Willen schielte er dennoch zu der Tochter des Mannes, die sich halb hinter ihrem Vater versteckt hatte. Der Magistrat folgte seinem Blick, nickte und gab der jungen Frau mit einem Wink zu verstehen, sich ebenfalls von Vlad zu verabschieden. Mit schüchtern niedergeschlagenen Augen trat diese nach kurzem Zögern vor und deutete einen Knicks an, wobei ihr flammende Röte in die Wangen stieg. Ihr blondes Haar war im Nacken zu einer Schlaufe geflochten. Den Kopf bedeckte ein zwar durchsichtiger, aber züchtiger Schleier.

»Bis bald, Herr«, murmelte sie ohne Vlad anzusehen. »Gott schütze Euch.« Es fiel Vlad schwer, ein Stirnrunzeln zu unterdrücken, als er auf die zierliche Fünfzehnjährige hinabsah. Zwar war sie keineswegs unansehnlich – im Gegenteil – aber jede Geste und jedes Wort verrieten ihm, dass sie sich entsetzlich vor ihm fürchtete. Er strich sich mit der Linken über den dichten, schwarzen Schnurrbart, der seinen Mund umrahmte und ihm ein strenges Aussehen verlieh.

»Ich danke dir für die guten Wünsche, Elisabeta«, erwiderte er so sanft wie möglich und ignorierte das nur schlecht durch ein Räuspern überspielte Prusten in seinem Rücken. »Ich bin bald wieder bei dir«, log er. Dann nickte er seinem Gastgeber ein letztes Mal zu und bedeutete seinem Vetter Stefan von der Moldau ihm ins Freie zu folgen.

»Ich danke dir für die guten Wünsche, Elisabeta«, äffte Stefan ihn nach, kaum saßen die Männer im Sattel und trabten auf den Marktplatz zu. Dort wartete ein Teil der Reiterei, welche die Städter Vlad – auf Befehl des ungarischen Königs – zur Verfügung stellten. »Gib’s zu, du hättest die Kleine doch schon längst am liebsten entjungfert«, lästerte der Moldawier. Er fuhr sich mit der Hand durch die lange blonde Mähne und stülpte sich seinen Helm auf den Kopf. »Sie ist aber auch wirklich ein süßer Happen«, platzte es aus ihm heraus, als er Vlads sauertöpfische Miene sah.

Sein Lachen steckte Vlad an, obwohl der Gedanke an Elisabeta ihn eigentlich nicht besonders erheiterte. Irgendwie gelang es seinem Vetter immer, seine düstere Stimmung aufzuhellen und Leichtigkeit zu finden, wo Vlad keine entdecken konnte. Seit ihrer Flucht aus dem Fürstentum Moldau waren Stefan und er – mit einigen Unterbrechungen – Gast im Hause des Kronstädter Magistrats gewesen. Vor sechs Wochen hatte dieser Vlad schließlich die Hand seiner Tochter angeboten. Allerdings erst, nachdem Johan Hunyadi dem jungen Walachen die Schutzwacht Transsylvaniens anvertraut hatte. Außerdem war klar geworden, dass der bisherige Woiwode der Walachei, Wladislaw, sowohl die Gunst des ungarischen Königs als auch die der transsylvanischen Händler endgültig verspielt hatte.

»Warum hast du nicht sofort zugegriffen?«, drang Stefan zum wiederholten Mal in ihn. Aber Vlad blieb dem Freund und Vetter auch an diesem Tag die Antwort schuldig, obwohl ein Teil von ihm sie laut herausschreien wollte. Er biss sich auf die Zunge. Mit keinem einzigen Wort wollte er die Erinnerung an Zehra beschmutzen. Kein Mensch würde von ihr und seinem Sohn erfahren, bis Vlad sie endlich wieder in den Armen halten konnte! Niemand, am allerwenigsten Stefan, würde jemals die Macht der Gefühle begreifen, die er für sie hegte. Der wohlbekannte Druck in seiner Magengegend führte dazu, dass sich seine Rüstung plötzlich wie Blei anfühlte und ihm das Atmen schwer fiel. Um eine ausdruckslose Miene bemüht, schüttelte er scheinbar tadelnd den Kopf und trieb sein Reittier an, sodass er eine halbe Pferdelänge vor Stefan trabte. Als nach einigen Minuten endlich die ersten berittenen Streiter vor ihnen auftauchten, war er froh über die Ablenkung.

