Alexander Kluge

Das fünfte Buch

Neue Lebensläufe

402 Geschichten

Suhrkamp

Mitarbeiter
Thomas Combrink

 

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011

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eISBN 978-3-518-75470-2

www.suhrkamp.de

INHALT

Inhaltsverzeichnis

 

Vorwort    7

1 Die Lebensläufer und ihre Lebensgeschichten 9

1 Die Fliege im Pernod-Glas    13

Die Fliege im Pernod-Glas 13 – Blumen in der Stadt 13 – »Er hat die herzlosen Augen eines über alles Geliebten« 15 – Die geheime Geschichte seines Glücks 16 – Zwei Träumerinnen stiften Verwirrung am Freitag abend 17 – Fräulein Clärli 19 – Das Mädchen von Hordorf 20 – Der erste Zeuge 21 – Der zweite Zeuge 21 – Das verlorene Kind 22 – Für die Zukunft ihrer Krabbe tätig 24 – In ihrem Kleiderschrank klebte ein Bild 25 – Stärkung mit zeitversetzter Wirkung 27 – Das Glück des dicken Bonaparte 28 – Wie Zorn sich wandelt 28 – Eine Kette von Vorfahren 30 – Mein Urgroßvater mütterlicherseits 31 – Shoddy 35 – Ein flotter Geist in einem unsicheren Körper 35 – Einen Moment lang hat es den Anschein, daß in der Nähe von Manchester ein neuer Menschentyp entsteht 37 – Eine frühe Ahnung von Faschismus 39 – Das platonische Ideal der Einheit von Zeit und Konzentration bei der Arbeit (Marx, Das Kapital, 12. Kapitel, Anmerkung 80) 40 – Auf Tuchfühlung 40 – Ein Lebenslauf in verdichteter Zeit 41 – Die englische Prägung 42 – Sturz eines Hochbegabten 44 – Eiliger Moment 45 – Ein von allen geliebtes Erstgeborenes 46 – Kalte Ente Freitag abend 46 – Keine Freiheit für den Hirtenhund 47 – »Eine Schweizer Stiftung soll über mein Liebstes wachen« 48

2 Uralte Freunde der Kernkraft     49

Uralte Freunde der Kernkraft 49 – Witzlaffs Katastrophentheorie 50 – Empfindliche Abkömmlinge aus ferner Zeit 51 – Kosmische Musik 52 – Es entlastet, wenn die Last nicht auf dem Einzelnen liegt 52 – Kommunizierende Tunnelwände 53 – Sie waren froh, in der Not beieinander zu sein / Lob der Kommunikation 54 – Bilder aus dem Zentrum des Geschehens 54 – Begriff der Arbeit in der Notzentrale 55 – »Eine Metropole von 37 Millionen Menschen« 56 – Ein Bürgermeister von Tokio 57 – Evakuierung einer Metropole 58 – Eine sich vergesellschaftende Rotte von Robotern 59 – Ein Metallbrand ist besonders schwer zu löschen 60 – Zufluchtsort einer künftigen Menschheit 61 – Erdbeben mit der Folge einer flutartigen Empörung in der Antike 63 – Der Stolz des Ortes ist die Schule 64 – Müde, ohne gearbeitet zu haben 65 – Absinken des Aktualitätswerts 66 – Besuch der Kanzlerin 67

3 Der Lebenslauf einer fixen Idee    69

Der Schreiner von Athen 69 – Besser wenn es keine Regierung gibt, die Verträge unterschreibt 69 – Der Lebenslauf einer fixen Idee 71 – Ein unbezahlbares Motiv 71 – Der letzte Listenreiche gibt die Hoffnung auf 74 – Wiedergutmachung für Alarichs Taten 75 – Szenario der griechischen Bahnen 76 – Zerfledderung von Lorbeerkränzen 79 – Koloniebildung im 21. Jahrhundert 80 – »Griechenland in permanenter Revolution« 80 – Der griechische Exodus 81 – Ein Lebewesen, weder osmanisch noch griechisch 82 Goethe und die Griechenfreiheit 83 – Eine Geschichte um Leidenschaft und Lebenspraxis aus dem griechischen Befreiungskampf 85 – Indikative Bewertung 88 – Das »gewaltsame Auge« 88 – In großer Ferne zum 5. Jahrhundert v. Chr. 90

4 Die unsichtbare Schrift    96

Wartezeit 96 – Erst später verstand ich, worum es sich handelte 96 – Entschluß eines aufgeregten Julitages 98 – Nebeneinanderschaltung 99 – Allmähliche Beladung des Hirns durch Schrift 100 – »Die Lebensbahn des Zwerchfells« 101 – Lebensläufe der Libido 102 – »Leiden kann nur der Einzelne« 104 – Der Erzählraum (und das Darüberhinaus) 106 – Besuch in der Zukunft 107 – Welche Sprache wird in 200 Millionen Jahren gesprochen? 109 – Die Niedermetzelung des 2. Nassauischen Infanterieregiments Nr. 88 112 – Sie weinte bitterlich, als sie hörte, daß es für Eltern keine Verkehrsverbindung zur Front gibt 114 – Die unsichtbare Schrift 116 – Erinnerung, ein rebellischer Vogel 116 – Ein Erforscher von Lebensgeschichten 118 – Die Ärzte der Charité sahen keine Möglichkeit, den energischen Lebenskämpfer abzuwimmeln 119 – Ein Geschichtsfaden 120 – Ausradierte Jahre 121 – Körpergröße und Bedeutungswandel 122 – Septemberkinder 1990 123 – Glückliche Nachreife 124 – Reinschrift des Lebens 125 – Auf dem Weg zur Unentbehrlichkeit 126 – Ein Clan aus Niger sucht seine Lebensläufe zu verbessern 126 – »Ein Leben namens Gucki« 127 – Sieben Generationen begründen eine Region 127 – Die letzte Bastion 128 – Übriggeblieben aus der vorigen Welt 129 – »Mancher Fabriken befliß man sich da, und manches Gewerbes« 129 – Lieschen hat sofort gesehen, daß Hermann nicht umzustimmen ist 131 – »Damit sich Acker an Acker schließt« 131 – Goethes Kunstgriffe 132 – Zwangsentwurzelte Evakuierte 133 – »Kommt ihr doch als ein veränderter Mensch« 133 – Begegnung auf der Flucht 135 – Kleist und seine Schwester 136 – Kleists Lebensplan 136 – Ein Fragment wird verbrannt 137 – Wie Goethe eine Minderjährige belauerte 138 – Eine apokryphe Oper Rossinis (Libretto von Goethe) 139 – Zwischen Körper und Kopf nichts als Musik 140 – Nahe Begegnung zwischen Karl May und Lord Curzon 143 – Prägung eines Charakters durch intime Erlebnisse und einen Sturz vom Pferd 145 – »Im Banne der merkwürdigen Gewalt, welche der Orient auf uns alle ausübt« 145 – Das Blut des Geliebten 147 – Wie ich Thomas Manns Villa umschlich 150 – Eine Romanskizze von Klaus Mann zu einem Stoff seines Vaters 151 – Ein Entwurf von Thomas Mann über Goethe während der Belagerung von Mainz 153 – Hegels unehelicher Sohn 154 – Jeden Morgen liest Hegel Zeitung 157 – Wie der Zufall in einer Winternacht Generationen an Nachfahren zustande brachte 158

