Sandra Grauer

Schorle für dich

Sandra Grauer

Schorle für dich

Roman

 

Sandra Grauer wurde 1983 in Mülheim an der Ruhr geboren. In Heidelberg studierte sie Sprach- und Übersetzungswissenschaften mit den Sprachrichtungen Spanisch und Englisch sowie Jura als Nebenfach. Zudem absolvierte sie ein fachjournalistisches Fernstudium an der Freien Journalistenschule in Berlin und ein Volontariat in einer PR-Agentur in Karlsruhe. Heute arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin. Sandra Grauer lebt mit ihrem Mann im oberschwäbischen Herbertingen.

1. Auflage 2014

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 1

»Wo soll’s denn hingehen?«

Der Mann hinter dem Verkaufsschalter musterte mich über seine randlose Brille hinweg. Egal, Hauptsache weg, hätte ich fast gesagt. »Also, ich hatte da diese Tante, Tante Erna«, begann ich, und der Mann hinterm Schalter verdrehte die Augen. Ich ließ mich dadurch nicht beirren und redete einfach weiter. »Die wohnte irgendwo in Schwaben, wenn ich mich richtig erinnere. Und dahin möchte ich.«

»Und genauer können Sie’s nicht sagen? Schwaben ist ziemlich groß.«

»Leider nicht, ich war noch sehr klein, als wir meine Tante damals besucht haben.«

»Tut mir leid, aber so kann ich Ihnen leider keine Fahrkarte verkaufen.«

Der Mann wollte schon den Nächsten in der Schlange zu sich heranwinken, doch so leicht gab ich nicht auf. Ich musste hier weg und zwar so schnell wie möglich. »Hören Sie, es ist mir egal, wohin es geht. Ich will nur weg von hier.«

Einen Moment sah mich der Mann neugierig an. Sein Blick wurde weicher. »Lassen Sie mich mal kurz überlegen. Erst neulich hab ich mit Bekannten gesprochen, die dort irgendwo Urlaub gemacht haben. Anscheinend gibt es da ein ganz tolles Keltenmuseum. Die beiden sind Archäologen, wissen Sie. Hat ihnen aber generell sehr gut gefallen, da unten. So viel Landschaft und Natur.«

»Das klingt doch gut«, meinte ich und ignorierte die Schlange hinter mir, die immer länger wurde. »Bei meiner Tante damals war es auch sehr ländlich.« Während der Mann überlegte, sah ich mir sein Namensschild etwas genauer an. Das war so eine Angewohnheit von mir. Manfred Baumeister war sein Name.

Manfred blickte immer noch an mir vorbei. Er schien die Menschenschlange ebenfalls zu ignorieren. Dann sah er mich auf einmal triumphierend an und lächelte. Dabei entblößte er ein paar gelbe Zähne. Die Leidenschaft für Kaffee hatten wir wohl gemeinsam. »Jetzt hab ich’s. Herbertingen war’s. Hab mir den Namen doch damals nur deshalb merken können, weil mein alter Onkel Herbert hieß.«

Ich lächelte zurück. Na bitte, so schwer war das doch gar nicht. »Hervorragend. Dann bitte eine Fahrkarte nach Herbertingen für mich und meinen Mops.«

»Die Fahrkarte soll ab sofort sein?«, fragte Manfred, der mir immer sympathischer wurde. Ich nickte. »Warten Sie mal. In zehn Minuten fährt ein ICE Richtung Süden. Oder ist Ihnen das zu schnell?«

»Je schneller, desto besser.«

Er warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Dann lassen wir die Rückfahrt wohl offen?« Wieder nickte ich. »Haben Sie eine BahnCard?«

Ich schüttelte den Kopf. Keine BahnCard, keine Payback-Karte, ich besaß nichts dergleichen. Hinter mir räusperte sich jemand, aber ich drehte mich nicht um. Zwei Minuten später hatte ich mich von Manfred verabschiedet und hielt die Fahrkarte in mein neues Leben in den Händen.

»Aus dem Weg«, brüllte ich dem turtelnden Liebespaar vor mir zu, das einfach nicht in die Pötte kam und den Weg versperrte. Das konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen, und mit meinem Anhang war es mir auch unmöglich, an ihnen vorbeizuziehen. Ich hatte zwei Koffer dabei, die ich mangels freier Hände aneinandergebunden hatte. Mit der linken Hand musste ich nämlich die Leine von Mayo festhalten, meinem Mops. Außerdem trug ich in der Hand noch den Transportkäfig, in dem meine beiden Meerschweinchen, Amalie und Abigail, saßen. Den großen Käfig hatte ich leider zurücklassen müssen. Ich konnte also nur hoffen, dass ich in Herbertingen noch ein geöffnetes Zoogeschäft auftreiben würde.

Jedenfalls hatte das mit den beiden Koffern nicht ganz so gut funktioniert, wie ich mir das gedacht hatte. Der erste Koffer ließ sich zwar auf seinen Rollen super ziehen, aber der zweite Koffer dahinter war binnen kürzester Zeit umgekippt und rumpelte nun hinter mir her. Ich hatte weder Zeit noch Lust, den Koffer wieder richtig zu platzieren. Außerdem würde es ja eh nicht halten.

Irgendwie schaffte ich es mit meinem Gepäck in den Aufzug und zum Bahnsteig. Der ICE stand bereits dort, und der Bahnsteig war ziemlich leer. Ich warf einen Blick auf die Bahnhofsuhr und stellte fest, dass mir noch genau drei Minuten zum Einsteigen blieben. Suchend sah ich mich um und fand einen uniformierten Bahnmenschen. »Können Sie mir mal helfen?«, fragte ich und deutete auf mein Gepäck.

»Sie planen wohl eine längere Reise, was?«

»Kann man so sagen.« Ich erhaschte einen Blick auf sein Namensschildchen. David Meißner hieß er. Kam mir nicht bekannt vor, leider. Er sah nämlich ziemlich gut aus.

»Wo sitzen Sie denn?«, wollte David wissen.

Ich stellte den Käfig auf den Boden, wobei mir natürlich die Handtasche von der Schulter rutschte. Wenigstens saß der Rucksack fest und verschob sich nicht bei jeder Bewegung. Mayo jaulte laut auf, weil er die Handtasche auf den Kopf bekam. »Tut mir leid, mein Kleiner«, murmelte ich und schob die Handtasche zurück an ihren Platz. Dann holte ich die Fahrkarte aus meiner Hosentasche und nannte David meinen Sitzplatz.

