Dürre und Brände in unseren Wäldern, Tintenfische und Doraden in unserer Nordsee

Seit Jahrzehnten steigende Temperaturen sind eine unabweisbare Tatsache. Weltweit haben sich Tausende von Tier- und Pflanzenarten in Bewegung gesetzt, sind bereits viele Kilometer weit polwärts, bergauf oder in tieferes Wasser gewandert. Das Klimasystem ist sehr träge, und es birgt Tücken, Kipp-Punkte, die bis heute noch nicht verstanden sind. Zwei trockene Jahre haben genügt, um den deutschen Wald schwer zu schädigen. Was passiert, sollten weitere folgen? Und welche Konsequenzen wird es haben, wenn natürliche Zyklen kollabieren, etwa wenn Fische schlüpfen, weil die Wassertemperatur ansteigt, aber kein Futter vorhanden ist, da sich Phytoplankton erst vermehrt, sobald die Tage länger werden? Um die für große Teile der Menschheit schon jetzt existenzbedrohenden Folgen des Klimawandels zu begrenzen und uns auf die neuen Gegebenheiten vorzubereiten, müssen wir wissen, wie Tiere und Pflanzen auf die klimatischen Veränderungen reagieren.

Autorenfoto: Franziska Hauser

Bernhard Kegel, geboren 1953 in Berlin, studierte Chemie und Biologie an der Freien Universität Berlin, danach Forschungstätigkeit, Arbeit als ökologischer Gutachter und Lehrbeauftragter. Seit 1993 hat er zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht. Zuletzt erschienen bei DuMont ›Ausgestorben, um zu bleiben. Dinosaurier und ihre Nachfahren‹ (2018) und ›Die Herrscher der Welt. Wie Mikroben unser Leben bestimmen‹ (2015). Bernhard Kegels Bücher wurden mit mehreren Publizistikpreisen ausgezeichnet. Der Autor lebt in Berlin.

Bernhard Kegel

Die Natur der Zukunft

Tier- und Pflanzenwelt in Zeiten des Klimawandels

 

Einleitung

Endlich wieder Schnee, viel Schnee. Ein Winter wie früher, wie er sein sollte. Auf dem Gletschereis im Schweizer Skigebiet Glacier 3000 der Waadtländer Alpen liegt im Frühjahr 2018 eine dicke Schicht der weißen Pracht, dicht und kompakt, das Ergebnis eines Winters mit weit überdurchschnittlichen Schneefällen. Für den schrumpfenden Gletscher kommt das einer Frischzellenkur gleich. 50 Prozent mehr Schnee als in normalen Jahren – das ist Wasser für einen Verdurstenden. Vielleicht kommt es doch nicht so schlimm wie befürchtet. Ein paar Winter wie dieser und man könnte fast wieder Hoffnung schöpfen.

Die allgemeine Euphorie steckt sogar Matthias Huss und seine Mitarbeiter an. Der Experte von der ETH Zürich ist Leiter des Schweizer Gletschermessnetzes. Regelmäßig besucht er die jahrtausendealten alpinen Eismassen, führt Messungen durch, und eigentlich kommt ihm für das, was er dort seit Jahren tut und erlebt, nur noch ein Wort in den Sinn: »Sterbebegleitung«. Da ist ein Winter wie dieser natürlich eine erfreuliche Abwechslung, sogar für Glaziologen.

So wird ein Fernsehteam des SWR, das Huss und seine Kollegen begleitet, am 25. April 2018 Zeuge einer Messung, wie es schon lange keine gegeben hat. Mehr als fünf Meter tief muss die Sonde durch die Schneedecke getrieben werden, bis sie auf hartes Eis trifft. Es könnte ein gutes Jahr für die Alpengletscher werden, zumindest für diesen, denn nicht überall ist so viel Schnee gefallen.

Fünf Monate später statten Matthias Huss und seine Mitarbeiter dem Gletscher im Glacier-3000-Gebiet einen zweiten Besuch ab. Mitte September gilt es nun Bilanz zu ziehen, die Sommerbilanz des Jahres 2018. Schon auf dem Weg zur Messstelle wird deutlich, dass sie nicht gut ausfallen wird, trotz der imposanten Schneedecke, die das Eis eigentlich hätte schützen müssen. Die Euphorie war verfrüht. Von den Schneemassen des letzten Winters ist nichts übrig geblieben.

Was die Gletscherforscher zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: In der Schweiz, in Österreich und in Deutschland wird 2018 als das wärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen vor mehr als 130 Jahren in die Statistik eingehen, global gesehen wird es Rang vier einnehmen, nach 2016, 2015 und 2017. Die Jahre 2019 und 2020 werden weltweit noch wärmer und schieben sich zwischen 2016 und 2015.

»Wenn man sich das vorstellt«, sagt Huss in die Fernsehkamera. »Fünf Meter Schnee auf dreitausend Meter Höhe … Dass das in einem Sommer wegschmelzen kann, hätten wir nicht für möglich gehalten.«

Nicht nur der Schnee ist verschwunden, auch der Gletscher ist weiter geschrumpft. Die Eisschicht ist um 1,30 Meter dünner geworden. Die enormen Schneemassen des Winters 2017/18 haben nicht einmal für eine Atempause gesorgt. Das sogenannte Peak Water, der Wendepunkt, von dem ab die durch das Schmelzen des Eises abfließende Wassermenge wegen des Volumenverlusts der Gletscher nur noch abnimmt, sei hier wohl erreicht, vermutet Matthias Huss.1

Der Schwund der Alpengletscher geht weiter. Allein in den Jahren 2000 bis 2014 ist ein Sechstel des Eisvolumens in den Alpen abgetaut. Gegen Ende des 21. Jahrhunderts wird es wohl nur noch in einigen Hochlagen Gletscher geben.2

Die lokalen Folgen für Mensch und Natur werden dramatisch sein. Im globalen Vergleich sind die alpinen Gletscher allerdings Zwerge: Viel größere Eismassen gibt es in Alaska, in Patagonien und an den Polen. Zusammen mit Kollegen aus Frankreich, Norwegen, Kanada und Russland hat Matthias Huss kürzlich eine umfassende, auf Satellitendaten basierende Analyse von 19 000 Gletschern auf der ganzen Welt vorgelegt. Danach hat sich deren Eisverlust in den letzten 30 Jahren beschleunigt und liegt nun bei 335 Milliarden Tonnen pro Jahr. Das entspricht etwa dem Dreifachen des gegenwärtig noch vorhandenen Gletschervolumens in den Alpen. Allein dadurch ist der Meeresspiegel seit 1960 um 27 Millimeter angestiegen.3

Dies ist kein Buch über die Frage, ob es einen Klimawandel gibt oder nicht. Diese Frage ist längst beantwortet, und man brauchte dazu weder leistungsfähige Großrechner noch Klimamodelle. Ein Blick auf die schwindenden Eismassen in den Gebirgen und an den Polen genügt; die seit Jahrzehnten steigenden Temperaturen sind eine unabweisbare Tatsache. Streit entzündet sich an der Frage, ob und wie sehr wir Menschen an dieser Entwicklung mitgewirkt haben und wie sich dieses verändernde Klima in den verschiedenen Weltgegenden auswirken wird.