»Vodă – mein Fürst«, begrüßte ihn einer der abtrünnigen walachischen Bojaren, die zu ihm übergelaufen waren. »Die Männer sind bereit.«

Vor den Mauern der Inneren Stadt warteten weitere Truppen, mit denen Vlad in Gewaltmärschen über die Karpaten in die Walachei ziehen würde. Der Sultan war geschlagen – diese Nachricht hatte sie kurz nach dem Wunder von Belgrad erreicht. Im selben Schreiben hatte der ungarische König den Befehl gegeben, Wladislaw zu entmachten. Schon bald würde Vlad wieder auf dem Thron sitzen, der ihm von Geburt wegen zustand!

»Vorwärts!«, donnerte er, sobald sich die Reiter um ihn und seinen Begleiter geschart hatten. Wenig später befanden sie sich in der Oberen Vorstadt, von wo aus die Straßen allesamt nach Süden zu den Bergpässen führten. Einige Meilen entfernt ragten die schroffen Gipfel der Karpaten empor, auf denen immer noch ein wenig Schnee lag. Wenn sie sich beeilten und Pferde und Menschen bis zum Äußersten antrieben, konnten sie in zwei Tagen vor Tirgoviste stehen – der Hauptstadt seines Reiches. Dann würde Wladislaw das Schicksal teilen, das Vlads Bruder Mircea und seinen Vater vor beinahe zehn Jahren ereilt hatte! Er presste die Kiefer aufeinander und ließ zu, dass die Vorfreude auf die kommende Schlacht Besitz von ihm ergriff und die Gefühle für Zehra betäubte. Er fasste die Zügel kürzer. Als sie sich einen halben Tag später hoch im Gebirge befanden, reckte er die Nase in die Luft und atmete tief ein und aus. Bildete er es sich nur ein oder konnte er die Heimat bereits riechen?

****

Es dauerte ein wenig länger Tirgoviste zu erreichen, als er gedacht hatte, da sie bereits in den Bergen in einige kleinere Geplänkel verstrickt wurden. Aber am vierten Tag nach ihrem Aufbruch aus Kronstadt marschierte Vlad mit seinen Truppen auf die Hauptstadt der Walachei zu. Diese buk wie ein Fladen in der Sommerhitze. Auf den Feldern des Umlandes waren die Bauern dabei, die erste Ernte einzubringen. Golden erstreckte sich ein Meer aus Ähren bis zum Horizont, der von Hitzeschleiern verwischt wurde. Gierig sog Vlad den wohlbekannten Duft der Flussniederung ein. Er zügelte sein Ross, um die Stadt ins Auge zu fassen, die ihm bald zu Füßen liegen würde. Der Anblick der Mauertürme und Bojarenhäuser, der Gehöfte und Kirchen trieb ihm Tränen der Freude in die Augen. Allerdings währte diese Sentimentalität nicht lange. Gewarnt von seinen Spionen brach Wladislaw aus der Stadt hervor, kaum hatte Vlad die Dächer des Fürstenpalastes ausgemacht. Die Freude über die Heimkehr wich dem Blutdurst. Wäre Wladislaw nicht gewesen, hätte Vlad nicht aus der Walachei fliehen und Zehra zurücklassen müssen! Sein Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken an die zahllosen Stunden, in denen er gefürchtet hatte, sie nie wiederzusehen. Ein alles überwältigender Hass ergriff Besitz von ihm.