Der sah auf seine Armbanduhr. »Dann mal los, es ist höchste Eisenbahn.«

Wie witzig, ich wusste gar nicht, dass die Leute von der Bahn Humor hatten. Aber wahrscheinlich brauchte man den, um bei dem Verein nicht verrückt zu werden. Ich bückte mich nach dem Käfig, wobei mir die Tasche erneut von der Schulter rutschte. David verkniff sich ein Grinsen, als ich ihm im Eilschritt zum richtigen Wagen folgte. Die Tür gab bereits piepsende Geräusche von sich, als er meine beiden Koffer in den Zug wuchtete. Ich hatte noch genügend Zeit, einen kurzen Blick auf seinen wohlgeformten Po zu werfen, bevor ich mir Mayo unter den rechten Arm klemmte und hinterherkletterte.

»Vielen Dank, das war sehr freundlich von Ihnen.«

»Nichts für ungut.« David tippte sich an seine Mütze und sprang noch rechtzeitig aus dem Zug, bevor sich die Tür hinter ihm schloss.

Ich blickte verzweifelt auf die beiden Koffer, als sich der Zug mit einem Ruck in Bewegung setzte. Mit den beiden Ungetümen würde ich es nie durch die engen Gänge zu meinem Platz schaffen. Also ließ ich sie erst mal stehen und bahnte mir so einen Weg durch das Abteil. Natürlich war mein Sitzplatz fast am anderen Ende. Die Leute beäugten mich neugierig, aber mit einem Hund und zwei Meerschweinchen war das wohl zu erwarten.

»Ach Gott, wie süß«, rief eine ältere Frau, als sie einen Blick auf Amalie und Abigail ergatterte.

Ich nickte ihr freundlich zu und war froh, als ich meinen Sitzplatz endlich erreicht hatte. Auf dem Sitz am Gang saß bereits ein älterer Mann. Er las in einer Zeitung und störte sich überhaupt nicht an meiner Anwesenheit. Hinter mir fingen einige andere Fahrgäste bereits an, zu drängeln. »Entschuldigung, ich müsste auf den Platz neben Ihnen«, sagte ich zu dem Mann.

Er warf mir einen Blick zu, faltete die Zeitung in aller Seelenruhe zusammen und verstaute sie dann in dem Gepäcknetz des Vordersitzes, bevor er aufstand.

Ich brauchte eine Weile, ehe ich Rucksack und Handtasche auf der oberen Ablage verstaut und mich mit den Vierbeinern auf den Sitz am Fenster gequetscht hatte. Amalie und Abigail saßen in meinem Fußbereich, der ohnehin schon viel zu knapp bemessen war. Und dabei hatte ich nicht mal besonders lange Beine, leider. Auch wenn das in solchen Momenten von Vorteil sein konnte. Und Mayo hatte es sich auf meinem Schoß bequem gemacht. Tja, das würde eine lange und unbequeme Fahrt werden, aber was tat man nicht alles, um möglichst weit wegzukommen.

Wir hatten uns gerade einigermaßen häuslich eingerichtet, als ein Kontrolleur kam. »Noch jemand zugestiegen?«, trällerte er freundlich und sah mich an.

Ich nickte, erhob mich umständlich, um an meine Tasche zu kommen und die Fahrkarte herauszusuchen.

Der Mann stempelte die Fahrkarte ab und reichte sie mir zurück. »Denken Sie daran, in Ulm umzusteigen«, sagte er und ging weiter. »Noch jemand zugestiegen?«, hörte ich ihn noch eine ganze Weile weiterflöten.

Ich sah mir den Fahrplan noch einmal genauer an, bevor ich meine Tasche wieder auf der Gepäckablage verstaute. Aus Versehen rempelte ich dabei den alten Mann neben mir an. Ich lächelte entschuldigend, während er in seinem Sitz genervt noch etwas weiter Richtung Gang rutschte.

Eine Weile starrten Mayo und ich aus dem Fenster. Wir waren mittlerweile fast in Düsseldorf, als ich ein paar Bahnmitarbeiter tuscheln hörte. Das Tuscheln wurde immer lauter und aufgeregter. Als ich schließlich Wortfetzen wie »Koffer«, »herrenlos« und »Bundesgrenzschutz« vernahm, fuhr ich erschrocken hoch. Mayo wäre fast von meinem Schoß gerutscht, und der alte Mann neben mir sah mich missbilligend an. »Tut mir leid, ich müsste noch mal raus. Würden Sie mal eben auf Mayo aufpassen?«, fragte ich höflich und warf einen Blick auf meinen Mops.

»Wenn’s denn sein muss«, nuschelte der Mann und ließ mich vorbei.

Schnell bahnte ich mir einen Weg zu den drei Bahnmitarbeitern, die gerade darüber beratschlagten, was mit den Koffern zu tun sei.

Ich räusperte mich verlegen, und die Frau sowie die beiden Männer drehten sich einer nach dem anderen zu mir um. »Ähm, Entschuldigung. Es tut mir furchtbar leid. Das sind meine Koffer.«

Nicht zum ersten Mal an diesem ereignisreichen Tag wurde ich misstrauisch beäugt. »Ihre Koffer, sagen Sie?«, fragte die Frau.

Ich nickte. »Ja, meine Koffer. In dem ganzen Stress hab ich sie völlig vergessen. Tut mir echt leid, wird nicht wieder vorkommen.« Ich wollte schon nach den Koffern greifen, doch einer der beiden Männer hielt mich zurück.

»Moment mal, da könnte ja jeder kommen. Name?«

»Jette Haffner.« Der Mann wollte sich zu den Koffern bücken. »Die Koffer haben allerdings kein Namensschild.« Das Namensschild des Mitarbeiters hingegen war deutlich zu sehen: Peter Kruse.

Peter sah trotzdem nach. »Das ist aber sehr unvorsichtig von Ihnen.« Er seufzte und winkte die beiden anderen Mitarbeiter weg. »Geht nur, ich komm schon alleine klar.« Dann wandte er sich wieder mir zu. »Also, ich muss sicher gehen, dass das wirklich Ihre Koffer sind. Zwecks der Sicherheit, das verstehen Sie doch?« Ich nickte. »Also, was ist in diesem Koffer ganz oben?«, fragte er und zeigte auf den größeren.

