OCTAVIA E. BUTLER
IMAGO
Xenogenesis 3
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Jodahs ist ein Konstruierter, halb Mensch, halb Oankali. Er wurde von den Ooloi geschaffen, Angehörige des dritten Geschlechts der Oankali, die die Fähigkeit haben, genetische Veränderungen vorzunehmen. Nicht alle Menschen waren jedoch glücklich über das Eingreifen der fremdartigen Oankali, und die Vermischung der beiden Spezies lief nicht unproblematisch. Jodahs ist ein Kind zweier Welten – und durch seine Augen könnten die Menschen endlich die Oankali besser verstehen lernen. Doch sind die Menschen wirklich bereit zu diesem Schritt?
Octavia Estelle Butler (22. Juni 1947–24. Februar 2006) kam in Pasadena, Kalifornien zur Welt. Ihr Vater starb, als sie noch ein Baby war, und sie wurde von ihrer Mutter und ihrer Großmutter in einem unruhigen Stadtviertel, in dem sowohl Weiße als auch Schwarze lebten, aufgezogen. Obwohl bei ihr als Kind Dyslexie festgestellt wurde, machte sie einen Abschluss am Pasadena City College und schrieb sich an der California State University in Los Angeles ein. Schon mit 12 Jahren verfasste sie erste Science-Fiction-Kurzgeschichten, und 1969/70 besuchte sie zwei Autoren-Workshops, bei denen sie unter anderem mit Harlan Ellison in Kontakt kam, der ihr half, 1976 ihren ersten Roman bei einem Verlag unterzubringen. In ihrem mehrfach mit dem Hugo- und dem Nebula-Award ausgezeichneten Werk geht es immer wieder um Gender-Fragen und kulturelle Identität. Sie lebte und arbeitete bis zu ihrem Tod in Seattle, Washington.
www.diezukunft.de
Das Buch
Die Autorin
Widmung
Erster Teil – Metamorphose
Zweiter Teil – Exil
Dritter Teil – Imago
Für Irie Isaacs
ERSTER TEIL
Metamorphose
Ich glitt so unauffällig in meine erste Metamorphose, dass es niemand bemerkte. Metamorphosen sollten nicht so beginnen. Die meisten beginnen mit kleinen, offensichtlichen physischen Veränderungen – dem Verlust von Fingern und Zehen, zum Beispiel, oder dem Knospen neuer Finger und Zehen mit einer anderen Form.
Ich wünschte, meine Erfahrung wäre so normal, so sicher gewesen.
Mehrere Tage lang veränderte ich mich, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Frühe Stufen der Metamorphose hielten gewöhnlich nicht tagelang an, ohne Tiefschlaf herbeizuführen, doch meine tat es. Meine ersten Veränderungen waren sensorischer Art. Geschmäcke, Gerüche, alle Empfindungen wurden plötzlich komplex, verwirrend, doch unerwartet verführerisch.
Ich musste alles neu lernen. Flusswasser, zum Beispiel: Wenn ich darin schwamm, bemerkte ich, dass es zwei deutliche Hauptgeschmäcke hatte – Wasserstoff und Sauerstoff? – und viele Nebengeschmäcke. Ich konnte jeden einzelnen unterscheiden und schmecken. Tatsächlich konnte ich nicht anders, als sie zu unterscheiden. Doch ich lernte sie rasch und akzeptierte sie in ihrer neuen Komplexität, sodass nur gelegentliche Veränderungen in Nebengeschmäcken meine Aufmerksamkeit verlangten.
Unser Flusswasser in Lo kam immer von Sediment getrübt zu uns. »Reich«, nannten die Oankali es. »Schlammig«, sagten die Menschen und filterten es oder ließen den Schlick sich absetzen, bevor sie es tranken. »Nur Wasser«, sagten wir Konstruierten und zuckten die Achseln. Wir hatten nie anderes Wasser gekannt.
So rasch ich konnte, lernte ich wieder, meine Sinneseindrücke von den Leuten und Dingen um mich herum zu verstehen und zu akzeptieren. Die Erfahrung nahm so viel von meiner Aufmerksamkeit in Anspruch, dass ich nicht verstand, wie meine Familie nicht sehen konnte, dass etwas Ungewöhnliches mit mir vorging. Doch abgesehen von der Tatsache, dass sie meinten, ich würde zu viel mit offenen Augen träumen, bemerkten selbst meine Eltern die Symptome nicht.
Schließlich waren es die falschen Symptome. Niemand erwartete sie, deshalb bemerkte es niemand, als sie auftraten.
Meine fünf Eltern waren alle alt, als ich geboren wurde. Sie sahen nicht älter aus als meine erwachsenen Geschwister, aber sie hatten bei der Gründung von Lo geholfen. Sie hatten schon Enkelkinder, die alt waren. Ich glaube nicht, dass ich sie jemals zuvor überrascht hatte, und ich war nicht sicher, ob es mir jetzt gefiel, sie zu überraschen. Ich wollte es ihnen nicht sagen. Ich wollte es vor allem Tino nicht sagen, meinem Menschenvater. Er sollte bei mir bleiben während meiner Metamorphose – da er mein gleichgeschlechtliches Menschenelter war. Doch ich fühlte mich nicht so zu ihm hingezogen, wie ich es hätte sollen. Und ich fühlte mich auch nicht zu Lilith hingezogen, meiner Geburtsmutter. Auch sie war ein Mensch, und was mit mir geschah, war zweifellos nichts Menschliches. Seltsamerweise wollte ich auch nicht zu meinem Oankalivater, Dichaan, gehen, und er war meine logische Wahl nach Tino. Meine Oankalimutter, Ahajas, hätte mit einem von meinen Vätern für mich gesprochen. Sie hatte das für zwei von meinen Brüdern getan, die Angst vor der Metamorphose gehabt hatten – Angst, sie würden sich zu sehr verändern, alle Zeichen ihrer menschlichen Natur verlieren. Das konnte auch bei mir geschehen, obschon ich mir nie Gedanken darüber gemacht hatte. Ahajas hätte mit mir und für mich gesprochen, gleichgültig, was mein Problem war. Von allen meinen Eltern konnte man mit ihr am leichtesten reden. Ich wäre zu ihr gegangen, wenn der Gedanke daran verlockender gewesen wäre – oder wenn ich verstanden hätte, warum er so wenig verlockend war. Was war los mit mir? Ich war nicht schüchtern oder ängstlich, doch wenn ich daran dachte, zu ihr zu gehen, fühlte ich mich zuerst angezogen, dann … fast abgestoßen.
Schließlich war da Nikanj, mein Ooloi-Elter.
Es würde mir sagen, ich solle zu einem meiner gleichgeschlechtlichen Eltern gehen – zu einem meiner Väter. Was konnte es sonst sagen? Ich wusste ganz genau, dass ich in der Metamorphose war, und dass das eins der wenigen Dinge war, bei denen Ooloi-Eltern nicht helfen konnten. Es gab immer noch einige Menschen, die darauf beharrten, die Ooloi als eine Art Mischung aus Mann und Frau zu sehen, doch das waren die Ooloi nicht. Sie waren sie selbst – ein eigenes, völlig anderes Geschlecht.
