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Das Buch

Kaiser Ashravan, Herrscher über ein fast die gesamte Welt umfassenden Reiches, liegt nach einem Mordanschlag im Wachkoma. Da mit dem Leben ihres Herrschers auch das Schicksal der mächtigen Ratsmitglieder in der Schwebe hängt, greifen sie zu einem verzweifelten Mittel: Sie beauftragen eine zum Tode verurteilte Betrügerin damit, die Seele des Königs zu fälschen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

Stephen Leeds bewohnt ein Haus zusammen mit mehreren anderen Menschen – von denen kein einziger real ist. Denn Steve, den sie » Mr. Legion « nennen, kann imaginäre Personen erschaffen, deren Kenntnisse und Fähigkeiten die seinen weit übersteigen. Doch als er gebeten wird, bei der Suche nach einem verschwundenen Forschungsobjekt mitzuhelfen, zögert er. Es handelt sich nämlich um eine Kamera, die angeblich Bilder aus der Vergangenheit machen kann. Können Steve und seine imaginären Helfer dieses Rätsel lösen?

Jedes Jahr wird der Gottkönig von einem auserwählten Sterblichen zum Duell herausgefordert, und jedes Jahr endet der Kampf mit dem Tod des Menschen. Nur nicht bei Siris. Ihm gelingt das scheinbar unmögliche: er tötet den unsterblichen Tyrannen. Siris ergreift das Schwert des Gottkönigs, die Klinge der Unendlichkeit, und macht sich auf, sein Volk zu befreien – nur um nach und nach festzustellen, dass alles, woran er geglaubt hat, auf einer Lüge beruhte. Einer Lüge, die mit seiner eigenen Identität verknüpft ist. Siris begibt sich auf den gefahrvollen Weg zu den Unsterblichen, um das Rätsel seiner Herkunft zu lösen und Freiheit zu erlangen.

Drei Novellen aus der Feder von Brandon Sanderson, dem größten Geschichtenerzähler der neuen Generation von Fantasy-Autoren.

Der Autor

Brandon Sanderson, 1975 in Nebraska geboren, schreibt seit seiner Schulzeit fantastische Geschichten. Er studierte Englische Literatur und unterrichtet Kreatives Schreiben. Sein Debütroman Elantris avancierte zum internationalen Bestseller, und Brandon Sanderson wurde dazu auserwählt, Robert Jordans großen Fantasy-Zyklus Das Rad der Zeit fortzuschreiben. Der Autor lebt mit seiner Familie in Provo, Utah.

Mehr über Autor und Werk unter: www.brandonsanderson.de

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Drei Novellen

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgaben:

THE EMPEROR ’S SOUL

LEGION

INFINITY BLADE : AWAKENING

Deutsche Übersetzung von Michael Siefener

Deutsche Erstausgabe 04/2014

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2011 Infinity Blade: Awakening by Chair Entertainment Group, LLC

Copyright © 2012 The Emperor’s Soul und Legion by Dragonsteel Entertainment, LLC

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration: Viktor Fetsch

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-11352-0

INHALT

DIE SEELE DES KÖNIGS

LEGION

INFINITY BLADE DIE KLINGE DER UNENDLICHKEIT

DIE SEELE DES KÖNIGS

Für Lucie Tan und Sherry Wang, die sehr inspirierend auf mich gewirkt haben.

PROLOG

Gaotona fuhr mit den Fingern über die dicke Leinwand und betrachtete das großartigste Kunstwerk, das er je gesehen hatte. Leider war es nichts als eine Lüge.

»Diese Frau stellt eine Gefahr dar.« Zischelnde Stimmen ertönten hinter ihm. »Was sie macht, ist uns ein Gräuel.«

Gaotona neigte die Leinwand gegen das orangefarbene und rötliche Licht des Kamins und blinzelte. Jetzt, im Alter, waren seine Augen nicht mehr so gut, wie sie einmal gewesen waren. Was für eine Präzision, dachte er, als er die Pinselstriche untersuchte und die verschiedenen Lagen dicker Ölfarbe ertastete. Es war genau wie das Original.

Ihm wären die Fehler niemals aufgefallen. Eine der Blüten war ein wenig verrutscht. Der Mond hing eine Winzigkeit zu tief am Himmel. Die Experten hatten viele Tage genauer Nachforschungen gebraucht, um diese Fehler zu entdecken.

