Für unsere Töchter Claire und Camille, die uns zum Schreiben dieses Buches angeregt haben,
und
für unsere Billionen von mikrobakteriellen Mitbewohnern – auf dass eure Geheimnisse uns auch in Zukunft viele neue Erkenntnisse bescheren mögen.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
The Good Gut bei Penguin Press.
Original Copyright:
Gut Reactions by Justin and Erica Sonnenburg © 2013
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1. Auflage 2016
© 2016 by Südwest Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81637 München.
Projektleitung:
Sarah Gast
Korrektorat:
Susanne Schneider, München
Satz:
LAYER-CAKE, Jürgen Kiermeier, München
Umschlaggestaltung:
*zeichenpool, München, unter Verwendung
einer Abbildung von © shutterstock/Magnia
ISBN: 978-3-641-18188-8
V002
INHALT
VORWORT VON DR. ANDREW WEIL
EINFÜHRUNG
KAPITEL 1
WAS IST DIE MIKROBIOTA UND WARUM IST SIE WICHTIG FÜR MICH?
KAPITEL 2
WIE SICH UNSERE LEBENSLANGEN MITBEWOHNER BEI UNS ANSIEDELN
KAPITEL 3
WIE DAS IMMUNSYSTEM REGULIERT WIRD
KAPITEL 4
BAKTERIEN AUF DER DURCHREISE
KAPITEL 5
BILLIONEN HUNGRIGER MÄULER
KAPITEL 6
EIN BAUCHGEFÜHL
KAPITEL 7
NEUER STUHL,
NEUES GLÜCK
KAPITEL 8
DIE ALTERNDE MIKROBIOTA
KAPITEL 9
DIE INNERE FERMENTIERUNG
KAPITEL 10
MENÜS UND REZEPTE
DANKE
ANHANG
ANMERKUNGEN
QUELLENANGABEN
SACHREGISTER
REZEPTREGISTER
VORWORT VON DR. ANDREW WEIL
Beim Medizinstudium Mitte der 1960er-Jahre lernte ich, dass sich im menschlichen Darm haufenweise Bakterien tummeln, die für die Aufnahme von Nährstoffen und generell für eine gesunde Verdauung sorgen. Die Einnahme von Antibiotika über einen längeren Zeitraum, so hieß es, könne aufgrund des vermehrten Wachstums von unerwünschten Organismen zu Magen-Darm-Störungen führen. In jener Zeit waren Leute, die durch Essen von Joghurt oder von Nahrungszusätzen mit Acidophilus-Bakterien ihrer Darmgesundheit etwas Gutes tun wollten, als Gesundheitsfanatiker verschrien und nur wenige medizinische Instanzen glaubten daran, dass die Darmflora auch außerhalb des Magen-Darm-Trakts Wirkungen entfaltet. Man wusste noch nichts von einem menschlichen Mikrobiom, das alle Mikroorganismen im und am Körper umfasst und das mehr DNA enthält als der gesamte Rest des menschlichen Körpers.
Heute ist die Forschung über das menschliche Mikrobiom ein brandaktuelles Gebiet der medizinischen Wissenschaft. Sie verspricht, unser Wissen über die menschliche Physiologie zu revolutionieren und neue Wege zur Gesundheitsoptimierung und zur Behandlung von Krankheiten zu finden. Die im Darm angesiedelten Bakterien- und Pilzarten wirken sich auf unsere Interaktionen mit der Umgebung aus und schützen uns vor der Entwicklung von Allergien und Autoimmunerkrankungen oder machen uns im Gegenteil anfällig dafür. Sie können Fettleibigkeit, Diabetes oder Entzündungen im Körper verursachen. Sie können bei manchen Menschen mit künstlichen Süßstoffen reagieren und Insulinresistenz und Gewichtszunahme auslösen. Und sie können sich sogar auf die geistige Leistungsfähigkeit und das seelische Wohlbefinden auswirken.