Ich ging also zu Nikanj nur in der Hoffnung, eine Weile seine Gesellschaft zu genießen. Irgendwann würde es merken, was mit mir vorging, und mich zu meinen Vätern schicken. Bis dahin würde ich in seiner Nähe ruhen. Ich war müde, schläfrig. Die Metamorphose war hauptsächlich Schlaf.
Ich fand Nikanj im Familienhaus, wo es mit einem fremden Menschenpaar sprach. Die Menschen hielten Abstand von Nikanj. Die Frau versteckte sich fast hinter dem Mann, und der Mann bemühte sich angestrengt, mutig zu wirken. Beide machten erschrockene Gesichter, als sie bemerkten, wie ich eine Wand öffnete und durch sie hindurch in das Zimmer schritt. Als sie mich dann sahen, schienen sie sich ein wenig zu entspannen. Ich sah sehr menschlich aus – vor allem wenn sie mich mit Nikanj verglichen, das überhaupt nicht menschlich war.
Die Menschen rochen höchst auffällig nach Schweiß und Adrenalin, Essen und Sex. Ich setzte mich auf den Boden und ließ mich die komplexen Geruchskombinationen herausbekommen. Mein neues Bewusstsein erlaubte mir nicht, etwas anderes zu tun. Als ich fertig war, glaubte ich, in der Lage zu sein, diese beiden Menschen durch alles zu verfolgen.
Nikanj schenkte mir keine Beachtung, außer dass es mich bemerkte, als ich hereinkam. Es war daran gewöhnt, dass seine Kinder kamen und gingen, wie es ihnen beliebte, daran gewöhnt, dass wir alle Zeit mit ihm verbrachten, lernten, was immer es uns zu lehren bereit war.
Es hatte einen unglaublich komplexen Geruch, weil es ooloi war. Es hatte in sich nicht nur das Fortpflanzungsmaterial von anderen Mitgliedern der Familie gesammelt, sondern auch Zellen von anderen Pflanzen- und Tierspezies, mit denen es sich unlängst befasst hatte. Diese würde es studieren, sich einprägen, dann entweder verzehren oder speichern. Es verzehrte die, die es aus dem Gedächtnis neu schaffen konnte, wobei es seine eigene DNS benutzte. Die anderen hielt es in einer Art Stasis am Leben, bis sie gebraucht wurden.
Sein auffälligster Nebengeruch war Kaal, die Verwandtschaftsgruppe, in der es geboren worden war. Ich hatte seine Eltern nie kennengelernt, aber ich kannte den Kaalgeruch von anderen Mitgliedern der Kaal-Verwandtschaftsgruppe her. Doch irgendwie hatte ich diesen Geruch nie bei Nikanj bemerkt, ihn nie so deutlich wahrgenommen.
Der Hauptgeruch war natürlich Lo. Nikanj hatte sich mit Oankali der Lo-Verwandtschaftsgruppe gepaart, und bei der Paarung hatte es seinen eigenen Geruch geändert, wie ein Ooloi es musste. Das Wort »Ooloi« ließ sich nicht direkt in Menschensprache übersetzen, weil seine Bedeutung so komplex war wie Nikanjs Geruch. »Geschätzte Fremde.« »Brücke.« »Lebenshändler.« »Weber.« »Magnet.«
Magnet, sagt meine Geburtsmutter. Man wird zu Ooloi hingezogen und kann nicht entkommen. Sie konnte es gewiss nicht. Aber andrerseits konnte auch Nikanj ihr oder einem seiner Gefährten nicht entkommen. Die Oankali sagten, die chemischen Bande der Paarung seien so schwer abzulegen wie die Gewohnheit des Atmens.
Gerüche … Die beiden Menschen hier waren schon lange Gefährten und rochen nach einander.
»Wir wissen noch nicht, ob wir auswandern wollen«, sagte die Frau gerade. »Wir sind gekommen, um für uns selbst und für unsere Leute nachzusehen.«
»Man wird euch alles zeigen«, sagte Nikanj ihnen. »Es gibt keine Geheimnisse bezüglich der Marskolonie oder der Reise dorthin. Doch im Augenblick sind die für die Auswanderung zugeteilten Shuttles alle unterwegs. Wir haben einen Gästebereich, wo Menschen warten können.«
Die beiden Menschen schauten sich an. Sie rochen immer noch ängstlich, doch beide bemühten sich jetzt, tapfer auszusehen. Ihre Gesichter waren fast ausdruckslos.
»Wir wollen nicht hierbleiben«, sagte der Mann. »Wir werden zurückkommen, wenn ein Schiff da ist.«
Nikanj stand auf – entfaltete sich, wie die Menschen sagten. »Ich kann euch nicht sagen, wann ein Schiff da sein wird«, antwortete es. »Sie treffen ein, wenn sie eintreffen. Lasst mich euch den Gästebereich zeigen. Er ist nicht wie dieses Haus. Menschen bauten ihn aus gefälltem Holz.«
Das Paar stolperte vor Nikanj zurück.
Nikanjs Sinnestentakel legten sich flach an seinen Körper als Ausdruck seiner Belustigung. Es setzte sich wieder hin. »Es warten noch andere Menschen im Gästebereich«, meinte es freundlich zu ihnen. »Sie sind wie ihr. Sie wollen ihre eigene rein menschliche Welt. Sie werden mit euch reisen, wenn ihr geht.« Es hielt inne, blickte mich an. »Eka, warum zeigst du ihn ihnen nicht?«
Ich wollte jetzt mehr denn je bei ihm bleiben, doch ich konnte sehen, dass die beiden Menschen erleichtert waren, an jemanden übergeben zu werden, der zumindest menschlich aussah. Ich stand auf und schaute sie an.
»Das hier ist Jodahs«, sagte Nikanj ihnen, »eins meiner jüngeren Kinder.«
Die Frau warf mir einen Blick zu, den ich zu oft gesehen hatte, um ihn nicht zu erkennen. Sie sagte: »Aber ich dachte …«
»Nein«, unterbrach ich sie lächelnd. »Ich bin kein Mensch. Ich bin ein menschgeborener Konstruierter. Kommt hier heraus! Das Gästehaus ist nicht weit.« Sie wollten mir nicht durch die Wand folgen, die ich öffnete, bis sie ganz offen war – als ob sie glaubten, die Wand könnte sich um sie herum schließen, als ob sie sie verletzen würde, wenn sie es tat.
»Es wäre so, als ob man von einer großen Hand sanft gepackt würde«, erklärte ich ihnen, als wir alle draußen standen.
»Was?«, fragte der Mann.
»Wenn sich die Wand um euch herum schließen würde. Sie könnte euch nicht verletzen, weil ihr lebendig seid. Aber sie könnte eure Kleidung essen.«
»Nein, danke!«
Ich lachte. »Ich habe es noch nie erlebt, aber ich habe gehört, dass es passieren kann.«
»Wie ist dein Name?«, fragte die Frau.