Oh je. »Also wissen Sie, es musste vorhin etwas schnell gehen. Deshalb hab ich einfach alles in den Koffer gestopft.«

Peter verdrehte die Augen. »Sie wissen schon, dass Sie sich gerade sehr verdächtig machen?«

»Es tut mir leid. Ich würde Ihnen das Ganze ja erklären, aber das dauert dann etwas länger.«

»Versuchen Sie doch wenigstens, sich zu erinnern, was obenauf liegen könnte.«

So langsam spürte ich Panik in mir aufsteigen. Oh Gott, wenn die mich für eine Terroristin oder irgendwas in dieser Art halten würden. Nicht auszudenken. Außerdem würde ich den Koffer nie wieder zukriegen, wenn wir ihn jetzt aufmachen würden. Es war schon ein Wunder, dass er beim ersten Mal zugegangen war. Da hatte ich die rettende Idee. »Warten Sie mal, so ein netter Bahnmensch hat mir am Essener Bahnsteig mit den Koffern geholfen. Vielleicht könnten Sie den ja fragen.«

»So ein netter Bahnmensch, ja? Jetzt sagen Sie mir nur noch, dass er Blau getragen hat.« Er verdrehte abermals die Augen. »Das hilft mir leider auch nicht weiter. Ich fürchte …«

»Moment, ich weiß doch seinen Namen.«

»Tatsächlich? Also?«

»Manfred Baumeister. Ach nein, warten Sie, das war der Mann am Schalter. David Meißner war sein Name. Sagen Sie ihm, ich bin die mit dem Mops und den beiden Meerschweinchen. Dann wird er sich sicher an mich erinnern.«

Peter sah mich einen langen Moment an, dann seufzte er. »Na schön, ausnahmsweise.« Er zog ein iPhone aus seiner Tasche und begann, darauf herumzutippen.

Jetzt wusste ich, warum die Fahrkarten so teuer waren und man sogar für seinen Hund bezahlen musste. Wenn die Bahnmitarbeiter hier alle mit iPhones rumliefen! Erleichtert lauschte ich dem Gespräch. David Meißner schien sich an mich zu erinnern.

»Sie haben nochmal Glück, Herr Meißner hat Sie identifiziert. Und das nächste Mal sind Sie mit Ihrem Gepäck bitte ein bisschen vorsichtiger.« Er wandte sich zum Gehen.

»Ähm, Herr Kruse, Sie könnten mir nicht zufällig mit den Koffern helfen? Die sind ziemlich schwer.« Ich wusste, dass ich seine Nerven ein wenig überstrapazierte, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Die Koffer mussten hier weg, und allein würde ich sie nie irgendwo hochhieven können.

Wenig später ließ ich mich völlig erschöpft auf meinen Sitzplatz fallen.

»Das hat aber ganz schön lang gedauert«, meinte der alte Mann neben mir.

»Ja, es hat ein kleines Problem gegeben. Ist aber alles in Ordnung.«

Der Mann sah nicht so aus, als ob ihn das interessieren würde. »Ihr Hund hier hat ganz schön gejault.«

Ich streichelte über Mayos Kopf. »Ja, Mayo mag es nicht besonders, wenn ich ihn an fremden Orten zu lang allein lasse.«

Der Alte warf mir einen Blick zu, als ob ich sie nicht mehr alle hätte, dann widmete er sich seiner Zeitung.

Mayo und ich starrten wieder traurig aus dem Fenster. Was für ein Tag, und leider noch kein Ende in Sicht. Und zu allem Überfluss gingen mir die Bilder einfach nicht mehr aus dem Kopf, die ich mir heute Vormittag unfreiwillig hatte ansehen müssen.

Ich hatte meinen Freund, oder besser gesagt Ex-Freund, in flagranti erwischt. Im Bett. Wobei, eigentlich war es nicht das Bett gewesen, sondern die Küche, aber das könnte zu Missverständnissen führen. In der Küche tat man schließlich in der Regel ganz andere Dinge als er an diesem späten Mittwochvormittag. Und es wäre auch nichts dabei gewesen, wenn er diese Dinge mit mir getan hätte. Hatte er aber nicht. Er tat sie mit einem Mann. Und auch nicht mit irgendeinem Mann, sondern mit Viktor. Viktor war schwul, aber viel wichtiger war, dass er mein bester Freund war. Gewesen war, denn ich würde ganz sicher nie wieder ein Wort mit ihm reden.

Wie hatte Viktor mir das nur antun können? Aber noch viel wichtiger war, wie Tom mir das hatte antun können! Wir waren jetzt seit drei Jahren zusammen, teilten uns seit zwei Jahren eine Wohnung. Es war richtig gut gelaufen zwischen uns. Ich hatte geglaubt, er würde mir bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit einen Antrag machen und ich würde endlich mal selbst Kundin in dem Brautmodengeschäft sein, in dem ich arbeitete.

Oder besser gesagt, gearbeitet hatte. Denn ich würde nicht zurückgehen und anderen Frauen bei der Wahl des perfekten Kleides helfen, während ich selbst wahrscheinlich nie eins brauchen würde. Meiner Chefin hatte ich zwar noch nicht Bescheid gesagt, aber das würde ich noch heute Abend oder morgen tun. Jetzt hatte ich ohnehin erst einmal Urlaub, sie würde mich also nicht vermissen

Ich seufzte. Und das alles nur, weil meine einzige Kundin heute Vormittag sich gleich in das erste Kleid verliebt hatte, das ich ihr gezeigt hatte. Ein Traum aus Elfenbein und Perlen, in dem sie zugegebenermaßen wundervoll ausgesehen hatte. Wundervoll und jung. Zu jung für einen Verlobten, während ich mit neunundzwanzig Jahren dank ihr wieder von vorne anfangen konnte. So war ich nämlich früher als erwartet nach Hause gekommen und hatte nicht nur meinen Fast-Verlobten verloren, sondern auch meine Wohnung (in der Küche würde ich bestimmt nie wieder etwas essen) und meinen besten Freund, der mit mir sonst immer alle Beziehungsprobleme analysiert und mich getröstet hatte.

Das würde ich jetzt alleine tun müssen. Obwohl ich im Moment alles andere als scharf darauf war, herauszufinden, warum mein Ex-Freund was mit meinem Ex-besten-Freund angefangen hatte. Eigentlich wollte ich im Moment nichts lieber, als einfach nur in Ruhe traurig sein. Seit ungefähr zwei Stunden brannten mir die Tränen in den Augen, aber ich konnte doch nicht hier im Zug vor allen Leuten zu weinen anfangen. Auch wenn ich genau das am liebsten getan hätte.

»Wollen Sie nicht rangehen?«, fragte eine freundliche Stimme neben mir.