»Löscht diese Verräter aus!«, donnerte er, zog sein Schwert und presste seinem Hengst die Fersen in die Flanken. Dann preschten er und seine Kämpfer über den von der Hitze ausgedörrten Boden und fuhren zwischen die Verteidiger, ehe diese begriffen hatten, wie ihnen geschah. Unaufhaltsam mähte Vlad einen Feind nach dem anderen nieder. Schon bald stank die Luft nach Blut, Pferdeschweiß und Exkrementen. Wer nicht sofort sein Leben aushauchte, wurde von den Hufen zu Tode getrampelt. Das Geschrei der Verwundeten verjagte selbst die Vögel am Himmel. Mehrere Stunden dauerte das Schlachten, doch dann warfen die ersten Bojaren ihre Waffen zu Boden und ergaben sich den Angreifern.

»Verschont unser Leben«, flehte ein Kämpfer, dessen Gesicht Vlad allzu bekannt vorkam. War er nicht schon an der Seite seines Vaters in die Schlacht gezogen? Seine Schwerthand zuckte, aber in letzter Sekunde hielt er sich davon ab, den Mann zu töten. Er sollte langsam sterben! So, wie es ein Verräter verdiente!

»Treibt die Gefangenen zusammen«, befahl er seinen Männern. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit zurück auf das letzte Häuflein verzweifelter Ritter, die versuchten, ihren Fürsten vor dem sicheren Ende zu bewahren. Eingekeilt zwischen der Stadtmauer und Vlads Truppen fochten sie einen aussichtslosen Kampf, der eine Stunde später beendet war.

Inmitten von Erschlagenen funkelte Wladislaw seinen Widersacher mordlustig an, spuckte zu Boden und fauchte: »Ich hätte dich zertreten sollen, wie eine Ameise, als ich Gelegenheit dazu hatte!« Vlad lachte freudlos und gab seinen Gefolgsleuten ein Zeichen, den Besiegten in Ketten zu legen.

»Das hättest du«, versetzte er kalt. »Aber jetzt werde wohl eher ich dich zertreten.« Mit diesen Worten wandte er sich von Wladislaw ab, um sich nicht durch eine unbedachte Handlung um das Schauspiel einer öffentlichen Hinrichtung zu bringen. Den Einwohnern von Tirgoviste musste unmissverständlich klar gemacht werden, wer der neue Machthaber war! Ansonsten würde man ihn für schwach oder gar milde halten. Etwas Schlimmeres konnte einem Fürsten nicht passieren!

Die Sonne stand immer noch hoch am Himmel, als Wladislaw auf das Schafott am Marktplatz geführt wurde. Die ganze Stadt war zusammengeströmt, um sich dem Bezwinger zu unterwerfen und das Ende des Besiegten mit anzusehen. Einige zornige Augenblicke lang hatte Vlad erwogen, auch unter den einfachen Männern und Frauen Exempel zu statuieren. Doch dann hatte er es sich anders überlegt. Was war ein Fürst ohne Untertanen? Er ließ den Blick über die verängstigten Menschen wandern, die mucksmäuschenstill verfolgten, wie Wladislaw entkleidet und von zwei Henkersknechten gegeißelt wurde. So komplett war die Stille, dass die Hiebe – gefolgt von Wladislaws gepresstem Stöhnen – von den Häuserwänden widerhallten wie Kanonenschüsse. Als der Rücken des entmachteten Woiwoden nur noch ein blutiger Brei war, schnitt Vlad ihn eigenhändig los und zwang ihn auf die Knie. Dem Priester, der dem Todgeweihten die Beichte abnehmen wollte, setzte er die Klinge auf die Brust und knurrte: »Geh, alter Mann. Dieser hier gehört dem Teufel.«

