Husemann, Dirk

Der Sturz des Römischen Adlers

2000 Jahre Varusschlacht

 

 

 

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E-Book ISBN: 978-3-593-40000-6

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»Wir können keinen Schritt fortan,
In diesem feuchten Mordgrund, weiter rücken!
Er ist so zäh, wie Vogelleim geworden.
Das Heer schleppt halb Cheruska an den Beinen,
Und wird noch, wie ein bunter Specht,
Zuletzt, mit Haut und Haar, dran kleben bleiben.«

 

Heinrich von Kleist, Die Hermannsschlacht,
5. Akt, 2. Auftritt

 

|11|Vorhut

»Varus! Varus! Gib mir meine Legionen wieder!« Der römische Kaiser Augustus soll wenig Verständnis für die Niederlage seiner Truppen in Germanien gehabt haben. Immerhin starben 20 000 Legionäre in einem Hinterhalt irgendwo im wilden Norden. Der Verlust an Mensch und Material war schmerzhaft – tragischer aber war, dass die Schlacht die Römer in die Schranken wies. Nie wieder sollten sich Truppen aus Italien weiter vorwagen als bis zum Rhein. Germanien war frei.

Obwohl das Ereignis die Geschichte Europas prägte, ist bis heute unbekannt, wo die Varusschlacht geschlagen wurde. Lange galt der Teutoburger Wald als sicherer Kandidat, ein entsprechendes Denkmal wurde im 19. Jahrhundert auf germanischem Nationalpathos errichtet. Doch seit acht Jahren beansprucht das Osnabrücker Land die Varusschlacht für sich. Über dem kleinen Ort Kalkriese ragt bereits ein millionenschweres Museum in den Himmel. Doch einer der wenigen handfesten Hinweise auf das Gemetzel ist eine Erbse, die in der Nähe gefunden wurde und nachweislich aus dem antiken Italien stammt. Dem Museum auf der Erbse halten Hobbyforscher alternative Orte in der Region entgegen. Schatzsucher aus Amerika, Großbritannien und Japan reisen an und machen das Osnabrücker Land mit Metallsuchgeräten unsicher. Rund 700-mal meldeten Hoffnungsfrohe bereits die Entdeckung des angeblichen Schlachtortes, zankten Wissenschaftler und Amateure um wenige Unzen Metallschrott – die Überreste der 20 000 Legionäre aber bleiben nach wie vor vom Erdboden verschluckt.

Die Varusschlacht zählt noch immer zu den großen Mythen der Deutschen. Der bärbeißige Haufen, der sich vom imperialistischen Rom nicht |12|unterdrücken lassen wollte, passte den Feinden Napoleons ebenso in die Ideologie wie später Nationalsozialisten und Kommunisten. Aus der Feder Heinrich von Kleists floss Die Hermannsschlacht als Parabel auf die herbeigesehnte Befreiung vom Besatzer Frankreich. Aus der Propagandamaschine der Nazis donnerte Heilsgeschrei im Namen des Cheruskers. Noch die DDR hätschelte Arminius als Vorzeigekämpfer gegen eine imperialistische Weltmacht – Rom war Amerika.

Wer war Varus, wer sein Widersacher Arminius, dem 50 Opern auf den Leib komponiert wurden, über den noch heute Romane geschrieben werden und der als Heldenmotiv auf US-amerikanischen Bierdosen herhalten muss? Für den römischen Historiker Tacitus war er ein Volksheld der Germanen: »Er war unstreitig der Befreier Germaniens, der das römische Volk nicht in den ersten Anfängen der Macht, wie andere Könige und Heerführer, sondern in der höchsten Blüte des Reiches herausgefordert hat, in den Schlachten von wechselndem Erfolg begleitet, im Krieg unbesiegt.« Das Heldensiegel blieb an Arminius haften. Immer, wenn die Deutschen einen Heroen brauchten, zogen sie Arminius aus der Schublade. Stets passend gekleidet, mal mit Bärenfell als grober Schlächter, mal in Gewand mit elegantem Schnitt und Flügelhelm als Figur aus einer Wagner-Fantasie. Sogar das Nibelungenlied soll auf Arminius zurückgehen, der laut antiken Quellen tatsächlich noch zu Lebzeiten im Liedgut seiner Stammesbrüder die Hauptrolle spielte. Arminius war der Superstar des Germanentums.