Ich schreckte hoch. War ich tatsächlich eingeschlafen? Noch nicht ganz wach, blickte ich auf den Platz neben mir. Da saß eine ältere, sehr sympathisch aussehende Frau, die damit beschäftigt war, bunt geringelte Wollsocken zu stricken. Wann war der schlecht gelaunte Mann ausgestiegen, und wo zum Geier waren wir? »Wo sind wir denn?«, fragte ich die Frau neben mir.

»Irgendwo zwischen Stuttgart und Ulm.«

»Oh Gott, ich muss in Ulm umsteigen«, rief ich und wollte schon aufspringen.

»Keine Angst, bis nach Ulm dauert es noch eine Weile.«

Ich warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. Oh ja, bei dem Tempo sicher. Viel langsamer hätte der Zug kaum fahren können. Hatte ich nicht eine Fahrt mit dem ICE gebucht? So wie der Zug über die Berge tuckerte, erinnerte er mich eher an eine Bummelbahn.

Einen Moment sah mich die alte Frau an, dann sagte sie: »Ihr Telefon, es klingelt immer noch. Vielleicht ist es was Wichtiges.«

Jetzt hörte ich es auch. Ich murmelte ein »Danke« und zog halb stehend meine Handtasche von der Gepäckablage. Aus den Augenwinkeln nahm ich die genervten Gesichter der anderen Fahrgäste wahr. Ich lächelte entschuldigend. Das Handy hatte mittlerweile aufgehört zu klingeln, fing aber wieder an, während ich es aus meiner Handtasche fischte. Es war Viktor. Ich drückte den Anruf weg und stellte fest, dass sowohl er als auch Tom schon mehrmals versucht hatten, mich zu erreichen. Wahrscheinlich hatten sie mir auch bereits einige Nachrichten auf der Mailbox hinterlassen. Egal, damit wollte ich mich jetzt nicht befassen. Ich schaltete das Handy aus und verstaute meine Tasche wieder auf der Gepäckablage.

Seufzend rutschte ich zurück auf meinen Platz. Mayo schmiegte sich noch enger an mich. Er war sehr sensibel und spürte immer, wenn es mir nicht gut ging. Die Frau neben mir schien ebenfalls sehr sensibel zu sein. Seit ich den Anruf weggedrückt und das Handy ausgeschaltet hatte, betrachtete sie mich mitleidig.

»War nichts Wichtiges«, sagte ich beiläufig und versuchte ein Lächeln.

»Verstehe schon«, erwiderte sie. »Sie wollen nicht mit ihm reden.« Pikiert sah ich sie an. »Vor mir brauchen Sie sich nicht zu rechtfertigen. Ich war auch mal jung.«

Ohne es zu wollen, musste ich lachen, und damit war das Eis zwischen uns gebrochen.

»Das ist ja nicht zu fassen. Tom und Viktor?«, sagte sie etwa fünfzehn Minuten später, nachdem ich ihr meine halbe Lebensgeschichte erzählt hatte. Inzwischen waren wir sogar schon per du.

Ich nickte. »Unglaublich, oder? Was soll ich jetzt nur tun, Rosalie?« Mir war klar, dass es ziemlich erbärmlich war, sich Fremden anzuvertrauen und dann auch noch um Rat zu bitten. Aber Rosalie war mir einige Jahrzehnte voraus und hatte offensichtlich viel Lebenserfahrung, die sie mir auch nicht vorenthalten wollte. Außerdem wirkte sie sehr vertrauenerweckend.

Rosalie wandte sich einen Augenblick von den Wollsocken ab, an denen sie die ganze Zeit über weitergestrickt hatte, und sah mich an. »Ach weißt du, meiner Erfahrung nach hilft da nur eins: Such dir einen anderen und verbring mit ihm ein paar heiße Stunden.« Sagte sie und widmete sich wieder ihren Wollsocken, als hätte sie mir lediglich geraten, meinen Kummer in Eiscreme zu ertränken.

»Und das hilft wirklich?«, fragte ich leise.

Sie nickte verschwörerisch. »Glaub mir, ich bin fast achtzig und hab in meinem Leben schon so einiges ausprobiert, um über Hans, Peter und Paul und wie sie nicht alle hießen hinwegzukommen. Viel Kuchen ist auch eine Möglichkeit, aber in deinem Alter will man doch wohl lieber ein paar Kilo verlieren als zunehmen.« Sie zwinkerte mir zu.

Wenn Rosalie nicht so nett gewesen wäre, hätte ich ihr fast böse sein können. Ich wusste selbst, dass ich das ein oder andere Pfund zu viel auf den Hüften hatte.

Einen Moment dachte ich über ihren Vorschlag nach. Vielleicht half es ja tatsächlich. Zumindest beim Anblick von Davids süßem Po hatte ich ganz kurz nicht an Tom und Viktor denken müssen. »Wohin fährst du eigentlich?«, fragte ich aus Interesse. Eventuell kannte sie ja den ein oder anderen Schwaben, mit dem sie mich verkuppeln konnte.

Rosalies Blick wurde weich. »Ich fahre nach München, meine Tochter besuchen.«

»Echt? Ich bin auch auf dem Weg nach Bayern.«

»Ist ja nett. Und wohin genau soll es gehen?«

»Nach Herbertingen«, antwortete ich.

»Herbertingen?« Sie überlegte einen Moment und zog dabei die Stirn kraus. Diese Angewohnheit hatte ich auch, aber die sollte ich mir wohl lieber abgewöhnen, wenn ich nicht auch mal so viele Falten haben wollte wie Rosalie. »Sagt mir gar nichts.«

Mir eigentlich auch nicht, wollte ich gerade zugeben, als es aus den Lautsprechern über uns dröhnte: »Sehr geehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Ulm Hauptbahnhof. Dort haben Sie Anschluss an …«

Ich hörte nicht mehr zu, als die rauchige Stimme sämtliche Züge aufzählte und dann das Ganze in schlechtem Englisch wiederholte. »Ich muss leider in Ulm umsteigen«, sagte ich an Rosalie gewandt. Die alte Dame war mir mit ihrer ehrlichen Art schon ziemlich ans Herz gewachsen.

»Ach, wie schade«, meinte auch sie.

Sie half mir beim Zusammensuchen meines Gepäcks und begleitete mich noch bis zur Tür. Bevor der Zug mit einem Ruck zum Stehen kam, drückte sie mir einen Zettel mit ihrer Adresse und Telefonnummer in Koblenz in die Hand. »Hier, mein Kind. Meld dich doch mal bei mir. Ich würde mich freuen.«

»Das mach ich sehr gern, Rosalie«, antwortete ich und drückte ihr kurz die Hand. Dann griff ich nach meinen Sachen und stieg umständlich aus dem Zug aus.