Auf die neue Betrachtungsweise des Mikrobioms hat mich zum ersten Mal einer der Autoren dieses Buchs, Justin Sonnenburg, aufmerksam gemacht. Er und seine Frau Erica sind profilierte Wissenschaftler in diesem Forschungsgebiet. Sie leiten ein eigenes Labor des Fachbereichs Mikrobiologie und Immunologie an der Stanford University School of Medicine. Ich hatte Justin im Jahr 2013 eingeladen, bei der 10. Annual Nutrition and Health Conference des University of Arizona Center for Integrative Medicine einen Plenarvortrag zu halten. An dieser Konferenz in Seattle nahmen Hunderte Ärzte, Ernährungswissenschaftler und andere Gesundheitsexperten teil. Justins Rede war für mich der Höhepunkt der Veranstaltung. Sie vermittelte seine Begeisterung für die neuen Entdeckungen über das menschliche Mikrobiom und gab mögliche Antworten auf verwirrende Fragen zu den bei uns sich immer weiter ausbreitenden Krankheitsbildern.
Asthma, Allergien und Autoimmunerkrankungen grassieren in Nordamerika und vielen anderen Ländern der entwickelten Welt. Warum leiden heute so viel mehr Menschen an einer Erdnussallergie als in meiner Jugend in den 1950er-Jahren? Und womit lässt sich die inzwischen massive Verbreitung von Zöliakie (Glutenunverträglichkeit) erklären? Vor allem die letzte Frage hat mich sehr beschäftigt. Auch wenn Glutenintoleranz eine sehr patientenspezifische Diagnose ist, für die objektive Tests fehlen, gibt es eindeutig immer mehr Menschen, deren Symptome verschwinden, wenn sie nur noch glutenfreie Nahrungsmittel verzehren, und erneut auftreten, sobald wieder Gluten auf dem Speisezettel steht. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass Getreide generell und Weizen im Besonderen „schlechte“ Nahrungsmittel sind, und das Argument, Weizen sei in den letzten Jahrzehnten genetisch so sehr verändert worden, dass er körperliche Beschwerden auslösen kann, überzeugt mich nicht. Glutenunverträglichkeit kommt anscheinend ganz besonders häufig in Nordamerika und anderen westlichen Ländern vor. In Japan ebenso wie in China, wo in den meisten Restaurants isoliertes Gluten auf den Tisch kommt, ist eine solche Unverträglichkeit weitgehend unbekannt. Was also ist in der westlichen Welt heute anders als früher und könnte das Auftreten von Zöliakie erklären?
Justin Sonnenburg hat mir erklärt, dass sehr wahrscheinlich Veränderungen im Mikrobiom des westlichen Menschen daran schuld sind. Vier Faktoren haben sich in den letzten Jahrzehnten generell auf den Zustand der Darmflora ausgewirkt: 1) der wachsende Verzehr von industriell produzierter Fertignahrung, 2) die weitverbreitete Einnahme von Antibiotika, 3) die alarmierende Zunahme von Kaiserschnitten (ein Drittel aller Entbindungen in Nordamerika erfolgt per Kaiserschnitt) und 4) die Tatsache, dass immer weniger Mütter ihre Babys stillen. In diesem Buch werden Sie erfahren, wie jeder dieser Faktoren zu drastischen Veränderungen im menschlichen Mikrobiom geführt hat und wie diese Veränderungen wiederum eine Zunahme chronischer Krankheiten, darunter Autismus, Depressionen und andere psychische/seelische Störungen, zur Folge haben.
Die Sonnenburgs machen aber auch Vorschläge zur Typisierung des Mikrobioms als neues Diagnoseverfahren, und sie untersuchen die wichtige Frage, ob (und wie) wir unser Mikrobiom modifizieren können, um Krankheitsrisiken zu minimieren und unsere Gesundheit aufrechtzuerhalten. Wie das erfolgen kann, ist individuell sehr verschieden und hängt unter anderem auch vom Lebensalter ab. Ist es sinnvoll, Nahrungsmittelzusätze einzunehmen? Welche sind am wirksamsten? Wie sieht es mit fermentierten Lebensmitteln aus, wie sie bei den Ostasiaten regelmäßig auf dem Speiseplan stehen? (Ich bin der Meinung, ja, wir müssen viel mehr davon essen). In diesem Buch finden Sie Antworten auf all diese Fragen.