Der Ruf nach Heldenblut fürs Vaterland ist verhallt. Heute wirft die Varusschlacht historische Fragen auf, etwa die, wie die Geschichte Europas verlaufen wäre, wenn der Husarenstreich nicht gelungen wäre und die Römer weiter nach Norden hätten vordringen können. Stoppte die Horde im Bärenfell die Römer im Kettenpanzer so nachhaltig, dass der Kaiser danach alle Eroberungspläne in den Tiber warf? Konnte sich erst durch den Befreiungsschlag ein einheitliches Germanentum konsolidieren? War die Varusschlacht tatsächlich der »Urknall der deutschen Geschichte«, wie ihn das Deutsche Historische Museum in Berlin heraufbeschwört? Oder war alles ganz anders?

Die Varusschlacht und das Ende des römischen Vormarsches jähren sich 2009 zum zweitausendsten Mal. Im Museumsmarketing herrscht Feststimmung, drei Sammlungen lassen die musealen Muskeln spielen. |13|Hinter den Kulissen aber tobt der Streit um Geld und Wahrheit. Historiker von eigenen Gnaden finden die Varusschlacht mitunter in Süddeutschland, die Datierung römischer Münzen gerät zur Eulenspiegelei und die Vergabe der Gelder zur Posse im Plenarsaal. Der Kampf tobt auch nach 2 000 Jahren, Varus und Arminius steigen noch einmal in den Ring.

Der Hermannsmythos bleibt ein Dauerbrenner. Auch wenn der deutschnationale Lack längst abgeblättert ist, auch wenn Archäologie und Geschichtsforschung das Image des sympathischen Rebellen Arminius längst demontiert haben, die Schlacht und ihre Protagonisten sind noch immer legendär. Der französische Philosoph und Mythenforscher Roland Barthes fand im 20. Jahrhundert heraus: »Auch die Rezeption des Mythos und die Arbeit am Mythos ist das Wirken des Mythos.« Gemäß dieser Erkenntnis wird auch ein Buch wie das vorliegende, das sich bemüht, den Nebel um die Varusschlacht zu lichten, vom Mythos diktiert.

|15|Teil 1

In finsterem Forst und marmornen Städten

Zwei Helden schreiben Geschichte

|17|Kapitel 1

Varus – ein unbekanntes Leben

Varus teilt das Schicksal berühmter Römer wie Caligula und Nero, die als Wahnsinnige und Unterdrücker verschrien sind. Heute meint die Forschung, dass manche angeblichen Despoten und Tyrannen in Wirklichkeit das Wohl des Volkes im Sinn hatten, aber der Propaganda der Nachwelt zum Opfer fielen. Pechvogel oder Unglücksrabe – wer war Varus wirklich?

 

Am Rheinufer war Schluss. Der Strom war im 1. Jahrhundert n. Chr. die Grenze des Römischen Reiches. Westlich davon lebten Germanen und Kelten mit den Besatzern, akzeptierten mehr oder weniger freiwillig deren Herrschaft und gaben ihre Stammeskultur allmählich auf – im Tausch gegen die Bequemlichkeit des römischen Lebens. Römer und Barbaren flanierten zusammen auf den Straßen der vielversprechenden Rheinstädtchen Oppidum Ubiorum und Castra Vetera, aus denen Köln und Xanten aufkeimen sollten.

Östlich des Rheins sah die Welt anders aus. Hier lebten die noch immer wilden Stämme der Germanen, die in dichten Wäldern und undurchdringlichen Sümpfen bislang alle römischen Eroberungszüge ins Leere hatten laufen lassen. Die Germanen nannten ihre Heimat »freies Germanien«. Die Römer nannten das »Urwald« und schrieben auf ihre Landkarten »Germania Magna«, Großgermanien. Für sie lag am anderen Rheinufer die Hölle, bewohnt von Teufeln.

Die Rheingrenze kostete ein Vermögen. Da der Fluss keine gerade Linie zog, mussten mehr Truppen und Kastelle daran aufgestellt werden, als es bei einem geraden Grenzlauf nötig gewesen wäre. Sechs Legionen standen am Ostufer des Rheins, etwa 36 000 Krieger. Rom verfügte zur Zeit |18|des Kaisers Augustus insgesamt nur über 28 Legionen, etwa 150 000 Soldaten. Demnach wurde fast ein Viertel des römischen Militärs für den Rhein benötigt. Das Reich aber wucherte auch andernorts. Im Nordwesten war es bereits bis Großbritannien gewachsen, im Süden bis nach Ägypten. In den Provinzen Africa und Asia benötigten die Statthalter jeden Mann, um die Lage unter Kontrolle zu halten, und der Kaiser wollte mehr und mehr Eroberungen im Mittelmeerraum. Doch die dafür nötigen Soldaten steckten am Rhein fest. Etwas musste geschehen.