Aufmerksam betrachtete ich die Gegend, nachdem ich umgestiegen war. Leider hatte ich absolut keine Ahnung, wo wir gerade waren. Erdkunde war leider nie mein Lieblingsfach gewesen, was nicht zuletzt an meinem Lehrer gelegen hatte.

Es war wirklich sehr hübsch hier. Ein kleiner Fluss schlängelte sich parallel zur Bahnstrecke entlang, es gab weite Wiesen, Berge und Wälder. Trotzdem hoffte ich, wir würden bald da sein. Der Zug war ganz schön wackelig, und der Sauerstoff wurde langsam knapp. Das lag zum einen daran, dass es sehr warm war und die Klimaanlage anscheinend nicht funktionierte. Oder es gab gar keine Klimaanlage, da war ich mir nicht so sicher. Zum anderen saß hinter mir ein Mann, der zwar im Gegensatz zu meinem Sitznachbarn nicht laut mit dem Handy telefonierte, sondern nur ruhig an seiner Bierdose nuckelte, aber dafür gab es ein anderes Problem: Mit jedem Atemzug, den er machte, schwappte eine Wolke aus Schweiß und Bier mit einem Hauch kaltem Zigarettenrauch zu mir nach vorne. Zusammen mit der Hitze und der Schaukelei machte das meinem Magen schwer zu schaffen. Gerne hätte ich den Platz gewechselt, auch wenn das mit dem ganzen Gepäck ziemlich umständlich gewesen wäre. Aber das ging nicht, denn der Zug war proppenvoll. Ich hatte Glück gehabt, überhaupt noch einen Sitzplatz zu ergattern. Die meisten anderen im Zug hatten bis vor kurzem sogar noch die Gänge blockiert.

Überhaupt waren die meisten Fahrgäste in diesem Zug sehr gewöhnungsbedürftig, was irgendwie komisch war. Bayern war doch ein sehr reiches Bundesland. Und die Bayern hatte ich mir zwar zünftig vorgestellt, aber nicht so … billig. Immerhin sprachen sie halbwegs verständliches Deutsch, das war ja schon mal was. Auch wenn ich auf die lautstarke Unterhaltung der beiden jungen Mädchen, die auf der anderen Gangseite saßen, gut hätte verzichten können. Es war einfach nicht möglich, sie auszublenden, so sehr ich es auch versuchte.

»Und ich sag zu ihr, eh du Schlampe, und dann gleich die Jacqueline, das is ja auch so ne Schlampe, du bis selber ne Schlampe.«

Das andere Mädel antwortete: »Boah, die sollt echt mal besser sterben geh’n. Die sollt echt mal lieber’s Maul halten. Echt jetzt, die Schlampe.«

Mayo sah mich auch schon ganz verstört an, er war ein anständiger Hund und mochte keine Schimpfwörter. Vielleicht war ihm aber auch bloß schlecht von der Schaukelei. Der Kleine hatte einen sehr empfindlichen Magen.

Das alles passte überhaupt nicht zu der beschaulichen Landschaft, die am Fenster vorbeizog. Hoffentlich ging es in Herbertingen etwas gesitteter zu. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Lange konnte es nicht mehr dauern. Komisch, der Zug wurde immer leerer, je näher wir an Herbertingen herankamen. Sollte es nicht voller werden, wenn man die Vororte hinter sich ließ und in Richtung Stadt kam? Mittlerweile war ich fast allein im Zug.

Nach über fünf Stunden Fahrt kam dann endlich die erlösende Durchsage: »Nägschder Halt, Herbertingen Bahnhof.« Weit und breit war niemand zu sehen, das Aussteigen würde also schwierig werden. Ich griff nach dem Käfig, klemmte mir Mayo wieder unter den Arm und kletterte aus dem Zug. Dann stellte ich den Käfig auf den Boden und setzte Mayo daneben. Der sah mich bereits mit seinen großen Hundeaugen flehend an.

»Alles ist gut, Mayo«, redete ich beschwichtigend auf den Mops ein, während ich wieder in den Zug stieg, um meine Koffer zu holen. Mayo begann, hinter mir zu winseln. Ich hatte ihn vor zwei Jahren mal aus Versehen für eine Stunde oder so ausgesperrt. Das musste ein sehr traumatisches Erlebnis für Mayo gewesen sein, denn seitdem meinte er immer, ich würde ihn aussetzen, wenn ich ihn mal kurz alleine lassen musste. Dabei würde ich das nie tun.

»Keine Panik, ich lass dich nicht zurück, mein Kleiner. Ich muss nur die Koffer holen, siehst du?« Aus Angst, der Zug könnte mit meinem zweiten Koffer weiterfahren, warf ich den ersten Koffer fast aus dem Zug und kletterte mit dem zweiten hinterher. Uff, das wäre geschafft. Frauchen, Mops und Meerschweinchen waren sicher angekommen.

Aber wo genau waren wir eigentlich? Während Mayo erleichtert an meinem Bein Männchen machte und ich ihm den Kopf kraulte, sah ich mich um. Wo zum Geier waren nur alle? Auch hier war weit und breit niemand zu sehen. Und der Bahnhof sah auch nicht gerade nach großer Stadt aus. Genau genommen war das Gebäude vor mir ziemlich heruntergekommen. Die Fassade stand vor Dreck und bröckelte. Hinter mir gab es zwar jede Menge Gleise, aber nur zwei Bahnsteige. Ein riesiger Schrottberg ragte gen Himmel, Wohnhäuser waren nirgends zu sehen. Wo war ich nur gelandet?

Leichte Panik stieg in mir auf, aber ich schluckte sie hinunter. Irgendwie musste ich Richtung Stadtmitte kommen, da würde es sicher Hotels geben. Mit neuer Hoffnung wollte ich die Tür öffnen, um das Bahnhofsgebäude zu durchqueren, musste aber feststellen, dass sie verschlossen war. Die machten hier aber früh zu. Es war doch erst kurz nach halb sieben. Na super, also außen herum. Nur mühsam kam ich mit meinem Gepäck vorwärts. Mittlerweile war ich wirklich müde und wollte nur noch in ein kuscheliges Bett.