Obgleich der Pater den Mund zu einem Protest öffnete, besann er sich eines Besseren, senkte den Kopf und bekreuzigte sich. Wladislaw hob flehend die geröteten Augen, aber ein Blick in Vlads steinerne Miene sagte ihm, dass er nicht auf Gnade hoffen konnte. »Eigentlich sollte ich dich langsam und qualvoll zugrunde gehen lassen«, zischte Vlad – dicht am Ohr des gefallenen Fürsten. »Allerdings hast du als Woiwode das Recht auf einen schnellen Tod.« Damit schwang er das Schwert hoch über den Kopf und enthauptete den Knienden mit einem einzigen glatten Schnitt. Das Geräusch, mit dem Wladislaws Haupt auf dem hölzernen Schafott auftraf, erfüllte ihn mit so gewaltiger Genugtuung, dass er in Lachen ausbrach. Während das Blut des Erschlagenen auf seine Stiefel tropfte, legte er den Kopf in den Nacken und lachte bis ihm der Hals schmerzte. Als er sich wieder gefasst hatte, wischte er sein Schwert an einem Fetzen Sackleinwand ab und ließ es zurück in die Scheide gleiten. Dann sprang er leichtfüßig zu Boden. »Schafft die gefangenen Verräter her und pfählt sie einen nach dem anderen«, befahl er seinen Männern. »Die Stadt soll tagelang von Wehklagen erfüllt sein, damit niemals wieder jemand vergisst, was es bedeutet, sich gegen Vlad Draculea zu stellen!«

Kapitel 3

Ein Kloster in den Karpaten, August 1456

»Herr, vergib mir meine Eitelkeit«, wisperte Zehra von Katzenstein und wischte erneut mit dem Ärmel ihres einfachen Gewandes über die winzige Spiegelscheibe. Eigentlich waren solch weltliche Dinge hinter Klostermauern nicht gern gesehen, aber sie hatte einfach nicht vollkommen entsagen können. Auch wenn sie sich dafür schämte, gelang es ihr nicht, ein so gänzlich gottgefälliges Leben zu führen wie die Mönche, in deren Obhut sie und Carol sich seit drei Jahren befanden. Seit Wladislaw durch einen Verräter in Erfahrung gebracht, dass sie existierten, mussten sie sich hier verstecken. Ihre Fingerkuppe wanderte unbewusst zu der kleinen Narbe an ihrem Kinn, die sie einem Sturz im vergangenen Winter zu verdanken hatte. Damals, an einem eisigen Januartag, hatte sie mit Carol im Schnee getollt und war auf einer Eisplatte ausgerutscht. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie an das zerknirschte Gesicht ihres Sohnes dachte, sobald dieser begriffen hatte, dass seine Mutter sich wehgetan hatte. Mit großen Augen war er vor ihr gestanden, den Mund fassungslos geöffnet, bis Bruder Petros Zehra schließlich aufgeholfen und beide ins Warme gebracht hatte. »Scănteiuţă«, sagte sie leise. Wie passend dieser Kosename war, den Vlad seinem Sohn gegeben hatte. Denn genau das war Carol: ihr kleiner Funke. Sie legte den Spiegel zur Seite und griff nach dem letzten Brief, den Vlad ihr geschrieben hatte. Obwohl sie ihn – genau wie all die anderen – auswendig kannte, las sie ihn ein weiteres Mal und etwas Hartes nistete sich in ihrer Kehle ein. Sie war schon lange am Ende angekommen, als sie bemerkte, dass sie zitterte. Acht lange Jahre hatte sie gehofft und gefleht, dass Vlad nichts zustoßen und sie ihn bald wiedersehen würde. Jetzt, endlich, war die Zeit gekommen – nachdem sie über zehn Monate nichts mehr von ihm gehört hatte!