Ich bin kein Klimaforscher und daher, was die Zuverlässigkeit dieser Zukunftsprognosen angeht, genauso auf die Arbeit der Experten angewiesen wie Sie, liebe LeserInnen. Ich habe allerdings keine Zweifel, dass die überwältigende Mehrzahl der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler engagiert und mit größter Gewissenhaftigkeit ihre Arbeit verrichtet. Die Frage nach den Ursachen des Klimawandels wird in diesem Buch nicht deshalb ausgeklammert, weil ich sie für ungeklärt halte. Das Gegenteil ist der Fall. Das IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), der sogenannte »Weltklimarat«, der die weltweit durchgeführte Klimaforschung zusammenträgt, bündelt und in Form von umfangreichen Berichten veröffentlicht, erklärte in seinem fünften Sachstandsbericht, der Einfluss des Menschen sei »äußerst wahrscheinlich« (d. h. mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 95 Prozent) die Hauptursache für die seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Erwärmung.4 Viel mehr kann eine Wissenschaft, die sich mit einem so komplexen Phänomen wie dem globalen Klima beschäftigt, kaum erreichen. Ich habe deshalb keine Veranlassung, an den, je nach Szenario, mehr oder weniger dramatischen Modellprojektionen zu zweifeln, die die Klimaforscher erarbeiten, auch wenn sie eine alles andere als erfreuliche Zukunft in Aussicht stellen. Außerdem entspricht die Entwicklung bislang ziemlich genau den Vorhersagen. Fast alle Prognosen, sogar die, die bereits vor 50 Jahren abgegeben wurden, haben die Entwicklung bis zum Jahr 2020 zutreffend beschrieben.5 Und die heutigen Modelle sind noch besser geworden, weil die Forscher aus früheren Fehlern und Fehleinschätzungen gelernt haben.

Auch wenn man, aus welchen Gründen auch immer, nicht an einen weitgehend menschengemachten Klimawandel glaubt – wir wissen, dass die meisten globalen Massenaussterbeereignisse der Erdgeschichte mit steigenden beziehungsweise hohen CO2-Konzentrationen der Atmosphäre einhergegangen sind.6 Es wäre demnach, unabhängig von der Frage nach der Ursache, in keinem Fall eine gute Idee, diese für die Menschheit bedrohliche Entwicklung noch zu befeuern, indem wir weiterhin zusätzlich tonnenweise Treibhausgase in die Atmosphäre ausstoßen, Gase, die dort für Tausende von Jahren verbleiben werden. Wir tun es bislang in einer nie da gewesenen Geschwindigkeit, denn die Hälfte des insgesamt durch menschliche Aktivitäten in die Atmosphäre gelangten Kohlendioxids, etwa 890 Milliarden Tonnen, wurde in den letzten 30 Jahren ausgestoßen, von einer einzigen Menschengeneration, von uns.7 Schon deshalb gilt es, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um den Schaden und die für große Teile der Menschheit existenzbedrohenden Probleme, die auf uns zukommen, zu begrenzen und uns, so gut es geht, auf die neuen Gegebenheiten vorzubereiten – eine Herkulesaufgabe, deren Erfolg keineswegs garantiert ist.

Steigt die Lufttemperatur von 28 auf 29 Grad oder von 5 auf 6 Grad Celsius, bemerken wir in unserer Umwelt in der Regel keine oder nur minimale Veränderungen. Steigt sie aber von -1 auf 0 Grad Celsius oder gar darüber, sind die Konsequenzen unmittelbar und dramatisch. Deshalb ist im Zusammenhang mit dem Klimawandel so oft von Gletschern, polaren Lebensräumen und Permafrostböden die Rede. Weil Wasser in seinem festen Aggregatzustand eben bei null Grad Celsius zu schmelzen beginnt und wir diesen für die meisten Menschen immer noch sehr abstrakten Klimawandel dort, wo es Eis gibt, tatsächlich sehen können. Wer, in welcher Form auch immer, auf dieses Eis angewiesen ist, wird große Schwierigkeiten bekommen.

Doch auch wenn es nicht sofort ins Auge sticht: Ein sich veränderndes Klima hat überall auf der Erde Konsequenzen. Es bedeutet nicht nur höhere Temperaturen, schmelzende Gletscher, mehr extreme Wetterereignisse und einen steigenden Meeresspiegel. Es bedeutet auch und vor allem, dass die natürlichen Lebensgemeinschaften in der Verteilung und Zusammensetzung, wie wir sie kennen, keinen Bestand haben werden. Natur wird bleiben, aber es wird eine andere Natur sein. Sollten wir eine Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur um vier oder fünf Grad erleben, wären große Teile der Welt aus heutiger Sicht kaum wiederzuerkennen. Fünf Grad – das klingt nach wenig, entspricht aber dem Temperaturunterschied zwischen der letzten Kaltzeit, in der Kanada, das nördliche Europa und ein großer Teil Großbritanniens mit kilometerdicken Eisschichten überzogen waren, und der heutigen Warmzeit.8

Für viele Menschen ist der Klimawandel etwas, das noch in der Zukunft liegt, dabei steht außer Frage, dass wir bereits mittendrin stecken, und gerade die Biologie liefert dafür überzeugende Beweise. »Der Klimawandel kommt sehr schnell, innerhalb einer Baumgeneration«, stellt Manfred Forstreuter fest, Pflanzenökologe an der FU Berlin, der sich schon 1984 in seiner Diplomarbeit mit dem Klimawandel beschäftigte. Damals musste er dafür in die USA gehen, weil es in Deutschland niemanden gab, der an diesem Thema arbeitete.9

Trotz aller Konferenzen und Verträge hat der globale Ausstoß von CO2 auch in 2018 und 2019 weiter zugenommen. Erst 2020 sorgte die Corona-Pandemie für einen deutlichen Rückgang. Die Entwicklung schreitet also unaufhaltsam voran, womöglich – dafür gibt es beunruhigende Hinweise – schneller, als wir das angenommen haben. »Das Problem ist die Geschwindigkeit«, sagt auch Manfred Forstreuter. »In einer Generation passiert das, was sonst in 10 000 Jahren geschehen ist.«10

Einige Fachleute haben bereits vor tipping points gewarnt, vor »Kipp-Punkten«, die, wenn sie einmal erreicht und überschritten sind, keine Umkehr mehr ermöglichen.11

Nur zwei extrem trockene und warme Jahre, 2018 und 2019, haben gereicht, um den deutschen Wald, der zu großen Teilen im 19. Jahrhundert gepflanzt wurde, schwer zu schädigen. Die Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände nannte es eine »Jahrhundertkatastrophe«, sogar Bundeskanzlerin Merkel machte sich Sorgen und sprach von »sehr, sehr großen Waldschäden«.