»Der ganze?« Sie sah interessiert an mir aus – roch sexuell angezogen, was sie interessant für mich machte. Menschenfrauen neigten dazu, mich zu mögen, solange ich meine wenigen Körpertentakel durch Kleidung verdeckt und meine wenigen Kopftentakel in meinem Haar verborgen hielt. Die Sinnesstellen in meinem Gesicht und an meinen Armen sahen wie normale Haut aus, obschon sie sich nicht normal anfühlten.
»Dein menschlicher Name«, sagte die Frau. »Ich weiß schon … Eka und Jodahs, aber ich bin nicht sicher, wie ich dich nennen soll.«
»Eka ist nur ein Kosename für junge Kinder«, erklärte ich ihr, »wie Lelka für verheiratete Kinder und Chka zwischen Gefährten. Jodahs ist mein persönlicher Name. Die menschliche Version meines vollen Namens ist Jodahs Iyapo Leal Kaalnikanjlo. Mein Name, die Nachnamen meiner Geburtsmutter und meines Menschenvaters und Nikanjs Name, der mit der Verwandtschaftsgruppe seiner Oankaligefährten beginnt. Wenn ich oankaligeboren wäre oder wenn ich euch die Oankaliversion meines Namens nennen würde, wäre diese viel länger und komplizierter.«
»Ich habe einige von ihnen gehört«, sagte die Frau. »Du wirst sie wahrscheinlich irgendwann ablegen.«
»Nein. Wir ändern sie je nach Bedarf, aber wir legen sie nicht ab. Sie geben sehr nützliche Informationen, vor allem wenn man Gefährten sucht.«
»Den Namen Jodahs habe ich noch nie gehört«, sagte der Mann.
»Ein Oankaliname. Ein Oankali namens Jodahs starb, als er bei der Auswanderung half. Meine Geburtsmutter fand, er sollte nicht vergessen werden. Die Oankali kennen nicht die Tradition, Leute in Erinnerung zu behalten, indem sie Kinder nach ihnen benennen, doch meine Geburtsmutter bestand darauf. Das macht sie manchmal – dass sie darauf besteht, menschliche Bräuche beizubehalten.«
»Du siehst sehr menschlich aus«, sagte die Frau leise.
Ich lächelte. »Ich bin ein Kind. Ich sehe nur unfertig aus.«
»Wie alt bist du?«
»Neunundzwanzig.«
»Guter Gott! Wann wirst du als Erwachsener angesehen werden?«
»Nach der Metamorphose.« Ich lächelte bei mir. Bald. »Ich habe einen Bruder, der sie mit einundzwanzig durchmachte, und eine Schwester, bei der sie erst mit dreiunddreißig eintrat. Man verändert sich, wenn der Körper bereit ist, nicht in irgendeinem bestimmten Alter.«
Die Frau schwieg eine Weile. Wir erreichten die letzten der echten Häuser von Lo – die Häuser, die man aus der lebenden Substanz der Lo-Entität hatte wachsen lassen. Menschen ohne Oankaligefährten konnten keine Wände öffnen oder Tisch-, Bett- oder Stuhlpodeste in solchen Häusern errichten. In unseren Häusern allein gelassen, waren diese Menschen Gefangene, bis ein Konstruierter, Oankali oder gepaarter Mensch sie befreite. Also hatte man ihnen zuerst ein Gästehaus gegeben, dann einen Gästebereich. In diesem Bereich hatten sie ihre toten Häuser aus gefälltem Holz und geflochtenen Strohdächern errichtet. Sie benutzten Feuer als Lichtquelle und zum Kochen, und gelegentlich brannten sie eins ihrer Häuser nieder. Häuser, die nicht verbrannten, wurden von Nagetieren und Insekten heimgesucht, die das Essen der Menschen fraßen und die Menschen selbst bissen oder stachen. Von Zeit zu Zeit ging ein Oankali hinein und vertrieb die nichtmenschlichen Lebewesen. Sie kamen immer wieder. Sie hatten sich schon von Menschen ernährt, ihre Nahrung gefressen und in ihren Gebäuden gelebt, lange bevor die Oankali eintrafen. Trotzdem war der Gästebereich verhältnismäßig komfortabel. Gäste aßen von Bäumen und Pflanzen, die nicht das waren, was sie zu sein schienen. Sie waren Fortsätze der Lo-Entität, die dazu veranlasst worden waren, Früchte und Gemüse in Formen, Blüten und Texturen zu synthetisieren, die die Menschen erkannten. Die Nahrungsmittel wuchsen an Dingen, die wie ihre richtigen Bäume und Pflanzen aussahen. Lo kümmerte sich um die Abfälle der Menschen und hielt ihr Gebiet sauber, obschon sie dazu neigten, Dinge achtlos wegzuwerfen oder fallen zu lassen an diesem Übergangsort.
»Dort ist ein leeres Haus«, sagte ich und deutete darauf.
Die Frau starrte mehr auf meine Hand als dorthin, wo ich hinzeigte. Ich hatte, vom menschlichen Standpunkt aus, zu viele Finger und Zehen. Jeweils sieben. Da sie zu ausgesprochen menschlich aussehenden Händen und Füßen gehörten, bemerkten die Menschen sie gewöhnlich nicht sofort.
Ich hielt meine Hand auf, mit der Handfläche nach oben, sodass die Frau sie sehen konnte, und ihr Ausdruck wechselte von Neugier und Überraschung zu Verlegenheit und zurück zu Neugier.
»Wirst du dich sehr verändern in der Metamorphose?«, fragte sie.
»Wahrscheinlich. Die Menschgeborenen werden oankaliähnlicher und die Oankaligeborenen werden menschenähnlicher. Ich gehöre zur ersten Generation. Wenn ihr die Zukunft sehen wollt, schaut euch ein paar von den Konstruierten der dritten und vierten Generation an. Sie sehen von Anfang bis Ende weitaus einheitlicher aus.«
»Das ist nicht unsere Zukunft«, sagte der Mann.
»Es ist eure Entscheidung.«
Der Mann ging weg auf das leere Haus zu. Die Frau zögerte. »Was hältst du von unserer Auswanderung?«, fragte sie.
Ich schaute sie an. Ich mochte sie und wollte nicht antworten. Doch solche Fragen sollten beantwortet werden. Aber warum waren die Menschenfrauen, die darauf bestanden, sie zu stellen, so oft kleine, schwache Leute? Die Marsumgebung, die ihr Ziel war, war rauer als jede, die sie gekannt hatten. Wir würden dafür sorgen, dass sie die bestmöglichen Überlebenschancen hatten. Viele würden überleben und Kinder auf ihrer neuen Welt gebären. Doch sie würden dabei leiden. Und am Ende würde alles umsonst sein. Ihr eigener genetischer Konflikt hatte sie schon einmal verraten und vernichtet. Er würde es wieder tun.