2 Passagen aus der ideologischen Antike: Arbeit / Eigensinn 161

1 »Sag mir, wo die Arbeit ist, wo ist sie geblieben?«    163

Aus den Augen, aus dem Sinn 163 – Rückverwandlung von Soldaten in einfache Arbeiter 163 – Gefügeartige Arbeit 164 – Ein grauer Montag 164 – Röntgenblick auf die »unsichtbare Hand« 165 – Bauernaufstand des Geistes in der Mathematik 165 – Begegnung mit dem Glück in globalisierter Welt 166 – Zungenlust, Empathie und impartial spectator 167 – Moderne Anlagen, Prunkstücke »toter Arbeit«, momentan ohne Eigentümer 168 – Entstehung von Energien aus Trennung und Leid 169 – Lebenszeit gegen Geld 170 – Einfacher Handgriff 171 – »Sag mir, wo die Arbeit ist, wo ist sie geblieben?« 171

2 HAMMER, ZANGE, HEBEL. Gewaltsamkeit als Arbeitseigenschaft    173

BEHUTSAMKEIT, SICH-MÜHE-GEBEN, KRAFT- UND FEINGRIFFE 174 – Verinnerlichung von Arbeitseigenschaften 176 – AUFRECHTER GANG, GLEICHGEWICHT, SICH-TRENNEN-KÖNNEN, NACH-HAUSE-KOMMEN 177 Die Fingerspitzen, der Klammergriff 178 – Robo sapiens. Internet. Rückfall auf »einfache Lebenszeit« 178 – HEBAMMENKUNST 179

3 Selbstregulierung als Natureigenschaft    180

Das zänkische Gehirn 182 – Eiszeit 183 – Zelle 183 – Ungehorsam 184 – Brüderlichkeit 184 – Selbstregulierung als Ordnung 185 – Spezifische Störbarkeit 185

4 DIE ZERBROCHENE GABEL. Warum stehen Menschen neben ihrer Geschichte?    188

Kriegsgewinnler 1918 188 – Loss of history 189 – Abbruch der Erfahrung 190 – Ein Anschein von Kooperation 191 – Eine Strömung von Kooperation ganz am Sockel 192 – Als Monteverdis Bote im Autowerk 192 – Wandernde Klänge gehorchen keinen Eigentumsgrenzen 193 – Insolvenz im Motiv 194 – Die zerbrochene Gabel 194 – »Tote Arbeit« 195 – Industrieruine, liegengeblieben auf dem Weg der Investoren 195 – Erwachsenenbildung für die Finanzindustrie 196 – Ein Absacker-Gespräch 196 – Die Ausdrucksweise Großer Theorie und das einfache Leben 198 – Eine merkwürdige Wortwahl von Karl Marx 199 – Hermetische und assoziative Kräfte 200 – Rückkehr zur »unabhängigen Bodenbearbeitung« 201 – Eine Dissertation mit unzureichenden Quellenangaben 201 – Alleinstellungsmerkmal 202

5 »Da kannst Du essen, Du eigensinniges Kind!«    205

Das eigensinnige Kind 205 – »Antirealismus des Gefühls« 206 – Unabweisbarkeit im Eigensinn der Arbeitskraft 207 – »Sinnlich sein heißt leiden«. »Schöpferische Zerstörung« im individuellen Lebenslauf 208 – Patrioten ihrer Kinderzeit 209 – Spielerischer Umgang im Amt 210 – Filmszene aus der Arbeitswelt 211 – »Heile, heile Mäusespeck / In hundert Jahrn ist alles weg« 214 – Der digitale Peters 214 – Ein Film über den »Gesamtarbeiter« 216

3 Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd 223

Menschenfeindliche Kälte / Die »gescheiterte Hoffnung«    227

Menschenfeindliche Kälte 227 – Stroh im Eis 227 – »Die gescheiterte Hoffnung« 230 – Eisblaue Augen 231 – Wiederherstellung von Hoffnung für den Ruhm Rußlands im Norden 233 – »Derjenige dagegen hat das Recht auf seiner Seite, welcher den Anderen nur als Einzelnen, abgelöst von dem Gemeinwesen, zu fassen wußte« 234 – Der Vorwand für Jeschows Entmachtung 235 – Aller Macht entkleidet 236 – Körperwut 238 – Fehlen der Vernichtungswut bei Hirschartigen 239 – Kommentar: Organisierte Kälte, verdichtete Gleichgültigkeit 243 – Shuttle-Diplomaten (Schnappschuß) 252 – Auf  dem  Dach  der  Welt 252 – Holbrookes Ende 254 – Tausch eines unlösbaren Problems gegen ein lösbares 255 – Spitzbergen wird zugeteilt 256 – Tauschwert von überflüssig viel Raum 257 – Ein Treibstoff namens Gier 258 – Eissturm an der Front vor Moskau 259 – 21999 v. Chr. 259 – Eindruck von Undurchdringlichkeit 260 – Die Macht der »Zeit« 260 – Die Nordpolarstellung 261 – Der Rüstungsminister versäumt den Abflug nach Nordgrönland 262 – Beuys auf der Krim 263 – Der Tod des Aufklärers Malesherbes 264 – Eine letzte Frontfahrt 264 – Das Steinherz 266 – Warten am letzten Tag im Advent 268 – Unerwartete Bekehrung eines Heiden 270

