Der französische Psychologe Alfred Binet (1857 – 1911) gilt als Begründer der Psychometrie. Er studierte unter anderem Medizin und Biologie an der Sorbonne. Seine Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Intelligenzmessung und der Mikroorganismen sind eine Arbeitsgrundlage für Psychologen und Naturforscher auf der ganzen Welt.

Der Naturwissenschaftler Dipl.-Math. Klaus-Dieter Sedlacek, Jahrgang 1948, studierte in Stuttgart neben Mathematik und Informatik auch Physik. Nach fünfundzwanzig Jahren Berufspraxis in der eigenen Firma widmet er sich nun seinen privaten Forschungsvorhaben und veröffentlicht die Ergebnisse in allgemein verständlicher Form. Darüber hinaus ist er der Herausgeber mehrerer Buchreihen unter anderem der Reihen „Wissenschaftliche Bibliothek“ und „Wissenschaft gemeinverständlich“.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek:

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Neuübersetzung

© 2017 Klaus-Dieter Sedlacek

Cover: Sedlacek

Internet: http://klaus-sedlacek.de

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7431-3255-9

Inhaltsverzeichnis

  1. EINFÜHRUNG
  2. DAS PSYCHISCHE LEBEN DER MIKROORGANISMEN
  3. DIE BEWEGUNGS- UND DIE SINNESORGANOIDE
  4. ERNÄHRUNG
  5. ERNÄHRUNGSPSYCHOLOGIE
  6. KOLONIEN UNIZELLULARER ORGANISMEN
  7. BEFRUCHTUNG
  8. BEFRUCHTUNG BEI HÖHEREN TIEREN UND PFLANZEN
  9. WARUM PSYCHISCHES LEBEN EINE EIGENSCHAFT LEBENDER MATERIE IST
  10. SCHLUSSFOLGERUNG
  11. STICHWORTVERZEICHNIS

Haeckel: Kunstformen der Natur - Ciliata

1. Einführung

Ich habe mich in dem folgenden Text über Mikroorganismen bemüht, zu zeigen, dass psychologische Phänomene bei den untersten Wesensklassen beginnen. Sie kommen in jeder Lebensform von der einfachsten Zelle bis zum kompliziertesten Organismus vor. Sie sind die wesentlichen Phänomene des Lebens, die jedem Protoplasma1 innewohnen.

Wir gehen dementsprechend von der Existenz einer Art Vitalismus aus, d. h. eines Aggregats von Eigenschaften, die sich auf die lebende Materie beziehen und die niemals in unbelebten Substanzen gefunden werden. Unter diesen Eigenschaften des Lebens ordnen wir psychologische Phänomene ein.

Es ist unnötig zu sagen, dass dieser Vitalismus nichts mit der Lehre zu tun hat, die von der Schule von Montpellier vertreten wird. Das hier vorliegende Prinzip hat nichts mit Eigenschaften und Kräften zu tun, die der lebendigen Materie überlegen sind. Es geht um die Eigenschaften, die ihr innewohnen - die Eigenschaften, die das Leben charakterisieren.

Die Gegner des Vitalismus versuchen die Theorie zu widerlegen, indem sie alle Phänomene des Lebens auf physikalisch-chemische Kräfte zurückführen. Sie behaupten, dass, wenn die Physiologie fortschreitet, die Tendenz besteht, alle Phänomene nominell physiologisch auf den Bereich der Physik und Chemie zu verweisen. Und wenn es ihnen bis jetzt nicht gelungen, so wäre es doch nur eine Frage der Zeit zu beweisen, dass jeder lebenswichtige Vorgang auf mechanischen Phänomenen beruht.

In einer Abhandlung über „Vitalismus und Mechanismus“2 hat G. Bunge, Professor für Physiologie in Basel, gezeigt, dass die Geschichte der Physiologie diese Hypothesen widerlegt.