»Sie ist eine der besten lebenden Fälscherinnen.« Die Stimmen gehörten zu Gaotonas Mitschlichtern – den wichtigsten Amtsträgern des Reiches. »Ihr Ruf ist so gewaltig wie das Reich selbst. Wir müssen an ihr ein Exempel statuieren.«

»Nein.« Frava, die Anführerin der Schlichter, hatte eine scharfe, nasale Stimme. »Sie ist ein wertvolles Werkzeug. Diese Frau kann uns retten. Wir müssen sie für unsere Zwecke benutzen.«

Warum?, dachte Gaotona noch einmal. Warum wendet sich jemand, der ein solches Kunstwerk, eine solche Exzellenz schaffen kann, dem Handwerk des Fälschens zu? Warum schafft er keine eigenen, originalen Gemälde? Warum ist er kein wahrer Künstler?

Das würde ich gern verstehen.

»Ja«, fuhr Frava fort, »diese Frau ist eine Diebin, und sie übt eine schreckliche Kunst aus. Aber ich kann sie kontrollieren, und mithilfe ihrer Gaben sind wir in der Lage, die Schwierigkeiten zu beseitigen, in die wir geraten sind.«

Die anderen murmelten besorgte Einwände. Die Frau, von der sie hier sprachen – Wan ShaiLu – war mehr als eine einfache Kunstfälscherin. So viel mehr. Sie vermochte die innerste Natur der Wirklichkeit zu verändern. Und das führte zu einer weiteren Frage: Warum hatte sie sich die Mühe gemacht, das Malen zu erlernen? War die gewöhnliche Kunst im Vergleich zu ihren mystischen Gaben nicht völlig banal?

So viele Fragen. Gaotona schaute von seinem Stuhl vor dem Kamin auf. Die anderen standen wie ein Verschwörerhaufen um Fravas Schreibtisch herum; ihre langen, farbenprächtigen Roben schimmerten im Feuerschein. »Ich stimme mit Frava überein«, sagte Gaotona.

Die anderen sahen zu ihm herüber. Ihre mürrischen Blicke zeigten deutlich, dass sie auf seine Worte nicht viel gaben, aber ihre Körperhaltung verriet etwas anderes. Ihre Hochachtung vor ihm mochte zwar tief in ihnen begraben sein, aber sie war noch nicht ganz vergessen.

»Holt die Fälscherin«, sagte Gaotona und erhob sich. »Ich möchte gern hören, was sie zu sagen hat. Ich vermute, sie wird schwieriger zu beherrschen sein, als Frava behauptet, aber wir haben keine andere Wahl. Entweder bedienen wir uns der Fähigkeiten dieser Frau, oder wir verlieren die Kontrolle über das Reich.«

Das Gemurmel erstarb. Wie viele Jahre war es her, seit Frava und Gaotona zum letzten Mal über irgendetwas derselben Meinung gewesen waren – von einer so umstrittenen Frage wie dem Einsatz einer Fälscherin erst ganz zu schweigen?

Die übrigen drei Schlichter nickten, einer nach dem anderen.

»Dann soll es geschehen«, sagte Frava leise.

TAG ZWEI

Shai drückte ihren Fingernagel gegen einen der Steinquader, aus denen ihre Gefängniszelle bestand. Der Stein gab ein wenig nach. Sie zerrieb den Staub zwischen den Fingern. Kalk. Ein seltsames Material für eine Zellenwand, doch sie bestand nicht vollständig aus Kalkstein; dieser bildete vielmehr nur eine einzige Ader innerhalb dieses Quaders.

Sie lächelte. Kalkstein. Diese winzige Ader hätte ihr leicht entgehen können, aber wenn sie sich nicht irrte, hatte sie inzwischen alle vierundvierzig Gesteinsarten in der Wand ihrer kreisrunden Zellengrube identifiziert. Shai kniete sich neben ihrer Pritsche nieder und ritzte mit einer Gabel – sie hatte alle Zinken bis auf einen zurückgebogen – Zeichen in das Holz des Bettpfostens. Da sie ihre Brille nicht trug, musste sie beim Schreiben angestrengt blinzeln.

Wenn man etwas fälschen wollte, musste man dessen Vergangenheit und Natur kennen. Sie war beinahe fertig. Doch ihre Freude erlosch, als sie die anderen Zeichen auf dem Pfosten sah, die von ihrer flackernden Kerze angeleuchtet wurden. Sie halfen Shai dabei, die Tage ihrer Gefangenschaft zu zählen.