Ging es nach Kaiser Augustus, sollte am Rhein endlich Ruhe herrschen. Der Imperator wollte Germanien erobern und die teure Rheingrenze nach Osten verschieben, am besten bis an die Weser. Dieser Fluss lief auf die Donau zu, die im Süden das Reich begrenzte. Durch eine Verbindung beider Linien wäre das Reich zum einen erheblich gewachsen, zum anderen wäre die Grenze geschrumpft, das Loch in der Staatskasse gestopft, Soldaten wären frei für die Eroberungen im Süden. Mehr Fliegen ließen sich mit einer Klappe nicht schlagen. Wenn nur die Germanen nicht gewesen wären.

Die Römer setzten über. Sie hatten jahrhundertelang Erfahrungen im Kriegführen, Erobern und Besetzen gesammelt und wählten aus ihrem Fundus an Möglichkeiten die beste aus: Schifffahrt. Da das germanische Inland so unbekannt wie undurchdringlich war, bot sich eine Expedition auf Flüssen an. Die Lippe, damals Lupia genannt, fraß sich eine Schneise durch Großgermanien. Auf ihr kreuzte eines Tages im Jahr 11 v. Chr. eine Flotte römischer Kriegs- und Lastschiffe auf, die Legionäre und Baumaterial an Bord hatte. Im Laufe weniger Jahre zimmerten die Römer Legionslager am Flussufer zusammen. Wie Perlen an einer Schnur säumten sie die Lippe, Versorgungsstationen für einen der größten und gefährlichsten Eroberungszüge Roms.

Immerhin: Vom heutigen Dorsten-Holsterhausen, über Haltern, Lünen-Beckinghausen, Bergkamen-Oberaden bis nach Anreppen machten die Römer die Lippe sicher. Fast 200 Kilometer drangen sie ins feindliche Gebiet vor. Zwanzig Jahre lang pflanzten Legionäre Unterkünfte, Ställe, Vorratslager in den Urwald Mitteleuropas. Dann machten ihnen die Germanen und ihr wildes Land einen Strich durch die Rechnung.

Es regnete. Während die Legionäre das milde Klima Südeuropas kannten und schätzten, saßen sie im Norden im Dauerregen. Das zerrte an den |19|Nerven und den Sandalen, denn der römische Legionär war ein Schwergewicht. Von Kopf bis Fuß gepanzert, mit Eisenhelm und Kettenhemd, mit genagelten Schuhen und schwerem Schild, mit Schwert und Lanze schleppte der durchschnittliche römische Soldat 30 Kilogramm Ausrüstung mit sich. Hinzu kamen auf längeren Märschen Kochgeschirr, Zelt und persönliche Habseligkeiten – nochmals etwa 40 Kilogramm. Mit so viel Ballast über vom Regen aufgeweichten Boden zu marschieren war kein Zuckerschlecken. Zwar erwiesen sich die Römer auch hier als meisterhafte Ingenieure, aber selbst kilometerlange Bohlenwege aus Baumstämmen hielten dem rauen Klima nicht lange stand. Die Legionäre in Großgermanien versanken im Morast.

Erobern war unmöglich. Die mächtigste Armee der Welt musste sich mit einer Notlösung zufrieden geben: der Befriedung der Germanen auf der rechten Rheinseite. Von Unterwerfung konnte keine Rede sein, und auch der Frieden war brüchig wie Papyrus.

Beide Seiten machten Ärger. Beim Stamm der Sugambrer tauchten römische Zenturionen auf und forderten die Zahlung von Tributen. Ob die Römer damit auf die Erfüllung eines Vertrags pochten oder ob sich Einzelne bereichern wollten, weiß heute niemand. Überliefert ist allerdings die Reaktion der Sugambrer. Sie nagelten die Geldeintreiber ans Kreuz. Kaiser Augustus tobte, der Rhein stand in Flammen.