Je genauer die Phänomene des Lebens untersucht werden, je sorgfältiger sie in ihren verschiedenen Aspekten studiert werden, desto sicherer wird der Schluss, dass die Prozesse, die physikalisch-chemischen Kräften zugeschrieben werden, in Wirklichkeit viel komplizierteren Gesetzen gehorchen. Um dies zu veranschaulichen, wurde zu einem früheren Zeitpunkt eingeräumt, dass die Phänomene der Resorption und Ernährung durch Diffusion und Endosmose erklärbar seien. Dutrochet, nach seiner Entdeckung der Endosmose, dachte sogar, dass er das Prinzip des Lebens entdeckt habe. Zurzeit wissen wir, dass die Wände des Darms nicht in irgendeiner Weise wie unbelebte Membranen wirken, die bei Experimenten mit der Endosmose verwendet werden. Die Darmwände sind mit Epithelzellen bedeckt, von denen jede ein mit einem Komplex von Eigenschaften ausgestatteter Organismus ist. Das Protoplasma dieser Zellen bekommt die Nahrung durch einen Aufnahmevorgang, genau wie die Infusorien und andere einzellige Organismen, die ein unabhängiges Leben führen. Im Darm der kaltblütigen Tiere emittieren die Zellen Ausstülpungen, welche die winzigen Tropfen der fettigen Materie erfassen und sie, indem sie diese in das Protoplasma der Zelle einbringen von dort in die Kanäle des Darmsafts übertragen. Es gibt noch eine andere Art der Fettaufnahme, die bei kaltblütigen und warmblütigen Tieren vorkommt. Die lymphatischen Zellen treten aus dem sie enthaltenden adenoiden Gewebe heraus, sodass sie beim Eintreffen an der Oberfläche des Darmes dort vorhandene Fettpartikel einfangen, und sich beladen mit ihrer Beute zurück auf den Weg zu den Lymphbahnen machen.

Dementsprechend bezieht sich die Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen und die Wahl zwischen Nahrungsmitteln verschiedener Art zu treffen, also einer Eigenschaft, die im Wesentlichen psychologisch ist, auf die anatomischen Elemente des Gewebes, und zwar wie es alle einzelligen Wesen auf die in unserer Abhandlung gezeigten Weise ebenso durchführen. Es ist offensichtlich unmöglich, diese Tatsachen durch die Einführung von rein physikalisch-chemischen Kräften zu erklären. Sie sind die charakteristischen Phänomene des Lebens und kommen ausschließlich im Apparat des lebenden Protoplasmas vor.

Wenn die Existenz psychologischer Phänomene in niederen Organismen bestritten wird, wird man dennoch davon ausgehen müssen, dass diese Phänomene im Laufe der Evolution hinzugekommen sein können, und zwar in dem Maße, wie der Organismus vollkommener und komplexer wird.

Nichts könnte mehr im Widerspruch zu den Lehren der allgemeinen Physiologie stehen, als die Tatsache, dass alle lebenswichtigen Phänomene bereits in nicht differenzierten Zellen vorhanden sind.

Darüber hinaus ist es interessant festzustellen, zu welcher Schlussfolgerung so eine Annahme führen würde – wie Romanes3 anscheinend zugibt –, dass psychologische Eigenschaften in niedrigeren Wesen fehlen und dass sie erst in verschiedenen Stadien der zoologischen Entwicklung eintreten. Romanes hat die Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten in ganz willkürlicher Weise auf einem großen Diagramm exakt detailliert dargestellt. Nach seinem Schema sind nur die protoplasmatischen Bewegungen und die Eigenschaft der Erregbarkeit in niederen Organismen vorhanden. Das Gedächtnis beginnt erst mit den Stachelhäutern. Die primären Instinkte beginnen mit den Larven der Insekten und den Anneliden (= Ringelwürmer), die sekundären Instinkte mit Insekten und Spinnen. Die Vernunft endlich beginnt mit den höheren Krebstieren.

Ich zögere nicht zu sagen, dass all diese mühsame Einteilung extrem künstlich und vollkommen anomal ist.