Für Peter Berthold, langjähriger Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen, steht fest: »Die Klimaerwärmung wird nicht nur gewisse marginale Verschiebungen in Ökosystemen bewirken. Vielmehr wird sie wohl alle Systeme, die sich bei uns seit der letzten Eiszeit vor 10 000 Jahren entwickelt haben, kontinentweit umwandeln – allerdings unter hohem ›Reibungsverlust‹ an Artenvielfalt.«12 Und zu diesen Systemen gehört eben auch der mitteleuropäische Wald.

Um diese Umwandlung soll es im Folgenden gehen, um eine Tier- und Pflanzenwelt, der die Veränderungen ihrer Lebensumstände bereits anzusehen sind und die längst begonnen hat, darauf zu reagieren. Global oder Climate Change Biology heißt die neue Wissenschaft, die diese Prozesse untersucht. Wenn dabei die aktuellen Vorgänge in einem Atemzug mit vergangenen aus vormenschlicher Zeit behandelt werden, ist das keinesfalls als Relativierung im Sinne derjenigen zu verstehen, die einen menschengemachten Klimawandel leugnen und sich auf den Standpunkt zurückziehen, Klimaveränderungen habe es schon immer gegeben.

In der Biologie des Klimawandels steht nicht die Frage nach den Ursachen im Vordergrund, sondern die nach den Folgen für die Lebewesen und Ökosysteme unseres Planeten. Diese müssen und werden reagieren, so wie sie immer reagiert haben. Und sie tun es bereits jetzt, ob der Wandel nun von uns Menschen verursacht wurde oder nicht. Biologen studieren diese Phänomene seit mindestens 20 Jahren.13 Auch wer nicht an eine durch den Ausstoß von Treibhausgasen verursachte Erwärmung glaubt, muss sich wohl oder übel mit der Frage auseinandersetzen, wie mit diesen Veränderungen in aller Welt umzugehen ist, denn dass sie geschehen, steht unbezweifelbar fest.

Das Buch bildet damit eine Art Gegenstück oder Ergänzung zu David Wallace-Wells’ alarmierendem Klimareport The Uninhabitable Earth von 2019, der unter dem Titel Die unbewohnbare Erde auch auf Deutsch erschienen ist.14 Wallace-Wells schildert darin die katastrophalen Folgen des Klimawandels für die Menschheit, klammert ökologische und biologische Konsequenzen aber fast völlig aus. Ich fürchte, er hat recht, wenn er gleich zu Beginn seines Buches schreibt: »Es ist schlimmer, viel schlimmer, als Sie denken. Das langsame Voranschreiten des Klimawandels ist ein Märchen, das vielleicht ebenso viel Schaden anrichtet wie die Behauptung, es gäbe ihn gar nicht.«15 Doch im Gegensatz zu David Wallace-Wells, der – vermutlich weil er glaubt, seine Ausführungen würden dadurch überzeugender klingen – Wert auf die Feststellung legt, er sei kein Umweltschützer und noch nie campen gewesen, bin ich Biologe und definitiv ein Naturliebhaber, der das Zelten unter freiem Himmel schätzt, auch wenn ich wie er fast mein gesamtes Leben in Städten verbracht habe. Deshalb interessiert mich nicht nur die Frage, was der Klimawandel für uns Menschen bedeutet, sondern auch die, wie es den anderen Lebewesen ergehen wird, die diesen Planeten mit uns zusammen bewohnen. Beides ist ohnehin kaum voneinander zu trennen. Ich möchte versuchen zu verstehen, was da draußen, in Wald und Flur, in Gebirgen und Ozeanen, vor sich geht.

Was verraten uns die Erkenntnisse der Climate Change Biology über die Natur der Zukunft? In welche Richtung werden sich die Lebensgemeinschaften unseres Planeten entwickeln? Was geschieht schon jetzt? Die jungen Menschen, die überall auf der Welt lautstark protestieren, werden in dieser Umwelt leben. Wie wird die Natur beschaffen sein, die wir unseren Kindern und Kindeskindern hinterlassen?

Der US-Amerikaner John W. Williams, ein weltweit führender Experte für die Vegetation vergangener Jahrtausende, hat die Möglichkeiten, die Lebewesen in einem sich verändernden Klima bleiben, mit fünf knappen Worten umrissen: »move, adapt, persist, or die« – »bewege dich, passe dich an, halte durch oder stirb«.16 Die Climate Change Biology liefert Beispiele für alle diese Optionen.

Wenn wir uns im Detail dafür interessieren, wie Tiere und Pflanzen auf eine sich aufheizende Welt reagieren, ist ein ausführlicher Blick in die Vergangenheit unserer Erde unabdingbar. Denn eines ist klar: Stillstand hat es auf ihm nie gegeben. Natur ist ein permanenter Prozess, der mitunter aus unterschiedlichen Gründen rasant Fahrt aufnimmt. Deshalb sind Gegenwart und Zukunft nur zu verstehen, wenn man weiß und berücksichtigt, was gewesen ist. Der Begriff »Naturgeschichte«, der im Zeitalter der Laborbiologie hoffnungslos altmodisch klingt, hat dieser Tatsache Rechnung getragen. In seiner Kurzen Naturgeschichte des letzten Jahrtausends von 2007 hat Josef H. Reichholf eindrucksvoll gezeigt, wie groß die Turbulenzen allein während der vergangenen 1000 Jahre waren – eine erdgeschichtlich kurze Zeitspanne, und doch fanden darin das Mittelalterliche Klimaoptimum (ca. 900 bis 1400 n. Chr.) und anschließend eine Kleine Eiszeit Platz.17 Blickt man noch weiter zurück, werden die Ausschläge immer heftiger. Vor 120 000 Jahren lebten Flusspferde in Themse und Rhein, um schließlich kilometerhohen Eismassen zu weichen, die in fast ganz Europa für arktische Verhältnisse sorgten.

Klima und Natur sind immer in Veränderung begriffen, längere Phasen relativer Stabilität, wie wir sie seit etwa 10 000 Jahren erleben dürfen, eingeschlossen. Diese fast schon banale Feststellung lässt allerdings nicht ansatzweise erahnen, wie dramatisch sich diese Umbrüche auf die jeweils betroffenen Lebewesen auswirkten. Seit jeher war der Klimawandel ein Motor der Evolution (und der Geschichte). Und je nach Ausmaß der Veränderungen geriet die Biosphäre dabei in mehr oder weniger große Turbulenzen. Das wird diesmal nicht anders sein.

Wir neigen manchmal dazu, uns die Erdgeschichte als spannenden Abenteuerroman zu erzählen, als eine Art Langzeitsportveranstaltung oder Gladiatorenkampf, mit Verlierern, die es nicht gepackt haben, und Siegern, zu denen zweifellos bislang der Homo sapiens gehört, und wir vergessen dabei, wie viel Leid damit verbunden war, wie viel Blut vergossen wurde, wie verzweifelt und aussichtslos für viele der Kampf ums Überleben war, den der Wandel ihnen aufzwang. Tausende und Abertausende von Pflanzen- und Tierarten blieben dabei auf der Strecke. Ansätze zu vergleichbar dramatischen Vorgängen sind auch jetzt schon zu erleben, vor allem in den arktischen Lebensräumen (s. Kap. 7). Und dabei wird es nicht bleiben.