»Ihr solltet bleiben«, sagte ich zu der Frau. »Ihr solltet euch uns anschließen.«
»Warum?«
Ich wollte sie nicht anschauen, wollte von ihr weggehen. Stattdessen sah ich sie weiter an. »Ich weiß, dass es Menschen freistehen muss, zu gehen«, sagte ich leise. »Ich bin Mensch genug, dass mein Körper das versteht. Doch ich bin auch Oankali genug, um zu wissen, dass ihr euch am Ende wieder vernichten werdet.«
Sie zog die Brauen zusammen, verunstaltete ihre glatte Stirn. »Du meinst einen neuen Krieg?«
»Möglicherweise. Oder vielleicht werdet ihr einen anderen Weg finden, es zu tun. Ihr arbeitetet an verschiedenen Wegen vor eurem Krieg.«
»Du weißt gar nichts darüber. Du warst zu jung.«
»Du solltest bleiben und dich mit Konstruierten oder mit Oankali paaren«, sagte ich. »Die Kinder, die wir konstruieren, sind frei von angeborenen Fehlern.«
»Du bist doch nur ein Kind, das wiederholt, was man ihm gesagt hat!«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich nehme wahr, was ich wahrnehme. Es musste mir ebenso wenig jemand sagen, wie ich meine Sinne benutze, wie mir jemand sagen musste, wie man sieht oder hört. Es gibt einen tödlichen genetischen Konflikt in der Menschheit, und ihr wisst es.«
»Alles, was wir wissen, ist das, was die Oankali uns gesagt haben.« Der Mann war zurückgekommen. Er legte den Arm um die Frau und zog sie von mir weg, als ob ich eine Drohung geäußert hätte. »Sie könnten aus ihren eigenen Gründen lügen.«
Ich wandte ihm meine Aufmerksamkeit zu. »Du weißt, dass sie nicht lügen«, erwiderte ich leise. »Eure eigene Geschichte sagt es euch. Euer Volk ist intelligent, und das ist gut. Die Oankali sagen, dass ihr potentiell eine der intelligentesten Rassen seid, die sie gefunden haben. Aber ihr seid auch hierarchisch – süchtig nach Macht und Unterdrückung – ihr und eure nächsten Tierverwandten und eure entferntesten Tierverwandten. Intelligenz ist relativ neu für das Leben auf der Erde, aber eure hierarchischen Tendenzen sind uralt. Das Neue wurde zu oft in den Dienst des Alten gestellt. So wird es wieder sein. Ihr seid klug genug, um zu lernen, auf eurer neuen Welt zu überleben, aber ihr seid so hierarchisch, dass ihr euch selbst vernichten werdet bei dem Versuch, sie und einander zu beherrschen. Ihr könntet lange bestehen, aber am Ende werdet ihr euch vernichten.«
»Wir könnten tausend Jahre bestehen«, sagte der Mann. »Wir sind auf der Erde gut zurechtgekommen bis zum Krieg.«
»Ihr könntet. Eure neue Welt wird schwierig sein. Sie wird den größten Teil eurer Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, eure hierarchischen Tendenzen vielleicht eine Zeitlang in andere Bahnen lenken und beschäftigen.«
»Wir werden frei sein – wir, unsere Kinder, ihre Kinder.«
»Vielleicht.«
»Wir werden echte Menschen sein und frei. Das genügt. Vielleicht könnten wir sogar eines Tages wieder ohne fremde Hilfe in den Weltraum fliegen. Dein Volk könnte sich völlig irren, was uns betrifft.«
»Nein.« Er konnte die Genkombinationen nicht so lesen, wie ich es konnte. Es war, als ob er im Begriff wäre, über eine Klippe zu gehen, nur weil er sie nicht sehen konnte – oder weil er, oder vielmehr seine Nachkommen, noch lange nicht auf den Felsen unten aufschlagen würden. Und was taten wir, wir, die die Wahrheit kannten? Ihm helfen, die Klippe zu erreichen. Ihn zu ihr bringen.
»Wir könnten dein Volk hier auf der Erde überleben«, sagte er.
»Das hoffe ich«, entgegnete ich. Sein Ausdruck sagte, dass er mir nicht glaubte, aber ich meinte es ernst. Wir – die Erde, die er kannte – würden nicht mehr länger als ein paar Jahrhunderte hier sein. Wir, Oankali und Konstruierte, waren ein Raumfahrervolk, ebenso neugierig und begierig auf anderes Leben, wie die Menschen hierarchisch waren. Irgendwann würden wir die lange, lange Suche nach einer neuen Spezies beginnen, mit der wir uns verbinden konnten, um neue Lebensformen zu konstruieren. Ein Großteil der Oankaliexistenz wurde mit solchem Suchen verbracht. Wir würden dieses Sonnensystem in vielleicht drei Jahrhunderten verlassen. Ich würde den Abschied noch selbst miterleben. Und wenn wir uns trennten und zerstreuten, würden wir einen Klumpen nackten Gesteins zurücklassen, der eher dem Mond glich als seiner blauen Erde. Der Mann wusste das nicht. Er würde es nie erfahren. Es ihm zu sagen, wäre eine Grausamkeit.
»Betrachtest du dich oder deine Art überhaupt als Menschen?«, fragte die Frau. »Einige von euch sehen so menschlich aus.«
»Wir fühlen unsere menschliche Natur. Sie hilft uns, sowohl euch als auch die Oankali zu verstehen. Die Oankali allein hätten euch eure Marskolonie nie haben lassen können.«
»Ich hörte, sie würden helfen!«, sagte der Mann. »Dein … dein Elter sagte, sie würden helfen!«
»Sie helfen wegen dem, was wir Konstruierte ihnen sagen: dass es euch erlaubt sein sollte, zu gehen, auch wenn ihr euch schließlich vernichten werdet. Die Oankali glauben … die Oankali wissen bis ins Innerste, dass es falsch ist, der menschlichen Spezies zu helfen, sich unverändert zu regenerieren, weil sie sich wieder vernichten wird. Für sie ist es, als ob man vorsätzlich die Empfängnis eines Kindes verursacht, das so defekt ist, dass es im frühen Kindesalter sterben muss.«
»Sie irren sich. Eines Tages werden wir ihnen zeigen, wie sehr.«
Es war eine Drohung. Sie war sinnlos, doch sie verschaffte ihm eine kleine Befriedigung. »Die anderen Menschen hier werden euch zeigen, wo ihr Nahrung sammeln könnt«, sagte ich. »Wenn ihr sonst noch etwas braucht, fragt einen von uns.« Ich wandte mich zum Gehen.
»So gottverdammt herablassend«, murmelte der Mann.
Ohne nachzudenken, drehte ich mich um. »Bin ich das wirklich?«
Der Mann runzelte die Stirn, murmelte einen Fluch und ging zurück ins Haus. Ich begriff jetzt, dass er nur zornig war. Es bekümmerte mich, dass ich sie manchmal zornig machte. Ich wollte es nie.
Die Frau trat an mich heran, berührte mein Gesicht, untersuchte etwas von meinem Haar. Menschen, die sich nicht unter uns gepaart hatten, lernten nie richtig, wie man uns berührte. Bestenfalls irritierten sie uns, indem sie über Sinnesstellen strichen, und wenn ihre Hände die Stellen einmal fanden, mochten sie sie nie.
Die Frau riss die Hand zurück, als ihre Finger eine unter meinem linken Ohr entdeckten.