Ich habe nicht mehr viel Zeit, dachte sie. Wenn ihre Berechnung richtig war, blieb nur noch ein einziger Tag bis zu dem Datum, das für ihre öffentliche Hinrichtung festgesetzt worden war.

Ihre Nerven waren so fest gespannt wie die Saiten an einem Musikinstrument. Ein Tag. Nur noch ein Tag, um einen Seelenstempel herzustellen und zu verschwinden. Aber sie besaß keinen Seelenstein, sondern nur ein grobes Stück Holz, und ihr einziges Schnitzwerkzeug war eine Gabel.

Es war unglaublich schwierig. Und genau das sollte es sein. Diese Zelle war für ihresgleichen erbaut worden – aus vielen verschiedenen Gesteinsarten, die ein Fälschen erschwerten. Sicherlich kamen sie aus unterschiedlichen Steinbrüchen, und jeder Quader hatte eine andere, einzigartige Geschichte. Da Shai so wenig über sie wusste, war es fast unmöglich, sie zu fälschen. Selbst wenn es ihr gelang, den Stein umzuwandeln, gab es vermutlich eine weitere Schutzvorrichtung, die ihr Einhalt gebieten würde.

Dunkle Nacht! In was für ein Unheil hatte sie sich da bloß gebracht.

Als sie mit dem Anbringen der Zeichen fertig war, betrachtete sie versonnen ihre verbogene Gabel. Sie hatte den hölzernen Griff zu einem groben Seelenstempel geschnitzt, nachdem sie das Metall davon abgeschabt hatte. Auf diesem Weg wirst du hier nicht herauskommen, Shai, sagte sie zu sich selbst. Du brauchst eine andere Methode.

Sie hatte sechs Tage gewartet und nach einem anderen Ausweg gesucht. Sie hatte erwogen, die Wächter zu benutzen oder jemanden zu bestechen, damit sie einen Hinweis auf die Natur ihrer Zelle erhielt. Aber bisher hatte nichts

Hoch über ihr wurde die Klappe des Verlieses geöffnet.

Shai sprang auf die Beine und steckte den Gabelgriff in den Hosenbund hinter dem Rücken. War ihre Hinrichtung vorverlegt worden?

Schwere Stiefel hallten auf den Stufen wider, die zum Kerker hinunterführten, und sie blinzelte die Männer an, die nun über ihrer Zelle erschienen. Vier davon waren Wächter; sie begleiteten einen Mann mit schmalem Gesicht und langen Fingern. Es war ein Erhabener – einer von denen, die das Reich führten. Seine Robe aus Blau und Grün deutete an, dass er ein niederer Funktionär war, der zwar die Aufnahmeprüfungen für den Regierungsdienst bestanden hatte, aber noch nicht im Rang aufsteigen konnte.

Shai wartete angespannt.

Der Erhabene beugte sich herunter und betrachtete sie durch das Fallgitter. Er hielt einen Augenblick lang inne, dann bedeutete er den Wachen, es zu öffnen. »Die Schlichter wollen dich befragen, Fälscherin.«

Shai wich zurück, als sie das Gitter in der Zellendecke aufzogen und dann eine Leiter herunterließen. Vorsichtig kletterte sie die Sprossen hoch. Wenn sie jemanden zu einer vorverlegten Hinrichtung antreten lassen müsste, dann würde sie den Häftling glauben machen, dass es um etwas anderes ging, damit er keinen Widerstand leistete. Doch als sie Shai aus dem Kerker führten, legten sie ihr keine Fesseln an.

Der Weg, den sie nahmen, machte es wahrscheinlich, dass sie Shai tatsächlich zum Dienstzimmer der Schlichter brachten. Shai beruhigte sich wieder. Also würde sie sich einer neuen Herausforderung stellen müssen. Ob sich daraus vielleicht eine Gelegenheit zur Flucht ergab? Sie hätte sich nicht erwischen lassen dürfen, doch daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Der kaiserliche Narr hatte sie verraten, nachdem sie endlich zu der Überzeugung gekommen war, dass sie ihm vertrauen konnte. Er hatte ihr gefälschtes Exemplar des Mondzepters gegen das Original ausgetauscht und war damit entwischt.

