Nemo preschte in die Auffahrt. Er sprang vom Rad, lehnte es an eines der Gästeautos, die den Carport blockierten, und zog das Päckchen von seinem Gepäckträger. Ungeduldig wartete er, bis Fred das Rad seiner Schwester ordentlich abgestellt und an einen Laternenpfosten gesperrt hatte. Dann endlich betraten sie gemeinsam den Garten.
Nemo staunte.
Odas Haus war viel hübscher als der kleine Bungalow, in dem er mit seinen Eltern lebte, oder Freds Wohnung im dritten Stock eines alten Mietshauses.
Bei den Mandelbrots war alles modern und schön. Das Haus war aus viel Glas und Holz gebaut. Davor erstreckte sich ein Garten mit knorrigen Obstbäumen, an denen bunte Lampions baumelten. Im Schatten standen weiß bezogene Stühle, auf den Tischen warteten Teller mit Goldrand, geschliffene Gläser und Limonadenkrüge, an denen gezuckerte Johannisbeeren baumelten. Auf einem silbernen Tablett formten Schoko-Windbeutel die Zahl 40.
Das Sonnenlicht spiegelte sich im himmelblauen Pool und warf goldene Lichtreflexe auf die gut aussehenden Gäste. Bestens gelaunt plauderten sie und nippten an ihren Champagnergläsern.
Fast die gesamte Boringer Prominenz war anwesend. Nemo erkannte Bürgermeister Ölmez und viele Gesichter von TV Kabeljau, dem örtlichen Lokalsender. Wahnsinn, da war ja auch Hubsi Hubert, der sportliche Wettermann! Und da, die blonde Schauspielerin, die er neulich in einer Fernsehshow gesehen hatte!
Und klar: fast alle Schauspieler aus Grenzenlose Liebe.
Nemo dachte an seine Mutter. Sie wäre jetzt sicher blass vor Neid, wenn sie wüsste, wo er war. Die Seifenoper war ihre absolute Lieblingssendung. Jeden Abend, wenn sie aus dem Supermarkt kam, gab es nichts Schöneres für sie, als eine Pizza in den Ofen zu schieben, sich von Nemos Vater die Füße kraulen zu lassen und die Sendung zu gucken.
Nemo hatte früher immer gerne mitgeguckt, weil Odas Eltern mitspielten. Aber jetzt, wo er mit Oda persönlich befreundet war, tat er das nicht mehr so oft.
Da war sie ja!
Nemo blieb wie angewurzelt stehen. Oda stand auf der Terrasse und servierte, gemeinsam mit Bernadette, Lachsbrötchen und kleine Cracker mit Forellenkaviar. Sie trug einen leuchtend roten japanischen Kimono mit großem Blumenmuster. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden, in dem zwei Essstäbchen steckten. Nemo fand, dass sie wie immer super hübsch aussah. Wenn nicht noch besser als sonst.
Gerade wollte er auf sie zugehen, als Fred an ihm vorbeistürmte. „Los, Lagebesprechung in deinem Zimmer!“, rief er Oda zu. „Ich muss gleich wieder heim, das Fahrrad zurückbringen.“
Verdattert stellte Oda die Platte mit dem Lachs ab und folgte ihm ins Haus. Nemo lief den beiden hinterher. „Jetzt mach nicht so ’ne Hektik! Deine Schwester wird ja wohl nicht ausgerechnet jetzt ’ne Fahrradtour machen wollen.“
„Doch!“, beharrte Fred. „Jeden vermaledeiten Nachmittag radelt sie in die Stadt und kauft kiloweise Erdbeeren. Keine Ahnung, warum.“ Er blieb im Wohnzimmer stehen und sah sich um. „Wo lang?“
Oda dirigierte die Jungs die Treppe nach oben. „Wahrscheinlich steht sie nicht auf Erdbeeren“, vermutete sie, „sondern auf Finn.“
„Finn?“, fragten Nemo und Fred gleichzeitig.
„Das ist der Typ, der in der großen Erdbeere sitzt und die Erdbeeren verkauft“, klärte Oda die Jungs auf. „Er ist aus der Siebten. Alle Mädchen stehen auf ihn.“
Alle? Nemo verspürte einen kleinen Stich in seinem Herzen.
Oda nickte. „Alle. Aber Finn beachtet keine. Er sitzt immer nur da und starrt auf sein Handy.“
Als sie im ersten Stock angekommen waren, öffnete sie eine Zimmertür.
„Krass!“
Staunend betraten Nemo und Fred Odas Reich. Synchron wie zwei Delfine glitten ihre Blicke vom Hochbett über einen riesigen Kleiderschrank, vorbei an einem Regal mit Fernseher, Spielkonsole und Anlage, bis hin zu einem Schreibtisch, auf dem ein pinkfarbener Laptop stand.
„Was ist denn überhaupt los?“, fragte Oda.