Machen wir uns nichts vor: Was uns erwartet, ist in der Geschichte der Menschheit ohne Parallele. Diesmal sind wir mittendrin im Geschehen. Denn sogar ein Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um ›nur‹ zwei Grad Celsius bis zum Ende dieses Jahrhunderts – ein Ziel, das für uns nur noch unter größten Anstrengungen zu erreichen sein wird – bedeutet: Im Jahr 2100 werden auf der Erde Bedingungen herrschen wie vor etwa zwei Millionen Jahren. Zu Lebzeiten des Homo sapiens sapiens und seiner unmittelbaren Vorläufer hat es das noch nie gegeben. Und der Weg wird weitergehen, weit über das Jahr 2100 hinaus. Im Vergleich zur vorindustriellen Zeit ist die Temperatur (bis zum Jahr 2019) bereits um 1,1 Grad gestiegen. So warm war es zuletzt am Ende des Eem-Interglazials (auch als »Riß/​Würm-Interglazial« bekannt) vor 115 000 Jahren. Damals waren Neandertaler die einzigen Menschen in Europa.

Der moderne Homo sapiens verließ seine afrikanische Heimat nach heutigem Kenntnisstand vor etwa 60 000 Jahren. Dass sich unsere Spezies, wie schon der Homo erectus viele Hunderttausend Jahre vor ihr, überhaupt auf den Weg machte, ja dass unsere Vorfahren als aufrecht gehende Zweibeiner vor Jahrmillionen aus kletternden Affenahnen hervorgingen und ein großes Gehirn entwickelten, auch das war vermutlich eine Folge klimatischer Veränderungen. »Wie alle Arten sind auch wir ein Produkt unserer Umwelt«, schreibt der Astrobiologe und Wissenschaftskommunikator Lewis Dartnell in seinem Buch Urspünge. Wir seien »eine Primatenart, die ihre Entstehung dem Klimawandel und der Tektonik Ostafrikas« verdanke.18

Unsere Spezies entstammt einem extrem vielgestaltigen und abwechslungsreichen Lebensraum, der noch dazu in der Zeit vor 2,7 bis 0,9 Millionen Jahren mehrfach von Phasen klimatischer Instabilität mit einem raschen Wechsel von Feucht- und Trockenzeiten heimgesucht wurde. Das hätte auch schiefgehen können. Doch es kam anders. »Intelligenz«, so Dartnell, »ist die evolutionäre Lösung für das Problem, dass sich ein Lebensraum schneller verändert, als die natürliche Selektion den Körper ummodellieren kann.«19

Hat er recht? Das wären dann ja gar nicht die schlechtesten Aussichten … In jedem Fall bieten der Klimawandel und seine Folgen Gelegenheiten im Überfluss, diese unsere Intelligenz unter Beweis zu stellen. Nur schnell muss es gehen. Allzu viel Zeit bleibt uns nicht mehr.

1

In Bewegung

Atem

Die Atmosphäre ist eine Schicht aus verschiedenen Gasen, die unseren Planeten einhüllt wie die Schale einer Orange das fruchtige Innere. Sie ist allerdings nur etwa 100 Kilometer dick, was nicht einmal einem Hundertstel des Erddurchmessers entspricht. Als Modell für die Erde taugen Zitrusfrüchte deshalb nur bedingt, denn im Verhältnis gesehen sind ihre Schalen viel zu dick. Die irdische Lufthülle entspricht eher der Pelle einer dicken Salami oder der Schale eines kleinen Apfels. Kein Wunder also, dass sie aus dem Weltall erschreckend dünn und verletzlich wirkt. Und doch war und ist sie der Garant für alles Leben, was sich je auf diesem außergewöhnlichen Himmelskörper entwickelt hat.

Atmosphäre, Klima und Lebewesen sind auf vielfältige und engste Weise miteinander verbunden. Es waren winzige Einzeller, fotosynthetisch aktive Cyanobakterien, die die Atmosphäre über Hunderte von Millionen Jahren mit Sauerstoff anreicherten und damit erst die Voraussetzung für die Entstehung höherer Lebensformen schafften.

Organismen veratmen diesen Sauerstoff, nutzen ihn zur Energiegewinnung und stoßen Kohlendioxid aus, ein Gas, das nicht nur, aber eben auch von Lebewesen erzeugt wird und eine bemerkenswerte Eigenschaft besitzt: Es absorbiert langwellige Anteile der Sonnenstrahlung, die von der Erdoberfläche reflektiert werden, verhindert, dass sie in den Weltraum entweichen, und schickt sie zur Erdoberfläche zurück. Die Atmosphäre erwärmt sich. Dieser sogenannte Treibhauseffekt ist heute zu trauriger Berühmtheit gelangt, dabei ist es diese Fähigkeit des Kohlendioxids und einiger anderer Gase, die auf der Erde überhaupt die für Leben, wie wir es kennen, erträglichen Bedingungen garantiert. Ohne diesen Treibhauseffekt würde unser Planet ähnlich dem Mars als Eisball durch die Leere des Weltraums rasen (wie in der Erdgeschichte in Gestalt der sogenannten Schneeball-Erde mehrfach geschehen) und bestenfalls einige robuste Mikroben beherbergen. Wie warm es auf der Erde ist, hängt von vielen Faktoren ab, von der Sonnenaktivität, von der Lage der Kontinente, von kosmischen Phänomenen wie periodischen Schwankungen von Erdachse und Erdumlaufbahn, und nicht zuletzt von der Menge der Treibhausgase, die sich in der Atmosphäre befinden. Sie werden von Lebewesen produziert, aber in großen Mengen auch von Vulkanen ausgestoßen und dann durch biologische und geochemische Prozesse über lange Zeiträume hinweg wieder aus der Atmosphäre entfernt. Warmzeiten waren daher stets mit hohen Konzentrationen an CO2 verbunden; herrschten eiszeitliche Verhältnisse, lag der Kohlendioxid-Gehalt deutlich niedriger.