»Sie sind ein bisschen wie Augen, die sich nicht schließen können, um sich zu schützen«, sagte ich. »Es tut nicht direkt weh, wenn ihr sie berührt, aber wir haben es nicht gern.«
»Und? Ihr müsst einem beibringen, wie man euch berührt?«
Ich lächelte und nahm ihre Hand zwischen meine. »Hände sind immer ungefährlich«, sagte ich. Ich verließ sie, und sie stand da und beobachtete mich. Ich konnte sie durch Sinnestentakel in meinem Haar sehen. Sie stand dort, bis der Mann herauskam und sie ins Haus zog.
Ich kehrte zu Nikanj zurück und saß neben ihm, während es sich um Familienangelegenheiten kümmerte, während es sich mit Leuten vom Heimatschiff der Oankali, Chkahichdahk, traf, das die Erde außerhalb der Mondumlaufbahn umkreiste, während es Informationen mit anderen Ooloi austauschte oder biologische Informationen von meinen Geschwistern entgegennahm. Wir alle brachten Nikanj Stückchen von Fell, Fleisch, Pollen, Blättern, Samen, Sporen oder anderen lebenden oder toten Zellen von Pflanzen oder Tieren, zu denen wir Fragen hatten oder die neu für uns waren.
Niemand beachtete mich. Es lag ein seltsamer Trost darin. Ich konnte sie alle mit meinen neu verschärften Sinnen untersuchen, sehen, was ich vorher nie gesehen hatte, riechen, was ich nie bemerkt hatte. Ich schien wohl ein wenig zu dösen. Aaor, mein nächstes Geschwister – mein oankaligeborenes Geschwister –, kam und setzte sich eine Weile zu mir. Sie war das Kind meiner Oankalimutter und noch nicht wirklich weiblich, aber ich hatte sie immer als Schwester betrachtet. Sie sah so weiblich aus – zumindest hatte sie weiblich ausgesehen, bevor ich begann, mich zu verändern. Jetzt sah sie … jetzt sah es so aus, wie es immer hätte aussehen sollen. Es sah im wahrsten Sinne des Wortes eka aus – ein Kind, das zu jung war, um schon ein Geschlecht entwickelt zu haben. Das war es, was wir beide waren – im Augenblick. Aaor roch eka. Es konnte sich buchstäblich in beide Richtungen entwickeln, männlich oder weiblich werden. Ich hatte dies natürlich immer von uns beiden gewusst. Doch jetzt konnte ich mir Aaor plötzlich nicht einmal mehr als »sie« vorstellen. Sie würde wahrscheinlich eines Tages weiblich werden, so wie ich wahrscheinlich bald der Mann werden würde, der ich äußerlich war. Die Menschgeborenen veränderten selten ihr augenscheinliches Geschlecht. In meiner Familie war nur ein Menschgeborener, der augenscheinlich weiblich war, tatsächlich männlich geworden. Mehrere Oankaligeborene hatten sich verändert, doch die meisten wussten schon lange vor ihrer Metamorphose, dass sie sich mehr dazu hingezogen fühlten, das Gegenteil von dem zu werden, was sie zu sein schienen.
Aaor rückte dicht an mich heran und untersuchte mich mit einigen seiner Kopf- und Körpertentakel. »Ich glaube, du stehst dicht vor der Metamorphose«, sagte es. Es hatte nicht laut gesprochen. Kinder lernten früh, dass es ungezogen war, laut miteinander zu sprechen, wenn andere in der Nähe eine mündliche Unterhaltung führten. Wir sprachen durch Berührungssignale, Zeichen und multisensorische Illusionen, die durch Kopf- oder Körpertentakel übermittelt wurden – direkte Nervenstimulation.
»Ja«, antwortete ich stumm. »Aber ich fühle mich … anders.«
»Zeig es mir!«
Ich versuchte, mein verstärktes sensorisches Bewusstsein für es neu zu schaffen, doch es zog sich zurück.
Nach einer Weile berührte es mich wieder leicht. Nur in taktilen Signalen sagte es: »Es gefällt mir nicht. Irgendwas stimmt nicht. Du solltest es Dichaan zeigen.«
Ich wollte es Dichaan nicht zeigen. Das war sonderbar. Ich hatte nichts dagegen gehabt, es Aaor zu zeigen. Ich empfand auch keine Abneigung, es Nikanj zu zeigen – außer dass es mich wahrscheinlich zu meinen Vätern schicken würde.
»Was an mir stört dich?«, fragte ich Aaor.
»Ich weiß es nicht«, antwortete es. »Aber es gefällt mir nicht. Ich habe es noch nie gefühlt. Irgendetwas stimmt nicht.« Es hatte Angst, und das war merkwürdig. Neue Dinge fesselten gewöhnlich seine Aufmerksamkeit. Dieses neue Ding stieß es zurück.
»Es ist nichts, das dir weh tun wird«, sagte ich. »Sei unbesorgt.«
Es stand auf und ging weg. Es sagte nichts. Es ging einfach. Das passte nicht zu ihm. Aaor und ich hatten uns immer nahegestanden. Es war nur drei Monate jünger als ich, und wir waren zusammen gewesen, seit es geboren wurde. Es hatte mich noch nie stehengelassen. Man ließ nur Leute stehen, mit denen man nicht mehr kommunizieren konnte.
Ich ging hinüber zu Nikanj. Es war jetzt allein. Einer unserer Nachbarn war gerade gegangen. Es konzentrierte einen Kegel seiner langen Kopftentakel auf mich, als es endlich bemerkte, dass etwas anders an mir war.
»Metamorphose, Eka?«
»Ich glaube ja.«
»Lass mich nachsehen. Dein Geruch ist merkwürdig.« Der Ton seiner Stimme war sonderbar. Ich war dabei gewesen, wenn Geschwister von mir in die Metamorphose eintraten. Nikanj hatte noch nie so geklungen.
Es schlang die Spitze eines Sinnesarms um meinen Arm und streckte seine Sinneshand aus. Sinneshände waren Ooloianhängsel. Nikanj benutzte sie gewöhnlich nicht, um auf Metamorphose hin zu untersuchen. Es hätte seine Kopf- oder Körpertentakel benutzen können genau wie jeder andere, doch es war beunruhigt genug, um präziser, sicherer sein zu wollen.
Ich versuchte, die Fasern der Sinneshand zu fühlen, als sie durch mein Fleisch glitten. Ich hatte es früher nie gekonnt, doch nun fühlte ich sie deutlich. Natürlich gab es keinen Schmerz. Keine Kommunikation. Doch ich hatte das Gefühl, als ob ich gefunden hätte, wonach ich gesucht hatte. Die tiefe Berührung der Sinneshand war Luft nach langem, ungeschicktem Schwimmen unter Wasser. Ohne nachzudenken, nahm ich seinen zweiten Sinnesarm zwischen meine Hände.