4 Die Küche des Glücks 273

1 Die Prinzessin von Clèves    277

1 Ein Roman der poetischen Aufklärung ... 277 – 2 Amour propre oder die Eigenliebe ... 279 – 3 Über einige Begriffe und Szenen des Romans 280 – 4 Eine Vorratssammlung moderner Fragen und Romanstoffe zum Begriff der passion von Niklas Luhmann 286 – 5 Einzelheiten einer Intrige 291 – 6 Wandernde Schicksale. Eine Moritat ... 292 – 7 Wie würde man heute den Roman Die Prinzessin von Clèves weiterschreiben? Wäre das im 21. Jahrhundert möglich? 294 – 8 Arbeitszeitmesser A. Trube zu Liebe, Macht und dem Unterschied von Zeitabläufen im 17. und 21. Jahrhundert 297 – 9 Intelligenz und Sprache der Mathematik im Vergleich zu der von Liebesromanen 299 – 10 »Ort und Zeit ohne Grund ist Gewalt« (Aristoteles) 301 – 11 Neo-Stoizismus 302 – 12 Ableitung der Vernunft (raison) aus dem Wort Arraisonnement 303

2 Was macht der Liebe Mut?    305

Eine Bemerkung von Richard Sennett 305 – Was sind Derivate? 305 – Eine Beobachtung von Niklas Luhmann, die auf Richard Sennetts Bemerkung antwortet 307 – Ein libidinöser Grund für Sachlichkeit 308 – Figaros Loyalität 309 – Eros und Thanatos 311 – Nature of Love 312 – Im Schattenreich der Libido 315 – Die Lüge eines Kindes 315 – Die Hoden der Aale 317

3 Die Gärten der Gefühle    320

Die Wahlverwandtschaften. Parklandschaft mit vier Liebenden 320 – Die wunderlichen Nachbarskinder 324 – W. Benjamin, die Sterne und die Revolution 326 – Teestunde mit Akademikern 332

4 Das Labyrinth als Grube    335

Sir Arthur Evans in Knossos 335 – Der schönste Schatz der Evolution 336 – Die »ursprüngliche Akkumulation der zärtlichen Kraft« 337 – Steine des Labyrinths als Erinnerungsstücke 338 – Ein Frauenopfer in der Antike 339 – Ein Frauenopfer 1944 340 – Mord in der Hochzeitsnacht 341 – Die Schönheit in der Stimme der Nachtigall 342 – Die Metamorphosen des Ovid 342 – Nichts ist einfach Routine 345 – Wird der Minotauros mit einem ganz anderen Konstrukt des Daedalus verwechselt? 345 – »Daß es zu bösen Häusern hinausgehen muß, sieht man von Anfang an« 348 – Kollektive erotische Grundströmung als Ursache vermehrter Zeugung in einer Pariser Nacht 348 – Das Labyrinth als Grube 349

5 Die Küche des Glücks    351

5 Das Rumoren der verschluckten Welt 369

1 Absturz aus der Wirklichkeit    371

Tödlicher Zusammenstoß zweier Rennpferde 371 – Macht über den Mächtigen 373 – Absturz aus der Wirklichkeit 374 – Einer der letzten Einzelkämpfer 375 – Die Inflation regnet sich ein 376 – November 1923 377 – Die Concierges von Paris 379 – Ein Vorschlag aus Alexandria 380 – Das sibirische Meer 380 – Wie leicht bricht einer durch den dünnen Firnis der Realität 383 – Der Söldner 386 – Ein Kämpfer aus Ungarn 390 – Kleinheit der Fragmente, aus denen sich der Verlauf des Sprengstoffattentats ermitteln läßt 391 – Die Stelle zwischen zwei Institutionen, an der die Schuld ungenau wird 392 – Sturz nach einem Tag mit zu vielen Eindrücken 393 – Vor ihrem Alter graulte sie sich 395 – Die ersten 36 Stunden mit einem lachhaften Verwaltungszwerg 396 – Der Abbrecher 397 – Ihre Ankunft sollte durch ein Essen würdig begangen werden 397 – Nebelfahrt 398 – Künstlerische Installation, die nicht auf den kindlichen Instinkt geeicht ist, vor Abgründen innezuhalten 399 – Das Tier wollte uns nicht rammen 399 – Eulenspiegel in der Pferdehaut 400 – Wirklichkeit als eine zweite Haut 400

2 Das Rumoren der verschluckten Welt    402

Ausgründen nach oben / Luftmeere der Gesellschaft 402 – Schätze der Tiefsee 403 – Suche nach Menschengold 403 – Seltenes Leben ohne Verwertungsaspekt 403 – Lange Zyklen der Wiederkehr ewiger Farne 404 – Unerwartete Chance durch das Virus 404 – Im Marianengraben können die Atome bis in alle Ewigkeit kühlen 404 – Das unheimliche Potential, welches in der Erdkruste schlummert 405 – Hotel am Abgrund 406 – Eine junge Assistentin befragt Talcott Parsons in Heidelberg 406 – In den Jahren der Verwirrung 409 – Matschmasse 411 – Sich entzündender Konfliktpunkt, der 2030 gefährlich werden kann 412 – Porträt einer Seelenstörung 412 – Schmerzfreier Tod 413 – Ein fernes Blinkzeichen von Thomas Robert Malthus 413 – Industrielles Schlachten im 21. Jahrhundert 414 – Eine Lawine an Uneinigkeit 414 – Subjektiv-Objektiv 415 – Die unendliche Habsucht der Subjektivität 415 – Die neue Gier 416 – Die fossile Spur des unabhängigen Gedankens 417 – Getrenntes Paar 418 – Die Stärke unsichtbarer Bilder 418 – Seitlich des Bildes 419 – Der Topos, mit dem jede Welteroberung beginnt 420 – Ein unverzeihlicher Verlust 420 – Der Leichnam Karls des Kühnen 421 – Einsamer nie als im November 421 – Der Nachträgliche 422 – Ein Team alteingesessener Delphine 423 – Das unsichtbare Bild der Sintflut 424