Seit etwa 250 Jahren ist auch der Mensch ein zunehmend bedeutender Produzent von Kohlendioxid. Im Grunde hat der aktuelle Klimawandel begonnen, als Menschen durch die Verbrennung von Kohle die ersten Kohlendioxidmoleküle in die Atmosphäre entließen, die ohne sie nicht dorthin gelangt wären; über die Lagerfeuer unserer fernen Vorfahren sehen wir einmal großzügig hinweg. Das Verbrennen von Holz setzt Kohlenstoff frei, der in der Regel erst wenige Jahre zuvor, maximal vor einigen Jahrhunderten, von Pflanzen aus der Luft gefischt wurde. Doch mit jedem einzelnen CO2-Molekül, das mit der Verbrennung von Kohle oder Erdöl in die Atmosphäre gelangt, wird etwas wieder in das globale System eingespeist, das ihm für viele Jahrmillionen entzogen war. Heute freigesetzt, beginnt jedes dieser Moleküle sofort, Wärmestrahlung zurückzuhalten, die sonst ins All entwichen wäre …

Weil er also mit dem ersten von uns durch Verbrennung fossiler Energieträger erzeugten CO2-Molekül begann, gab es diesen, sozusagen ›unseren‹ Klimawandel auch schon vor 50 oder gar 100 Jahren. Das zeigt zum Beispiel das Schicksal der Eismassen am Mount Kenia, nach dem Kilimandscharo mit 5199 Metern das zweithöchste Bergmassiv Afrikas und einer der wenigen Orte auf der Welt, an dem in unmittelbarer Nähe des Äquators immer Schnee liegt. Im Jahr 1900 gab es dort 18 Gletscher, bis 1986 waren jedoch 75 Prozent der gesamten Eismasse des Massivs verschwunden und nur noch 11 geschrumpfte Gletscher übrig.1

Seit Beginn der Industrialisierung vor etwa 200 Jahren ist der Gehalt an CO2 von 280 ppm auf über 400 ppm gestiegen, also auf mehr als 400 Millionstel Volumenanteile. Auf dem Gipfel der Zugspitze wurden im März 2020 genau 417,838 ppm gemessen. Und natürlich bedeutete diese Zunahme, wie zu allen Zeiten, dass es auf der Erde wärmer wurde. Weil das Klimasystem mit einer gewissen Trägheit reagiert, würden die Temperaturen selbst dann noch weiter steigen, wenn wir jetzt, in diesem Moment, damit aufhören würden, Kohlendioxid und andere Treibhausgase zu emittieren.

Während die Atmosphäre ihre Zusammensetzung also nicht zuletzt der Aktivität von Lebewesen verdankt, determiniert sie umgekehrt über das Klimasystem und die damit verbundene Verteilung von Feuchtigkeit, wo Organismen leben können. Jedes Lebewesen richtet sich in diesem klimabedingten Kontinuum ein, wie es seinen Fähigkeiten entspricht. Da das Klima keine Konstante, sondern natürlichen Schwankungen unterworfen ist, hat die Evolution dafür gesorgt, dass Tier- und Pflanzenarten diese Schwankungen in einem gewissen und für die jeweilige Art typischen Ausmaß tolerieren können. Die Climate Change Biology untersucht, wie Lebewesen und Lebensgemeinschaften reagieren, wenn diese Toleranzgrenzen überschritten werden und das Klima sich wandelt, in der Gegenwart, in der Vergangenheit und in der Zukunft. Beginnen wir mit Ersterer.

Wanderer

Wie verhalten wir uns, wenn es uns irgendwo nicht gefällt oder wenn wir uns unwohl fühlen, aus welchen Gründen auch immer? Wird es in der Sonne zu warm, begeben wir uns in den Schatten; langweilen wir uns an einem Ort zu Tode, suchen wir woanders Zerstreuung; finden wir in der ersten Stadt keine Arbeit, ziehen wir in eine zweite um. Kurz: Die naheliegendste Reaktion auf sich verschlechternde Lebensumstände ist es, andernorts nach besseren zu suchen – ein Prinzip, dem alle Lebewesen folgen, ja folgen müssen. Tiere benutzen dazu, wenn vorhanden, ihre Bewegungsorgane: Einzeller peitschen sich mit Geißeln oder Flimmerhärchen durchs Wasser, größere Tiere besitzen Beine, Flügel, Kriechsohlen oder Flossen, um sich fortzubewegen. Korallen, Seepocken und andere Tiere, die fest mit dem Untergrund verwachsen sind, schicken ihre Jugendstadien auf die Reise. Sie können sich frei im Wasser bewegen oder werden passiv als Plankton über weite Distanzen verdriftet.

Ich weiß, das klingt banal. Es kann aber nicht schaden, sich in unserem Zusammenhang vor Augen zu führen, wie wichtig die Fähigkeit zur aktiven Bewegung ist. Sie ist eines der elementaren Merkmale des Lebens. Wie Fortpflanzung und Stoffwechsel. Was lebt, bewegt sich (oder besitzt zumindest bewegliche Teile). Warum? Klar, Lebewesen müssen sich auf Nahrungs- oder Partnersuche begeben, vor Rivalen und Fressfeinden fliehen oder sich nach der Sonne ausrichten. Natürlich ist ein Gepard nicht ein so schneller Läufer geworden, um vor einer möglichen Dürre davonzulaufen. Er hat seine überragenden läuferischen Qualitäten erworben, um auch sehr schnelle Beutetiere jagen zu können und sich als Raubtier in Konkurrenz mit anderen Raubtieren in der Savanne zu behaupten.

Doch es geht hier nicht um solche speziellen Fähigkeiten, sondern um Grundsätzliches. Sogar Pflanzen und Pilze, die sich wie sesshafte Tiere nicht von der Stelle bewegen können, produzieren Samen, Früchte oder Sporen, die ihre feste Bindung an einen Standort aufheben und mithilfe von Wind, Wasser oder Tieren große Entfernungen überwinden. Was ist so wichtig daran, dass offenbar keine Pflanze und kein Tier darauf verzichten kann? Es gibt nur wenige Ausnahmen, etwa Gewächse, die sich im Normalfall nur über Wurzelausläufer vermehren; auch sie können sich aber, wenn es sein muss, geschlechtlich fortpflanzen und Samen produzieren.

Der Grund kann nur darin bestehen, dass Lebewesen jederzeit in der Lage sein müssen, neue Lebensräume zu besiedeln, denn in der Natur bleiben die Verhältnisse auf mittlere und lange Sicht selten so, wie sie einmal waren. Seen und Teiche trocknen aus, Ufer und Küsten werden überschwemmt, Wälder und Savannen gehen in Flammen auf, Berghänge rutschen zu Tal, Feinde und Konkurrenten entwickeln Fähigkeiten, die die eigene Existenz bedrohen, Vulkanausbrüche und kosmische Katastrophen sorgen für großflächige, mitunter globale Verwüstungen. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Es gilt also auch, die guten Zeiten zu nutzen, um an möglichst vielen Orten gleichzeitig präsent zu sein, damit die Art im Katastrophenfall die Auslöschung einzelner Teilpopulationen überlebt. Oder rechtzeitig die Flucht zu ergreifen, um andernorts einen Neustart zu versuchen. Was lebt, bewegt sich – und besitzt deshalb die Fähigkeit, sich Orte und Umstände zu suchen, die bessere Lebensbedingungen bieten. Der sprichwörtliche Stein, den der stete Tropfen höhlt, besitzt diese Fähigkeit nicht. Und wird deshalb über kurz oder lang vergehen.

Kein Wunder, dass Lebewesen ein feines Sensorium entwickelt haben, um Veränderungen ihrer Umwelt zu erkennen. In einer kurzen Szene in Roland Emmerichs Klimakatastrophenthriller The Day After Tomorrow (2004) staunen die Filmhelden über riesige Schwärme großer und kleiner Vögel, die alle in der gleichen Richtung den New Yorker Central Park überfliegen. Im Film sagt keine der Personen etwas. Man sieht nur, wie sie staunen, und hört die Schreie der Vögel. Die Zuschauer aber, die mehr wissen als die Protagonisten, ahnen: Diese Vögel fliehen vor einem aus dem Norden herannahenden Schneesturmmonstrum, das die Stadt und alles, was in ihr lebt, zu schockfrosten droht. Bei Emmerich vollzieht sich eine Klimakatastrophe innerhalb von Tagen.

