Sebastian Thiel

Das Adenauer-Komplott

Kriminalroman

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Geheimprojekt Flugscheibe (2015), Sei ganz still (2015), Uranprojekt (2014), Die Dirne vom Niederrhein (2013); Wunderwaffe (2012), Die Hexe vom Niederrhein (2010)

Dieses Buch wurde vermittelt von der Agentur SCRIPTZZ

www.scriptzz.de

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – dpa

ISBN 978-3-8392-5388-5

Haftungsausschluss

Personen und Handlungen sind frei erfunden, soweit sie nicht historisch verbürgt sind.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig oder nicht beabsichtigt.

Diese Geschichte ist, wenn auch mit realen Elementen und Gegebenheiten hinterlegt, rein fiktiv und entstammt der Fantasie des Autors.

Zitat

»Nehmen Se de Menschen, wie se sind. Andere jibt et nich.«

Konrad Adenauer

Teil 1

Prolog
- Haus der Qualen -

22. August 1944

»Du dummer, dummer Idiot.«

Maximilian Engel fluchte leise, während er abgeführt wurde. Kaum hörbar für die Gestapo-Männer, die ihm mit festem Griff die Hände auf den Rücken gedreht hatten und ihn nun von der Elisenstraße auf den Appellhofplatz führten.

Obwohl der Alkohol und die Aufregung das Blut so schnell durch seine Venen pumpten, als würde flüssige Lava sein Herz antreiben, gelang es ihm, hochzublicken und einen Moment innezuhalten. Erst jetzt verstand er, wo die drei Schränke in Anzügen ihn hinbrachten. Ein kalter Schauer lief Max über den Rücken, als er die beiden Wappen erkannte. Das eine war das Stadtwappen von Köln, seiner Heimatstadt. Das rote Schildhaupt, die drei goldenen Kronen und die schwarzen Flammen hätte er überall wiedererkannt, auch wenn auf der gemeißelten Fassade natürlich keine Farben zu erkennen waren. Es war das andere Wappen, welches das vormals rauschende Blut in seinem Körper innerhalb eines Lidschlags zum Stocken brachte.

»EL-DE«, flüsterte er, diesmal etwas zu laut.

»Schnauze«, brummte einer der groß gewachsenen Männer, verpasste Maximilian einen Leberhaken und schob ihn mit gesteigerter Dominanz weiter.

Er japste nach Luft, doch seine Lungen schienen wie eingeschnürt. Noch einmal gelang es ihm, aufzusehen. Er erkannte das Wappen des Erbauers Leopold Dahmen nur allzu deutlich. Wie flammende Insignien brannten sich die beiden Initialen L und D in seinen Verstand. Maximilian wurde kein Kavaliersdelikt vorgeworfen, die drei Schränke brachten ihn direkt zur Gestapo-Dienststelle im Zentrum von Köln.

Es existierten Gerüchte, dunkle Mythen von nicht enden wollenden Schreien, die Nacht für Nacht aus den Kellern in die Ohren der vorbeilaufenden Passanten drangen. Er hatte es oft genug gehört, das Kneipengeflüster über unterirdische Geheimgänge oder die Märchen über Menschen, die seit Jahren im Tiefkeller des EL-DE-Hauses eingekerkert waren wie einst im finstersten Mittelalter.

Doch all das war nun gleichgültig. Jetzt war er hier und aus den Mythen und Geschichten, die man sich nach dem zehnten Bier erzählte, würde schreckliche Realität werden. Panik ergriff Max. Er versuchte sich loszureißen, obwohl er genau wusste, dass seine Bemühungen vergebens sein würden.

»Ein Witz, das war ein Witz, nur ein Versehen«, keuchte er, mit den Beinen wild um sich strampelnd.

»Schnauze, habe ich gesagt.« Ein weiterer Haken folgte, anschließend wurde sein Kopf mit voller Wucht gegen die graue Wand des Gebäudes geschlagen. Die Erschütterung ging Maximilian durch Mark und Bein, seine Fluchtversuche erstarben im selben Moment. Tanzende Sterne zuckten vor seinen Augen und warmes Blut lief über seine Stirn, als die Männer ihn weiterzerrten.