Shais Onkel Won hatte sie gelehrt, dass es immer jemanden gab, der besser und gewitzter war als man selbst. Wenn man das nicht vergaß, bestand nicht die Gefahr, zu selbstsicher und dadurch nachlässig zu werden.

Beim letzten Mal hatte sie verloren. Doch jetzt würde sie gewinnen. Sie schob den Ärger über ihre Gefangennahme beiseite und wurde zu einer Person, die mit dieser neuen Gelegenheit umgehen konnte, um was es sich auch immer handeln mochte. Shai würde sie ergreifen und sich zunutze machen.

Diesmal spielte sie nicht um Reichtümer, sondern um ihr Leben.

Die Wächter waren Greifer – das zumindest war der Name, den die Erhabenen ihnen gegeben hatten. Einst hatten sie sich Mulla’dil genannt, aber ihre Nation war schon vor so langer Zeit in das Reich einverleibt worden, dass nur noch wenige diesen Namen benutzten. Die Greifer waren von großer Gestalt, hatten kräftige Muskeln und eine blasse Haut. Ihr Haar war fast so dunkel wie das von Shai, das jedoch glatt und lang war, während die Greifer Locken trugen. Sie bemühte sich mit gewissem Erfolg, neben ihnen nicht wie ein Zwerg zu wirken. Ihr eigenes Volk, die MaiPon, waren nicht gerade wegen ihrer Körpergröße berühmt.

»Du«, sagte sie zu dem Anführer der Greifer, während sie an der Spitze der Gruppe ging. »Ich erinnere mich an dich.« Seinem sorgfältig frisierten Haar nach zu urteilen, trug der jugendliche Hauptmann nicht oft einen Helm. Die Greifer wurden von den Erhabenen wohlwollend betrachtet, und bisweilen kam es vor, dass sie aufstiegen. Dieser hier wirkte sehr ehrgeizig. Die polierte Rüstung, das schneidige Gebaren … Ja, er hielt sich dafür geeignet, in der Zukunft wichtige Aufgaben zu übernehmen.

»Das Pferd«, sagte Shai. »Du hast mich über den Rücken deines Pferdes geworfen, nachdem ich gefangen genommen wurde. Ein großes Tier, von gurischer Abstammung, reines Weiß. Gutes Tier. Du verstehst etwas von Pferdefleisch.«

Der Greifer hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, aber er flüsterte ihr zu: »Ich werde es genießen, dich zu töten, Frau.«

Wie nett, dachte Shai, während sie den Kaiserflügel des Palastes betraten. Das Mauerwerk hier war wunderbar, im uralten Lamio-Stil ausgeführt, und die hohen Marmorsäulen waren mit Reliefs geschmückt. Die großen Vasen zwischen den Säulen sollten Lamio-Keramik aus der tiefen Vergangenheit nachahmen.

Die Fraktion des Erbes regiert noch immer, rief sie sich in Erinnerung, also

Der Kaiser stammte aus dieser Partei, genau wie der Rat der fünf Schlichter, die den größten Teil der Regierungsgeschäfte erledigten. Diese Fraktion pries den Ruhm und die Gelehrsamkeit der vergangenen Kulturen und hatte sogar ihren Flügel des Palastes im Stil eines der antiken Gebäude umgebaut. Shai vermutete, dass sich auf der Unterseite dieser »uralten« Vasen Seelenstempel befanden, die sie zu vollkommenen Imitationen berühmter Töpferwerke umgeformt hatten.

Ja, die Erhabenen nannten Shais Gaben ein Gräuel, aber das einzig Unrechtmäßige daran war die Veränderung einer Person. Stille Fälschungen von Gegenständen waren erlaubt und wurden im Reich sogar gefördert, solange der Fälscher einer allumfassenden Kontrolle unterlag. Wenn jemand diese Vasen umdrehen und die Stempel an der Unterseite entfernen sollte, würden sie allesamt einfach zu schmuckloser Keramik werden.

Die Greifer führten sie zu einer Tür mit Goldeinlagen. Als sie geöffnet wurde, erhaschte Shai einen Blick auf den roten Seelenstempel unten am inneren Rand, der die Tür zur Nachahmung eines Kunstwerks aus der Vergangenheit machte. Die Wachen geleiteten sie in einen heimeligen Raum mit knisterndem Kaminfeuer, dicken Teppichen und altersfleckigen Holzmöbeln. Jagdhütte, fünftes Jahrhundert, vermutete sie.