Als Racheengel stieß Drusus, ein Stiefsohn des römischen Kaisers, über den Rhein vor. Zwischen 12 und 9 v. Chr. besiegte er die stärksten germanischen Stämme. Doch auch wenn Sugambrer, Usipeter, Cherusker, Chauken, Chatten und Markomannen Rom im Kampf unterlagen, konnte von einer Eroberung des Raums zwischen Rhein und Elbe keine Rede sein. Offenbar gaben sich auch die Römer dieser Illusion nicht hin. Die Lager und Stützpunkte, die Drusus errichten ließ, bilden auf der Landkarte keine Zange um das Krisengebiet, sondern führen an einer Kette hinein. Sie wurden nicht als strategische Bastionen errichtet, sondern dienten einzig der Versorgung von Strafexpeditionen. Erobern ließen sich die Stämme nicht.

Davon wollte in Rom niemand wissen. Die Nachrichten aus dem kühlen Norden erreichten zwar in ganzer Wucht und Wahrheit den Kaiser, für Bildungsbürger und Senatoren aber gab es poetisch gefärbte Meldungen, in denen Drusus und seine Legionen in den Olymp des Heldenmuts aufstiegen|20|. Meister der Schönfärberei war Florus, ein Geschichtsschreiber des 2. Jahrhunderts n. Chr. Aus seiner Feder stammt der Hinweis, Drusus habe Kastelle errichten lassen an Maas, Elbe und Weser. »Die Reihenfolge ist natürlich geographisch unsinnig«, meint der Historiker Rainer Wiegels zu dieser Geschichte. An der Universität Osnabrück forscht Wiegels keine halbe Autostunde von Kalkriese entfernt. »Selbstverständlich muss es Florus nicht um eine genaue Reihenfolge gegangen sein, aber angesichts seiner sonstigen Ausmalungen sollte man erst dann mit Gewissheit auf Florus bauen, wenn es entsprechende Indizien gibt. In Florus stecken zwar gute Nachrichten, sie auszufiltern bedarf aber größter Behutsamkeit.« Wie viel Schwärmerei Florus in seine Texte streute, zeigt eine Passage aus dem Werk Epitoma de Tito Livio bellorum omnium annorum DCC: »Schließlich herrschte ein solcher Friede in Germanien, dass die Menschen wie verwandelt, das Land verändert und selbst das Klima milder und angenehmer als gewöhnlich erschien.«

Von lieblicher Natur keine Spur: Germanien war eine harte Nuss. Drusus starb, als er versuchte, sie zu knacken. Laut historischer Nachricht fiel er vom Pferd und verletzte sich tödlich. Der Mythos berichtet von einer germanischen Alten, die ihm den Tod prophezeit haben soll. Der römische Geschichtsschreiber Cassius Dio schrieb über das Ende des Drusus: »Ein Weib von mehr als menschlicher Größe, trat ihm entgegen und sprach ›Wohin eilst du, unersättlicher Drusus? Das Schicksal hat dir nicht bestimmt alles dieses zu schauen. Ziehe hin, denn deiner Taten und deines Lebens Ende ist nahe herangekommen.‹ […] Drusus kehrte eilends um und starb auf dem Wege an einer Krankheit, bevor er an den Rhenus gelangte. Als Beweis für die Richtigkeit der Erzählung gilt es mir auch, dass um die Zeit seines Todes Wölfe heulend um das Lager schweiften, dass man sah, wie zwei Jünglinge mitten durch den Lagergraben ritten, dass sich ein Jammergeschrei, wie von weiblichen Stimmen vernehmen ließ, und die Sterne ihre Bahn änderten.« Die Katastrophe war immens, die Germanen mögen frohlockt und die Römer bereits wieder in Südeuropa gewähnt haben. Zu früh. Rom schickte Tiberius.

Der 33-Jährige beackerte ein bestelltes Feld. Sein Vorgänger Drusus hatte genügend blutige Furchen durch Germanien gezogen, Feldzüge mit Tausenden von Legionären waren nur noch selten notwendig. Tiberius spielte |21|mit den Stämmen Diplomatie und war erfolgreich. Davon zeugt die Nachricht im Testament des Augustus, dass Tiberius 40 000 Sugambrer und Sueven an den Rhein umsiedelte, um die vermeintlichen Wüteriche dort unter Kontrolle zu halten. Im Elsass, in der Pfalz und in Rheinhessen siedelten ebenfalls neue Stämme an – Tiberius verschob die Germanen wie Schachfiguren in einer längst gewonnenen Partie. Wie wissbegierig der talentierte Tiberius die Erfahrungen in Germanien aufnahm, zeigt seine spätere Karriere. Als römischer Kaiser trat er 14 n. Chr. die Nachfolge des Augustus an und vergrößerte das Römische Reich zur bis dato größten Landmasse seiner Geschichte.