Selbst durch den Schleier aus Benommenheit und Finsternis konnte er auf der Straße flanierende Menschen erkennen. Sie beschleunigten ihren Schritt, taten so, als würden sie ihn und seine Begleiter nicht wahrnehmen. Wer konnte es ihnen verübeln? Er hätte genauso gehandelt. Ganz davon abgesehen, dass Verhaftungen in deutschen Städten an der Tagesordnung waren und mittlerweile so selbstverständlich zum Leben dazugehörten wie Fliegeralarm und Verdunkelung.

Aus der harten Hand des Staatsapparats gab es kein Entkommen. Verdammt, vor nicht ganz einer Stunde war er selbst ein Teil davon gewesen. Auch wenn der Waffenrock seiner Luftwaffenuniform einige Knöpfe eingebüßt hatte und sein blutiges, halb geöffnetes Hemd zeigte. Man konnte sogar die Schulterklappe mit dem Stern sehen, die ihn als Oberleutnant auswies. Sie hing nur noch an Fäden an seinem Arm herab, dennoch war er Teil dieses Apparats.

Oder etwa nicht?

Vielleicht war er wirklich zu weit gegangen, als er sich von seiner Arroganz und dem angeborenen Talent als Jagdflieger hatte verleiten lassen, seine Gedanken zu laut auszusprechen. Wie dumm konnte man nur sein?

»Nein, bitte«, brachte er gerade so zustande, während sie ihn durch den Haupteingang schoben.

»Komm schon, Flieger. Stell dich nicht so an.« Die drei Gestapo-Beamten machten keinen Hehl daraus, einen hochdekorierten Offizier betrunken aus der Kneipe gezogen zu haben.

Max’ linkes Bein brannte, als würde es in Flammen stehen, während die Männer ihn die Treppen hochzogen. Max meinte zu spüren, wie die Kugel, die noch immer in seinem Oberschenkel steckte, sich in seinem Fleisch bewegte. Als ob jede Seite des Geschosses mit Rasierklingen ausgestattet wäre und von innen in seine Muskeln schnitt.

Abgestandene Luft drang in seine Nase, während er unzählige Gänge passierte und schließlich auf einen Stuhl gepresst wurde. Ein gelangweilter Jüngling, der kaum das 20. Lebensjahr vollendet hatte, sah auf ihn herab.

»Jagdgeschwader Richthofen«, las er mit dünner, aber blasierter Stimme von Maximilians Ärmelstreifen ab und musterte ihn genauer. »Verwundetenabzeichen in Schwarz, Eisernes Kreuz zweiter Klasse, da hast du ja einige Orden gesammelt.« Noch immer benommen konnte Max ein anerkennendes Pfeifen vernehmen. »Gar nicht schlecht, für so einen Lump.«

Ein Lump? Hatte er da gerade richtig gehört? Normalerweise würde er diesen Pimpf ungespitzt in den Boden rammen.

Maximilian räusperte sich, stand auf, drückte seinen Rücken durch und versuchte seiner Stimme Autorität zu verleihen. »Ich verlange sofort, dass Sie Ihren Vorgesetzten kontaktieren.«

Schallendes Gelächter brach im Raum aus. Einer der drei groß gewachsenen Gorillas klopfte ihm sogar auf die Schulter. Ganz so, wie man amüsiert einem Kläffer das Köpfchen streichelte, wenn er zu knurren begann.

Nur der Jüngling hinter dem Schreibtisch grinste nicht. »Sie verlangen hier gar nichts. Name?«

»Oberleutnant der Luftwaffe, Maximilian Engel.« Er startete noch einen Versuch, beugte sich nach vorn und sah dem Mann, der ihn zunehmend an eine Ratte erinnerte, starr in die Augen. »Hören Sie, ich bin Jagdpilot der II. Gruppe des Jagdgeschwaders 2 Richthofen und habe mehr bestätigte Abschüsse, als Sie Mädchen hinterhergeguckt haben. Also nehmen Sie verdammt noch mal mit Geschwaderkommodore Major Kurt Ubben Kontakt auf.« Max verschwieg, dass er aufgrund seiner Beinverletzung fluguntauglich war. Bei dem Gedanken zuckte er unwillkürlich für einen Herzschlag zusammen. Ein allzu schmerzendes Detail, das diese Hohlköpfe nicht wissen mussten. »Das ist alles ein großes Missverständnis.«

Er setzte sich, lehnte sich zurück, wischte sich das Blut vom Auge. Obwohl sein Herz so heftig pochte, dass er Angst hatte, er würde zusammenbrechen, überkreuzte er unter Schmerzen die Beine und deutete mit blutigen Händen auf den Fernsprecher.