Die Lektüre dieses Buchs empfehle ich allen Angehörigen der Gesundheitsberufe ebenso wie interessierten Laien, die sich eingehender mit Gesundheitsthemen beschäftigen. Ich bin mir sicher, dass die neuen Erkenntnisse über die lebenswichtigen Mikroorganismen in uns für Sie ebenso beeindruckend sein werden wie für die Autoren und für mich.
Tucson, Arizona, Oktober 2014
EINFÜHRUNG
Wir wissen alle, dass ein Großteil unserer Gesundheit von unseren Genen vorgegeben wird. Wir wissen aber ebenfalls, dass wir positiv auf unsere Gesundheit einwirken können, indem wir das Richtige essen, uns bewegen und richtig mit Stress umgehen. Wie genau ein solch „gesundes“ Leben aussehen soll, ist aber umstritten. Viele gut gemeinte Gesundheitsprogramme konzentrieren sich beispielsweise ausschließlich auf Gewichtsverlust oder Herzfitness. Wie wäre es aber, wenn es einen weiteren Schlüssel zu einer optimalen Gesundheit gäbe, ein zweites, formbares Erbgut, das sich auf Gewicht, Laune und langfristiges Wohlergehen auswirkt? Was, wenn wir dieses Erbgut durch unsere Lebensführung sehr spezifisch (und oft überraschend) beeinflussen könnten? Nun, dieses zweite Genom existiert tatsächlich. Es steht in Zusammenhang mit den im Darm angesiedelten Bakterien und ist auf mehrfache Weise für unser Wohlbefinden mitverantwortlich. Langsam wird immer klarer, welch großen Einfluss die Mikrobiota, die Gesamtheit der Mikroorganismen im Darm, auf Gesundheit und Krankheit hat. Dies verändert unser Verständnis, was es bedeutet, Mensch zu sein.
Während Wissenschaftler dabei sind, die Ursachen typischer westlicher Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Diabetes, Allergien, Asthma, Autismus und Darmerkrankungen zu enträtseln, stellt sich immer mehr heraus, dass die Mikrobiota (im allgemeinen Sprachgebrauch auch Darmflora genannt) eine wichtige Rolle bei der Ausbildung dieser Leiden ebenso wie für viele andere Aspekte unserer Gesundheit spielt. Unsere bakteriellen Mitbewohner beeinflussen auf die eine oder andere Art unsere gesamte Biologie, direkt oder indirekt.
Unsere Darmbewohner haben eine jahrtausendelange Evolution durchlaufen. Heute sind sie nun vor ganz neue Herausforderungen gestellt. In der modernen Welt essen wir anders als früher (hochverarbeitete, kalorienreiche, industriell gefertigte Lebensmittel) und leben auch sonst ganz anders (zum Beispiel nehmen wir Antibiotika – tendenziell zu viele – und benutzen antibakterielle Reinigungsmittel). Dieser Wandel stellt eine potenzielle Bedrohung für die intestinale Mikrobiota dar.
Das Verdauungssystem ist viel mehr als eine Ansammlung von Zellen, die unsere zuletzt verzehrten Speisen verarbeiten. Es umfasst außerdem eine dicht gedrängte Ballung von Bakterien und anderen Mikroben. Mikroben tummeln sich ja auf und in sämtlichen Oberflächen, Öffnungen und Hohlräumen des menschlichen Körpers, aber in der großen Mehrheit sind sie im Dickdarm anzutreffen. Unter anderem spalten diese Bakterien unverdauliche Ballaststoffe aus Obst und Gemüse auf und wandeln sie in Stoffe um, die der Darm absorbieren kann und die teilweise lebensnotwendig sind. Dieser Prozess ist sozusagen die letzte Chance, Nährstoffe aus pflanzlichen Fasern herauszuziehen, die von den Verdauungsenzymen des Menschen nicht abgebaut werden können. Unsere guten Darmbakterien zu nähren, damit sie die Stoffe produzieren, die der Körper benötigt, gehört zu den wichtigsten Dingen, die wir für unsere Gesundheit tun können.