Alle Autoren, die sich mit besonderem Nachdruck auf das Studium von einzelligen Organismen spezialisiert haben, haben diesen Wesen die meisten psychologischen Eigenschaften zugeschrieben, die Romanes für dieses oder jenes höherklassige Tier reserviert hat. Das ist die Meinung von Gruber, von Verworn, von Moebius, von Balbiani und von vielen anderen Naturforschern. Moebius erkennt, dass das psychologische Leben mit dem lebenden Protoplasma beginnt, und er hält es für das höchste Ziel der Zoologie, die psychische Einheit aller Tiere zu demonstrieren.

Wir könnten, wenn es nötig wäre, jede einzelne der psychischen Fähigkeiten nehmen, die Romanes für jene Tiere reserviert, die mehr oder weniger fortgeschritten auf der zoologischen Skala sind, und zeigen, dass der größte Teil dieser Fähigkeiten gleichermaßen zu den Mikroorganismen gehört. Aber wir dürfen die Diskussionen dieser Einleitung nicht unnötig erweitern. Wir beschränken uns daher auf wenige Erläuterungen.

In seinem zoologischen Maßstab weist Romanes den Larven der Insekten und den Anneliden die ersten Erscheinungen von Überraschung und Angst zu.

Wir können zu diesem Punkt antworten, dass es nicht ein einziges Wimpertierchen (Ciliata) gibt, das nicht erschreckt werden kann, und das nicht seine Angst mit einem schnellen Durchqueren der Flüssigkeit des Präparats manifestiert.

Wenn ein Tropfen Essigsäure in das Präparat auf dem Glasträger eingeführt wird, das Mengen von Infusorien (Aufgusstierchen) enthält, so werden diese sofort in alle Richtungen wie eine Schar erschrockener Schafe fliehen.

Gemäß Romanes beginnt die Erinnerung zuerst mit den Stachelhäutern (z. B. Seesterne). Nun stellt Moebius anlässlich einer Abhandlung über die Folliculina ampulla (Ohrentierchen, Flaschentierchen)4, ein Aufgusstierchen mit Geißel, die komplizierte und interessante Bewegungen vollführt, fest, dass jedes Mal, wenn ein Tier dieselbe Handlung unter dem Einfluss derselben Erregungen wiederholt, diese Tatsache beweist, dass das Tier eine Art Gedächtnis besitzt. Tatsächlich ist Erinnerung eine der elementarsten psychologischen Tatsachen.

Schließlich beginnen die primären Instinkte nach Romanes zunächst mit den Larven der Insekten und mit den Anneliden. Wir geben, im Widerspruch zu dieser Aussage, die Bemerkungen von Verworn5 zu bedenken, die die Existenz neugieriger Instinkte unter den Rhizopoden (Wurzelfüßer z. B. Amöben) offenbaren. Die Difflugia urceolata (eine Amöbenart), die eine Schale aus Sandpartikeln bewohnt, emittiert lange Pseudopodien (Scheinfüßchen), die am Boden des Wassers nach den Materialien suchen, die notwendig sind, um für den Tochterorganismus eine neue Schale zu konstruieren, an der die Vermehrung durch Teilung stattfindet. Das Scheinfüßchen, nachdem es ein Sandkörnchen berührt hat, zieht sich zusammen, und das Sandkorn, das an dem Scheinfüßchen haftet, wird in den Körper des Tieres hineingezogen. Verworn setzt anstelle von Sandkörnern kleine Bruchstücke von farbigem Glas auf das Tier. Einige Zeit später bemerkte er eine Ansammlung dieser Fragmente am unteren Teil der Schale. Er sah dann einen Packen Protoplasma aus der Schale austreten, was die neue Amöbe durch Teilung entstehen ließ. Daraufhin traten die von dem Mutterorganismus gesammelten Stoffe, die Fragmente von farbigem Glas, aus der Schale heraus und umhüllten den Körper des neuen Individuums mit einer Ummantelung, die jener der Mutter ähnlich ist.

Diese Bruchstücke aus Glas, die zuerst lose miteinander verbunden waren, wurden nun durch eine Substanz zementiert, die vom Körper des Tieres ausgeschieden wurde.