»Na los, lassen Sie sich mit ihm verbinden. Der Stab müsste sich noch im französischen Creil befinden, dies liegt im Arrondissement Senlis und ist …«

»Nun halten Sie endlich Ihr Schandmaul!«

Wäre die Situation nicht so ernst, Max hätte beinahe gelacht, als diese Ratte mit fiepender Stimme auf den Tisch schlug und versuchte, ihm den Mund zu verbieten. Sogar der Schlag auf das Holz war nicht mehr als ein kleiner Klaps.

Maximilian wusste nicht, ob es das blinde Verständnis in die deutsche Hierarchie war oder der billige Fusel in der Eckkneipe, der seine Sinne so gefährlich benebelte, aber plötzlich kochte die Wut in ihm hoch. Er sprang auf, drängte den Schmerz mit aller Macht beiseite und donnerte seine Fäuste nun seinerseits auf den Tisch. »Was bilden Sie sich eigentlich ein? Ich bin deutscher Offizier und verdiene es nicht, so behandelt zu werden.«

Für einen Moment ließen ihn die drei Gestapo-Männer gewähren … einen sehr kurzen Moment. Ehe er noch ein Wort sagen konnte, wurde er von ihnen gemeinsam gepackt und auf ein Zeichen der Ratte hin zur Tür geschoben.

»Ach, Herr Oberleutnant?«

Die dünne Stimme des Jünglings vermochte es ohne Probleme an seine Ohren zu dringen. Die Hünen der Geheimen Staatspolizei hielten inne, einer drückte gar seinen Kopf gen Schreibtisch.

»Sie haben recht, Herr Engel. Sie verdienen es nicht, so behandelt zu werden.« Die Ratte stand auf, befeuchtete sich die Lippen und zündete sich eine Zigarette an. »Wehrkraftzersetzer und Verräter behandeln wir hier anders.« Sein Grinsen war so breit wie diabolisch. »Ganz anders.«

Kapitel 1
- Kölner Nächte -

Fünf Stunden zuvor

»Maaaax, wo gehst du hin? Wieder fliegen?«

Lächelnd nahm Max seine jüngste Schwester auf den Arm und ging mit ihr in die Küche. Dabei breitete Marie ihre Arme aus und tat so, als wäre sie ein Flugzeug. Kurz knickte sein linkes Bein ein, was ihn erneut schmerzvoll daran erinnerte, dass er diese Frage verneinen müsste. Für immer.

»Bald wieder«, log er und setzte Marie auf den Küchentisch ab. »Oder vielleicht fliegst du bald selbst? Wie Hanna Reitsch. Sie hat das Eiserne Kreuz von Hitler persönlich bekommen.« Max imitierte, wie er seiner Schwester einen Orden verlieh, und breitete nun seinerseits die Arme aus. »Als erste Frau hat sie seine Messerschmitt Me 163 geflogen, das ist ein Raketenflugzeug und schneller als der Wind.«

»Sie ist auf einer Rakete geflogen?«, vergewisserte sich Marie lachend und mit einem ungläubigen Ausdruck in ihren Augen.

Das Lächeln seiner Schwester war schon immer ansteckend gewesen. Vielleicht war es die Unbekümmertheit der Fünfjährigen, die mit ihren strahlend blonden Haaren und dem einnehmenden Ausdruck jeden Gedanken einfach fortwischen konnte – mochte er noch so grausig sein. Wie sie das in diesen Tagen oft genug waren … Nur die wachen, dunklen Augen, fast schwarz, wie die seiner gesamten Familie, die keine Ruhe zu finden schienen, ließen vermuten, dass sie mehr mitbekam, als sie zugeben wollte.

»Die Füße vom Tisch.« Mutter Hilde ermahnte die beiden, ohne ihren Worten allzu viel Nachdruck zu verleihen. Sie hatte andere Sorgen.