Die Bedeutung der Mikrobiota für unser Immunsystem kann gar nicht überschätzt werden. Das Immunsystem ist zentral für alle Aspekte der Gesundheit. Wenn es gut funktioniert, wehrt es wirksam Infektionen ab und bekämpft bösartige Krankheiten bereits in deren Anfangsstadium. Ein nicht optimales Immunsystem kann allerlei Leiden und Beschwerden nach sich ziehen. Gesunde Darmbakterien stärken das Immunsystem. Sind die Darmbakterien dagegen angeschlagen, besteht die Gefahr, dass sich Autoimmunerkrankungen und Krebs entwickeln. Von der Mikrobiota produzierte chemische Stoffe können auch den Grad einer Entzündung – die Reaktion unseres Immunsystems auf Verletzungen oder wahrgenommene Bedrohungen, manifestiert in Form von Schwellungen, Rötungen und Reizungen – im Darm oder in anderen Bereichen des Körpers beeinflussen. Entzündungen führen manchmal zu einer Kettenreaktion mit allen möglichen gesundheitlichen Beschwerden.
Einige der von der Mikrobiota erzeugten Stoffe kommunizieren über die Darm-Hirn-Achse sogar direkt mit unserem zentralen Nervensystem. Wir lernen derzeit noch viel darüber, welche Effekte die Darmflora auf das menschliche Gehirn hat. Die Darm-Hirn-Achse wirkt sich stark auf unser Wohlergehen aus – und das beschränkt sich nicht nur darauf, uns wissen zu lassen, wann wir etwas essen sollten. Darmbakterien können Stimmungen und Verhaltensweisen und sogar das Fortschreiten einiger neurologischer Störungen beeinflussen.
Mikroben beginnen ihre Arbeit bei der Geburt eines Menschen. Im Mutterleib existieren wir ja noch in einer sterilen Umgebung, aber sobald wir das Licht der Welt erblicken, beginnt die bakterielle Besiedlung unseres Verdauungstraktes. Die Bakterien kommen von unseren Müttern, Verwandten und anderen Personen. Sie sind überall in unserer Umwelt. Der Biologe Stan Falkow drückte dies einmal so aus: „Die Welt ist mit Mist überzogen.“ Man könnte auch sagen: mit Bakterien. Und das ist überhaupt nichts Schlechtes. Wenn Sie das nächste Mal beobachten, dass ein Kleinkind etwas in den Mund nimmt, müssen Sie nicht sofort herbeieilen, um es dort wieder herauszuholen (es sei denn, es handelt sich um ein Kleinteil, bei dem Erstickungsgefahr besteht). Freuen Sie sich lieber darüber, wie der bakterielle Überzug mit wertvollen Mikroben zur Bildung einer neuen Mikrobiota beiträgt. Die Art und Zusammensetzung unserer Darmbewohner wird im Laufe der Zeit von vielen Faktoren beeinflusst, darunter, ob wir natürlich oder per Kaiserschnitt geboren wurden, ob wir gestillt wurden, wie oft wir Antibiotika einnehmen, ob wir einen Hund haben und wie wir uns ernähren.
Es gibt immer mehr Anhaltspunkte, dass diese Bakterien von größter Bedeutung für unsere Gesundheit und unser Wohlergehen sind. Dementsprechend sollten wir bei unseren Entscheidungen, welchen Lebensstil wir pflegen und welche Arznei- und Lebensmittel wir zu uns nehmen, immer berücksichtigen, was dies für die Kleinstlebewesen in unserem Darm bedeutet. Das im 21. Jahrhundert entwickelte Verfahren der DNA-Sequenzierung ermöglicht eine detaillierte Analyse der mehr als 2 Millionen mikrobiellen Gene unserer Mikrobiota (in der Gesamtheit Mikrobiom genannt). Zu den dadurch neu gewonnenen Erkenntnissen gehören: a) die Mikrobiota eines Menschen ist so einzigartig wie sein Fingerabdruck und beeinflusst seine Anfälligkeit für eine Reihe von Krankheiten; b) die Mikrobiota kann bei manchen Menschen nicht richtig funktionieren und dadurch die Entwicklung von Krankheiten und Beschwerden befördern, von denen bisher angenommen wurde, dass sie ausschließlich dem Lebensstil zuzuschreiben sind (zum Beispiel Fettleibigkeit); c) die Fähigkeit der Mikrobiota zur Veränderung ermöglicht es uns, selbst Einfluss auf unsere Gesundheit zu nehmen.
