Jean-Jacques Rousseau
Tausend kleine Spiele der Befruchtung
Inhalt
Jean-Jacques Rousseaus Liebe zur Botanik
Erster Brief
Zweiter Brief
Dritter Brief
Vierter Brief
Fünfter Brief
Sechster Brief
Siebter Brief
Achter Brief
Ergänzungen Herbarium
Kleines Herbarium
Anmerkungen
Quellenangaben
Dieses SJW-Heft konnte realisiert werden dank der Unterstützung durch:
Ville de Genève – Département de la culture
Fondation Oertli
Ernst Göhner Stiftung
Tausend kleine Spiele der Befruchtung ist auch erhältlich in Französisch:
Nr. 2416: Jean-Jacques Rousseau. Mille petits jeux de la fructification.
Übersetzung Briefe: Mirjam Burkhard und Margrit Rosa Schmid
Text Einleitung: Margrit Rosa Schmid
SJW Nr. 2429
ISBN 978-3-7269-0611-5
E-ISBN 978-3-7269-0708-2
© 2012 SJW Schweizerisches Jugendschriftenwerk
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E-Book: mbassador GmbH, Luzern
Jean-Jacques Rousseau wurde am 28. Juni 1712 in Genf geboren. Mit sechzehn Jahren verliess er seine Heimatstadt und ging auf Wanderschaft. Eine eigentliche Schulbildung erhielt Rousseau nicht, er war zeitlebens ein Autodidakt und übte viele Berufe aus: Schreiberling, Graveur, Diener, Musiker, Sekretär, Schriftsteller oder Notenschreiber. Rousseau ist eine der wichtigsten Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts. Seine Schriften haben auch heute grosse Bedeutung. Der Schriftsteller und Philosoph betrachtete alles aus einer eigenen, neuen Sicht. «Der Uhrmachersohn aus dem Armenviertel von Genf nimmt das ganze Gehäuse der Gesellschaft auseinander. Er stürzt alle Probleme um, dass ihre Fundamente offen liegen», schreibt Stefan Zweig über den Philosophen. Sein Leben sei eine lange Träumerei gewesen, sagt Rousseau über sich selbst. Träumereien eines einsamen Spaziergängers, einen seiner schönsten Texte, hat er in den letzten Jahren seines Lebens geschrieben. Er erschien 1782, vier Jahre nach Rousseaus Tod am 2. Juli 1778. Die in der Schweiz aufbewahrte Schriftensammlung von und über Rousseau zählt seit 2011 zum Weltkulturerbe der UNO-Kulturorganisation UNESCO.
Anna Sommer (*1968 in Aarau) lebt und arbeitet in Zürich als freischaffende Comiczeichnerin und Illustratorin. Sie hat mehrere Comicbücher publiziert. 2003 erschien Eugen und der freche Wicht, ein Kinderbuch über Hirntumor, gefolgt 2010 von Julie ist wieder da, der Geschichte eines an Leukämie erkrankten Mädchens. 2011 hat sie für das SJW die Erzählung Eine Kreuzung von Franz Kafka illustriert, die in den vier Landessprachen erschienen ist. Mit Was kitzelt in meiner Hand erschien ein Buch zum Lesen und ertasten, illustriert und gestaltet für sehbehinderte Kinder. Für ihre Arbeiten ist Anna Sommer mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, 2006 mit dem Werkjahr der Stadt Zürich im Bereich Comics. Mehr zu erfahren ist unter www.annasommer.ch.
Dank
Wir danken Constanze Conradin, Mitarbeiterin Institut für Integrative Biologie ETH Zürich, für die sorgfältige Prüfung der botanischen Fachwörter und deren korrekte Übersetzung, für die Hilfe bei der Beschriftung der Illustrationen und für die Anmerkungen. Ganz besonders danken wir ihr für die wertvollen Angaben zum Bau einer einfachen Pflanzenpresse, die Vorgaben für das umsichtige Sammeln von Pflanzen und das Erstellen eines Herbariums. Für das sorgfältige Lektorat des Einleitungstextes gilt unser Dank Dr. Pirmin Meier, Beromünster, für das Korrektorat Lektorama, Zürich, und Walter Graf, Wetzikon.