Nickend hob Maximilian Marie vom Tisch und überreichte sie seinen Schwestern. Die Zwillinge Johanna und Annelise konnte außerhalb der Familie kaum jemand voneinander unterscheiden und nicht wenige sagten, dass ein unsichtbares Band zwischen ihnen geknüpft worden war. Obwohl sie nur wenige Jahre trennte, wurde Max aus den beiden nie wirklich schlau. Sie waren oft unter sich, tuschelten und machten alles gemeinsam, während er sich besser mit Marie verstand. Doch in diesen Tagen waren sie alle vereint im gemeinsamen Schmerz. Seine drei Schwestern gingen wortlos auf ihr Zimmer, während er sich zu seiner Mutter setzte.

»Noch immer keine Nachricht?«, wollte Maximilian wissen und knöpfte sich den Waffenrock zu.

Mutter schüttelte den Kopf, während sie die Wäsche zusammenlegte und tapfer lächelte. Doch er erkannte, wie tief die Höllenqualen der letzten Wochen sich in ihre Seele gefressen hatten.

»Um Punkt 9 Uhr stehe ich am Amt und warte auf Auskunft. Aber es gibt keine Veränderung.« Sie imitierte den gleichgültigen Tonfall, welcher ihr jeden Morgen entgegenschlug: »Der Herr Major Anton Engel wird immer noch vermisst, wir können Ihnen nicht mehr dazu sagen, bitte warten Sie auf Post.«

Maximilians Hände formten sich zu Fäusten, der Blick ging ins Leere. Seit zwei Monaten wurde sein Vater an der Ostfront vermisst. Man sollte meinen, dass er als Major der Infanterie nicht mehr mit einem Bajonett den Russen hinterherjagen sollte. Doch Vater hatte stets seinen eigenen Kopf. Vielleicht begründete dies auch seinen Ruf als Draufgänger. In diesem Moment wünschte sich Max schmerzlich, dass sein Vater nicht der Ordensammler wäre, der er nun einmal war.

Langsam erhob er sich, richtete sich und setzte seine Schirmmütze auf. Seine Mutter folgte ihm bis in den Empfangsraum. »Wo gehst du hin?«

»Ein paar Bier trinken.«

Sie wartete etwas, bis sie mit einem Kopfnicken auf sein linkes Bein deutete. Sie durchschaute ihn schon immer viel zu gut. »Werden die Schmerzen schlimmer?«

Max hatte die Klinke, die ihn aus der Stadtvilla führte, bereits in der Hand. Er schüttelte verbissen den Kopf und zündete sich eine Zigarette an. »Es ist erträglich.«

War es nicht, aber manchmal ersparte eine Lüge weiteren Schmerz. Und Schmerz war etwas, das Mutter in diesen Tagen sicher nicht gebrauchen konnte.

Mit gesenktem Kopf und einer Lüge verließ er das Haus.

*

Max trank.

Nach dem siebten Bier wurde es langsam besser.

Die Pein, die in Wellen durch seinen Körper zog, immer wenn er das Bein zu viel belastete, ließ langsam nach. Oder sie erreichte zumindest sein Gehirn nicht mehr, und das war ihm mehr als recht.

»Herr Oberleutnant, trinken Sie noch einen mit?«

Der Wirt der Eckkneipe Zum Wimmer, kurz vor dem Neumarkt, war ein stämmiger Mann mit dichtem Vollbart und gütlichen blauen Augen. Er hatte sich als Hans Wimmer vorgestellt und war offensichtlich überzeugter Nationalsozialist. Zumindest konnte man das meinen, wenn man die unzähligen Hakenkreuzbanner sah oder den Porträts von Kriegshelden und dem Reichskanzler Glauben schenken wollte. Soldaten in Uniform hatten es hier leicht, eine kostenlose Runde zu ergattern, da Hans Wimmer offensichtlich sehr darauf achtete, dass keiner der so hoch geschätzten Uniformierten auf Heimaturlaub eine trockene Kehle bekam.

Max nickte, und Wimmer schenkte eine klare Flüssigkeit ein. Beißender Geruch drang ihm in die Nase.

»Nicht dran riechen«, vernahm er vom Wirt und erkannte ein Augenzwinkern.

Das hier war Selbstgebrannter der übelsten Sorte. Schnell kippte er ihn hinunter und schob sein Glas zurück.