„Das ist los!“ Nemo legte das Päckchen auf den kreisrunden Teppich, der in der Mitte des Zimmers lag.
„Schon wieder?“ Odas Augenbrauen wanderten nach oben.
Nemo nickte. „Es ist alles wie beim ersten Mal. Kein Absender. Nur dieser seltsame Empfänger hier.“
Er deutete auf die Krakelschrift, die das Packpapier überzog:
„An Niemand!“ Beim ersten Mal hatte Nemo noch geglaubt, dass er damit gemeint war. Immerhin hieß „niemand“ auf Lateinisch „nemo“. Außerdem wohnte er in der Pfeffergasse und „Arsch der Welt“ passte auch irgendwie, da vor dem Bungalow seiner Eltern ein großes Werbeplakat stand, auf dem eine Firma für seidenweiches Klopapier warb − mit dem Foto eines riesigen Hinterns! Doch dann hatten sie herausgefunden, dass es gar nicht um ihn ging und dass etwas völlig anderes hinter der merkwürdigen Sendung steckte …
„Was machen wir jetzt?“, fragte Oda.
„Ist doch sonnenklar“, antwortete Fred. „Diesmal bringen wir das Päckchen stante pede zurück zur Post.“
„Stante pede?“ Nemo hasste es, wenn Fred so angestaubte Ausdrücke verwendete. Da seine Mutter alleinerziehend war und viel arbeiten musste, kümmerte sich hauptsächlich Freds Großmutter um die Kinder. Das färbte leider ab.
„Mit anderen Worten: sofort!“, übersetzte Fred hilfsbereit. „Ich hoffe, ihr denkt keine Sekunde daran, das Päckchen zu öffnen?“ Er sah die anderen eindringlich an. „Erinnert euch mal, was für einen Stress wir mit dem Yeti hatten!“
„Och, ich mochte Icy.“ Oda kratzte sich am Arm, wo ein fieser Mückenstich saß. „Und wenn ihr die Kiste nicht geöffnet hättet, hätte er nie zu seinem Besitzer zurückgefunden. Wisst ihr noch, wie sehr sich Leon gefreut hat, als er sein Kuscheltier zurückbekommen hat?“
„Sentimentalitäten!“, wischte Fred ihren Einwand beiseite. „Wer weiß, was diesmal drin ist? Immerhin steht ‚schleimig‘ drauf.“
„Vielleicht eine Schnecke?“, überlegte Nemo.
„Eine Schnecke? Wie süß!“, rief Oda. „Ich hatte mal eine! Aus Plüsch. Weil Mama mich immer ‚Schnecki‘ genannt hat. Man konnte sie aufziehen. Wenn man an der Schnur zog, hat sie ein Schlaflied gespielt.“ Sie gab Nemo einen Stups. „Nun mach schon! Ich muss wieder runter in den Garten. Gleich kommt ein wichtiger Regisseur. Mama will, dass ich ihm die Hand schüttele.“
Nemo riss das Packpapier von der Kiste. Er zog sein Taschenmesser aus der Tasche und klappte die Feile aus. Genau wie beim letzten Mal verschloss eine schwarze Kruste den Deckel. Doch kaum begann er, an ihr herumzukratzen, klammerte sich Fred an seinen Arm. „Spinnst du? Untersteh dich, das aufzumachen!“
„Sei nicht so herzlos!“, sagte Oda. „Irgendwo sitzt ein Kind und weint, weil es sein Spielzeug vermisst.“
„Es kann ja nichts passieren!“, beruhigte Nemo seinen Freund und feilte weiter an der schwarzen Kruste herum. „Schließlich wissen wir diesmal, wie wir vorgehen müssen. Wir gehen einfach in den Spielwarenladen, finden heraus, wer alles so eine Schnecke gekauft hat, und bringen sie zu ihrem Besitzer zurück. Das geht ruck, zuck.“
„Und so lange stecken wir sie hier rein.“ Oda holte ein Insektenglas aus ihrem Setzkasten, in dessen Deckel eine Lupe integriert war.
„Dann lasst uns wenigstens bis Montag warten“, bettelte Fred, „bis die Geschäfte wieder geöff…“ Weiter kam er nicht.
In dem Moment begann die Kruste zu qualmen.
Wie beim letzten Mal hatte sie sich selbst entzündet. Sie fing an, kleine Sternchen zu spucken wie eine Wunderkerze. Dazu ertönte ein scharfes Zischen.
Nemo ahnte, was jetzt kam. Er wich einen Schritt zurück und hielt sich die Ohren zu.
„Ach du heiliger Bimbam!“, stöhnte Fred und tat es ihm nach.
Nur Oda, die beim letzten Mal nicht dabei gewesen war, hielt sich lieber die Nase zu: Der Qualm stank erbärmlich nach faulen Eiern. Und so war sie die Einzige, die zusammenzuckte, als ein lauter Knall ertönte und ein Lichtblitz bis an ihre Zimmerdecke schoss.