Zwei Tatsachen sind zu dieser Beobachtung zu bemerken: Erstens ist die Handlung, mit der die Amöbe Material für die Bereitstellung eines Gehäuses für das junge Individuum sammelt, ein Akt der Voranpassung an ein gegenwärtig nicht vorhandenes, sondern fernliegendes Ziel. Diese Tat hat also alle Merkmale eines Instinktes. Ferner zeigt der Instinkt der Amöbe große Genauigkeit. Denn die Amöbe „weiß“ nicht nur, wie man am Grund des Wassers die für ihren Zweck zur Verfügung stehenden Stoffe unterscheidet, sondern sie nimmt sich nur die Menge an Material, die notwendig ist, um dem jungen Individuum zu ermöglichen, eine wohlgeformte Schale zu bauen; es gibt nie einen Überschuss.

Interessanterweise unterscheidet sich die Amöbe nicht von Tieren, die hoch komplizierte Organismen besitzen und mit differenzierten Nervensystemen ausgestattet sind, wie z. B. die Larven der Phryganidae (Familie der Köcherfliegen), die ihre Hüllen aus Muscheln, Sandkörnern oder winzigen Splittern bauen.

Wir sollten es nicht als seltsam ansehen, eine möglicherweise derart vollständige Psychologie in der Entwicklungsgeschichte der niederen Organismen zu finden, wenn man bedenkt, dass ein höheres Tier, in Übereinstimmung mit den Ideen einer akzeptierten Evolution, nichts weiter ist als eine Kolonie von Protozoen (einzellige Lebewesen, die einen Zellkern besitzen). Jede der Zellen, aus denen sich ein solches Tier zusammensetzt, hat ihre primitiven Eigenschaften beibehalten und gibt ihnen durch Arbeitsteilung und durch Selektion einen höheren Grad an Vollkommenheit. Die Epithelzellen, die Nägel und Haar absondern, sind Organismen, die bezüglich der Absonderung schützender Bestandteile perfektioniert sind. Ebenso sind die Zellen des Gehirns Organismen, die bezüglich der psychischen Eigenschaften perfektioniert wurden.

Alfred Binet

Ergänzung des Herausgebers:
Definition von „Psyche“ und „Psychologie“ aus systemtheoretischer Sicht

Psyche (griech. „Seele“), Innenleben, Seelenleben:

  1. Gesamtheit nichtphysischer Beziehungen einschließlich der Eigenschaften und individuellen Wesensmerkmale der Lebensprozesse in lebender Materie. Da es sich bei nichtphysischen Vorgängen im Regelfall um eine Art Informationsverarbeitung handelt, kommt eher die äquivalente zweite Fassung zum Tragen:
  2. Informationsverarbeitendes System, um die Lebensprozesse in lebender Materie zu steuern.

Information: Zahlenmäßiger Unterschied der Eigenschaften zwischen zwei Zuständen eines Systems. Die Anzahl der Unterschiede wird in Bit angegeben. Ein Bit kann zwei Werte annehmen und drückt aus, ob ein Unterschied vorhanden ist oder nicht. Dagegen drückt ein Quantenbit (Qbit) nur aus, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Wert innerhalb eines vorgegebenen Wertebereichs unter bestimmten physikalischen Umständen angenommen wird.

Informationsverarbeitung: Organisierte Umwandlung von Information mit dem Ziel diese für spezifische Zwecke bereitzustellen. Der Vorgang der Umwandlung erfolgt grundsätzlich auf der Basis eines dreistufigen Prozesses nach dem EVA-Prinzip. Dabei bedeutet E = Eingang von Information, V = Verarbeitung bzw. Umwandlung der Information, A = Ausgabe, Bereitstellung umgewandelter Information.

System: Nach einem aufgaben-, sinn- oder zweckbezogenen Gesichtspunkt erfolgte Zusammenfassung von Dingen, Funktionen, Relationen oder Erkenntnissen zu einem einheitlichen Ganzen, und zwar so, dass deren Elemente aufeinander bezogen oder miteinander verbunden sind.

Auf der Basis der zweiten Fassung des Begriffs „Psyche“ kann man nun definieren:

Psychologie: Wissenschaft der Vorgänge und Erscheinungen, die von dem informationsverarbeitenden System, das die Lebensprozesse steuert, verursacht werden.