»Noch mal das Herrengedeck.«

Alles war ihm recht, um diese beschissenen Monate zu vergessen. Anstandslos stellte Wimmer ihm ein neues Bier hin und goss den Klaren nach. Max trank in großen Schlucken und belastete sein Bein vorsichtig.

Was zum Teufel war nur passiert?

Noch vor einem Jahr war er ein aufstrebendes Fliegerass gewesen, die Mädchen hatten sich um ihn gerissen, seine beiden Schwestern, die Zwillinge, waren kurz davor gewesen, sich gut zu verheiraten und Vater hatte einen Erfolg nach dem anderen eingeheimst. Der Völkische Beobachter titelte in jeder Ausgabe vom großen Endsieg und in der Wochenschau prasselte es Erfolgsmeldungen.

Max trank.

Zumindest einen kleinen, verschwindend geringen Anteil daran konnte Maximilian sich selbst zusprechen. Nach seiner Ausbildung als Flugzeugführer in Zerbst war er direkt in die II. Gruppe berufen worden, welche sich eigentlich aus erfahrenen Piloten zusammensetzte. Als Neuling im Jagdgeschwader 2 hatte er dort eigentlich nichts zu suchen, viele Sprüche und noch mehr Handgreiflichkeiten musste er über sich ergehen lassen, jedoch erkannten auch die alten Recken, dass er ein gewisses Talent am Steuerknüppel der Arado besaß.

Max trank.

Ein hauchzartes Lächeln huschte über seine Lippen, als er sich daran erinnerte, wie er den Doppeldecker durch die Wolken gejagt hatte. Während des Flugs hatte er die Augen geschlossen, um den pfeifenden Wind um seine Ohren zu genießen. Endlich hatten sich die unzähligen Stunden auf der A/B-Schule und am Steuer des Trainingsgerätes, Focke-Wulf Fw 44, gelohnt. Obschon er es immer hasste, wenn der Lehrer eingriff und seinen Flug korrigierte. Dies war nicht die Freiheit, wie er sie sich als kleiner Junge erträumt hatte, als er Bücher über die Heldentaten des Baron von Richthofen gelesen hatte, sondern nur ein kurzer Blick ins Paradies, bevor jemand die Tür wieder verschloss.

Nach einer Stationierung in Nordholz wurde es endlich ernst. Wie kleine Kinder, die das Weihnachtsfest nicht mehr abwarten konnten, wünschte sich die II. Gruppe den Tag herbei, auf dass sie ihre ersten Abschüsse ihr eigen nennen konnte. Während des Westfeldzugs war es so weit.

Max erinnerte sich noch genau, dass er das Gefühl hatte, er würde die Morane-Saulnier 406 ewig beharken müssen, bis endlich dicker Qualm das Unvermeidbare ankündigte.

Max trank.

Anschließend schloss er die Augen und spielte mit flachen Händen das Manöver immer und immer wieder durch. Er kam leicht aus der Überhöhung, schoss und nutzte die überschüssige Energie zu einem kantigen Steigflug, um wieder in der Überhöhung anzusetzen und zu feuern. Ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel, bis er den Piloten der Armée de l’air zum Absturz brachte. Sein erster bestätigter Abschuss, auf den 77 weitere folgen sollten. Zumindest bis zu dem Tag, als …

Egal. Alles verblasster Ruhm. Er würde nie wieder fliegen. Alles war vergebens.

Er sah sich um. Die Mannschaftsdienstgrade bezahlten ohne Murren ihre viel zu niedrigen Zechen, während sich auch die Unteroffiziere so langsam in Richtung Heimat aufmachten. Er bestellte erneut und der Wirt Wimmer schenkte mit einem Lächeln nach.

Max trank.

Jedes Mal wenn die Tür aufging und sich ein Soldat mit einem Mädchen verabschiedete, umspielte die warme Sommerluft seinen Nacken. Der Dunst seiner Salem No. 6 Zigarette wurde dabei aufgewirbelt und für einen Moment konnte er frische Luft in seine Lungen ziehen. Er wartete, bis die Tür wieder geschlossen war und er weiter mit der grünen Zigarettenpackung spielen konnte. Seinen Blick zog es nach draußen.