Glücklicherweise bleibt uns ein wenig mehr Zeit, und dass Vögel unterschiedlichster Art derart kollektiv die Flucht ergreifen würden, ist wohl auch zu bezweifeln. Doch einen wahren Kern enthält diese Szene schon.

Frühzeitig reagieren zu können, entscheidet über Leben und Tod, über die Fortexistenz einer Art oder ihr unwiderrufliches Aussterben. In erdgeschichtlichen Zeiträumen betrachtet ist der Wandel, also auch der Klimawandel, die Normalität, etwas, das jederzeit hereinbrechen kann, im Kleinen wie im Großen. Und jeder Wandel, jede Katastrophe bietet ja auch neue Chancen, die rasch genutzt werden müssen, bevor andere zur Stelle sind.

Soweit das in ihrer Macht steht, sind Lebewesen also vorbereitet. Sie sitzen gewissermaßen auf gepackten Koffern, sind immer auf dem Sprung. Was sie aus eigener Kraft tun können, um sich den Veränderungen anzupassen, das werden sie tun. (Ob es reichen wird, um zu überleben, ist eine andere Frage.) Überall dort, wo Umweltbedingungen sich über einen längeren Zeitraum ändern, sollte das deshalb zu einer auffälligen Dynamik führen, die über das normale Maß hinausgeht. Und natürlich gilt auch das Umgekehrte: Wenn aufmerksame Beobachter Migrationsbewegungen und Verschiebungen der Verbreitungsgrenzen in ungewöhnlichem Ausmaß registrieren, können sie daraus Rückschlüsse auf gravierende Veränderungen in den ursprünglichen Lebensräumen ziehen.

Genau diese Situation erleben wir gegenwärtig. Die Tatsache, dass die Verbreitungsareale von Pflanzen- und Tierarten weltweit in Bewegung geraten sind, ist neben den Messdaten der Meteorologen der überzeugendste Beweis dafür, dass die Erde einen globalen Klimawandel erlebt. Der Zusatz »global« ist dabei sehr wichtig, denn der Umstand, dass diese Vorgänge überall in der Welt beobachtet werden, unterscheidet das, was wir gegenwärtig erleben, von nur lokal oder regional wirksamen Phänomenen wie der Kleinen Eiszeit, die sich erst im pazifischen Raum und von etwa 1400 bis 1800 n. Chr. vor allem in Europa bemerkbar machte und dort für eisige Winter und verregnete Sommer sorgte.2

Nicht selten werden Forscherinnen und Forscher, die draußen im Freiland ihrer Arbeit nachgehen, überrascht, weil sie Tieren begegnen, mit denen sie nicht gerechnet haben. Glücklicherweise sind diese Begegnungen nicht immer so gefährlich wie auf Cooper Island, einer Insel vor der Nordküste Alaskas, wo mehr als zwei Dutzend hungrige Eisbären, die früher nur vereinzelt in der Ferne zu sehen gewesen waren, vier Nächte lang die Zelte eines Wissenschaftlercamps belagerten, weil das Eis ringsum geschmolzen war. Heute kann man sich auf der Insel nur noch mit einem geladenen Gewehr bewegen.3

Robert Curry, ein Biologe von der Villanova University in Pennsylvania, untersuchte zwei amerikanische Meisenarten, eine südliche und eine nördliche, deren Verbreitungsgebiete in einem mehrere Kilometer breiten Streifen quer durch die Vereinigten Staaten überlappen. Ihn interessierte, warum und mit welchen Konsequenzen die beiden Arten dort hybridisieren. Zu diesem Zweck hatte er 1998 Untersuchungsareale ausgewählt, von denen einige in der Überlappungszone, andere in den von nur einer der beiden Arten bewohnten Gebieten lagen. Alles ging seinen Gang, bis den Forschern fünf Jahre später plötzlich im Norden der Gesang einer Meise entgegenschallte, die eindeutig aus dem Süden stammte. Hatte sich das Tier verirrt?

Die nördliche Verbreitungsgrenze der südlichen Carolina-Meise wird durch niedrige Wintertemperaturen gesetzt. Die kalte Jahreszeit war aber seit Jahren ungewöhnlich mild ausgefallen. Durch einen Vergleich mit historischen Daten ermittelten die Forscher, dass sich das Zentrum der Überlappungszone innerhalb eines Jahrzehnts um mehr als elf Kilometer nach Norden verschoben hatte.4

Currys Versuchsdesign war damit hinfällig. Um sicher in einem Gebiet mit reinen Beständen der nördlichen Art arbeiten zu können, mussten die Untersuchungsflächen um 24 Kilometer verlegt werden. Für die Forscher bedeutete das in erster Linie, dass sie mehr Zeit aufwenden mussten, denn ihre Fahrtzeiten verlängerten sich erheblich. Robert Curry rechnete aus, dass die Nordverschiebung der Hybridzone ihnen pro Jahr 160 Stunden an zusätzlicher Freilandarbeit aufhalste.5

Auch die Arbeit des britischen Ökologen Chris Thomas von der University of York ist durch den Klimawandel komplexer geworden – und teurer. Thomas forscht über den Komma-Dickkopffalter (Hesperia comma), ein 1982, als sein Forschungsprojekt begann, recht wählerischer Schmetterling, der in Großbritannien nur an wärmebegünstigten Südhängen zu finden war. Das änderte sich Ende der 1990er-Jahre, als der stattliche Falter plötzlich an West- und Osthängen auftauchte, wo es schattiger ist und die Vegetation üppiger. Mittlerweile fühlt er sich sogar an einigen Nordhängen wohl, und Thomas braucht statt einem nun zwölf Mitarbeiter, um das ganze Gebiet zu überwachen, Leute, die natürlich bezahlt werden müssen. Ein Kollege hilft ihm, die Temperaturverteilung in seinem Untersuchungsgebiet zu modellieren. »Der eigentliche Wert solcher Untersuchungen besteht darin, sie immer weiterlaufen zu lassen, um diese langfristigen Veränderungen zu verstehen«, sagt Thomas. Also macht er weiter – solange ihm niemand den Geldhahn zudreht.6

Natürlich spielen sich ähnliche Phänomene auch unter ›normalen‹, nur mäßig schwankenden klimatischen Bedingungen ab. Wärmere Jahre erlauben kälteempfindlichen Arten ein Vordringen nach Norden, kalte Jahre führen zum Rückzug, sodass das ganze Verbreitungsgebiet, könnte man es über Jahre und Jahrzehnte im Zeitraffer betrachten, pulsieren würde, ohne seinen geografischen Schwerpunkt zu verlagern. Weisen die Veränderungen aber über längere Zeit einen eindeutigen Trend auf, dann können die Grenzen sich verschieben.