1 Das Protoplasma ist die innere sol- oder gelartige flüssige Masse aller lebenden Zellen inklusiv Zellkern.

2 G. Bunge, Vitalismus und Mechanismus, Ein Vortrag, 1886.

3 Der britische Evolutionsbiologe George Romanes (1848 - 1894) legte den Grundstein für die Tierpsychologie und sagte Ähnlichkeiten zwischen den kognitiven Prozessen bei Menschen und Tieren voraus.

4 Moebius, Das Flaschenthierchen, Folliculina ampulla, 1887.

5 Verworn, Zeitschrift für Wissenschaftliche Zoologie, Bd. 46. H. 4. 1888.

2. Das psychische Leben der Mikroorganismen

Das Studium von mikroskopischen Organismen wurde bisher von Studenten der vergleichenden Psychologie etwas vernachlässigt. Naturalisten, die ihre Aufmerksamkeit auf das Studium dieser Wesen richteten, haben eine große Anzahl von interessanten Tatsachen über ihr psychisches Leben gesammelt. Aber dieses Tatsachenmaterial ist bis Ende des 19ten Jahrhunderts nicht kritisch untersucht und zusammengetragen worden. Die Fakten sind in Berichten und Publikationen aller Art verstreut, wo der Psychologe nicht im Traum daran denkt, nach ihnen zu suchen. Wir werden versuchen, ihn mit einem Teil dieses Reichtums bekannt zu machen.

Im Begriff Mikroorganismus sind alle Wesen eingeschlossen, die aufgrund ihrer extremen Kleinheit und Einfachheit der Struktur die niedrigsten Stufen des tierischen oder pflanzlichen Lebens darstellen. Sie bilden die einfachsten Formen der lebenden Materie und bestehen aus einer einzigen Zelle.

Einige bewohnen frische und salzige Gewässer, dienen als Nahrung für viele andere Organismen oder tragen durch ihre kalkhaltigen oder kieseligen Skelette zur Bildung von Kontinenten bei. Andere leben als Parasiten in den Organen von Tieren und Pflanzen und induzieren mehr oder weniger ernsthafte Erkrankungen in der Konstitution der Organismen, die sie durchdrungen haben. Andere wiederum, die wie Enzyme wirken, erzeugen im Laufe der Zersetzung wichtige chemische Veränderungen in der organischen Substanz.6

Man hat eine große Anzahl von Klassifikationen für die methodische Einteilung dieser Wesen vorgeschlagen. Aber nicht einer dieser Vorschläge ist insgesamt zufriedenstellend und das ist verständlich.

Da eine natürliche Klassifikation der höheren Tiere, die sich in wichtigen Merkmalen voneinander unterscheiden und zwischen denen ein Vergleich eingeleitet werden kann, stets ein komplexes Stück Arbeit ist, so ist die Schwierigkeit der Einordnung einfacher Organismen, die nur die geringsten Unterschiede aufweisen, noch schwieriger.

Die Haupteinteilung ist die in tierische Mikroorganismen oder Protozoen und pflanzliche Mikroorganismen oder Mikrophyten.

Die Abgrenzungslinie zwischen diesen beiden Reichen ist bei Weitem nicht gut definiert. Es gibt eine große Anzahl von Mikroorganismen incertae sedis (= unsichere systematische Stellung), die Botaniker in der Regel dem Pflanzenreich zuordnen, aber Zoologen diese bevorzugt dem Tierreich7 zugehörig klassifizieren.

Nachstehend finden Sie eine Liste der wichtigsten Gruppen tierischer Mikroorganismen.

TIERISCHE MIKRO-ORGANISMEN

INFUSORIEN MASTIGOPHOREN SARKODINEN SPOROZOA
Ciliata Flagellaten Rhizopoden Gregarinida
Suctoria
(Suckers)
Choanoflagellaten Heliozoa Kokzidien
Dinoflagellaten Radiolarien Sarcosporidien
Zystoflagellaten Myxosporidien
Mikrosporidien

Wir schlagen jetzt vor, das psychische Leben dieser niederen Organismen oder allgemeiner ihr Lebensverhältnis zu studieren. Es ist wohlbekannt, dass der Ausdruck „Lebensverhältnis“ im Wesentlichen zwei verschiedene Vorstellungen umfasst: Erstens die Einwirkung der äußeren Welt auf den Organismus oder das Empfindungsvermögen; zweitens die Reaktion des Organismus auf die äußere Welt oder die Bewegung.