Die Stadt hatte sich verändert in den letzten Monaten. Oder waren es die Menschen? Die Erfolgsmeldungen ließen immer länger auf sich warten. Durchhalteparolen statt Endsieg. Von seinem alten Geschwader waren die meisten verschwunden oder wahlweise zu Krüppel geschossen worden. Es grenzte an ein Wunder, dass ihn nur eine Kugel im Oberschenkel plagte. Sie erinnerte ihn schmerzlich daran, dass selbst Fliegerasse nicht unverwundbar waren.

Irgendetwas rollte auf sie zu, eine Lawine, die man nicht mehr aufhalten konnte, und sie standen im Tal, tranken Bier und Schnaps und vermieden es um jeden Preis, ihre Augen nach oben zu richten. Der Blick nach draußen unterstrich seine Überlegungen auf grausame Art und Weise. Selbst durch den dicken Qualm und die milchigen Fenster konnte er eine Ruine und die spitzen verkohlten Holzpfeiler ausmachen, die wie riesige Nadeln dem hellen Mond entgegenstachen. Laut Wochenschau waren es 1.000 Bomber, die am 31. Mai 1942 über Köln hinweggefegt waren und alles in Schutt und Asche gelegt hatten, was von ihrer todbringenden Fracht getroffen wurde.

Auch wenn er zu dieser Zeit nicht in der Stadt gewesen war, so erinnerte er sich, wie er am ganzen Leib gezittert hatte, bis er endlich die Nachricht von Mutter erhalten hatte, dass alle wohlauf waren.

»Ah, die Luftwaffe! Unsere Königin der Winde!«

Max wurde nach vorn geschleudert, ein Schwall seines Bieres landete auf dem Tresen. Hastig drehte er seinen Kopf nach rechts und blickte in das aufgedunsene Gesicht eines alten Hauptmanns der Infanterie. Etliche kleine Narben zierten seine Stirn, die Nase schien riesig und war offensichtlich mehrmals gebrochen. Kleine Risse in der Haut deuteten darauf hin, dass seine letzte Prügelei noch nicht allzu lange her sein konnte. Der Hauptmann musste ein alter Haudegen sein, mit dem man es sich besser nicht verscherzen wollte. Ein Relikt aus der Vergangenheit. Zum zweiten Mal klopfte der Offizier ihm auf die Schulter, diesmal etwas sanfter.

»Wie bitte?«, wollte Max verwundert wissen.

»Damals gab es das noch nicht. Ich meine, im Großen Krieg, da hieß es Mann gegen Mann, zur Not mit dem Spaten.« Der Mann stützte die Ellenbogen auf dem Holz ab, setzte sich neben ihn und quasselte von Trunkenheit beseelt und mit erkennbar rheinischem Dialekt einfach weiter. »Flieger waren da noch Exoten.« Er lachte laut auf, klopfte Max erneut auf die Schulter. »Am Anfang wart ihr nur Aufklärer oder hattet eine Bombe auf dem Schoss, die ihr dann rausgeschmissen habt.«

Maximilian nickte, ohne den Blick von der Theke zu nehmen. Er kannte die Erzählungen, hatte die Geschichte der deutschen Luftfahrt in sich aufgesogen, jedes Detail über die Luftstreitkräfte des Kaiserreichs und deren wachsende Bedeutung für die strategischen Möglichkeiten eines Grabenkrieges gelesen.

»Erst waren wir alle skeptisch. Haben gedacht, dass ihr alle keinen Kilometer schafft.« Er schien in dieselbe Kerbe schlagen zu wollen, was Maximilian ein wenig besänftigte. »Und schaut euch jetzt an! Ihr Flieger entscheidet Schlachten! Trinkst du einen auf meine Kosten?«

Max nickte kaum merklich. Alles war ihm recht, um zu vergessen. Selbst die kostenlosen Runden eines stinkenden und alternden Hauptmanns, der ihn sicher gleich mit Heldengeschichten aus dem Großen Krieg kam.

Max trank.