Nach nur zwei Jahren war Ruhe. In den Lippelagern tauschten die Legionäre Spatha und Pilum gegen Würfel und Sturzbecher. In Rom schlossen sich die Pforten des Janus-Tempels – ein Ritual, das nur durchgeführt wurde, wenn im gesamten Reich Frieden herrschte. Cassius Dio notierte in seiner Römischen Geschichte: »… in Germanien aber ereignete sich nichts, was der Erwähnung wert gewesen wäre.« Im Norden nichts Neues – die Römer schienen Herr der Lage zu sein.

Hülle und Fülle im Lagerzelt

Bevor Varus kam, war über allen Gipfeln des wilden Germaniens Ruh’. Zwar standen die gepanzerten Soldaten aus dem Süden schon geraume Zeit mitten im Gebiet der germanischen Stämme, aber die Besetzten schienen es sich gefallen zu lassen. Cassius Dio hält fest: »Die Römer besaßen zwar einige Teile dieses Landes, doch kein zusammenhängendes Gebiet, sondern wie sie es gerade zufällig erobert hatten, deshalb berichtet auch die geschichtliche Überlieferung darüber nichts. Ihre Soldaten bezogen hier ihre Winterquartiere, Städte wurden gegründet, und die Barbaren passten sich ihrer Lebensweise an, besuchten die Märkte und hielten friedlich Zusammenkünfte ab. Freilich hatten sie auch nicht die Sitten ihrer Väter, ihre angeborene Wesensart, ihre unabhängige Lebensweise und die Macht ihrer Waffen vergessen. Solange sie also nur allmählich und auf behutsame Weise hierin umlernten, fiel ihnen der Wechsel ihrer Lebensweise nicht schwer, ja sie fühlten die Veränderung nicht einmal.«

|22|Tatsächlich mögen die Germanen am römischen Luxus Gefallen gefunden haben. Ob die Römer zivilisierter waren als die Stämme des Nordens, sei dahingestellt. Gewiss aber schlug der römische Saus und Braus höhere Wellen als jener der Germanen. Während bei den Barbaren der Met in Strömen floss, genossen die Römer Wein. Die Germanen soffen aus Tonbechern und Kuhhörnern, die Römer nippten an Gläsern. Aber auch auf der wilden Seite des Rheins gab es Extravaganzen, die den Römern die Augen übergehen ließen. Blonde Frauen waren für die südeuropäischen Soldaten so exotisch wie unwiderstehlich. Mancher Germane brach eine Fehde mit dem Nachbardorf vom Zaun, um blonde Kriegsgefangene an die Römer verschachern zu können.

Für eine Zeit löste der Handel den Krieg ab. Zwar ritt Tiberius mit seinen Legionen mehrfach durch germanisches Gebiet, zu nennenswerten Zusammenstößen kam es dabei jedoch nicht. Ereignisreicher ging es in den Lagern zu. Allein im Hauptlager Haltern mussten etwa 5 000 Menschen versorgt werden. Im Lager Oberaden verlangten bisweilen sogar 10 000 hungrige Mäuler, frierende Körper und grimmige Geister nach Nahrung, Kleidung, Sold und Unterhaltung.

Am Ufer der Lippe lag Schlaraffenland. Hier legten die Frachtschiffe an, die vom Rhein kamen. Sie brachten römisches Kulinarisches in die Lager, Amphoren mit der scharfen Fischsauce Garum; das Allzweckmittel Olivenöl, von den Römern auf Speisen ebenso geschätzt wie auf der Haut, wo es zur Reinigung diente und vor Sonne schützte – ein in Germanien allerdings zu vernachlässigender Nebeneffekt; eingelegte Lebensmittel; Austern. Niemand dachte an Recycling. Die Amphoren waren Einweggefäße und landeten nach der Lieferung auf dem Müll. In Rom wuchs auf diese Weise bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. ein Berg aus Scherben heran. Der Monte Testaccio wucherte zu einem Umfang von 1 000 Metern. Als größter Müllhaufen der Antike gibt er noch heute einem Viertel in der italienischen Hauptstadt den Namen.

Was am Tiber Recht war, war an der Lippe billig. War die Amphore entleert, schlugen die Lagerverwalter die Keramik an Ort und Stelle entzwei. Die Zerstörung war das große Glück für die Wissenschaft: Wo einst die Lippe floss, gruben Archäologen im 20. Jahrhundert die Scherben säckeweise aus dem Boden. Reste von 850 Amphoren verrieten die Lage des ehemaligen Hafens beim Lager Haltern. Stempel, Pinselaufschriften und |23|Ritzinschriften gaben nicht nur Inhalt und Gewicht der Lieferung preis, sondern auch ihre Herkunft. Bis nach Rhodos ließ sich der Güterverkehr zurückverfolgen.