Jean-Jacques Rousseaus Liebe zur Botanik
Lettres Elémentaires sur la Botanique 1
Jean-Jacques Rousseau wurde 1712 in Genf geboren. Seine Mutter starb nur neun Tage nach seiner Geburt. Die ersten Jahre der Kindheit verbrachte er beim Vater, einem Uhrmacher, in Genf. Mit ihm las er bereits mit fünf Jahren Biografien von Griechen und Römern wie Alexander der Grosse oder Gaius Julius Cäsar, oft nächtelang, bis sie beim Morgengrauen die Vögel zwitschern hörten.
Als Rousseau die Botanischen Lehrbriefe schrieb, war er 59 Jahre alt. Adressiert sind die Briefe an Madeleine-Catherine Delessert. Sie hatte Rousseau gebeten, für ihre Tochter Marguerite-Madeleine, auch Madelon genannt, eine Anleitung zum Studium der Pflanzen zu verfassen. Die Briefe sind 1778 kurz nach Rousseaus Tod in einer Schublade seines Arbeitstisches in Ermenonville, nördlich von Paris, gefunden worden. Sie lagen neben einem Buch von Torquato Tasso und einer Sammlung mit Heldenbiografien des Griechen Plutarch, Rousseaus Lieblingsbuch. Seit seiner Kindheit soll er dieses immer bei sich getragen haben.
Heute sind die acht botanischen Lehrbriefe im Museum Jean-Jacques Rousseau in Montmorency, unweit von Paris, aufbewahrt. Für die vorliegende Publikation wurden sie leicht gekürzt. Einige botanische Begriffe, die Rousseau verwendet hatte, sind nicht mehr gültig. Diese sind farbig gekennzeichnet und im Anhang erklärt, ebenso Namen von Pflanzen, die anderen oder neuen Familien und Gattungen zugehören, und Inhalte, die einer Erklärung bedürfen.
La pervenche
Rousseau liebte seit seiner Kindheit die Natur. Das pervenche, das Immergrün, fand dank ihm Eingang in die Literaturgeschichte. In seinem autobiografischen Buch Die Bekenntnisse berichtet Rousseau, wie ihn Madame de Warens auf das unscheinbare Blümlein aufmerksam machte: «Voilà de la pervenche encore en fleur!»2, soll sie dem damals Sechzehnjährigen zugerufen haben. Die beiden waren auf dem Weg nach Les Charmettes, um dort zu übernachten. Zwanzig Jahre später begegnete Rousseau dem Pflänzchen wieder auf einem botanischen Spaziergang bei Neuenburg. Dorthin war er 1762 geflüchtet, weil seine Werke Der Staatsvertrag und Emile oder Über die Erziehung wegen umstürzlerischer Ideen zu Bildung und Religion verboten worden waren. In Paris und bald auch in Genf liess man die Bücher öffentlich verbrennen. Gegen Rousseau, der sich unweit der französischen Hauptstadt aufhielt, erging ein Haftbefehl. Er suchte Schutz in der Schweiz und fand Aufnahme bei einem Freund in Yverdon (damals bernisch). Als ihn dort die Nachricht erreichte, dass er auf Berner Boden nicht erwünscht sei, verliess er seinen ersten Zufluchtsort. Nach einer durchwanderten Nacht traf er am 10. Juli 1762 frühmorgens in Môtiers ein. Das im Neuenburgischen gelegene Dorf unterstand dem preussischen König Friedrich der Grosse.
«Sire, ich habe viel Schlechtes über Sie gesagt»
Noch am Tag seiner Ankunft verfasste Rousseau ein Schreiben an den König, der als Freund der Dichter und Denker galt. Er bat ihn um seinen Schutz: «Sire, ich habe viel Schlechtes über Sie gesagt, ich werde vielleicht noch mehr davon sagen. Doch aus Frankreich, Genf und dem Kanton Bern verjagt, komme ich, um auf Ihrem Gebiet Asyl zu suchen. […] Ich glaube verpflichtet zu sein, Eurer Majestät mitzuteilen, dass ich mich in Ihrer Gewalt befinde.»