Doch obwohl die Temperatur zweifellos großen Einfluss auf Tier- und Pflanzenarten hat, ist sie nicht der einzige Faktor, der über ihre Verteilung entscheidet. Die Feuchtigkeit spielt eine Rolle. Konkurrenten, Parasiten, Fressfeinde und das Fehlen wichtiger Nahrungspflanzen könnten eine weitere Ausbreitung erschweren und vieles andere mehr.

Es ist das Kernproblem der Climate Change Biology: Sie untersucht den Einfluss eines hochkomplexen Geschehens, des Klimas, auf hochkomplexe Tier- und Pflanzengemeinschaften. Und die sind natürlich einer Vielzahl von Einflussfaktoren ausgesetzt. Die Frage, die die Forscher beantworten wollen und die von der Öffentlichkeit mit zunehmender Dringlichkeit gestellt wird, lautet aber: Wie groß ist der Anteil des Klimawandels an einem konkreten Ereignis, an einer konkreten Entwicklung?

Für einige extreme Wetterkapriolen konnte diese Frage schon beantwortet werden. Die Attributionswissenschaft, die Wetterereignisse dem Klimawandel ›zuzuordnen‹ versucht, hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht und in einigen Fällen, etwa bei Hitzewellen wie jüngst in Sibirien, bereits wenige Tage nach dem Ereignis Resultate geliefert. Meist – aber durchaus nicht immer – kam heraus, dass der Klimawandel die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses deutlich erhöht hat. Eine der wichtigsten Vertreterinnen dieser jungen Wissenschaft ist die an der Universität Oxford arbeitende Klimatologin Friederike Otto, eine geborene Kielerin.

Man braucht für diese Analysen allerdings große meteorologische Datensätze, Aufzeichnungen, die für die betroffenen Gebiete Jahrzehnte zurückreichen. In der Biologie ist so etwas selten. »In der natürlichen Welt ist die Zuordnung kein leichtes Unterfangen«, schreibt Camille Parmesan, eine der führenden Forscherinnen auf dem Gebiet der Climate Change Biology. »Der Übergang von der Korrelation hin zur kausalen Begründung ist besonders schwer zu erreichen.«7

Um die Aussagekraft ihrer Ergebnisse zu erhöhen, wird auf möglichst vielen Ebenen nach Belegen gesucht. Das reicht von paläontologischen Befunden über Laborstudien bis hin zu direkten Beobachtungen. Je mehr Indizien auf diese Weise zusammenkommen, desto sicherer können die Forscher sein, dass ihre Interpretation zutrifft. Hundertprozentige Beweise sind in der Biologie ohnehin eher selten.

Was Forscher über den Zusammenhang von steigenden Temperaturen und Verbreitungsmustern in Erfahrung gebracht haben, kommt einem Beweis schon nahe. Denn im Wesentlichen kennen die beobachteten Veränderungen nur zwei Richtungen: polwärts und bergauf – und folgen damit den in gleicher Richtung verschobenen Isothermen. Dies war zum Beispiel der Fall bei 275 von fast 330 untersuchten Tierarten in Großbritannien: So unterschiedliche Wesen wie Säugetiere, Vögel, Schmetterlinge, Fische, Tausendfüßer, Spinnen und Libellen haben ihre Verbreitungsgebiete dort im Verlauf von wenigen Jahrzehnten um bis zu 60 Kilometer nach Norden verschoben, mit einer Geschwindigkeit von 14 bis etwa 25 Kilometer pro Dekade. Das sind beträchtliche Verschiebungen innerhalb nur weniger Generationen.8 Vergleicht man verschiedene geografische Regionen, sind die beobachteten Veränderungen umso ausgeprägter, je stärker die Temperaturen in den ursprünglichen Verbreitungsgebieten gestiegen sind.9

In bergigem Gelände kommen viele dieser Arten nun auch in größerer Höhe vor, allerdings ist Großbritannien kein Gebirgsland. In der Schweiz sind die Temperaturen seit 1959 in Berg und Tal um 0,35 Grad gestiegen, fast doppelt so stark wie im Durchschnitt der nördlichen Hemisphäre.10 Und auch hier bewegen sich Pflanzen, Vögel und Schmetterlinge die Berghänge hinauf. Untersuchungen in Chile und in tropischen Lebensräumen wie Hongkong und Borneo zeigen das gleiche Phänomen.11

Mittlerweile existieren mehrere umfangreiche Studien, in die Hunderte von Einzeluntersuchungen eingeflossen sind.12 Sie belegen, dass sich diese Wanderungsbewegungen auf der ganzen Welt abspielen. Von einigen Tausend Arten, für die über viele Jahre Daten vorliegen, hat sich etwa die Hälfte während der vergangenen Jahrzehnte polwärts und/​oder bergauf bewegt, darunter wiederum die unterschiedlichsten Lebewesen von der Bergblume bis zum Seeigel. Diese Gleichförmigkeit der Reaktionen, ob in Großbritannien, im tropischen Nebelwald oder im offenen Ozean, überraschte selbst die Fachleute. Der Einfluss des Klimawandels sei so stark, stellt Camille Parmesan fest, dass »ihn die sichtbareren Aspekte des menschlichen Einflusses auf die Artenverteilung, wie der Verlust von Lebensräumen, nicht überlagern«.13 In einem Interview mit dem britischen Guardian zeigte sie sich schockiert über »die Allgegenwärtigkeit des Klimawandels. Wir sehen überall Veränderungen, in jedem Land und in jedem Ozean. Wir hätten erwartet, dass wir einige Regionen oder Organismengruppen finden würden, die stabil sind, aber wir finden keine. Wir sehen Veränderungen, die viel schneller vonstattengehen, als ich es noch vor zehn Jahren vermutet habe.«14

Allerdings scheinen sich viele Organismen nicht so weit zu bewegen, wie sie es müssten, um weiterhin in ihrem gewohnten Temperaturbereich leben zu können.15 Haben sie zu spät reagiert und hinken den Veränderungen nun hinterher? Vielleicht bestand für manche Arten keine Notwendigkeit, ihr Siedlungsgebiet zu verschieben, etwa weil sie die Veränderungen tolerierten.

Oder weil sie etwas daran hinderte. Im Gebirge können Tier- und Pflanzenarten nicht beliebig weit in die Höhe ausweichen, da sie irgendwann auf nackten Fels oder den Gipfel stoßen. Sie befinden sich in einer Sackgasse. Und der Weg zum nächsten Berg ist weit und für Bergbewohner nicht selten unüberbrückbar.