Es ist üblich, die Vereinigung dieser beiden Eigenschaften, welche die Reaktion des Mikroorganismus auf äußere Kräfte ausdrücken, mit Reizbarkeit zu bezeichnen. Das erfolgt aus gutem Grund, weil jede lebende Zelle reizbar ist, d. h., sie besitzt die Eigenschaft, mit Bewegungen auf die Erregungen, die sie erfährt, zu reagieren.

Trotz Eingeständnis, dass diese Reizbarkeit die Basis des Lebensverhältnisses und damit auch die Grundlage der Psychologie ist, müssen wir uns dennoch vor dem Vergleich der autonomen Zelle der Mikroorganismen mit einer einfachen reizbaren Zelle hüten. Obwohl der Körper dieser kleinen Wesen äquivalent zu einer einfachen Zelle sein kann, wäre es ein Irrtum zu glauben, dass ihr Beziehungsleben in einer motorischen Reaktion besteht, die auf äußere Irritationen zurückzuführen ist. Am Ende unserer Untersuchungen zur Psychologie der Protoorganismen werden wir sehen, dass in diesen untergeordneten Wesen, die die einfachsten Formen des Lebens darstellen, Manifestationen einer Intelligenz aufgefunden werden, die die Phänomene einer einfachen zellulären Reizbarkeit stark übersteigen. So sind die psychischen Manifestationen auch auf den untersten Sprossen der Lebensleiter sehr viel komplexer, als man gewöhnlich glaubt, und die Auffassung einiger Autoren von der zellulären Psychologie, scheint mir eine zu grobe Analyse der meisten feinen Phänomene zu sein.

In der großen Mehrzahl der plurizellulären Tiere spiegeln sich die Lebensverhältnisse im Nervensystem und im Muskelsystem wieder. In Mikroorganismen kann das nicht gesagt werden, der größere Teil besitzt weder ein zentrales Nervensystem noch Sinnesorgane. Einigen fehlen sogar die Bewegungsorgane. Die Funktionen der Umweltbeziehungen werden mit der gesamten Körpermasse durchgeführt.

Viele der Protisten haben zum Beispiel keine Spur eines anatomisch differenzierten Sehorganes. Es ist das ganze Protoplasma des elementaren Organismus, das durch Licht erregbar ist, wie auch durch Wärme oder durch Elektrizität. In anderen Mikroorganismen, die etwas höher in der Skala stehen, kann das Auftreten einer beginnenden Differenzierung durch die Geburt eines Sinnes- oder eines Bewegungsorganoiden erkannt werden.

Wir geben eine allgemeine Beschreibung dieser Strukturen mit organähnlicher Funktion. Das Studium dieser ersten Vorgänge im Erschaffen einer Differenzierung ist von großem Interesse für die vergleichende Anatomie und Physiologie. Nicht weniger interessant ist es für die Psychologie. Abgesehen davon, dass wir bei dieser Einführung zu unserer Aufgabe verweilen, werden wir Gelegenheit haben, neue und interessante Tatsachen kennenzulernen.


6 Diese Lehrmeinung über Infusorien wurde von Sibold und Kölliker aufgestellt.

7 Das beste Merkmal, um die beiden Reiche zu unterscheiden, ist die chemische Natur der Hüllmembran: Bei den Pflanzenorganismen besteht die Hüllmembran aus einer ternären Substanz, Cellulose, während es sich in tierischen Organismen um ein Albuminoid handelt.

3. Die Bewegungs- und die Sinnesorganoide

3.1 Beweglichkeit

Aus unserer obigen Tabelle der Gruppen tierischer Mikroorganismen wird ersichtlich, dass sie in vier Klassen, die Infusorien, die Mastigophoren, die Sarcodinae und die Sporozoen unterteilt sind. Die Unterscheidung in diese Klassen hängt von der Existenz und der Natur der motorischen Organoide8 ab.