Die Pflege und gute Behandlung der Mikrobenflora im Darm ist eine wesentliche Voraussetzung für das Wohlbefinden eines Menschen. Ausgehend von dieser Prämisse lassen sich Antworten auf viele Fragen finden, wie zum Beispiel: Wie können wir die Mikrobenansammlungen bei der Geburt so steuern, dass die Babys die bestmögliche Chance haben, eine gesunde Darmflora zu entwickeln? Wie können wir die Mikrobiota im Erwachsenenalter optimieren, um unser Immunsystem zu stärken und das Risiko von Autoimmunerkrankungen und Allergien zu verringern? Wie können wir die Mikrobiota mithilfe unserer Ernährung stärken? Wenn wir um Antibiotika nicht herumkommen, wie bauen wir unsere Mikrobiota hinterher wieder auf? Wie können wir verhindern, dass die Mikrobiota beim Älterwerden schwächer wird? Wie finden wir die individuell richtige Kombination von Mikroorganismen für unseren Darm?
Die Mikrobiota ist immer noch nicht voll erforscht, aber im letzten Jahrzehnt gab es eine regelrechte Wissensexplosion über die winzigen Besiedler des menschlichen Darms und wie sie in Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit stehen. Vor zehn Jahren war es bereits evident, dass die Darmflora ein wichtiger, wenn auch damals noch wenig verstandener Bestandteil der menschlichen Biologie ist. Die große Zahl unbeantworteter Fragen bot künftigen Biomedizinern ein fruchtbares Feld für weitere Forschungen zu diesem für viele Aspekte der menschlichen Gesundheit zentralen Thema.
Im menschlichen Darm tummeln sich mehr als 100 Billionen Bakterien. Wenn Sie Ihre Bakterien aneinanderreihen würden, ergäbe sich eine Reihe bis zum Mond. Diese Bakterien sind im gesamten Verdauungssystem anzutreffen, je nach Bakterientyp im Magen (das sind allerdings wegen des stark säurehaltigen Magenmilieus relativ wenige), im Dünndarm und im Dickdarm. Der Dickdarm weist die meisten Bakterien auf: mehrere Billionen, Hunderte Arten, 500 Milliarden Zellen pro Teelöffel Darminhalt.
Offensichtlich herrscht also keine Knappheit an Darmbakterien, weshalb sich die Aussage, dass Darmbakterien zu den gefährdeten Arten gehören, zunächst vielleicht etwas merkwürdig anhört. Bei einem durchschnittlichen Amerikaner sind im Darm rund 1.200 verschiedene Bakterienarten angesiedelt. Man könnte meinen, das sei viel, aber diese Zahl relativiert sich schnell, wenn man weiß, dass ein Indianer im venezolanischen Amazonasgebiet mit etwa 1.600 Arten, also einem Drittel mehr, aufwarten kann. Auch andere Gruppen von Menschen, deren Lebensstil und Ernährungsweise noch dem unserer frühen Vorfahren ähnelt, haben eine größere Bakterienbandreite im Darm als die Amerikaner. Warum ist das so?
Würden Ihre Darmbakterien durch einen normalen Supermarkt spazieren und etwas Anständiges zu essen suchen, wäre das ähnlich schwierig, wie wenn Sie versuchen würden, in einem Baumarkt Lebensmittel zu finden (die Süßwarenregale an der Kasse zählen hierbei nicht, denn wie es Michael Pollan so perfekt ausdrückte, sind diese nicht mit Nahrung, sondern mit „nahrungsähnlichen Substanzen“ gefüllt). Aufgrund unserer typisch amerikanischen Ernährungsweise leiden die Darmbakterien Hunger. Verschlimmert wird das Ganze noch dadurch, dass wir mehrmals pro Jahr Darmbakteriengift verschrieben bekommen, üblicherweise Antibiotika genannt. Und schließlich geben wir Unmengen von Geld für Haushaltsreiniger aus, sodass unsere Häuser fast so steril wie Operationssäle sind. Nicht zu vergessen die Handdesinfektionsmittel, wie sie am Eingang von Lebensmittelgeschäften, an Bibliothekstheken und sogar an Schulranzen hängend allgegenwärtig sind.