Irgendetwas ging dann schief. Nikanj stach mich nicht. Das hätte es nicht getan. Doch irgendetwas passierte. Ich erschreckte es. Nein, ich schockierte es zutiefst – und es gab die volle Wirkung dieses Schocks an mich weiter. Seine multisensorischen Illusionen fühlten sich realer an als Dinge, die tatsächlich passierten, und es war schlimmer als eine Illusion. Es war eine plötzliche, schnelle, kreisförmige Bewegung seiner eigenen großen Überraschung und Furcht. Von mir auf es zu mir. Geschlossene Schleife.
Ich konnte mich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Ich merkte nicht, dass ich zusammenbrach oder in Nikanjs beiden fast menschlich aussehenden Kraftarmen aufgefangen wurde. Später untersuchte ich meine latenten Erinnerungen an diesen Augenblick und erfuhr, dass ich mehrere Sekunden lang einfach in Nikanjs vier Armen gehalten worden war. Es hatte völlig reglos dagestanden, erstarrt vor Schock und Furcht.
Schließlich, als sein Schock nachließ, die Furcht wuchs, legte es mich auf ein breites Podest. Es richtete einen scharfen Kegel von Kopftentakel auf mich und stand wieder wie versteinert da, beobachtete. Nach einer Weile legte es sich neben mich und half mir, zu verstehen, warum es so verstört war.
Doch inzwischen wusste ich es.
»Du wirst ooloi«, sagte es ruhig.
Ich begann, Angst zu haben um mich. Nikanj lag neben mir. Seine Kopf- und Körpertentakel berührten mich nicht. Es bot weder Trost noch Beruhigung, machte keine Bewegung, kein Zeichen, dass es überhaupt bei Bewusstsein war.
»Ooan?«, sagte ich. Ich hatte es Jahre nicht mehr so genannt. Meine älteren Geschwister nannten unsere Eltern bei ihrem Namen, und ich hatte früh begonnen, es ihnen nachzutun. Doch jetzt hatte ich Angst. Ich wollte nicht »Nikanj«. Ich wollte »Ooan«, das Elter, zu dem ich so oft gegangen oder getragen worden war, um geheilt oder gelehrt zu werden. »Ooan, kannst du mich nicht zurückverwandeln? Ich sehe immer noch männlich aus.«
»Du weißt es besser«, sagte es laut.
»Aber …«
»Du warst nie männlich, gleichgültig wie du aussahst. Du warst eka. Das weißt du.«
Ich sagte nichts. Mein Leben lang war ich von meinen Menscheneltern, von allen Menschen in Lo als »er« bezeichnet und als männlich behandelt worden. Selbst Oankali sagten manchmal »er«. Und jeder hatte angenommen, dass Dichaan und Tino meine gleichgeschlechtlichen Eltern sein sollten. Man sollte so empfinden, damit ich auf die Veränderung vorbereitet sein würde, die hätte eintreten sollen. Doch die Veränderung war danebengegangen. Bis jetzt war kein Konstruierter ooloi geworden. Wenn Leute erwachsen wurden und bereit waren, sich zu paaren, gingen sie aufs Schiff und fanden ein Oankali-Ooloi, oder sie signalisierten dem Schiff, und ein Oankali-Ooloi wurde heruntergeschickt.
Menschgeborene Männer wurden immer noch als experimentell und potentiell gefährlich angesehen. Ein paar Männer aus anderen Dörfern waren sterilisiert und auf das Schiff verbannt worden. Niemand war bereit für ein konstruiertes Ooloi. Sicherlich war niemand bereit für ein menschgeborenes konstruiertes Ooloi. Konnte es ein potentiell tödlicheres Geschöpf geben?
»Ooan!«, sagte ich verzweifelt.
Es zog mich an sich, und seine Kopf- und Körpertentakel berührten, durchdrangen dann mein Fleisch. Sein Sinnesarm schlang sich um mich, sodass sich die Sinneshand in meinen Nacken legen konnte. Dies war der bevorzugte Ooloigriff bei Menschen und bei vielen Konstruierten. Sowohl Gehirn als auch Rückenmark waren leicht zugänglich für die dünnen Fasern der Sinneshand.
Zum ersten Mal, seit ich aufgehört hatte, die Brust zu nehmen, betäubte Nikanj mich – immobilisierte mich –, als ob es mir nicht zutrauen könnte, still zu sein. Ich war zu sehr erschrocken, um auch nur gekränkt zu sein. Vielleicht tat es recht daran, mir nicht zu trauen.
Dennoch tat es mir nicht weh. Und es beruhigte mich auch nicht. Warum sollte es mich beruhigen? Ich hatte guten Grund, Angst zu haben.
»Ich hätte es bemerken sollen«, sagte es laut. »Ich hätte es … ich konstruierte dich so, dass du sehr männlich aussahst – so männlich, dass sich die Frauen zu dir hingezogen fühlen und helfen würden, dich zu überzeugen, dass du männlich warst. Bis heute dachte ich, sie hätten es. Jetzt weiß ich, dass ich der Einzige war, der überzeugt war. Ich verleitete mich selbst zu Achtlosigkeit und Blindheit.«
»Ich habe mich immer männlich gefühlt«, sagte ich. »Ich habe nie daran gedacht, etwas anderes zu sein.«
»Ich hätte dich mehr Zeit mit Tino und Dichaan verbringen lassen sollen.« Es hielt für einen Moment inne, raschelte mit seinen freien Körpertentakeln. Das tat es, wenn es nachdachte. Wenn sich ein Dutzend oder so Körpertentakel aneinanderrieben, klang es wie Wind, der durch die Bäume streicht. »Ich hatte dich gern bei mir«, fuhr es fort. »Alle meine Kinder werden erwachsen und wenden sich von mir ab, wenden sich ihren gleichgeschlechtlichen Eltern zu. Ich dachte, das würdest du auch tun, wenn die Zeit gekommen war.«
»Das dachte ich auch. Obschon ich es nie wollte.«
»Du wolltest nicht zu deinen Vätern gehen?«
»Nein. Ich verließ dich nur, wenn ich wusste, ich würde im Weg sein.«
»Ich hatte nie das Gefühl, dass du im Weg warst.«
»Ich bemühte mich, vorsichtig zu sein.«
Es raschelte wieder mit seinen Tentakeln, wiederholte: »Ich hätte es bemerken sollen …«
»Du warst immer einsam«, sagte ich. »Du hattest Gefährten und Kinder, aber für mich schmecktest du immer … irgendwie leer – als ob du hungrig, fast ausgehungert wärst.«
Es sagte eine Weile nichts. Es bewegte sich nicht, doch ich fühlte mich sicher von ihm eingehüllt. Manche Menschen versuchten, einem dieses Gefühl zu geben, wenn sie einen umarmten und die Sinnesstellen reizten und die Sinnestentakel quetschten. Nur die Oankali konnten es wirklich geben. Und im Augenblick konnte nur Nikanj es mir geben. In seinem ganzen langen Leben hatte es kein gleichgeschlechtliches Kind gehabt. Es hatte all seine Tricks benutzt, um uns davor zu schützen, ooloi zu werden. Es hatte all seine Tricks benutzt, um selbst quälend einsam zu bleiben.