«Geben wir dem Unglücklichen Asyl», liess Friedrich dem Bittsteller durch den Gouverneur von Neuenburg ausrichten. Und etwas später: «Wäre nicht Krieg, wären wir nicht ruiniert, würde ich ihm eine Einsiedelei mit Garten bauen.» Der König versprach ihm aber eine kleine monatliche Pension, die Rousseau allerdings zurückwies. Vielmehr forderte er: «Befreien Sie mich vom Anblick des Schwertes, das mich blendet und schmerzt.»
In Môtiers bewohnte Rousseau mit seiner Haushälterin Thérèse Levasseur und seinem Hund drei Zimmer in einem Landhaus. Die Unterkunft wurde ihnen von der Lyoner Bankiersfrau und Gutsbesitzerin Madame Julie Boy de la Tour zur Verfügung gestellt. Deren damals 15-jährige Tochter war Madeleine-Catherine, die Adressatin von Rousseaus Botanischen Lehrbriefen.
In seinem Exil begann sich Rousseau in einer Art zu kleiden, die grosses Aufsehen erregte. Er zog sich die armenische Tracht über, ein langes Gewand mit Weste, Kaftan, Pelzmütze und Gürtel. Die Ausstattung liess er – mit präzisen Vorgaben für Material und Farbe – von einem armenischen Schneider, der sich in der Gegend niedergelassen hatte, anfertigen. Nach kurzem Zögern trug Rousseau das Gewand auch beim sonntäglichen Kirchgang.
Rousseau im Val de Travers
Als Rousseau in Môtiers eintraf, war er bereits ein berühmter Mann. Sein 1761 erschienener Briefroman Nouvelle Héloïse gilt als das erfolgreichste und bedeutendste Buch des 18. Jahrhunderts. Die Gegend bei Vevey, wo die Liebesgeschichte spielt, war bald Ziel begeisterter Leserinnen und Leser aus ganz Europa.
Auch erhielt Rousseau in Môtiers Besuch. Die Schweiz besass damals Naturforscher ersten Ranges. Eine Gruppe bestausgewiesener Botaniker der Region unternahm mit Rousseau Exkursionen: aus Môtiers Jean-Antoine d’Ivernois, Sammler von Heilkräutern und Kenner der Pflanzen im Neuenburger Jura, aus La Ferrière im Berner Jura der Arzt und Gelehrte Abraham Gagnebin und aus Neuenburg Pierre-Alexandre Du Peyrou, Rousseaus Mäzen und späterer Verwalter seiner Werke. Sie zogen botanisierend3 durch das Val de Travers, auf den Chasseron oder zum Creux du Van. Auf einer Anhöhe bei Cressier soll Rousseau in Erinnerung an die Zeit in Les Charmettes gerufen haben: «Ah! Voilà de la pervenche!»4 Er fand das Blümlein unter einer Hecke, seinen Begleitern war die Pflanze unbekannt.
Im Kreise dieser Männergruppe liess sich Rousseau in die Wissenschaft der Botanik einführen. Vieles schien ihm zu kompliziert; die Pflanzennamen fand er unbrauchbar.
Abraham Gagnebin war 1739 bereits mit Albrecht von Haller in der pflanzenreichen Gegend unterwegs. Rousseau bewunderte die Arbeit Hallers, obwohl dieser ihn ablehnte. Eigenhändig hatte er später eines von dessen Pflanzenbüchern kopiert. Nach Haller benannte Rousseau sogar eine Doldenblüte, die er nur bei ihm beschrieben vorfand. Er gab ihr den Namen seseli Halleri.
Carl von Linnés Systema naturae
In Môtiers las Rousseau auch die Werke der grossen Botaniker Frankreichs und Englands. Er schätzte aber vor allem die Arbeiten der Schweizer wie die des Basler Universitätsprofessors Caspar Bauhin und seines Bruders Johannes. Dieser unternahm mit dem Naturforscher Conrad Gesner aus Zürich und einigen Gleichgesinnten botanische Wanderungen in die Alpen. Gesner veröffentlichte Berichte von botanischen Exkursionen auf den Pilatus, das Stockhorn, den Calanda oder den Niesen. Rousseau erkannte in ihnen erste Zeichen «wahrer Botanik». Begeistert war er über den schwedischen Naturforscher Carl von Linné. Mit Leidenschaft las er dessen Systema naturae, «von der ich mich nie mehr recht habe heilen können, selbst nachdem ich ihre Lückenhaftigkeit erkannt hatte».