Wir wissen noch nicht, wohin uns dieser Weg führen wird. Haben wir in der Zukunft vielleicht nur noch halb so viele Darmbakterien wie unsere Vorfahren oder sogar weniger? Und wenn ja, was bedeutet das für uns? Wir merken bereits jetzt die Auswirkungen des westlichen Lebensstils auf unsere Gesundheit, indem Fettleibigkeit, Diabetes und Autoimmun- erkrankungen immer mehr ansteigen. In Gesellschaften, in denen die Menschen noch eine vielfältigere Mikrobiota aufweisen, sind solche Krankheiten viel weniger verbreitet. Werden sie in Zukunft noch mehr um sich greifen, noch früher im Leben der Menschen auftreten und mit der Ausbreitung des darmflorafeindlichen Lebensstils auf der ganzen Welt grassieren? Könnte es möglich sein, dass Darmbakterienspezies, die wichtige Beiträge zu unserer Gesundheit leisten, aussterben oder mindestens so selten werden, dass die menschliche Mikrobiota mit der der Frühmenschen kaum noch etwas gemeinsam hat? Bis zu einem gewissen Grad ist das bereits jetzt der Fall.
Wir sind zu einer Nation von Junkfood-Süchtigen geworden und unseren Kindern diesbezüglich ein schlechtes Vorbild. Sie sind die ahnungslosen Opfer unseres die Darmmikrobiota schädigenden Lebensstils, der sie langfristig krank macht und ihre Lebenserwartung verkürzt.
Viele Wissenschaftler schreiben Forschungsarbeiten über die Mikrobiota, aber diese Informationen gelangen selten an eine breitere Öffentlichkeit, sondern werden meistens nur von Fachleuten wahrgenommen. Wissenschaftler sind geschult darin, skeptisch zu sein, und deshalb geben sie Empfehlungen nur dann ab, wenn diese zuvor von einer placebokontrollierten Doppelblindstudie erhärtet worden sind. Wir selbst haben in unserer Familie die in unserem Labor und den Laboren anderer Forscher gewonnenen Erkenntnisse über die Mikrobiota schon sehr früh in die Praxis umgesetzt und unseren Lebensstil und unsere Ernährungsweise entsprechend angepasst. Wenn wir ab und zu mit den Eltern der Freunde unserer kleinen Töchter ins Gespräch kamen, stellten wir fest, dass diese sich wirklich darum bemühten, beim Thema Essen informierte Entscheidungen zu treffen. Einen zentralen Gesundheitsaspekt, nämlich den Aufbau der Darmflora bei ihren Kindern, berücksichtigten sie dabei jedoch nicht. Wie auch, wo sie doch kaum etwas darüber wussten. Es wurde uns klar, dass wir über Wissen über den Verdauungstrakt und die darin lebenden Mikroorganismen verfügten, das wir bis dahin nur uns selbst zunutze gemacht hatten.
Deshalb entschlossen wir uns, ein Buch zu schreiben und darin möglichst viele Informationen zu vereinen, die Laien benötigen, um aus den neuesten Forschungsergebnissen zum Thema Mikrobiota konkret umsetzbare Folgerungen ziehen zu können. Auf der Basis der derzeit verfügbaren Daten geben wir in unserem Buch praktische Hinweise und Ratschläge zu Lebensstil und Ernährungsweise. Im Zentrum steht dabei ein Gebilde, das für unseren Organismus von entscheidender Bedeutung ist – die Mikrobiota des Darms.
Das Buch bringt Ihnen die interessantesten und wichtigsten Erkenntnisse aus unserem Forschungsgebiet nahe und zeigt Ihnen, wie diese sich auf das Leben jedes Einzelnen auswirken. Sie werden erfahren, welche Mikrobenarten unseren Darm bevölkern, wie wir sie nähren können und über welche großartigen Eigenschaften sie verfügen. Sie lernen, wie die Mikrobiota altert und wie wir sorgsam mit ihr umgehen können, um den Alterungsprozess zu verlangsamen.