Ich glaube, ich hatte immer gewusst, wie einsam es war. Gewiss hatte ich es von meinen fünf Eltern immer am meisten geliebt. Augenscheinlich hatte mein Körper so darauf reagiert, wie es der eines Oankalikindes getan hätte. Ich war im Begriff, das Geschlecht des Elters anzunehmen, zu dem ich mich am meisten hingezogen gefühlt hatte.
»Was wird mit mir geschehen?«, fragte ich nach langem Schweigen.
»Du bist gesund«, antwortete es. »Deine Entwicklung ist genau richtig. Ich kann keinen Fehler in dir finden.« Und das bedeutete, dass es keinen Fehler gab. Es war ein gutes Ooloi. Andere Ooloi kamen zu ihm, wenn sie Probleme hatten, die über ihre Wahrnehmung oder ihr Verständnis hinausgingen.
»Was wird geschehen?«, wiederholte ich.
»Du wirst bei uns bleiben.«
Keine Einschränkung. Es würde nicht erlauben, dass ich weggeschickt wurde. Dennoch hatte es mit anderen Ooloi vor einem Jahrhundert vereinbart, dass jedes zufällig konstruierte Ooloi zum Schiff geschickt werden musste. Dort konnte man es beobachten, und jeder Schaden, den es anrichtete, konnte entdeckt und rasch behoben werden. Auf dem Schiff konnte jeder seiner Schritte überwacht werden. Auf der Erde konnte es großen Schaden anrichten, bevor irgendjemand es bemerkte.
Doch Nikanj würde nicht erlauben, dass ich weggeschickt wurde. Das hatte es gesagt.
Rasch rief Nikanj alle meine Eltern zusammen. Ich würde bald schlafen. Die Metamorphose ist hauptsächlich Tiefschlaf, während sich der Körper verändert und heranreift. Nikanj wollte es den anderen sagen, solange ich noch wach war.
Meine Menschenmutter kam herein, schaute auf Nikanj und mich, kam dann zu mir herüber und ergriff meine Hände. Niemand hatte etwas laut gesagt, doch sie wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Zweifellos wusste sie, dass ich in der Metamorphose war. Das hatte sie oft genug erlebt. Sie betrachtete mich und hielt ihr Gesicht dicht vor meins, da ihre Augen ihre einzigen Sehorgane waren. Dann schaute sie Nikanj an. »Was ist los mit ihm? Das ist nicht nur die Metamorphose.«
Ich hatte begonnen, durch ihre Haut hindurch das Fleisch ihrer Hände auf eine Weise zu studieren, wie ich es noch nie getan hatte. Ich kannte ihr Fleisch besser als jedes andere, doch da war jetzt etwas an ihm – ein Geschmack, eine Textur, die ich nie bemerkt hatte.
Sie nahm abrupt die Hände von mir und trat zurück. »Oh, guter Gott …«
Noch immer hatte niemand etwas zu ihr gesagt. Trotzdem wusste sie es.
»Was ist los?«, fragte mein Menschenvater.
Meine Mutter blickte Nikanj an. Als es nichts sagte, meinte sie: »Jodahs … Jodahs wird ooloi.«
Mein Menschenvater runzelte die Stirn. »Aber das ist unmög…« Er brach ab, folgte meiner Mutters Blick zu Nikanj. »Es ist unmöglich, nicht wahr?«
»Nein«, erwiderte Nikanj leise.
Er ging zu Nikanj, stand steif über ihm. Er sah mehr erschrocken als zornig aus. »Wie konntest du das passieren lassen?«, wollte er wissen. »Exil, um Gottes willen! Exil für dein eigenes Kind!«
»Nein, Chka«, flüsterte Nikanj.
»Exil! Es ist euer Gesetz, euer Ooloigesetz!«
»Nein.« Es richtete einen Kegel Kopftentakel auf seine Oankaligefährten. »Das Kind ist perfekt. Meine Nachlässigkeit hat zwar zugelassen, dass es ooloi wird, aber ansonsten war ich nicht nachlässig.« Es zögerte. »Kommt. Überzeugt euch. Überzeugt euch für das Volk.«
Meine Oankalimutter und mein Oankalivater verbanden sich mit ihm in einem Gewirr von Kopf- und Körpertentakeln. Es berührte sie nicht mit seinen Sinnesarmen, entrollte die Arme nicht einmal, bis Dichaan einen Arm ergriff und Ahajas den anderen. Im Einklang richteten dann alle drei Kegel von Kopftentakeln auf meine beiden Menscheneltern. Die Menschen funkelten sie an. Nach einer Weile ging Lilith zu den Oankali, berührte sie jedoch nicht. Sie drehte sich um und hielt Tino einen Arm hin. Er bewegte sich nicht.
»Euer Gesetz!«, wiederholte er zu Nikanj.
Doch es war Lilith, die antwortete. »Kein Gesetz. Konsens. Sie vereinbarten, zufällige Ooloi auf das Schiff zu schicken. Nika glaubt, dass es die Vereinbarung ändern kann.«
»Jetzt? Mittendrin?«
»Ja.«
»Und wenn es das nicht kann?«
Lilith schluckte. Ich sah, wie ihre Kehle sich heftig bewegte. »Dann werden wir Lo vielleicht für eine Weile verlassen müssen – für uns im Wald leben müssen.«
Er ging zu ihr, schaute sie an, wie er es manchmal tut, wenn er sie berühren möchte, sie vielleicht so halten möchte, wie sich die Menschen im Gästebereich halten. Doch Menschen, die Oankaligefährten akzeptieren, geben diese Art der Berührung auf. Sie geben nicht den Wunsch auf, es zu tun, doch sobald sie sich mit Oankali paaren, empfinden sie die Berührung des anderen als abstoßend.
Tino wandte seine Aufmerksamkeit Nikanj zu. »Warum sprichst du nicht mit mir? Warum überlässt du es ihr, mir zu sagen, was los ist?«
Nikanj streckte ihm einen Sinnesarm hin.
»Nein! Verdammt noch mal, rede mit mir! Sprich laut!«
»… also gut«, flüsterte Nikanj. Sein Körper war gebeugt in einer Haltung tiefer Scham.
Tino starrte es wütend an.
»Ich kann dir … dein gleichgeschlechtliches Kind nicht zurückgeben«, sagte es.
»Warum hast du das getan? Wie konntest du es tun?«
»Ich habe einen Fehler gemacht. Mir ist erst heute klar geworden, was ich habe geschehen lassen. Ich … ich hätte es nicht absichtlich getan, Chka. Nichts hätte mich dazu bringen können, es zu tun. Es geschah, weil ich nach so vielen Jahren begonnen hatte, nachlässiger zu werden in Bezug auf unsere Kinder. Es ist immer alles gut gegangen. Ich war unvorsichtig.«
Mein Menschenvater blickte mich an. Es war, als ob er mich aus großer Entfernung ansähe. Seine Hand bewegte sich, und ich wusste, dass er auch mich berühren wollte. Doch wenn er es tat, würde es genauso danebengehen wie vorher bei meiner Mutter. Sie konnten mich nicht mehr berühren. Innerhalb der Familie konnte man seine gleichgeschlechtlichen Kinder berühren, seine geschlechtslosen Kinder, seine gleichgeschlechtlichen Gefährten und seine Ooloigefährten.