Der Klumpen in ihrer Kehle löste sich in ein Brennen auf. Tränen, die sie viel zu lange zurückgehalten hatte, fielen in dicken Tropfen auf das dicht beschriebene Blatt Papier. »Oh, Vlad«, flüsterte sie erstickt und sank mit schwachen Knien auf einen Holzstuhl. Der Brief segelte mit einem leisen Rascheln zu Boden, als sie das Gesicht in den Händen vergrub und wohl zum tausendsten Mal nach den verblassten Bildern in ihrer Erinnerung suchte. Nach den glücklichsten Wochen ihres Lebens. Der Druck irgendwo tief in ihrem Inneren verstärkte sich, bis er sich schließlich mit einem Schluchzen Luft machte. »Heiliger Vater im Himmel …«, murmelte sie, aber ein weiteres schluckaufartiges Schluchzen raubte ihr die Stimme. Sie sackte auf dem Stuhl in sich zusammen. Lange Zeit weinte sie haltlos – ließ zu, dass ihre wunde Seele sich Linderung verschaffte. Doch als ihr bereits die Seiten schmerzten, richtete sie sich auf und trocknete sich das Gesicht. Die Zeit der Trauer war vorbei! Nicht mehr lange, dann würden sie und Vlad wieder vereint sein. Sie blinzelte und strich sich einige verirrte Strähnen aus der Stirn. Wie oft hatte sie sich gefragt, ob es richtig gewesen war, ihren Bruder Utz nicht zurück in die Heimat zu begleiten! Und wie oft hatte sie sich in den vergangenen Jahren gewünscht, sie hätte klüger gehandelt! Aber jetzt, da sie wusste, dass Vlad sie weder vergessen noch für eine andere verlassen hatte, fielen all diese Zweifel und Ängste wie Schuppen von ihr ab.

Sie erhob sich mit wackeligen Beinen und verstaute den Brief wieder in der Holzschatulle, in der sie alle Nachrichten von Vlad aufbewahrte. Als der Deckel sich über dem Stapel geschlossen hatte, nestelte sie nervös an dem Gürtel ihres Gewandes. Wann würde er sie zu sich holen? Sie ließ den Gürtel fahren und begab sich wieder zu dem Tischchen, an dem sie eben noch gesessen hatte. Wann würden sie endlich auch vor Gott Mann und Frau sein? Wie lange konnte es dauern, bis ein neuer Staatsrat gebildet und die wichtigsten Regierungsangelegenheiten geregelt waren? Der Bote hatte ihr doch ausrichten lassen, dass Vlad sobald wie möglich zu ihr in die Berge reiten würde! Ihr Blick wanderte wie magisch angezogen wieder zu dem kleinen Spiegelchen. Die Zweifel kehrten zurück. Was, wenn es in der Zwischenzeit doch eine andere Frau in seinem Leben gab? Ein junges Mädchen, dessen Brüste nicht schwer waren von der Geburt eines Kindes? Eine Frau, deren Schoß nicht durch Sünde befleckt war? Sie starrte sich selbst in die Augen und versuchte, darin zu lesen. Waren dies dieselben Augen, mit denen sie Vlad vor acht Jahren verzaubert hatte? Oder waren es die Augen einer alten Frau? Sie blinzelte heftig und trat von der polierten Scheibe zurück. Widerstrebend hob sie die Röcke und betrachtete ihre Beine und ihren Bauch. Seit Carols Geburt hatten ihre Glieder die Schlankheit verloren. Auch ihre Haut schien nicht mehr das Glühen der Jugend zu besitzen. Was, wenn sie Vlad nicht mehr gefiel? Hastig ließ sie den Stoff wieder los und kehrte ihrem Spiegelbild den Rücken. Sie musste aufhören, sich mit solchen Gedanken zu martern! Würde Vlads Herz einer anderen gehören, hätte er ihr gewiss nicht geschrieben! Die Liebe, die aus seinen Worten sprach, konnte man nicht heucheln! Sie betrachtete ihre Hände. Außerdem war sie nicht die Einzige, die älter geworden war! Ehe sie sich weiter mit Unsicherheit quälen konnte, wurde sie von einem Klopfen abgelenkt.