Die Infusorien umfassen die Protozoen, die sich mit Hilfe von Vibrationszilien (lat. Cilium „Wimper“) bewegen, die in größerer oder geringer Anzahl über ihren Körper verteilt sind.

Die zweite Klasse, die Mastigophoren, umfasst diejenigen Tiere, die sich mit Hilfe von Flagellen, d. h. mithilfe langer Fasern bewegen.

Die dritte Klasse, die Sarcodinae, umfasst diejenigen Tiere, die sich mit Hilfe von Pseudopodien (Scheinfüßchen) bewegen; das sind Plasmaausstülpungen, die aus der Substanz ihres Körpers bestehen.

Die vierte Klasse, die Sporozoae, ist durch die Art ihrer Vermehrung gekennzeichnet:

Sie vermehren sich durch Sporen. Bei den Tieren dieser Gruppe fehlen die speziellen motorischen Organoide. Diese Kreaturen bewegen sich daher im Allgemeinen sehr wenig oder sie führen Bewegungen aus, deren Grundsätze unbekannt sind.

Wir werden nacheinander die Pseudopodien, die Vibrationszilien und das Flagellum beschreiben.

3.2 Der Pseudopodus

Die Bildung von Pseudopodien findet vorwiegend in nackten Zellen statt – also in Zellen ohne eine umhüllende Membran, im Allgemeinen in den Sarcodinae. Man kann dies leicht an der Amoeba princeps studieren, ein mikroskopisch kleines Tier, das man in frischem Wasser, welches organische Substanzen im Zustand der Fäulnis enthält, reichlich vorfindet. Es hat das Aussehen einer kleinen gallertartigen Masse, unregelmäßig gebildet aus einer farblosen Substanz, dem Protoplasma. Von der chemischen Natur des Protoplasmas ist bekannt, dass es das Ergebnis einer Mischung von Albuminoid-Materialien mit einem Zusatz von Wasser und Mineralstoffen ist9. Im Protoplasma der Amöbe existiert eine kleine, abgerundete und Strahlen brechende Masse, die ein oder zwei helle Partikel in ihrem Inneren enthält. Diese kleine Masse nennt man den Kern und die Körperchen die Nukleonen10.

Die Form des Körpers des Amöbenkörper ist sehr unregelmäßig gestaltet aufgrund der Tatsache, dass gewisse Teile seiner Masse sich verlängern und kurze runde Vorsprünge bilden, die mit dem Namen Pseudopodien bezeichnet werden. Mithilfe diese Pseudopodien bewegt sich das Tier. Es bildet eine Ausstülpung nach der Richtung, in die es sich bewegt, dann zieht es diese wieder zurück, während andere Teile der Masse ihrerseits sich lang strecken. Der ganze Körper bewegt sich, indem er schleichend kriecht. Die Amöbe in Bewegung hat das Aussehen eines sich bewegenden Tropfen Öls.

Um den Mechanismus dieser Bewegung zu erklären, muss man annehmen, dass der ausgedehnte Pseudopodus sich mit seinem freien Ende an einem Stützpunkt festhält und dann durch Kontraktion die ganze Körpermasse bis zu diesem hinzieht. Aber es ist schwer zu verstehen, was die Ursache der Dehnung der Pseudopodien ist. Man hat angenommen, dass das Protoplasma mit großer Elastizität ausgestattet ist und dass die Streckung die Rückkehr dieser Substanz zu ihrer urtümlichen Form bedeutet. Das ist allerdings nicht die Auslegung von Rouget11. Der gelehrte Professor des Naturkundemuseums ist so freundlich gewesen, die folgende Anmerkung für uns zu schreiben, in der er seine Meinung zusammenfasst:

Jedes Mal, wenn ein protoplasmatischer Organismus stirbt oder einer starken elektrischen Erregung oder einer relativ hohen Temperatur (+450MuskelstarreCarchesium