Aber auch auf der anderen Seite des Gebäudes war nichts, was irgendwie nach Zivilisation aussah. Links zweigte ein wenig einladender Weg ab, ansonsten gab es ein paar weitere Gebäude, die teilweise auch ziemlich heruntergekommen aussahen. Da entdeckte ich sie, eine Bushaltestelle! Eilig lief ich hin und wurde bitter enttäuscht. Der Plan war verwirrend – und vor allem viel zu kurz. Wenn ich das richtig deutete, würde hier heute kein Bus mehr halten.

Die Panik verstärkte sich ein wenig. Hier konnte mir auch keiner helfen, also drehte ich wieder um. In dem Bahnhof musste es doch irgendjemanden geben, den ich fragen konnte. Tatsächlich gab es einen Mann, der in einem Glaskasten saß. Ich klopfte, aber der Mann sah nur mürrisch auf und deutete auf die Glastür. Mein Blick fiel auf einen Zettel: »Kein Geldwechsel, keine Auskunft, keine Fahrkarten.« Was sollte das denn? So unfreundlich hatte ich mir die Bayern aber nicht vorgestellt. In den schnulzigen Heimatfilmen wurden sie immer so sympathisch dargestellt.

Nun war ich endgültig verzweifelt. Ich schnappte mir meine Sachen und ließ mich völlig erschöpft auf eine Bank fallen. Wenigstens das gab es hier. Tapfer hatte ich den ganzen Tag die Tränen heruntergeschluckt, aber jetzt war es damit vorbei. Auch Mayo begann wieder zu winseln. Es nahm ihn immer so mit, wenn ich weinte.

Etwa zehn Minuten später rappelte ich mich aber wieder auf. Ich wollte hier ein neues Leben beginnen, da würde ich mich doch nicht gleich von ein paar kleinen Problemen ins Bockshorn jagen lassen. »Auswanderer« hatten doch immer mit anfänglichen Schwierigkeiten zu rechnen, und außerdem hatte ich heute schon ganz anderes mitgemacht.

Ich marschierte also noch einmal auf die andere Seite des Bahnhofs und folgte der Straße, die nach rechts führte. Als ich um die Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite herum war, sah ich, dass sich in einem davon eine Kegelbahn befand. Na bitte, das war doch schon mal was. Hier konnte ich sicher fragen, wie ich in die Stadt kommen konnte oder wo es ein Hotel gab.

Im Eingangsbereich war niemand, also folgte ich den lauten Stimmen und Kegelgeräuschen. Die schweren Koffer ließ ich in einer Ecke stehen. Auch wenn heute definitiv nicht mein Tag war, würde die wohl schon keiner klauen. Wer auch, in diesem Ort war es ja schwer genug, überhaupt mal eine Menschenseele aufzutreiben.

Das Geräusch von umfallenden Kegeln war in diesem Moment zu hören, dicht gefolgt von einem Jubelschrei. »Seahnater, so wird des gmacht«, drang eine ältere Frauenstimme durch die offene Tür, die ich mittlerweile erreicht hatte. Ich steckte den Kopf durch die Tür und sah eine Frau mit grauen Haaren, die triumphierend in die Runde blickte. Sie musste ungefähr achtzig Jahre alt sein, sah aber noch ziemlich rüstig aus.

»Etz gib dohanna it so ah, Trude. Des war en Glickstreffer, meh it«, sagte ein freundlich aussehender Mann.

»Des wer mer jo no seah«, erwiderte die Frau, die anscheinend Trude hieß. Sie griff nach einer weiteren Kugel.

Oh je, das könnte schwierig werden. Der bayerische Dialekt machte mir ganz schön zu schaffen. Trotzdem räusperte ich mich und trat in den Raum. »Entschuldigung, ich möchte wirklich nicht stören, aber könnte mir vielleicht jemand sagen, wo ich das nächste Hotel finde?«

Sechs Augenpaare richteten sich ungläubig auf mich. Trude hatte gerade zum Werfen ausgeholt, hielt jetzt inne und drehte sich ebenfalls zu mir.

Einen Moment überlegte ich, ob ich es vielleicht mit Englisch versuchen sollte, aber das würden die alten Leute sicher als Beleidigung auffassen und mir wahrscheinlich gar nicht mehr helfen.

»Des glaub i etz it«, meinte eine Frau. »A Tourischtin en Hrbrdenga.«

»Wa suachat Se? A Hodel?«, fragte Trude und kam auf mich zu. Da entdeckte sie Mayo, der sich hinter mir versteckt hatte. Fremden Menschen gegenüber war er immer etwas misstrauisch, und regelrechte Menschenaufläufe mochte er überhaupt nicht. »Jessas, en Mops«, rief sie entzückt und beugte sich zu Mayo hinunter, um ihn zu streicheln. Dabei sah sie auch Amalie und Abigail. »Ond zwoi Meersäula.« Die Frau richtete sich wieder auf und sah mich an. »Saget Se, wa machet Se denn en Hrbrdenga?«

Mit Müh und Not konnte ich mir zusammenreimen, was die Frau von mir wollte. »Das ist eine längere Geschichte. Jetzt brauch ich erst mal einen Platz zum Schlafen.«

»Viel Auswahl geits dohanna it«, sagte der Mann von vorher und kam ebenfalls ein paar Schritte auf mich zu. »Mir hond halt dr Engel. Dia hand Fremdazemmer.«

Ich meinte, das Wort Fremdenzimmer aufgeschnappt zu haben. »Ein Gasthof mit Fremdenzimmern wäre prima. Wie komm ich denn da hin?«

»Se wellat laufa?«, fragte Trude und sah erst mich, dann Mayo und schließlich Amalie und Abigail an. »Mit dene Tierla? Des goht ita.«

»Bitte?«

»Des isch z’ weit«, sagte Trude nun.

Ich wollte nicht noch mal nachfragen, die hielten mich wahrscheinlich ohnehin schon für blöd. Irgendwas mit weit hatte sie gesagt, also reimte ich mir den Rest zusammen. Das konnte ja noch lustig werden. Ich verstand kaum ein Wort. Meine verdrängte Panik kehrte zurück. »Aber der Bus fährt heute nicht mehr, und irgendwo muss ich ja schlafen.«

»Dr Engel wird eh grad renoviert«, sagte eine Frau.

Renoviert? Mir blieb auch nichts erspart. Was sollte ich denn jetzt tun?