»Ein Bote wartet auf Euch«, ließ sie ein Mönch wissen, kaum hatte sie die Tür geöffnet. Schon wieder? Schrecken vermischte sich mit ungebändigter Vorfreude. Was konnte es diesmal sein? War Vlad bereits auf dem Weg? Einen Dank murmelnd, drückte sie sich an dem Bruder vorbei und eilte kopflos den Gang entlang hinaus ins Freie.

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In der Bibliothek des Klosters rieb Carol sich die müden Augen und sog den Geruch von Staub und Leder ein. Obschon vor den winzigen Fenstern strahlender Sonnenschein herrschte, war das Licht in der Bibliothek genauso dämmrig wie immer. Zwar hatte Carol eine dicke Wachskerze entzündet, dennoch verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen. Außer ihm befanden sich noch vier Mönche im Raum, deren Aufgabe es war, Texte zu illustrieren. Das Kratzen der Federkiele war das einzige Geräusch in der ansonsten vollkommenen Stille. Er blinzelte und legte besitzergreifend die Hand auf das kostbare Buch, das er erst vor sechs Wochen entdeckt hatte. De rerum natura – von der Natur der Dinge – lautete der Titel. Außer ihm schien sich niemand für diesen Schatz zu interessieren. Falsch, dachte er. Außer ihm schienen alle Angst vor dem zu haben, was darin geschrieben stand. Bruder Petros, der ihm im Alter von nicht ganz fünf Jahren Latein beigebracht hatte, war der Einzige, der Carols Neugier teilte. »Ein Mönch aus Deutschland hat es dem Abt als Geschenk mitgebracht«, hatte er den Knaben wissen lassen. »Aber der hat nicht einmal hinein geschaut, sondern es ins hinterste Regal stellen lassen. Ihn interessieren ausschließlich die griechischen Texte.« Inzwischen vermeinte Carol zu wissen warum. Auch wenn sein Latein stellenweise lückenhaft war und er oft große Schwierigkeiten hatte, den Hexametern zu folgen, spürte er, dass von diesem Buch etwas Eigenartiges ausging. Etwas, das ihn gleichzeitig verwirrte und faszinierte. Viele Dinge verstand er nicht – zum Beispiel bereitete ihm die Vorstellung von der sterblichen Seele Kopfzerbrechen. Dieser Begriff hatte ihm bereits im Bibelunterricht Schwierigkeiten bereitet. Was genau sollte die Seele überhaupt sein? Wo im Körper befand sie sich? Woran erkannte man, ob eine Seele sterblich oder unsterblich war? Konnte man die Seele sehen oder spüren? Diese und viele andere Fragen hatten dafür gesorgt, dass er die Lektüre hatte aufgeben wollen. Aber als er gestern beim Durchblättern des dicken Folianten auf eine Stelle gestoßen war, in welcher der Verfasser Lucretius behauptete, dass alles, absolut alles, aus denselben Teilchen bestehe, war seine Neugier von neuem entfacht worden. Zuerst hatte er gedacht, er habe die Worte falsch übersetzt. Wie konnte es sein, dass er selbst aus dem gleichen Stoff war wie die Sterne, die Sonne, der Regen und die Berge? Er war bereits aufgesprungen, um einen der Mönche um Hilfe zu bitten. Doch dann hatte er es sich anders überlegt. Falls seine Übersetzung stimmte, würde man ihm das Buch gewiss wegnehmen. Auch heute blieb die Bedeutung dieselbe, ganz egal, wie er die Worte drehte und wendete.