3 Die Revolution ist ein Lebewesen voller Überraschungen     426

Grüne Hügel von Chengde 426 – Wetterwechsel im Sinne Maos 426 – Die Revolution ist ein Lebewesen voller Überraschungen 427 – Deng staunt, wie rasch die Leute den komplizierten Kapitalismus lernen 429 – Was ist ein »Bauer der Bedürfnisse«? 430 – Tze-fei begegnet einem Vers von Freiligrath 431 – Zwei Fernbeobachter der Revolution im Nahen Osten 433 – Provinzen zahlen für große Städte Steuern 435 – Verbindung zwischen zwei Zentren der Revolte 436 – Können utopische Besitzansprüche Zauberkraft entfalten? 437 – Anfang der saudischen Konterrevolution 438 – Das Prinzip Sulla 438 – Neuer Eintrag im Handbuch 439 – Lebenslauf von Reformen 439 – Wörtlich übersetzt heißt Revolution »Umwälzung«, »Wegwälzen« 439 – Aufstand, Revolution, Sezession 440 – Der Streit, ob Revolutionen Kreise bilden oder Spiralen. Oder sind sie Hyperbeln? Heben sie ab? 441 – Condorcet stürzt sich in die Wogen der Revolution 444 – La grande peur 445 – Übermut des Gedankens / Kalender der NEUEN ZEIT 446 – Eine äußerste Form der Ungleichheit: ein Zeitkorsett 446 – Anwendung des im Metermaß enthaltenen Metrums auf die Uhrzeit 449 – Hinweis auf die griechische Revolution von 1821 aus Anlaß des Flugverbots über Libyen im März 2011 450 – Gefahren der Philantropie 451 – Ein Grenzkonflikt 453 – Mitbringsel der Militärberater 453 – Nachrichten bedürfen eines Interesses auf der Seite ihrer Empfänger 455 – Ebensoviel Profiteure der Revolution wie Revolutionäre / Eine Revolution übersteht auch dies 456 – Was heißt Provinz in der Revolution? 461 – Umsturz des Umsturzes 462 – »Muth des Dichters« 463 – Begegnung im Turm / Ein Sansculotte war der Dichter nicht 463 – Wie ein Land durch verspätete Revolution unter die Räuber kam 464 – Ein getreuer Beobachter von Portugals Entwicklung 466 – Ein Sturz aus großer Fallhöhe 468 – Schillers Kontext 469

4 Die vergrabenen Hirne am Rhein     471

Die vergrabenen Hirne am Rhein 471 – Der Strom der Gene am Rhein 472 – Sprachvermittelter Neugeist 473 – Die mächtige Stimme der Erde, als sie noch mit dem Riesen Ymir identisch war 474 – Keimruhe in kalter Zeit 474 – Unwirtlicher Harz 475 – Irrfahrt von Tugenden und Lastern im Endkampf 475 – Tod eines Oberbürgermeisters von Leipzig 478 – Ein Sinnspruch der Pythagoreerin Theano 479 – Die Stummheit der Weber im Menschenstrom von 1945 479 – Schleefs emotionale Haltung 481 – Was er erzählt, hat die Zeit überrannt, wie er es erzählt, bleibt aktuell 481 – Der letzte Stenograph des Führers 482 – Ein Philologe als Opferlamm 482 – Lebensläufe, die durch das Jahr 1945 durchkreuzt werden 486 – Kommentar 488 – Porträt einer Individualistin 488 – Philologen im neuen China 489 – Wenig Unglück gibt es in der Welt, auf das sich Kortis Vorsicht nicht erstreckt 490 – »Ein ganz junger und begeisterungsfähiger Mensch«. Jetzt, 77 Jahre alt geworden, gelangt er an sein Ende 491 – Ein Versöhnungskind 494 – Gustav Fehn: »Bürger in Uniform« 497 – Schon winkt ein neues Leben 498 – Absturz aus einer »Unwirklichkeit« in eine andere 498 – Die Rückholung der Männer 499 – Ein Fall von Nationbuilding in der Familie 500 – »Anpassung und Widerstand«. Formulierung eines Textes aus dem Geiste der Entspannung 502 – Eine neugierige Zuhörerin Sarrazins, welche die Nachrichten des Ammianus Marcellinus über Anatolien im Original kennt 505 – Tote am falschen Ort 506 – Reise zu den Sternen 508 – Wiederkehr der Götter 510 – Die Sibylle »mit dem rasenden Mund« 513 – Die Menschen mit zwei Köpfen 514 – Wie zwei Hirnchirurgen in Gegenwart eines Deuters den Sitz der Götter auf der rechten Hirnseite ihrer Patienten entdeckten 515 – Die kurze Ära des Bewußtseins 517 – Die assyrische Springflut 518 – Die Entstehung des SELBST aus der Hinterlist 518 – Hoffnung, im Urwald auf eine frühe Stufe der Menschheit zu treffen 519 – Ende des Lebens 519