Der Fremde nippte ebenfalls und holte zwischen zwei Schlucken eine blau-orangefarbene Dose aus der Innentasche seines Waffenrocks. Mit der Akkuratesse eines Geübten schmiss er sich eine Tablette Pervitin ein und spülte mit Bier nach. Danach bot er Maximilian eine an. »Das stärkt die Nerven.«

Max lehnte kopfschüttelnd ab. Er kannte die Wirkung der Panzerschokolade nur zu gut. Bei etlichen 48-Stunden-Einsätzen und unzähligen Nachtflügen hatte er selbst die wachhaltende und euphorisierende Droge genommen und ihren Effekt genossen. Allerdings nicht die Zitterattacken und Schweißausbrüche danach. Andererseits, konnte es noch schlimmer kommen?

»Gut, ich nehm eine.«

Schnell war die Tablette eingeworfen und geschluckt.

»So ist es richtig.« Wieder ein Schulterklopfen. »Für die nächsten Monate und den Endsieg brauchen wir starke Nerven. Es wird nicht mehr lange dauern, bis der Reichskanzler die Ostfront in einem Sturm aus Bomben und einem Hagel aus Geschossen vom Ivan befreit.«

Der Mann konnte ja ein richtiger Lyriker sein.

»Ja, ja, der Ivan ist schon ein harter Hund.« Max seufzte, fuhr sich durch die locker liegenden blonden Haare und atmete tief. »Ein richtiger Saukämpfer, der weiß, wie er mit Kälte und Schnee umzugehen hat.«

Ein Nebel aus Benommenheit legte sich angenehm leicht auf seine Sinne. Er erkannte sich selbst im Spiegel. Wieso zum Teufel grinste er? Lange musste es her sein, seit er sein Antlitz so gesehen hatte.

»Und wo wir gerade bei Geschossen sind«, sagte der unbekannte Offizier schließlich, bestellte zwei neue Herrengedecke und drehte Maximilian etwas zu grob in die Weite des Raums. »Haste die gesehen? Mann, was für ein heißer Feger, oder? Bei der würde ich auch mal gerne was versenken.«

Während der Mann ein tiefes, schallendes Gelächter von sich gab, heftete sich Maximilians Blick auf die Frau, die der Hauptmann meinte. Im Halbschatten des letzten Tisches fiel ihm auf, dass auch die Dame ihn musterte. Sie musste knapp 30 sein, vielleicht etwas jünger, hatte pechschwarze glatte Haare, die sie schulterlang trug. Bildete er sich das ein oder glänzten ihre Haare wirklich so sehr, dass er die Augen zusammenkneifen musste? Wahrscheinlicher war es jedoch, dass die Wirkung des Pervitin nun mit voller Macht durchdrang. Mit übereinandergeschlagenen Beinen zog sie gedankenverloren an einer langen Zigarette und zeigte deutlich mehr Bein, als es sich für eine Dame gehörte. Während sie mit geschürzten Lippen von ihrem Wein trank, ließ sie ihn nicht aus den Augen.

Max trank.

Langsam drehte er sich wieder in Richtung Theke. »Nicht schlecht.«

»Was? Nicht schlecht?« Noch einmal riskierte der alte Hauptmann einen Blick und rülpste dabei herzhaft. »Für so eine Frau werden Männer zu Mördern!«

Jetzt war es Max, der zu lachen begann. »Sind wir das nicht alle?«

Der Offizier kam näher. »Wie meinst du das denn jetzt, Flieger?«

»Eigentlich ist es doch gleichgültig, ob man den Abzug seines Mausers 98 benutzt, einen Klappspaten, den Auslösemechanismus einer Messerschmitt oder nur den Hebel einer Flak zieht, am Ende steht dasselbe Ergebnis.«

Plötzlich wurde der Mann ernst und sein freundlicher Gesichtsausdruck war verschwunden. »Wir sind keine Mörder, wir tun unsere verdammte Pflicht!«

»Und unsere Pflicht ist der Mord, oder etwa nicht?«

Der Hauptmann schnaubte und trank das Bier noch schneller als zuvor. »Unsere Pflicht ist der Sieg. Nichts anderes.«

»Und wenn wir diese Pflicht nicht erfüllen können? Wenn der Sieg nicht möglich ist, was machen wir dann?«

Max’ Zähne mahlten aufeinander wie Mühlsteine. Die beiden Männer funkelten sich an. Die ausgelassene Stimmung des Hauptmanns war verflogen. Seine Wangen glühten vor Wut – ein falsches Wort und Max würde seinen Zorn zu spüren bekommen.

Sollte er es wagen?