Essen in Hülle und Fülle gab es in Kantinen. Die Legionäre versorgten sich aber auch selbst. In den Lippelagern köchelte jeder Trupp sein eigenes Süppchen, bei den Ausgrabungen trugen viele Töpfe noch Brandspuren vom Gebrauch über dem offenen Feuer. Für Massenverköstigungen standen große Backplatten und Feldbacköfen zur Verfügung. Flammen aber waren in der Antike und noch im Mittelalter der Feind jeder menschlichen Behausung. Kein Schmied durfte sein Handwerk innerhalb von Stadtmauern verrichten, der Funkenflug konnte Holzhäuser in Windeseile in Flammen aufgehen lassen. Holz war auch in den Römerlagern entlang der Lippe der Baustoff der Wahl, und Brandspuren in Oberaden, die sich auf seltenen Holzfunden oder in Erdschichten erhalten haben, müssen nicht zwingend von Überfällen der Germanen stammen, sondern mögen die Überreste eines Breis sein, der auf zu hoher Flamme gekocht wurde.

Was nicht über den Fluss kam, musste hergestellt werden. In jedem Lager lebten Handwerker, die zum einen Waren für den Handel mit den Germanen herstellten, zum anderen die Legionäre mit dem Lebensnotwendigen versorgten. Ohne Zimmerleute, Schindelmacher, Schreiner, Stellmacher, Schmiede, Maler, Schuster, Zeltmacher, Sattler, Metzger, Töpfer, Vermessungstechniker und Wassersucher war ein Legionslager nicht überlebensfähig. In den Hütten und Gassen fauchten die Sägen, klopften die Hammer und zischten die Sensen. Im Legionslager Haltern identifizierten Archäologen ein ganzes Handwerksviertel, die fabrica, ein Industriegebiet mitten im germanischen Urwald.

Lagen sich Römer und Germanen in den Haaren, hatten Ärzte und Sanitäter alle Hände voll zu tun. Das Lazarett des Halterner Lagers gehörte mit 80 mal 40 Metern Fläche zu den größten Gebäuden der Anlage. Die Medizin war in der frühen Kaiserzeit bereits eine hohe Kunst. Die bei Ausgrabungen in Haltern entdeckten Operationsgeräte sind metallenes Feinwerkzeug, darunter kleine Knochensägen, Skalpelle, Nadeln, Sonden und Knochenheber, mit denen der Arzt gebrochene, im Muskelgewebe sitzende Knochen an ihre ursprüngliche Stelle heben konnte. Heute erbleichen Museumsbesucher in Haltern vor der Vitrine mit dem Operationsbesteck. Die römischen Legionäre hingegen mögen froh gewesen |24|sein, dass ihre Sanitäter mit professionellem Werkzeug arbeiten konnten. Anästhesie gab es nicht – sie wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts erfunden. Bis dahin galt ein schneller Arzt als guter Arzt. Während der Mediziner bei Wunden handfest wurde, vertrauten sie bei Erkrankungen der Organe allerdings noch auf die Gunst der Götter.

Auch wenn keine Überreste von Skalpellen der Germanen überliefert sind, medizinisches Wissen gab es auch bei den Eingeborenen der Germania magna. Der römische Militär und Naturforscher Plinius berichtet in seiner Naturgeschichte im 1. Jahrhundert n. Chr.: »Als Caesar Germanicus in Germanien jenseits des Rheines vorgerückt war, fand sich im Gebiet der Küste eine einzige Süßwasserquelle: wer davon trank, dem fielen binnen zwei Jahren die Zähne aus, und das Gefüge der Gelenke an den Knien löste sich […] zur Abhilfe fand sich ein Kraut, das ›Britannica‹ genannt wird […] Die Pflanze hat länglich schwarze Blätter und eine schwarze Wurzel […] Die Friesen, ein uns damals treuer Stamm, in dessen Gebiet das römische Lager war, zeigten uns diese Pflanze.« Bis heute weiß niemand, welche Pflanze den Friesen gegen Skorbut half, es mag eine Ampferart gewesen sein. Gewiss ist hingegen, dass die Germanen sich ebenfalls bei Krankheiten zu helfen wussten.