Nahe der Baumgrenze haben Schweizer Forscher auch den gegenteiligen Effekt beobachtet.16 Statt weiter bergauf zu wandern, haben einige Pflanzenarten die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Für sie ist das Mikroklima an ihrem Wuchsort entscheidend, und das kann erheblich von der Lufttemperatur abweichen. Aufgrund der abwechslungsreichen Topografie im Hochgebirge findet sich für die kleinen hochalpinen Gewächse meist schon in wenigen Metern Entfernung ein neues geeignetes Habitat: im Schatten eines Felsens, in Spalten und Rissen. Deshalb müssen sie keine großen Entfernungen überbrücken. Ob das bei weiter steigenden Temperaturen auch in Zukunft so sein wird, bleibt allerdings abzuwarten. Vielleicht sind sie in größerer Höhe auch auf starke Konkurrenz durch andere Pflanzen gestoßen. Die Wanderer dringen ja nicht in leere Räume vor. In der Regel sind viele der Standorte, die für sie geeignet wären, schon besetzt.

Auch im Flachland können Tiere und Pflanzen, die den steigenden Temperaturen polwärts ausweichen, auf Grenzen und Barrieren stoßen, die für sie unüberwindlich sind. Die Erde des 20. und 21. Jahrhunderts hat ein vollkommen anderes Aussehen als zu Zeiten früherer Klimaveränderungen. 50 bis 70 Prozent des Festlands sind durch menschliche Aktivitäten mehr oder weniger stark verändert worden, ein Großteil davon trägt keine natürliche Vegetation mehr.17 Die Möglichkeit, sich ungehindert in jede Richtung zu bewegen, ist deshalb für viele Lebewesen nicht mehr gegeben. Natürlich stellten Gebirgszüge schon immer ein massives Ausbreitungshindernis dar, etwa die Alpen, die Tieren und Pflanzen im Wege waren, die während der Eiszeiten vor den anrückenden Gletschern aus Mitteleuropa nach Süden strebten. Nach dem Abtauen der Eismassen behinderten sie auch deren Vorstoß Richtung Norden. Gebirge, Wüsten, Ströme, Seen, dichte Wälder und Moore – für so manche Art, die sich nicht in die Luft erheben konnte, um Hindernisse und für sie unwirtliche Lebensräume zu überfliegen, gab es auch in Zeiten ohne menschlichen Fußabdruck mitunter kein Weiterkommen.

Doch heute stoßen Lebewesen auf ihrer Suche nach neuen Lebensräumen zusätzlich auf riesige mit Bioziden behandelte Ackerflächen oder Plantagen, wo, so weit man blicken kann, nur eine einzige Pflanzenart gedeiht. Sie treffen auf versiegelte, von rasend schnellen Maschinen befahrene Straßen, die die Landschaft durchschneiden, und auf urbane Ballungszentren, die immer gewaltigere Ausmaße annehmen. Eine Metropole wie Moskau ist größer als der Harz, auch das viel kleinere Berlin hat in Ost-West-Richtung eine Ausdehnung von 45 Kilometern. Naturnahe Gebiete sind heute in großen Teilen der Welt nur noch Inseln in einer vom Menschen überprägten Landschaft.

Wie diese Fragmentierung sich auf das Migrationsverhalten von Wildtieren auswirkt, kann man für die meisten Arten nur erahnen. Dass eine so beschaffene Welt dem Bewegungsdrang engere Grenzen setzt, scheint offenkundig; es gab jedoch kaum Untersuchungen, die diese Vermutung mit harten Fakten stützen. Fast 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt haben kürzlich versucht, diese in Zeiten des Klimawandels sehr unbefriedigende Situation zu beenden.18 Mithilfe des Global Positioning System (GPS) wurden in bestimmten Zeitintervallen die Aufenthaltsorte markierter Säugetiere bestimmt und daraus die Distanzen ermittelt, die diese Tiere zurückgelegt hatten; dies wiederum wurde in Beziehung zum Grad der menschlichen Beeinflussung des jeweiligen Lebensraumes gesetzt. Das Spektrum der ›ausspionierten‹ 57 Tierarten war enorm, es reichte von afrikanischen Zebras und Giraffen über amerikanische Schakale und Grizzlybären bis hin zu asiatischen Taiga-Antilopen und europäischen Feldhasen, von Riesen wie den Afrikanischen Elefanten bis zu Zwergen wie den Kleinwühlmäusen, von Löwen bis zu Wildkatzen.

Betrachteten die Forscher längere Zeitintervalle, in denen die Tiere entsprechend größere Entfernungen überbrückt haben, waren die Ergebnisse eindeutig: Je massiver der menschliche Einfluss, desto kleiner der Aktionsradius. In ungestörten Lebensräumen legten die Tiere das Zwei- bis Dreifache an Strecke zurück. Innerhalb kürzerer Zeitintervalle ergab sich kein signifikanter Unterschied. Offenbar stört der die Landschaft prägende Einfluss des Menschen vor allem die Wanderungsbewegungen über größere Distanzen, also genau das Verhalten, das als Reaktion auf klimatische Veränderungen erforderlich wäre.

Natürlich kann es viele Gründe geben, warum ein Tier sich weniger oder mehr bewegt. Die Fragmentierung und Veränderung der Landschaft wirkt sich in erster Linie als Hindernis aus, aber es gibt auch den gegenteiligen Effekt: Manche Tiere laufen keine weiten Wege, weil Nahrung im Überfluss existiert und sie nicht lange danach suchen müssen. Paradoxerweise gilt das auch und gerade für einige, die in besonders stark gestörten Gebieten leben, den Städten. Man denke nur an Füchse und Amseln, die in urbaner Umgebung viel kleinere Reviere beanspruchen als ihre Verwandten auf dem Land und trotzdem mehr Nachkommen erzeugen. Sie leben in einem menschengemachten Schlaraffenland.19

Für die meisten Wildtierarten gilt das jedoch nicht. Ihr Lebensraum verwandelt sich mehr und mehr in eine Art Freilandgefängnis, das von für sie lebensfeindlichen und unpassierbaren Gebieten umgeben ist und dessen Fläche immer weiter zusammenschrumpft. Dabei geht es nicht nur um das Überleben der Individuen oder einzelner Arten. »Tierbewegungen sind essenziell für das Funktionieren von Ökosystemen, denn sie fungieren als mobile Verbindungsglieder«, resümieren die Forscher. Sie sorgen für den Austausch von Genen zwischen Teilpopulationen und »sind entscheidend für Schlüsselprozesse wie die Verbreitung von Pflanzensamen und die Dynamik von Nahrungsnetzen«. Ziel müsse es daher sein, durch Grünkorridore und die Vernetzung von Schutzgebieten »die Durchlässigkeit der Landschaft zu erhalten«.20

In Meeren und Ozeanen

Unter Wasser gibt es derartige Hindernisse nicht. Da die Küstengewässer heute sauberer sind als noch vor 20 oder 30 Jahren, hat sich die Situation sogar verbessert. Fische und andere Meerestiere können mehr oder weniger schwimmen, wohin sie wollen oder wohin die Strömung sie treibt.

Für Fische, die am Meeresboden leben, gilt das allerdings nur bedingt. Während bergbewohnende Lebewesen auf der Suche nach kühleren Temperaturen in die Höhe streben, zieht es bodenlebende Fische in die Tiefe. Britische, kanadische und norwegische Wissenschaftler ermittelten 2008, dass die Bodentemperaturen in der winterlichen Nordsee seit 1980 um 1,6  21