»Etz kommscht zerscht amol mit zu mir, ond noch seahnat mer weiter«, sagte Trude. »I ben d’ Gertrud. Saischt Trude zua mer.«

Bot die alte Dame mir etwa gerade das Du an? Gut, dass ich ihren Namen schon kannte. Aber was hatte sie davor gesagt? Sie wollte mich doch nicht etwa mit zu sich nehmen? »Jette, sehr angenehm. Ähm, hab ich das richtig verstanden? Sie nehmen mich mit?«

»Ha jo, han i doch gsait.« Sie sah in die Runde. »Des isch d’ Jädde. Hubert, bschtell dem Mädle mol a Apfelschorle ond äbbes zom assa. Hosch doch bestemmt Honger?«

Das Wort verstand ich. Ich nickte.

Trude nahm mich am Arm und drückte mich auf einen Stuhl. »So, Mädle, etz sitzscht zerscht amol dohanna na mit dene Tierla.«

Hubert kam zurück und stellte mir ein Glas Apfelschorle vor die Nase. Ich bedankte mich höflich und nahm einen kräftigen Schluck.

»’s Assa kommt glei«, sagte er.

»Hubert, breng no a Wuscht für dr Mops ond a Gelbrüble für d’ Meersaua.«

Ich war nicht sicher, aber Trude schien auch was für Mayo, Amalie und Abigail bestellt zu haben. Nun begann sie, mir ihre Kegelkumpanen der Reihe nach vorzustellen. Mir brummte allmählich der Schädel. Es war anstrengend, das Bayerische verstehen zu wollen. Und trotz aller Mühe erkannte ich immer nur einzelne Wörter. Aber immerhin.

»Des send d’ Maria, d’ Gerda, d’ Theres ond da Franz. Ond des sall isch da Hubert«, fügte Trude hinzu und deutete auf Hubert, der gerade mit einer Wurst und zwei Karotten in der Hand zurückkam. »Aber den kennscht jo scho.«

Hubert hielt Mayo die Wurst hin und hatte gleich einen neuen Freund gefunden. Mayo schnupperte zwar zuerst etwas skeptisch an der Wurst, biss dann aber mit Heißhunger hinein. Auch Amalie und Abigail freuten sich über ihre Karotten. Das war wirklich nett von Hubert.

»Mensch, Hubert, kenntsch au mol mitdenka«, meinte Trude nun. »Dr Mops braucht doch no äbbes zom saufa. Etz gohsch na ond hollasch no a Schissel mit Wasser.«

Hubert unterdrückte, wie mir schien, ein Augenrollen und machte sich pflichtbewusst erneut auf den Weg.

»So, ond etz do mer no a weng weiterkegla. D’ Helga, desch mei Dochter, woischt, kommt erscht en ra halba Stond.«

Kapitel 2

»Etz guck amol nah, wen mer dohanna aufgablat hand. Des isch d’ Jädde. Dia kommt vo … Jo, Mädle, wo kommscht eigentlich her?«

Trude sah mich an. Sprach sie jetzt etwa mit mir? Gerade hatte sie sich doch noch mit ihrer Tochter Helga unterhalten.

»Ähm, wie bitte?«

Helga lachte. »Meine Mutter mechte wissen, wo Sie herkommen.«

Oh mein Gott, sie sprach hochdeutsch. Ich konnte mein Glück kaum fassen. »Endlich jemand, der deutsch spricht«, entfuhr es mir.

Die letzte halbe Stunde war ziemlich anstrengend gewesen. Aus Höflichkeit hatte ich ja zumindest versuchen müssen, etwas zu verstehen. Und die sechs alten Leutchen waren ganz schön gesprächig gewesen. Vor ein paar Minuten hatten Trude und ich dann endlich das Wirtshaus verlassen, um vor der Tür auf Trudes Tochter zu warten.

Helga war überrascht aus dem Auto gestiegen, als sie mich mit meinem Gepäck neben ihrer Mutter erblickt hatte. Sie sah genauso aus wie ihre Mutter, nur etwa zwanzig Jahre jünger. Und ihre Haare waren auch nicht grau wie Trudes, sondern braun.

Nun wechselten Trude und Helga einen Blick. Oh je, ich hatte doch hoffentlich niemanden beleidigt?

»Ha jo, mit ’m Hochdeitscha hond mers dohanna it so, des stemmt scho«, sagte Trude. »Des braucht’s dohanna aber au it.«

»Wo kamen Sie jetzt noch glei her?«, fragte Helga noch einmal nach.

Mir fiel auf, dass auch Helga einen deutlich hörbaren Akzent hatte, aber das war mir egal. Wenigstens konnte ich sie verstehen. »Ich bin aus dem Ruhrgebiet.«

»Se isch mit ’m Zug komma ond hot nach amma Hotel gsuacht. Zom Engel isch z’ weit zom laufa, vor ällem mit dene Tierla. Außerdem renovierat se do, hat d’ Theres gsait. Drom han i denkt, mer nammat d’ Jädde mit zu eis.«

»Ha jo, des hoscht denkt«, meinte Helga und schüttelte lachend den Kopf. »Dann kommat Sie mal mit.«

Helga half mir beim Einladen des Gepäcks. Mayo und die Schweinchen nahm ich mit zu mir auf die Rückbank. Während der Fahrt unterhielten sich Trude und Helga, und ich gab es auf, folgen zu wollen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Landschaft. Es war noch hell, sodass ich alles gut sehen konnte. In der Tat wäre der Weg zu Fuß etwas weit gewesen. Zwar ging es immer nur der Straße nach, aber die zog sich ziemlich lang hin, bis auf der rechten Seite irgendwann der Gasthof auftauchte.

Sehr attraktiv war Herbertingen ja nicht, was ich bisher so zu sehen bekam. Der Bahnhof lag wohl im Industriegebiet, und die waren ja bekanntlich nicht sehr sehenswert. Aber auch, nachdem wir das Ortsschild passiert hatten, lagen linker Hand nur einige Autohäuser und so was. Von Natur oder schönen Wohnhäusern war nichts zu sehen. Schließlich verließen wir jedoch die lange Hauptstraße. Helga bog zwei Mal ab, und wir waren mitten im Wohngebiet. Es gab schnucklige Häuser und Gärten, die zu dieser Jahreszeit, im Juni, in voller Blütenpracht standen. Helga parkte das Auto vor einem großen Haus, und ich staunte nicht schlecht, als ich ausstieg. Die Abendsonne schien an dieser Stelle noch herrlich warm. Es war wunderbar ruhig, nur das Zwitschern der Vögel war zu hören.

»Do semmer«, meinte Trude fast ein bisschen stolz, als sie ebenfalls ausgestiegen war.

»Es ist schön hier«, sagte ich.