Alle fünf Schlichter der Fraktion des Erbes warteten hier auf sie. Drei von ihnen – zwei Frauen und ein Mann – hatten auf hochlehnigen Stühlen vor dem Kamin Platz genommen, und eine weitere Frau saß an einem Schreibtisch knapp hinter der Tür. Es war Frava, die Älteste der Schlichter aus der Fraktion des Erbes und vermutlich die mächtigste Person im Reich nach dem Kaiser selbst. Ihr ergrauendes Haar war zu einem langen Zopf geflochten, in dem rote und goldene Bänder steckten und der auf eine Robe aus dazu passender Goldfarbe fiel. Shai hatte lange darüber nachgedacht, wie sie diese Frau bestehlen konnte, denn neben ihren anderen Pflichten beaufsichtigte Frava auch die kaiserliche Galerie und benutzte einige daneben liegende Verwaltungszimmer.

Frava hatte sich offenbar gerade mit Gaotona, dem ältlichen Erhabenen gestritten, der neben dem Schreibtisch stand. Er hielt sich sehr gerade und hatte in nachdenklicher Pose die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Angeblich war er der am wenigsten einflussreiche Schlichter und stand nicht in der Gunst des Kaisers.

Beide verstummten, als Shai eintrat. Sie betrachteten die junge Frau, als wäre sie eine Katze, die soeben eine kostbare Vase umgestoßen hatte. Shai trug ihre Brille nicht, aber sie bemühte sich, nicht zu blinzeln, als sie auf die Schlichter zutrat. Sie musste so stark wie möglich wirken.

»Wan ShaiLu«, sagte Frava und nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch. »Mit deinem Namen verbindet sich eine lange Liste von Straftaten.«

So wie du das sagst … Welches Spiel trieb diese Frau? Sie will etwas von mir, entschied Shai. Das ist der Grund, warum ich hierhergebracht wurde.

Allmählich nahm die Gelegenheit Gestalt an.

»Vortäuschung der Identität einer Adligen von hohem Rang«, fuhr Frava fort, »Einbruch in die kaiserliche Galerie des Palastes, Fälschung deiner Seele und natürlich der versuchte Diebstahl des Mondzepters. Hast du wirklich geglaubt, wir könnten eine einfache Fälschung nicht von dem Original dieses wichtigen kaiserlichen Besitztums unterscheiden?«

Anscheinend könnt ihr es nicht, dachte Shai, denn genau das ist euch passiert – vorausgesetzt, der Narr konnte mit dem Original entkommen. Das Wissen darum, dass ihre Fälschung nun den Ehrenplatz des Mondzepters in der kaiserlichen Galerie eingenommen hatte, erfüllte Shai mit einem Gefühl tiefer Befriedigung.

»Und was ist hiermit?«, fragte Frava und bedeutete einem der Greifer mit ihren langen Fingern, etwas von der Seite des Zimmers herbeizubringen. Es war ein Gemälde; der Wächter stellte es auf den Schreibtisch: Han ShuXens Meisterwerk Lilie des Frühlingsteiches.

»Wir haben es in deinem Zimmer in der Herberge gefunden«, sagte Frava und tippte mit den Fingern gegen das Bild. »Es ist die Kopie eines Bildes, das ich selbst besitze – eines der berühmtesten im ganzen Reich. Wir haben es unseren Gutachtern vorgelegt, und sie sind der Meinung, dass deine Fälschung bestenfalls amateurhaft ist.«

Shai sah der Frau in die Augen.

»Verrate mir, warum du diese Fälschung hergestellt hast«, sagte Frava und beugte sich vor. »Du hattest offensichtlich beabsichtigt, dieses Gemälde gegen das in meinem Arbeitszimmer neben der kaiserlichen Galerie auszutauschen. Und du warst hinter dem Mondzepter her. Warum wolltest du auch noch das Bild stehlen? Aus Habgier?«

»Mein Onkel Won hat mir beigebracht, immer einen Notfallplan in der Hinterhand zu haben. Ich war mir nicht sicher, ob das Zepter überhaupt ausgestellt war.«