5 Kant und der ROTE MANN     520

Bei Betrachtung eines Kleinkinds im Jahre 1908 521 – »Ein Mensch ist des anderen Spiegel« 522 – Eine zähe Haut 522 – Die Anti-Scheuklappe für Artilleristen 523 – Antikonzentrationsgesetz in der Natur 524 – Raubwanderung 525 – Obergrenze der Raublust 526 – Goethe und die natürliche Zuchtwahl 526 – Zivilisation als Vogelscheuche 527 – Die Anfänge des Skeletts lagen offenbar im Mund 527 – Stufen des Lebens 528 – Erzählen in Zehn-Jahres-Abschnitten 528 – Erzählen in 100-Jahres-Abschnitten 529 – Wie überträgt sich ein Wissen in der Kunst? 530 – Aristoteles über die Genese der dramatischen Gattungen 531 – Ein aufgefundener Text Arno Schmidts über die Poetik des Aristoteles 532 – Lord Elgin und die Marbles 535 – Zwei Experten erfinden einen neuen Tuschkasten des Eigentums 536 – Wir sammeln Rohstoffe für die Rüstung des Reiches 538 – Eigentum, das bleibt 539 – Urtümliche Assoziation der Materie 539 – Die unendliche Vielfalt der Punkte am Himmel 540 – Im Weltraum gelangt die Erde nie zweimal an denselben Punkt 541 – Urform des Eigentums 541 – Kant und der ROTE MANN 542

Nachweise und Hinweise    545

Danksagung    550

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1  Der Unterschied zwischen Fabrikanten und sogenannten Verlegern besteht darin, daß die Fabrikanten eigene Arbeitskräfte beschäftigen und die teilbearbeiteten Stoffe weiterverarbeiten.

2 Nach Walter Benjamin (Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin 1928) ist das Barocktheater grundsätzlich dreistufig: Unterwelt, Lebenswelt (in der Mitte), Götterwelt.

3 Die Vorfälligkeitsentschädigung entspricht der Zinsdifferenz zwischen der seinerzeitigen Refinanzierung und dem derzeitigen Zinssatz.

4 »Eine dem Zwerchfell vergleichbare Struktur besitzen außer den Säugetieren nur die Krokodile.« Herodot, der selbst den Nil bereiste, berichtet von Krokodilen, die ihre Lachlust nicht unterdrücken konnten. In dieser Hinsicht Krokodilstränen. Sie lachen nicht, so Herodot, weil sie leiden.

5 Nachträglich, inzwischen erwachsen, halte ich es für möglich, daß meine Erinnerung, in der ich den Gefährten seitlich aus der Sicherheit des Dachgartens klettern sah, sich auf meine Mahnungen bezog.

6 Der Neapolitaner Tommaso Traetta nennt seine Oper, die von der Vorlage des Sophokles stark abweicht und das Schicksal der Königstochter Antigone beschreibt, Antigona.

7 Und beide, Karl May und Lord Curzon, verbindet, daß sie gern über etwas schrieben oder entschieden, was sie gar nicht kannten: zwei FERNDENKER. Lord Curzon wurde später, vor allem in den zwanziger Jahren, ein bedeutender Grenzzieher im Nahen Osten und in Osteuropa (sogenannte »Curzon-Linie«, die Polen von Rußland trennte). Von ihm stammen, auf Karten der britischen Admiralität eingezeichnet (die ungenau waren, wenn es die Landfläche betraf), die endgültigen Demarkationslinien zwischen Afghanistan und Persien, Indien und Rußland sowie, etwas später, die Konstruktion des Irak (auch der Tausch der Königshäuser von Syrien und Irak ist sein Werk).

8  Es handelt sich um Kommentare zum theoretischen Text von Oskar Negt und mir: Geschichte und Eigensinn. Eine Verwandtschaft besteht zu den beiden Arbeiten in der filmedition suhrkamp: Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital und Früchte des Vertrauens. Finanzkrise, Adam Smith, Keynes, Marx und wir selbst: Auf was kann man sich verlassen? ARBEIT zählt zur »unsichtbaren Hand«. Sie ist elementar genug, daß man von ihr sowohl in den Formen des Films als auch der literarischen Erzählung und des diskursiven Textes handeln sollte.

9 Marx, »Nationalökonomie und Philosophie«, in: Die Frühschriften, Stuttgart 1971, S. 241f.

10  »Ein langer Prozeß über mehrere Stufen seiner Geschichte. Hat es keinen Vater, so ist die Warensammlung die Realität, auf die es stößt, der Vater. Hat es keine Mutter, so wird es versuchen, sich aus Menschen, auf die es trifft, eine Mutter zusammenzusetzen oder sich ein eingebildetes Objekt in seinem frühen Kopf machen, das das Urobjekt fingiert.« (Michael Balint, Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstörung, Stuttgart 1970, S. 35 ff.). Dieser Überlebenskampf ist robust. Gelingt keiner dieser Ersätze, so stirbt das Kind.

11  Dies wäre ein verwöhnter Held Siegfried, der den Hof von Burgund durcheinanderbringt und noch nach seinem Tod die Hunnenschlacht verursacht.

12  Der Heimatforscher Mölders hat den Zusammenhang zwischen der Feier der Sankt-Martins-Legende und dem Ausbruch des Karnevals an diesem Tag untersucht. Er behauptet, dieser Tag enthalte eine zeitliche Tür in eine Parallelwelt.

13  Abdel-Gawad, Wrench movements in the Baluchistan arc and relation to the Himalayan-Indian Ocean tectonics, Bull. Geol. Soc. Amer. 82 (1971), S. 1235-1250. Ein Assistent hat Holbrooke einen Vermerk über die Tektonik Nordafghanistans geschrieben, so daß der Botschafter jederzeit gesprächssicher ist, wenn es um den Untergrund des Landes geht.

14  Jules Michelet, Geschichte der Französischen Revolution, bearbeitet und herausgegeben von Friedrich M. Kircheisen, aus dem Französischen von Richard Kühn, Wien, Hamburg und Zürich: Gutenberg Verlag 1929, Band VI, S. 133.