Und das war es wirklich. Nachdem wir mein Gepäck im Hausflur abgestellt hatten, zeigten Helga und Trude mir erst einmal das Haus. Oder besser gesagt die wichtigsten Räume, denn die Schlafzimmer der beiden Frauen bekam ich nicht zu sehen. Ich war zwar neugierig, konnte es aber gut verstehen. Immerhin war so ein Schlafzimmer sehr privat. Und der Rest des Hauses war auch so beeindruckend genug.

Unten gab es ein großes, gemütliches Wohnzimmer, dessen Fenster hinaus in den Garten zeigten. Die Möbel waren ziemlich modern und die Farben hell und pastellig. Außerdem gab es hier ein schönes, altes Klavier. Auch die Küche war groß. Kochen gehörte zwar nicht zu meinen Talenten, ich konnte mir aber gut vorstellen, dass es Spaß machen musste, hier etwas zu brutzeln. Das Esszimmer war besonders schön. Es war mediterran eingerichtet und wirkte durch die hereinfallende Abendsonne, die die terrakottafarbenen Wände zum Leuchten brachte, noch stilechter. Ansonsten gab es im unteren Stockwerk noch ein großes Badezimmer, das in verschiedenen Blautönen gehalten war.

Auch im oberen Stock gab es ein Bad. Zwar war es nicht ganz so groß wie das untere, aber immerhin hatte es auch eine Wanne. Das freute mich besonders, denn dieses Badezimmer würde ich mir in den nächsten Tagen mit Trude teilen. Und es ging doch nichts über ein heißes Bad nach einem anstrengenden Tag.

Neben Trudes Schlafzimmer gab es hier oben noch ein kleines Wohnzimmer für sie, das deutlich altmodischer als das untere eingerichtet war. Die Möbel mussten ähnlich alt wie Trude selbst sein. Und dann bekam ich das Zimmer zu sehen, in dem ich erst einmal schlafen durfte.

»Des ischt des alte Zimmer von meim Sohn«, erklärte Helga, bevor sie die Tür öffnete.

Ich war sofort begeistert, auch wenn das Zimmer relativ klein war. Die terrakottafarbenen Wände leuchteten auch hier in der Abendsonne. Außerdem hatte das Zimmer einen Balkon mit großem Fenster, das direkt gegenüber der Tür lag. Das Bett stand daneben an der linken Wand. Es war ein kleines Bett, aber für mich war es genug. Außerdem gab es einen Schrank, einen Schreibtisch und ein Bücherregal. Dass das Zimmer mal einem Jungen gehört hatte, war nur an einer kleinen Sammlung Modellautos zu erkennen, die zwischen den vielen Büchern im Regal standen. Entweder war das Zimmer nach seinem Auszug ausgeräumt und renoviert worden oder er hatte so gut wie alle seine persönlichen Sachen mitgenommen. Wie alt der Junge wohl sein mochte?

»Sie haben einen Sohn?«, fragte ich Helga.

»Ja, den Felix. Der schafft … Oh, Entschuldigung«, unterbrach sie sich selbst. »Der arbeitet und wohnt in Bad Saulgau. Sie werda ihn bestimmt noch kennenlernen.«

»Dr Felix isch en feina Kerle«, meinte Trude. »Aber wellet ihr eigentlich it au zom du iberganga? Des macht’s doch glei oifacher.«

»Eine gute Idee«, erwiderte ich, auch wenn ich nur Bruchstücke verstanden hatte, und auch Helga stimmte zu.

»So, wenn des greglat isch, ganga mer no en dr Gahta, noch lernascht glei no mein Schwiegersoh kenna, dr Josef. Ond noch kahscht dei Zuig auspacka.«

Ich nickte, auch wenn ich nur die Wörter Schwiegersohn und auspacken verstanden hatte, und folgte Trude und Helga in den Garten.

»Haben Sie denn noch mehr Kinder?«, fragte ich Helga.

Die nickte. »I hab noch eine Tochter, die Sabine. Sie ist schon verheiratet und hat zwei Kinder.«

»Dia wohnt am See donda«, erklärte Trude und rief, kaum dass wir aus der Terrassentür heraus waren: »Sepp, wo bischt?«

»Dohanna«, antwortete Josef von irgendwoher, und Trude ging zielsicher drauflos.

Josef war gerade dabei, die verblühten Pfingstrosen zu schneiden. Neugierig hielt er inne und sah uns entgegen, während er sich mit dem rechten Handrücken die Schweißperlen von der Stirn wischte. Er hatte bereits graue Haare und vielleicht ein paar Pfund zu viel auf den Hüften, wirkte aber sehr sympathisch.

»Des ist mein Mann Josef. Und des ist die Jette«, stellte Helga uns gegenseitig vor. »Jette ist heut aus dem Ruhrgebiet angereist, und da sie nicht wusste, wohin, hat die Mama sie hergebracht.«

»Freut mich.« Ich streckte Josef die Hand entgegen.

Er zog seinen dreckigen Handschuh aus und reichte mir ebenfalls seine Hand. »Gleichfalls«, murmelte er und nickte.

Ich erkannte sofort, dass Josef kein Mann der großen Worte war. Bei Trudes Temperament wunderte mich das aber nicht im Geringsten. Bei ihr war es nicht leicht, zu Wort zu kommen. Ich war schon gespannt, wie Felix so sein würde.

Helga und Trude führten mich noch durch den Garten, der einfach nur traumhaft schön war. Man sah sofort, dass bei der Anlage des Ganzen eine professionelle Hand im Spiel gewesen sein musste und dass zum anderen viel Pflege in diesen Garten investiert wurde. Die Blumen, Sträucher und Bäume wuchsen zwar wild durcheinander, sodass es natürlich aussah. Aber dennoch hatte alles seine Ordnung. Es gab Rosen in sämtlichen Farben und Größen, die wie der Lavendel gerade zu blühen begannen. Auch meine Lieblingsblume, die Lilie, entdeckte ich und noch viele andere Blumen, deren Namen ich nicht kannte. Besonders hübsch fand ich den mit Steinen umrandeten Teich, auf dem Seerosen schwammen. In der untergehenden Sonne war es angenehm warm, und ich hätte gerne noch eine Weile in dem Garten gesessen. Aber nicht mehr heute. Ich war total müde und wollte einfach nur noch »mein Zimmer« beziehen und vielleicht ein heißes Bad nehmen.

Als wir das Haus wieder betraten und ich Mayo sah, der immer noch brav neben dem Käfig saß, fiel mir jedoch ein, dass ich mit ihm noch mal raus musste. »Ach Gott, und ich brauch ja noch dringend einen Käfig für Amalie und Abigail.«