Nun drehte sich mein Menschenvater abrupt um und ergriff Nikanjs ausgestreckten Sinnesarm. Der Arm war ein hartes, muskulöses Organ, das die unentbehrlichen Sinnes- und Fortpflanzungsorgane der Ooloi enthielt und schützte. Es konnte wahrscheinlich nicht durch bloße Menschenhand beschädigt werden, doch ich glaube, dass Tino es versuchte. Er war zornig und verletzt, und das weckte in ihm den Wunsch, andere zu verletzen. Von meinen beiden Menscheneltern neigte nur er dazu, so zu reagieren. Und nun war das einzige Geschöpf, an das er sich um Trost wenden konnte, derjenige, der schuld an seinem Kummer war. Ein Oankali hätte eine Wand geöffnet und wäre für eine Weile fortgegangen. Selbst Lilith hätte das getan. Tino versuchte, Schmerz zu verursachen. Schmerz für Schmerz.
Nikanj zog ihn an seinen Körper und hielt ihn unbeweglich, während es ihn tröstete und stumm zu ihm sprach. Es hielt ihn so lange, dass meine Oankali-Eltern Podeste errichteten und sich auf sie setzten, um zu warten. Lilith kam zu mir, obschon sie ihr eigenes Podest hätte errichten können. Mein Geruch muss sie gestört haben, doch sie setzte sich neben mich und schaute mich an.
»Geht es dir gut?«, fragte sie.
»Ja. Ich glaube, ich werde bald einschlafen.«
»Du siehst so aus. Stört dich meine Anwesenheit?«
»Noch nicht. Aber es muss dich stören.«
»Ich kann es aushalten.«
Sie blieb, wo sie war. Ich konnte mich daran erinnern, wie ich in ihr gewesen war. Ich konnte mich an die Zeit erinnern, als es nur sie gegeben hatte in meinem Universum. Ich stellte fest, dass ich mich danach sehnte, sie zu berühren. Das hatte ich noch nie gefühlt. Ich war noch nie unfähig gewesen, sie zu berühren. Nun entdeckte ich ein wenig von dem menschlichen Hunger, zu berühren, wo ich es nicht konnte.
»Hast du Angst?«, fragte Lilith.
»Ich hatte Angst. Doch jetzt, wo ich weiß, dass bei mir alles in Ordnung ist, und dass ihr alle mich hierbehalten werdet, geht es mir bestens.«
Sie lächelte ein wenig. »Nikas erstes gleichgeschlechtliches Kind. Es ist so einsam gewesen.«
»Ich weiß.«
»Wir alle wussten es«, sagte Dichaan von seinem Podest. »Alle Ooloi auf der Erde müssen die Verzweiflung fühlen, die Nikanj fühlte. Das Volk wird die alte Vereinbarung ändern müssen, bevor mehr Unfälle passieren. Das nächste könnte ein fehlerhaftes Ooloi sein.«
Ein fehlerhafter natürlicher Genmanipulator – ein Ooloi, das mit einer Berührung verzerren oder zerstören konnte. Nichts konnte es vor der Haft auf dem Schiff bewahren. Vielleicht würde es sogar physisch verändert werden müssen, um zu verhindern, dass es in irgendeiner Hinsicht als Ooloi fungierte. Vielleicht würde es so gefährlich sein, dass es sein Leben im Scheintod würde verbringen müssen, wo sein Körper von anderen für schmerzlose Experimente benutzt wurde, sein Bewusstsein für immer ausgeschaltet war.
Ich schauderte und legte mich wieder hin. Augenblicklich waren sowohl Nikanj als auch Tino neben mir, offensichtlich versöhnt durch ihre Sorge um mich. Nikanj berührte mich mit einem Sinnesarm, entblößte aber nicht die Sinneshand. »Hör zu, Jodahs.«
Ich konzentrierte mich auf es, ohne die Augen zu öffnen.
»Du wirst hier gut aufgehoben sein. Ich werde bei dir bleiben. Ich werde von hier aus mit dem Volk reden, und wenn du das Ende dieser ersten Metamorphose erreicht hast, wirst du dich an alles erinnern, was ich zu ihnen gesagt habe – und an alles, was sie gesagt haben.« Es legte einen Sinnesarm um meinen Nacken, und das Gefühl des Arms dort tröstete mich. »Wir werden auf dich aufpassen«, fügte es hinzu.
Später streifte es mir die Kleidung ab, während ich an der Grenze des Schlafs trieb, wie ein Strohhalm, der auf einem stillen Teich treibt. Ich konnte noch nicht unter die Oberfläche gleiten.
Etwas wurde in meinen Mund gesteckt. Es hatte den Geschmack und die Textur von Ananasstücken, aber winzige Unterschiede in seinem Geruch verrieten mir, dass es eine Lo-Schöpfung war. Als ich mehrere Stücke gegessen hatte, konnte ich unter die Oberfläche des Schlafs gleiten.
Metamorphose ist Schlaf. Tage, Wochen, Monate des Schlafs, der hin und wieder unterbrochen wird durch ein paar Stunden des Erwachens, Essens, Redens. Männer und Frauen schliefen noch mehr, aber sie hatten nur die eine Metamorphose. Ooloi mussten dies zweimal durchmachen.
Es gab Zeiten, in denen ich genug bei Bewusstsein war, um zu beobachten, wie sich mein Körper entwickelte. Eine Atemöffnung bildete sich an meiner Kehle, sodass ich schließlich in der Lage sein würde, im Wasser ebenso problemlos zu atmen wie an der Luft. Meine Nase wurde nicht in mein Gesicht absorbiert, doch sie wurde zu wenig mehr als einer Verzierung.
Ich verlor zwar nicht mein Haar, aber ich bekam viele weitere Kopf- und Körpertentakel. Ich würde Sinnesarme erst bei meiner zweiten Metamorphose entwickeln, doch meine Sensitivität war schon verstärkt worden, und ich würde bald in der Lage sein, komplexere multisensorische Illusionen zu vermitteln und zu empfangen und sie wesentlich schneller zu handhaben.
Und etwas wuchs zwischen meinen Herzen.
Weil ich menschgeboren war, war der innere Aufbau im Grunde menschlich. Ooloi achten darauf, keine Kinder zu konstruieren, die unkontrollierbare Immunreaktionen in ihren Geburtsmüttern hervorrufen. Selbst zwei Herzen erscheinen manchen Menschen extrem. Manchmal schießen sie auf uns, wo ihrer Meinung nach ein Herz sein sollte – wo ihr eigenes Herz ist –, dann laufen sie in Panik weg, weil uns so etwas nicht aufhält.
Ich glaube nicht, dass viele Menschen gesehen haben, wie die Oankali im Innern aussehen – oder wie wir Konstruierte aussehen. Zwei Herzen sind einfach das Doppelte der menschlichen Zuteilung. Doch das Organ, das jetzt zwischen meinen Herzen wuchs, war keineswegs menschlich.
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