Lazarett, Küchen, Unterkünfte – die Lippelager versorgten die Legionäre und Handwerker mit dem Notwendigen. Sie galten der Forschung lange als einziger Versuch der Römer, im Land der angeblichen Barbaren Fuß zu fassen. Erst im 20. Jahrhundert fanden Archäologen immer weitere Stützpunkte entlang der Lahn und am Neckar, die ähnliche Aufgaben gehabt haben mögen wie die Lippebastionen: Die Legionäre sollten entlang eines Flusses in unbekanntes Gebiet vordringen und es mit Hilfe von Brückenköpfen sichern. Zu den überraschendsten Entdeckungen im Rhein-Main-Gebiet gehört die Anlage von Waldgirmes.

Waldgirmes – ein Forum für Germanen

Im Frühjahr haben Feldbegeher Hochkonjunktur. Wenn der Pflug Furchen in die Scholle zieht, spült er manchmal Artefakte der Vergangenheit an die Oberfläche. Prasselt dann noch der Regen auf die Krumen, wäscht er die Erde vom aufgeworfenen Fundgut, die Feuchtigkeit lässt Feuersteinklingen |25|und Keramik glänzen – wie Perlen liegen die Zeugen der Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit, der Antike und des Mittelalters leuchtend auf den Fluren. Wer jetzt mit geschultem Blick längs der Felder wandert, stößt auf die Zeugen der Geschichte.

Gerda Weller sammelte Scherben. Die Hobbyarchäologin streifte 1990 über die Felder im Umland des Ortes Waldgirmes in Mittelhessen. Die Gegend war verdächtig. Schon 1986 waren beim benachbarten Dorlar die Strukturen eines römischen Militärlagers im Boden entdeckt worden. Damals hatten Luftaufnahmen Unregelmäßigkeiten im Feld sichtbar werden lassen, die sich als Überreste einer antiken Station entpuppten. Dass auf Gerda Weller gleich eine ganze Stadt wartete, hat sich die ehrenamtliche Denkmalpflegerin wahrscheinlich nicht träumen lassen.

Immer mehr alte Scherben brachte die Hobbyarchäologin mit nach Hause. Als die Keramik zu einem kleinen Monte Testaccio angewachsen war, wurde ein Mitarbeiter der Römisch-Germanischen Kommission aufmerksam. Die Scherben waren schnell datiert. Sie stammten aus der Zeit des Kaisers Augustus – und gehörten damit ins Umfeld der Varusschlacht. Wie sie auf die rechte Rheinseite gelangt waren, blieb allerdings unklar. Waren sie nur Reste des Handels der Germanen mit den Römern? Immerhin lebten die Angehörigen beider Kulturen nur 20 Kilometer voneinander entfernt, durch den Rhein so weit voneinander getrennt wie durch ihre Lebensweise. Auf der Suche nach einer Antwort fand sich Anfang der 1990er Jahre eine Gruppe von Forschern am Rand jenes Feldes ein, auf dem Gerda Weller die Scherben der Vergangenheit aufgelesen hatte.

Rasch war deutlich: Das Gelände war der ideale Siedlungsplatz. Die Lahn floss in der Nähe, wer vom Rhein kam, schipperte bequem in wenigen Stunden an Ort und Stelle. Der Boden war mit Löss bedeckt, einer fruchtbaren Schicht aus der letzten Eiszeit, die schon die ersten Bauern vor 7 000 Jahren angelockt hatte und bis ins Mittelalter als Garant für erfolgreiche Landwirtschaft galt. Bäche sicherten die Wasserversorgung, und das Bergland schützte vor den kalten Westwinden. Wenn die Römer jemals auf der rechten Rheinseite gesiedelt hatten, dann hier.

Die Bagger kamen 1993. Fast zehn Jahre lang wendeten die Archäologen jeden Stein und siebten jede Krume. Mauerbrocken, Bronzestücke, Bleiklumpen und Holzkohle kamen zum Vorschein, auf den Grabungsplänen |26|entstand ein Bild aus Pfostenlöchern, Gräben und Bodenverfärbungen. Kein einfaches Puzzle, aber als das vorläufig letzte Teil eingepasst war, staunte die Fachwelt. Was für ein weiteres Kastell der Römer gehalten worden war, entpuppte sich als Luxusressort der Antike. Unter den bislang 19 identifizierbaren Gebäuden ließen sich Wohnhäuser erkennen, die nicht etwa Lagerbaracken mit Schlafsälen waren, sondern Atriumhäuser im mediterranen Stil. Im Zentrum der Anlage flanierten die Bewohner über ein Forum auf Steinfundamenten, geschmückt von wenigstens fünf Statuen, darunter vermutlich ein Reiterstandbild des Kaisers Augustus. In Wandelhallen gingen Römer und Germanen ihren Geschäften nach oder frönten dem Müßiggang – Saus und Braus an der Lahn.