15  Ebd.

16  In Richard Wagners Meistersingern von Nürnberg und in dem Rosenkavalier von Richard Strauß (auch in Arabella) zeigt sich eine gewisse Freiheit in den bürgerlichen Lebensläufen (unter Beteiligung Adliger). Die Freiheiten in der Lebenspraxis sind etwa in den Biographien Goethes (der nach Valmy »Adliger« werden will), Schillers, Robert Musils oder Thomas Manns zu sehen.

17  Jean Firges, Madame de La Fayette. Die Prinzessin von Clèves. Die Entdeckung des Individuums im französischen Roman des 17. Jahrhunderts, Annweiler 2001, S. 30, 35.

18  Peggy Kamuf, Fictions of Feminine Desire, Nebraska University 1982.

19  Hephaistos ist Götterschmied, Praktiker.

20  Jacob Bernoulli, 1654-1705, Schweizer Mathematiker. Seine bedeutende Rolle in der Wahrscheinlichkeitstheorie gründet sich auf Beiträge in der Kombinatorik und auf die Entdeckung und den Beweis des Schwachen Gesetzes der großen Zahlen.

21  Pafnutij L.Chebyshev, 1821-1894, bedeutender russischer Mathematiker. Ausgehend von ihm bildete sich in Rußland eine produktive Schule der Wahrscheinlichkeitstheorie. Als einer der ersten betrachtete er Zufallsvariablen.

22  Gotthold Ephraim Lessing wiederholt, im Dienste der Aufklärung, in seinem Drama Emilia Galotti diese Erzählung. Victor Hugo greift sie auf in seinem Stück Le roi s’amuse. Nach diesem Stoff komponiert Giuseppe Verdi seine Oper Rigoletto, die entsprechend der Wichtigkeit der Charaktere nach der jungen Protagonistin Gilda hätte benannt sein sollen, die aus stoischen Gründen ihr Leben opfert.

23  Beide Mutter-Maschinen hatten im Hintergrund einen Ventilator, der Wärme spendete. Es war aber nicht die gleiche Wärme, wenn sie vom Draht kam. Die Versuche umfaßten die Einführung eines »typical fear stimulus«: Die Babys ergriffen die Flucht zur Stoff-Mutter, praktisch niemals zur Draht-Mutter. Das Antlitz der Stoff-Mutter bestand aus einem Holzkopf. Nach einer gewissen Zeit wurde die gleiche Stoff-Mutter mit einem bemalten Antlitz angeboten. Die Babys drehten diesen Kopf um 180°. Sie wollten kein Gesicht sehen, sondern den Holzkopf, der zum warmen, vibrationsreichen, sonst aber unbeweglichen Haut-Körper der Mutter paßte.

24  Sigmund Freud, Zwei Kinderlügen, in: Gesammelte Werke, Band VIII, Frankfurt a. M. 1969, 5. Auflage, S. 422ff. Das Kind aber, sagt Freud, verriet aus Eifersucht das Hausmädchen, dem es sehr zugetan war. Es spielte vor der Mutter so auffällig mit einer geschenkten Münze, daß diese nachfragte und auf die Spur zur Arztpraxis stieß. Das Hausmädchen wurde entlassen.

25  Ms. Jonasson wunderte sich über den Ausdruck »Tiefseeaale«, den Freud gebrauchte. Als »Weidenblattlarve« ziehen die Vorläufer der späteren Aalwesen durch das Salzwasser. Nach Erreichen der europäischen Küsten schwimmen sie in die Binnengewässer ein. Hier heißen sie »Steigaale« oder wegen ihrer Bauchfärbung »Gelbaale«. Nach sechs bis neun Jahren sind sie geschlechtsreif. Auf ihrem Weg durch den Ozean bis vor die Küste der USA schwimmen sie tagsüber in Tiefen bis zu 600 Metern, nachts unweit der Oberfläche. Die Geschlechtstätigkeit findet in einer Tiefe von 2000 Metern statt. Nach Abgabe der Geschlechtsprodukte sterben die Tiere vor Erschöpfung. Jetzt erst sinken sie, so Jonasson, in die Tiefsee.

26  Die Zugzeit beginnt jährlich bei schlechtem Wetter (das heißt, es muß stürmen und regnen) in den ersten Novembertagen. Durch feuchtes Gras kürzen die Tiere ihren Weg aus den Bächen zu den nächstgrößeren Flüssen ab. Energiesparend treiben sie, S-förmig gebogen, im Mittelwasser der großen Ströme. Bei erster Berührung mit dem Salzwasser werden sie erneut aktiv. Sogleich gehen sie in die Tiefe. Ihre Augen vergrößern sich. Die Farbe wechselt von Grünbraun zu Silbriggrau.

27  Bis zum festen Griff nach der im Wasser Hin- und Hergeschleuderten ist der Verlauf der Erzählung, bemerkt Goethe, äußerlich der Verfolgungsjagd des gierigen Apoll ähnlich. Das junge Mädchen hat aber keinen Grund, zu erstarren (z. B. zu einer Seepflanze), weil der sie verfolgende Junge kein Gott, kein Python-Jäger ist und somit ohne größere Vorgeschichte. Er trägt eine weniger unheilvolle Mitgift als Apoll in sich, weil seine Generation noch unschuldig ist.

28  In Faust II, 5. Akt, werden die auf diese Weise entstandenen Sümpfe durch Faust trockengelegt. Bei diesem Anlaß wird das Grundstück, das Philemon und Baucis gehört, samt den gewachsenen Bäumen, vernichtet (auch der als Gott anwesende Gast, in der Verkleidung eines Studenten). So ist die Verbindung von Chaos und Eros, von göttlichem Zorn, Belohnung und Aufstand der Geschädigten, in der Gegenwart virulent. Das »Ununterbrochene Lied« von vor 2000 Jahren setzt sich bis in die Gegenwart fort, auch wenn momentan niemand zu singen scheint.