Nach einer kurzen Einführung in das Thema Mikrobiota erklären wir, wie sich die Darmflora eines Menschen entwickelt – ausgehend vom sterilen Verdauungstrakt kurz vor der Geburt bis zur Kleinkind- und dann Kinderzeit. Sie erhalten Vorschläge für den Übergang zu mikrobiotafreundlicher fester Nahrung nach der Entwöhnung von der Muttermilch. Als frischgebackene Eltern oder Eltern, die das Kind noch erwarten, sollten Sie sich diese Vorschläge unbedingt zu eigen machen, wenn Sie Ihrem Kind eine gute Gesundheit mitgeben wollen. Die darauf folgenden Kapitel befassen sich eingehend mit den Verbindungen zwischen Mikrobiota, Immunsystem und Stoffwechsel. Wir beschäftigen uns damit, dass in den modernen Gesellschaften kaum auf eine gesunde Darmflora geachtet wird, und machen Vorschläge für Änderungen in Lebensstil und Ernährungsweise, die dazu beitragen können, dass die Menschen gesünder werden und weniger an chronischen Krankheiten leiden. Dabei gehen wir auch auf die neuesten Erkenntnisse zu den Verbindungen zwischen Mikrobiota und Gehirn und auf die Tatsache ein, dass Darmbakterien sogar Einfluss auf unsere Stimmung und unsere Persönlichkeit nehmen. In Kapitel 7 erfahren Sie das Neueste zur Behandlung problematischer Mikrobiota bei kranken Menschen (einschließlich der Neuprogrammierung abgestorbener Mikrobiota mittels Stuhltransplantation). Wir geben Ihnen außerdem einen Ausblick auf die vielversprechende Zukunft dieser neuen Ära der therapeutischen Entdeckungen. Kapitel 8 konzentriert sich auf die vor noch nicht allzu langer Zeit dokumentierte Abnahme der Mikrobiota bei älter werdenden Menschen und auf Möglichkeiten, diesen Prozess zu minimieren, um auch bei Senioren eine gesunde Verdauung und allgemeines Wohlbefinden zu fördern. Schließlich fügen wir dann alle praktischen Ratschläge in diesem Buch zu einem Plan zusammen, mit dem Sie Ihre Mikrobiota zurück auf den richtigen Weg bringen und in einem Zustand halten, der Ihnen langfristig zu einer optimalen Gesundheit verhilft. Das letzte Kapitel enthält Rezepte und Speisepläne, mit deren Hilfe auch Menschen, die wenig Zeit zum Kochen haben, wirksam etwas für ihre Gesundheit tun können.
Das Gebiet der Mikrobiotaforschung steckt noch in den Kinderschuhen, das müssen wir betonen, aber wir selbst können auf der Grundlage des Wissens über die Mikrobiota, das wir bereits heute haben, Entscheidungen für unser eigenes Leben treffen und guten Gewissens auch anderen Menschen allgemeine Empfehlungen geben. Beraten Sie sich aber auf jeden Fall mit Ihrem Arzt, bevor Sie diesen Empfehlungen folgen. Dies gilt ganz besonders, wenn Sie gesundheitliche Probleme haben.
Unser Ziel ist es, Sie über die wichtige Rolle der Kleinstlebewesen in Ihrem Darm aufzuklären. Wir hoffen, dass dieses Buch seinen Lesern und Leserinnen eine Plattform zur Deutung und zum Verständnis neuer Erkenntnisse geben kann und es ihnen ermöglicht, dieses Wissen in die Praxis umzusetzen und Lebensstil und Ernährungsweise entsprechend anzupassen. Anders als das menschliche Genom, das im Großen und Ganzen bereits vor der Geburt festgelegt ist, kann das Mikrobiom eines Menschen durch dessen eigene Entscheidungen verändert werden. Diese Flexibilität des Mikrobioms befähigt uns, etwas zu unternehmen, um unsere Gesundheit zu optimieren.
Als gemischte Organismen, die menschliche und mikrobielle Bestandteile aufweisen, müssen wir akzeptieren, dass die Biologie beider Teile eng verknüpft ist. Die Mikroben werden uns das ganze Leben über begleiten und wenn wir sie richtig nähren und pflegen, werden sie uns beschützen – die menschlichen Körper, die ihr Zuhause sind.
KAPITEL 1
WAS IST DIE MIKROBIOTA UND WARUM IST SIE WICHTIG FÜR MICH?