Glück und Glas hatten schon in der Antike etwas gemeinsam. Die Römer mussten die rechtsrheinische Stadt und die Hoffnung recht bald aufgeben. Schuld war Varus. Seine Niederlage, einige Tagesreisen im Norden, erschütterte das zerbrechliche Gefüge zwischen Römern und Germanen bis ins Maingebiet. 9 n. Chr. war Schluss in Waldgirmes. Dass damit niemand gerechnet hatte, ist im Bebauungsplan der antiken Stadt zu lesen. Den erkennen die Ausgräber in dem überdimensionierten Forum. Viel zu groß sei es gewesen, gemessen an der Bevölkerung der kleinen Stadt, so die Forscher. Da aber das Forum in der Mitte einer Siedlung lag, und die Römer ihre Städte von Grund auf planten, musste das Forum so üppig ausfallen, dass es dem zu erwartenden Wachstum der Stadt gerecht wurde. »Dort lag eine zivile römische Stadt, mitten in Germanien, hundert Kilometer von den Garnisonen am Rhein entfernt«, sagt Siegmar Freiherr von Schnurbein, Direktor der Römisch-Germanischen Kommission in Frankfurt am Main. »Daraus wäre so etwas wie Trier geworden«, sagt Schnurbein in der Zeitschrift Abenteuer Archäologie. Waldgirmes sollte eine Metropole der Antike werden. Die Römer räumten die Stadt 9 n. Chr. eigenhändig aus und brannten Villen, Läden und Forum nieder. Damit ging der letzte Plan des Kaisers, Großgermanien in die Hände zu bekommen, in Rauch auf.

Wie eng Römer und Germanen zur Zeit des Varus miteinander lebten, bleibt Spekulation. Verblüffend wie die Entdeckung von Waldgirmes ist auch der Fundort Hedemünden im südlichen Niedersachsen an der Grenze zu Hessen. Dort, nahe Kassel, fanden Archäologen Reste mehrerer römischer Militärlager und damit die östlichste Bastion der Legionäre. Keine Schriftquelle wies ein solches Lager aus, nirgends fand sich ein Hinweis |27|darauf, dass die Römer überhaupt so weit vorgestoßen waren. Derartige Überraschungen beleben die Debatten der provinzialrömischen Archäologie. Sie lassen aber auch Weltbilder zusammenstürzen und hebeln Forschermeinungen aus, die seit Jahrzehnten herrschten.

Rom war plötzlich überall. Waldgirmes, Hedemünden und das ebenfalls erst 1985 entdeckte Lager Marktbreit im Maindreieck füllen die Landkarten der Historiker. Das ehemals germanische Niemandsland bekommt römische Struktur. War die Welt des Varus gar nicht so wild, wie oft behauptet wird? Sind mehr Lager zu erwarten? Zu den Wunschträumen der Archäologie gehört das Sommerlager des Varus an der Weser, jener Ort, von dem der unglückliche Feldherr mit drei Legionen 9 n. Chr. zu seinem letzten Marsch Richtung Rhein aufbrach. Der Osnabrücker Historiker Rainer Wiegels meint dazu: »Selbstverständlich halte ich es auch für ›möglich‹, dass es ein oder auch mehrere Lager an der Weser gegeben hat; man sieht ja an Hedemünden, wie schnell sich unser Wissen ändern kann. Aber wir kennen vorläufig keines, und insbesondere wäre noch zu fragen, ob ein solches Lager überhaupt für längere Zeit vorgesehen war. Schließlich: Das berühmte und berüchtigte ›Sommerlager‹ des Varus an der Weser beruht teilweise auf simpler Konstruktion neuzeitlicher Forschung.«

Germanen und Römer lebten in einer Welt, die bestimmt war von den Eroberungsplänen der Kaiser, Senatoren und Häuptlinge. Zwischen den Kämpfen aber scheinen sich die einfachen Menschen miteinander arrangiert zu haben, sie handelten und betrieben damit die archetypische Form des Kulturaustausches. Die Reichen prassten, zechten und genossen das Leben auf dem Lotterbett. Dann kam Varus.