29  Sie begehrten nicht sie, sondern das Reich.

30  Das Prinzip Drittel-Parität geht auf einen Kompromißvorschlag aus Anlaß der Besetzung des soziologischen Seminars zurück. Es sollte für das Institut für Sozialforschung ange-wendet werden. Das Institut soll einer drittelparitätisch zusammengesetzten Versammlung unterstellt sein (ein Drittel Studenten, ein Drittel Assistenten, ein Drittel Professoren). Für die Aufnahme selbstorganisierter Arbeits- und Projektgruppen sollen Modalitäten gemeinsam gefunden werden.

31  Reinhard F., Arbeitskreis der Germanisten, legt den Text vor:

  »Wünscht’ ich der Helden einer zu seyn

  Und dürfte frei, mit der Stimme des Schäfers oder eines Hessen

  Dessen eingeborener Sprach, es bekennen

  So wär’ es ein Seeheld.

  Thätigkeit zu gewinnen nämlich

  Ist das freundlichste, das

  Unter allen ...«

32  Groddeck, Das Buch vom Es, S. 71. »Oder glauben Sie, daß irgendein Caligula, oder irgendein Sadist so leicht und harmlos diese ausgesuchte Folter, jemand mit dem Schädel durch ein enges Loch zu quetschen, sich ausdenken würde? Ich habe einmal ein Kind gesehen, das seinen Kopf durch ein Gitter gesteckt hat und nun weder vor noch zurück konnte. Ich vergesse sein Schreien nicht.« Ebd., S. 68ff.

  Aber zwei der weiblichen Gruppenmitglieder bestreiten schlichtweg, daß die Geburt mit Schmerzen verbunden sein muß, und H. geht auf den Kern der These ein, indem er es als abwieglerisch bezeichnet, sich mit der Möglichkeit des Scheiterns, des Steckenbleibens, und zugegeben, daß das Schmerzen oder Tortur macht, überhaupt im gegenwärtigen Moment zu befassen, weil doch weit und breit eine gesellschaftliche Geburt nicht stattfindet. Darin, daß die Geburt eines Kindes (er sagt im konventionellen Sinne) grundsätzlich schmerzlos möglich sei, darin stimmt er den zwei Vorrednerinnen zu. Nun fallen die Frauen der Gruppe über ihn her, was heißt grundsätzlich? Was versteht er davon? Wie viele Geburten hat er hinter sich? Die Diskussion verheddert sich, kommt um zwei Uhr nachts wieder auf das Hauptthema, die Vorstellung der Gesellschaft als menschliche, als eine Art kollektiver Mutterleib und was dies voraussetzt.

33  Später wurde Luhmann die Bedrohung deutlich, die Adorno empfand, als er in einem Artikel der Frankfurter Rundschau von Flugblättern mit der Überschrift »Adorno als Institution ist tot« las.

34  Die Menschen der Generation Adornos, so Luhmanns Beobachtung, gehen in einem Kokon durch die wirklichen Verhältnisse. Entweder weil sie GEPANZERTE CHARAKTERE oder, wenn sie schutzlos wie Adorno sind, weil sie auf die NICHTBEACHTUNG DER REALITÄT geeicht sind. Ein Flakhelfer von 1943 dagegen ist offen für eindrucksstarke Wechsel der Realität, weil das einer entscheidenden Erfahrung entsprach. Wie ein Gerippe ragen Realitäten von 1943 in den April 1945 oder Sommer 1946. Unvereinbare Realität ist, ohne Rücksicht auf den Beobachter, zur gleichen Zeit präsent. Im Gegensatz zu Adorno, den die Abkehr oder Passivität bisher loyaler Studenten, die fast gleichzeitige Kündigung durch die Geliebte und die Tatsache, daß sein Körper (der des Sohns der wunderbaren Mutter von 1903) auf den Tod zugeht, aus dem Gleichgewicht wirft, bleibt Luhmanns Gemüt inmitten antagonistischer Wirklichkeiten voller Kühnheit und Vorsicht, ähnlich einer »zusammenschließenden Wahlverwandtschaft« vermischen sich unvereinbare emotionale Eindrücke zu einer neuen »Figur«.

35  Alexander Honold, Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution nach 1800, Berlin 2005.

36  Der Ausdruck Ostfalen, mittlerweile kaum mehr geläufig, bezeichnet den östlichen Teil des alten Sachsens zwischen den Flüssen Leine, Elbe, Saale und Unstrut. Ostfalen ist zu unterscheiden von Ostwestfalen, das im alten Sachsen im sich westlich anschließenden Engern lag.

37  Schleef weist darauf hin, daß dies auch das Amtszimmer Goerdelers gewesen war, der Reichskanzler geworden wäre bei Erfolg des Aufstands vom 20. Juli 1944. Zuvor war er OB von Leipzig.

38  Der Investor erhält außer einem Anteilszertifikat am Fonds, der im außerbörslichen Freihandel verkäuflich ist oder an den Wertsteigerungen teilnimmt, das Recht auf einen in Quadratzentimetern ausgedrückten Platz in einem der Container, welche auf der Expedition mitgeführt werden (Nutzung unwahrscheinlich). Rechteeinräumung gilt für ihn, seine Erben oder für Dritte, denen er dieses Recht überträgt.

39  Die erschütterndste Szene im Drehbuch: wenn die Maschinen mit Hilfe ihrer Automatik an den Marsmond Phobos andocken. Zeitsprung: Im Jahre 2042 werden die Container geöffnet von Pionieren, die inzwischen wirklich in die Marsumlaufbahn gelangt sind. In den A12-Röhren liegen wohlgeordnet die Skelette.

40  Christiane Sourvinou-Inwood: Tragedy and Athenian Religion, Lanham/Boulder/New York/Oxford: Lexington Books, 2003.

41  Daphnis und Chloe lernen sich bei einem Fest des Dionysos kennen, während dessen sich die Geschlechter bei Musik näherkommen (2,1-2,222). Die anzüglichen Umstände irritieren das Gefühl der einander heimlich Liebenden, die das aber noch nicht wissen. Es zieht sie in die Einsamkeit ihrer Weidegründe zurück. Dann tritt Philetas zu ihnen und weist sie durch Erzählungen in die Geheimnisse des Eros ein, ohne exempla keine Liebe. Im dritten Sommer wird Daphnis dann durch Lykainions sexuelle Unterweisung zum Mann. Inzwischen soll Chloe durch Entscheid der Eltern demjenigen zur Frau gegeben werden, der am meisten bietet. Daphnis kann mit gefundenem Geld Chloes Hand gewinnen. Im vierten Jahr kommt es zum Ehevollzug. Ohne Drittintervention kein glücklicher Verlauf der Handlung. Das ist, darauf weist Arno Schmidt hin, der Unterschied zu der Tragödie in der Poetik des Aristoteles, in der die Hermetik des Schicksals Drittinterventionen generell ausschließt.