»Sed quia vera tamen ratio naturaque rerum cogit, ades, paucis dum versibus expediamus esse ea quae solido atque aeterno corpora constent, semina quae rerum primoriaque esse docemus , unde omnis rerum nunc constent summa creata.«

Aber da wahre Vernunft es doch und das Wesen der Dinge es erzwingen, so habe Geduld, bis in wenigen Versen ich entwickle, es gibt sie, die aus ewigem, festem Körper bestehen, die Samen und Ursprungskörper der Dinge nach unsrer Lehre, woraus das All erschaffen besteht jetzt.«

Er zog die Unterlippe zwischen die Zähne und kaute nachdenklich daran. Dann ließ er beinahe andächtig die Fingerkuppen über die Tischplatte vor sich gleiten; betastete das alte Pergament des Buches, den metallenen Deckel des Tintenfasses, den Lesestein auf dem Pult und die Haut seines Handrückens; verglich die Wärme seiner Haut und des Holzes mit der Kühle des Metalls und der Stumpfheit von Stein und Papier. Sein Blick wanderte zum Fenster und er wünschte sich, es wäre Nacht. Dann könnte er versuchen, die Sterne – nicht wie früher zu zählen – sondern zu begreifen. Wenn er aus demselben Stoff war wie die Sterne, konnten sie doch keine Geheimnisse vor ihm haben, oder? Dann würden sie ihm verraten, warum sie sich ständig in Bewegung befanden, sobald er ihnen offenbarte, dass er ihr Geheimnis teilte.

Er seufzte leise und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu dem Folianten. Was für Wunder verbargen sich noch darin? Konnte das Buch ihm auch erklären, warum er sich nicht darauf freute, seinen Vater kennenzulernen? Er wusste nicht, wo der Gedanke herkam, aber er sorgte dafür, dass er schuldbewusst den Kopf zwischen die Schultern zog. Da, wo vor wenigen Momenten noch ein Schatz unglaublichen Wissens gelockt hatte, starrten ihm jetzt lediglich nichtssagende Buchstaben entgegen. Geistesabwesend ließ er eine der kunstvollen Majuskeln vor den Augen verschwimmen und versuchte, sich den Mann vorzustellen, dessen letzter Brief seine Mutter vollkommen verändert hatte. Zwar hatte sie ihn auch früher schon Scănteiuţă genannt. Aber seit einigen Tagen rief sie ihn nur noch mit diesem Kosenamen. Seit sie Nachricht erhalten hatte, dass sein Vater bald kommen würde. Wie er den Namen hasste! Er hieß Carol, nicht Scănteiuţă! Nur Kleinkinder wurden mit Kosenamen gerufen! Er war aber schon lange kein Kleinkind mehr! Er war schon fast acht Jahre alt! Carol begann, mit dem Zeigefinger der rechten Hand unsichtbare Kreise auf das Pult zu malen, während sich seine Linke zur Faust ballte. Warum konnte sein Vater nicht dort bleiben, wo er all die Jahre über gewesen war? Warum musste er ausgerechnet jetzt auftauchen und Carol die Mutter stehlen? Die Heftigkeit seiner Empfindungen erschreckte ihn. Er sah sich insgeheim um, ob ihm irgendjemand seine Gedanken angesehen hatte. Die Mönche waren jedoch so in ihre Arbeit versunken, dass sie vermutlich nicht einmal ein Feuer aus der Vertiefung gerissen hätte. »Dein Vater ist ein genauso mutiger und großer Krieger wie der Heilige Georg«, hatte Petros ehrfürchtig gesagt, als er von der bevorstehenden Ankunft Vlad Draculeas erfahren hatte. »Ein Mann, der eher sterben würde, als seinen Glauben zu verraten.« Diese Worte hatten zuerst dafür gesorgt, dass Carol einige Tage mit stolzgeschwellter Brust durch das Kloster stolziert war. Aber sobald er bemerkt hatte, was für eine Wirkung die Neuigkeiten auf seine Mutter hatten, war der Stolz einem anderen Gefühl gewichen. Er schob trotzig das Kinn nach vorne. Ganz egal, wie tapfer sein Vater war, seine Mutter würde er sich von niemandem wegnehmen lassen!