Besonders groß und kräftig war Max nicht gebaut, eher klein und untersetzt, doch mit starken Handgelenken und entschlossenem Blick. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass der Wirt zum Fernsprecher gegriffen hatte und nun, die beiden nicht aus den Augen lassend, leise in den Hörer sprach. Wahrscheinlich holte er vorsorglich die Ordnungspolizei, damit ihm niemand die Einrichtung zu Kleinholz schlug. Kluger Mann.

Ruhig griff Max nach dem halb vollen Glas, hob es in die Höhe und wandte sich den verbliebenen Gästen zu. »Auf unseren großen Führer Adolf Hitler!«, schrie er. »Auf dass unsere Soldaten tapfer und ohne Furcht den Feind bekämpfen, wo immer er sich zeigen möge. Heil Hitler! Die nächste Runde geht auf mich.«

Die Menge stimmte ein, johlte, beklatschte Max’ Worte, bis sie wieder in die ruhige Lethargie eines viel zu langen Dienstagabends glitt. Nur die Frau am anderen Ende des Raums ließ ihn nicht aus den Augen und goss sich selbst Rotwein nach. Er hätte schwören können, dass er dabei ein mildes Lächeln auf ihren Lippen sah.

Max konnte sich einfach nicht von ihrem Anblick losreißen. Wenige Sekunden später übernahm das ein anderer für ihn. Unvermittelt wurde er am Kragen gepackt und herabgerissen, bis er dem Hauptmann Auge in Auge auf einer Höhe begegnete.

»Vorsichtig, Flieger, beim nächsten Mal könntest du eine Bruchlandung erleben.«

Er spuckte auf den Boden, machte aus seiner Verachtung keinen Hehl und zog sich mit Max’ Bier und dem Schnaps an die andere Ecke der Theke zurück.

Maximilian schüttelte den Kopf, bestellte neu. Konnten diese Blender nicht die Wahrheit erkennen, selbst wenn sie vor ihnen lag? Viel zu lange hatte das Oberkommando ihnen Sand in die Augen gestreut, ihnen süße Märchen erzählt von einem glorreichen Sieg und einer noch schöneren Zukunft. Doch die Mär von der Unbesiegbarkeit der arischen Rasse war verflogen – dies hatte er am eigenen Leibe erfahren müssen.

Eisenhower und seine Einheiten standen kurz vor Paris, der Atlantikwall war längst Geschichte, genau wie die Idee einer Ostfront, während deutsche Soldaten landauf, landab im Russenland abgeschlachtet wurden oder in Gefangenschaft gerieten. Wenn Goebbels und Hitler in irgendwelchen Bunkern die von ihnen beschworenen Wunderwaffen deponierten, wäre nun der richtige Zeitpunkt, um diese zu zünden. Andernfalls würde es nicht mehr viel geben, was sie verteidigen konnten.

Max wollte trinken.

Gerade legte er das Glas an die Lippen, als es ihm jemand aus der Hand schlug.

»Das ist er«, hörte er den Wirt sagen und erkannte, wie dieser mit dem Zeigefinger auf ihn deutete.

Ohne eine weitere Erklärung wurde er grob auf den schmierigen Tresen gedrückt, seine linke Gesichtshälfte landete im Aschenbecher. Ihm brannten die Augen, der Gestank von Bier und saurem Schnaps drückte sich in seine Nase. Noch bevor er reagieren konnte, spürte er Schmerzen in seinen Schultergelenken. Er verlor den Boden unter den Füßen, wurde nach unten gedrückt und zur Tür gezerrt. Obwohl benebelt und körperlich außer Gefecht gesetzt, arbeitete sein Gehirn auf Hochtouren.

Trauer, Schmerz, Alkohol und das Pervitin hatten seinen Verstand träge gemacht. Wie konnte er nur annehmen, dass sein Handeln ohne Folgen blieb? Überall hatten die Wände Ohren und ein falscher Mitwisser war tödlich. Hatte sein Vater ihm nicht beigebracht, dass es klüger war, manche Gedanken zu verbergen, manche Worte nicht auszusprechen?

Warme Luft schlug ihm entgegen, als die Tür geöffnet wurde. Sein Flüstern war nur von ihm zu hören.

»Du dummer, dummer Idiot.«