Vorwort

Das Rumoren der verschluckten Welt, die Unverwüstlichkeit von menschlicher Arbeit und von love politics, der Kältestrom, die unsichtbare Schrift der Vorfahren – das sind die Themen. DAS FÜNFTE BUCH heißt dieser Band, weil er im Dialog mit den vorangegangenen vier Bänden meiner Erzählungen steht. Wie in meinem ersten Buch, das ich 1962 veröffentlichte, geht es um LEBENSLÄUFE. Die Geschichten sind teils erfunden, teils nicht erfunden.

Alexander Kluge

Abb.: Von der letzten Flottenexpedition, die das Zeitalter der Aufklärung vor der Französischen Revolution aussandte, stammt diese Zeichnung eines inzwischen ausgestorbenen Riesenkänguruhs (vergleiche seitlich die Baumhöhe). Das ist ein Bild aus dem Reich der Antipoden zum Jahre 1789.

Man sieht das kluge Auge des Tiers, das doch für seine Nachkommenschaft nicht garantieren konnte. In der Bauchfalte das kostbare Versteck für das Frischgeborene, das mit dem Muttertier durch die Wüste hüpft.

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Die Lebensläufer und ihre Lebensgeschichten

Im ersten Impuls wollte meine Großmutter väterlicherseits, Hedwig Kluge, im August 1914 auf die Nachricht, daß ihr Erstgeborener Otto gefallen sei, den Zug besteigen, nach Belgien reisen und dafür sorgen, daß man den Toten ordentlich begräbt. Als sie hörte, daß es für Eltern keine Verkehrsverbindung zur Front gibt, weinte sie bitterlich.

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Ein Arbeiter in Frankfurt am Main hatte sein Leben in ein und demselben Betrieb verbracht. Diese Fabrik wurde insolvent. Der Arbeiter besuchte eine Ärztin. Er hatte heftige Magenschmerzen, nicht erst seit Schließung des Betriebs. Die Ärztin verschrieb ihm Tabletten. Ich habe die Tage meines Lebens hingegeben, sagte der Arbeiter, und als Gegenleistung erhalte ich diese Tabletten. Damit bin ich nicht einverstanden.

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In seinem Hochhausturm saß im August 2011 einer der ERFAHRENEN DOMPTEURE DES KAPITALS . Er hatte nur Augen für den Bildschirm seines Rechners. Der DAX signalisierte (als fast senkrechten Absturz) binnen vier Minuten einen Verlust von vier Prozentpunkten. Eine Theorie für die Vorgänge besaß der Praktiker nicht. Gern hätte der Mann sich praktisch verhalten: Nüsse knacken, einen Apfel schälen, Mineralwasser eingießen – einen Kontakt zu irgendeiner Tätigkeit wollte er haben und nicht auf den Bildschirm starren und warten.

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Im Jahre 1800 entwarf Heinrich von Kleist einen VERBINDLICHEN LEBENSPLAN . Den Plan wollte er dann mit irgendeiner Handlung besiegeln (ein Papier mit Blut unterzeichnen, den Plan einer geliebten Person zuschwören). Tatsächlich aber liefen die Tendenzen in Kleists lebhaftem Gemüt strahlenförmig auseinander. Der Versuch der linearen Konzentration zerriß ihn. Er brach das Studium ab und gelangte bis Würzburg.

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Der Neuschnee auf dem Ätna, der rasch schmilzt, unmittelbar an der schwarzen Lavazone, wäre, berichtet Tom Tykwer, das Motiv für den Anfang eines Films mit dem Titel »Die Pranke der Natur«, in dem es um das unheimliche Potential geht, welches in der Erdkruste schlummert.

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Dr. Sigi Maurer schlägt vor, die in Fukushima zum Abbau anstehenden maroden, kontaminierten Materiebrocken dorthin zu bringen, wo das Erdbeben seinen Ausgang genommen hatte. In die Tiefen des MARIANENGRABENS solle man den ABRAUM schütten. Dort könnten die Teile bis in alle Ewigkeit abkühlen.

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Meine Voreltern aus dem Südharz haben sich nicht träumen lassen, mit welch fremden Genen sie heute in ihren Nachkommen zusammenleben würden. Diese Linie hatte keine Ahnung davon, daß sie später mit meinen Vorfahren aus dem Eulengebirge verknüpft sein würde. Nichts ahnten die Vorfahren vom Eulengebirge und die vom Südharz von den Zuflüssen aus Mittelengland und der Mark Brandenburg. Alle diese Charaktere scheinen unvereinbar. Daß solche Gegensätzlichkeiten keinen Bürgerkrieg in den Seelen und Körpern hervorrufen, sondern sich in jedem Pulsschlag, in jedem Herzschlag, in uns von Minute zu Minute einigen, ist das Abbild einer generösen und toleranten, das Menschenrecht erweiternden Verfassung, in der die Generationen leben.

Nicht nur Menschen haben Lebensläufe, sondern auch die Dinge: die Kleider, die Arbeit, die Gewohnheiten und die Erwartungen. Für Menschen sind Lebensläufe die Behausung, wenn draußen Krise herrscht. Alle Lebensläufe gemeinsam bilden eine unsichtbare Schrift. Nie leben sie allein. Sie existieren in Gruppen, Generationen, Staaten, Netzen. Sie lieben Umwege und Auswege. Lebensläufe sind verknüpfte Tiere.

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