»Aha …«, meinte Frava. Ihre Miene wurde beinahe mütterlich, auch wenn sie gleichzeitig von großer, schlecht verborgener Abscheu und Herablassung zeugte. »Du hast um die Hinzuziehung von Schlichtern bei deiner Hinrichtung gebeten, wie es die meisten Gefangenen tun. Aus einer Laune heraus habe ich entschieden, deiner Bitte zu entsprechen, weil ich wissen wollte, warum du dieses Gemälde hergestellt hast.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Kind, du kannst nicht wirklich glauben, dass wir dich freilassen werden, wo du so schwere Sünden begangen hast. Gegenwärtig bist du in einer äußerst schlechten Lage, und unsere Gnade kann sich nur darauf erstrecken, dass …«

Shai warf einen raschen Blick auf die übrigen Schlichter. Diejenigen, die vor dem Kaminfeuer saßen, schienen ihr keine Aufmerksamkeit zu schenken, aber sie redeten auch nicht miteinander. Sie hörten zu. Etwas stimmt nicht, dachte Shai. Sie sind besorgt.

Gaotona stand noch immer still an der Seite. Er betrachtete Shai aus Augen, die keinerlei Gefühle verrieten.

Frava wirkte, als würde sie ein kleines Kind ausschimpfen. Ihr letzter, unbeendeter Satz sollte in Shai die Hoffnung auf eine Freilassung erwecken. Sie sollte fügsam gemacht werden, sodass sie allem zustimmte, was man von ihr verlangen würde, weil sie damit ihre Freiheit zurückerhalten konnte.

Tatsächlich – eine Gelegenheit

Es war an der Zeit, die Kontrolle über dieses Gespräch zu erlangen.

»Ihr wollt etwas von mir«, sagte Shai. »Ich bin bereit, über meine Bezahlung zu reden.«

»Über deine Bezahlung?«, fragte Frava. »Mädchen, du wirst morgen früh hingerichtet werden! Wenn wir wirklich etwas von dir wollten, dann wäre die Bezahlung dafür dein Leben.«

»Mein Leben gehört mir schon«, erwiderte Shai. »Und zwar bereits seit einiger Zeit.«

»Bitte«, sagte Frava. »Du warst in der Fälscherzelle eingesperrt, deren Wände aus dreißig verschiedenen Steinarten bestehen.«

»Aus vierundvierzig, um genau zu sein.«

Gaotona hob anerkennend eine Braue.

Dunkle Nacht! Ich bin froh, dass ich mich nicht geirrt habe

Shai sah Gaotona an. »Ihr habt nicht erwartet, dass ich den Mahlstein entdecke, oder? Also bitte, ich bin schließlich eine Fälscherin. Die Bestimmung von Gestein habe ich schon in meinem ersten Lehrjahr gelernt. Dieser Quader stammt offensichtlich aus dem Laio-Steinbruch.«

Frava öffnete den Mund und wollte etwas sagen; ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Ja, ich weiß um die Platten aus Ralkalest, das unfälschbare Metall, das hinter den Steinwänden meiner Zelle verborgen ist«, sagte Shai. Es war nicht mehr als eine Vermutung. »Die Wände waren nur ein Rätsel, das mich ablenken sollte. Ihr hättet nicht wirklich eine Zelle aus Gestein wie Kalk errichtet, durch das sich ein Gefangener graben könnte. Ihr habt die Wände mit einer Platte aus Ralkalest dahinter gesichert, damit jeder Fluchtweg abgeschnitten ist.«

Frava schloss den Mund wieder.

»Das Problem mit Ralkalest ist«, meinte Shai, »dass es kein sehr festes Metall ist. Das Gitter über meiner Zelle ist natürlich sehr stark, und ich hätte es nicht überwinden können. Aber eine dünne Platte? Also wirklich! Habt Ihr schon einmal von Anthrazit gehört?«

Frava runzelte die Stirn.

»Das ist ein brennbares Felsgestein«, erklärte Gaotona.

»Ihr habt mir eine Kerze gegeben«, sagte Shai und griff hinter ihren Rücken. Sie warf den behelfsmäßigen hölzernen Seelenstempel auf den Schreibtisch. »Ich musste nur die Wand fälschen und den Steinen eingeben, dass sie aus Anthrazit bestehen. Das war nicht schwierig, sobald ich die vierundvierzig verschiedenen Gesteinsarten herausgefunden hatte. Ich hätte sie verbrennen können, und dann hätten sie die Metallplatte dahinter geschmolzen.«

Shai zog sich einen Stuhl heran, setzte sich vor den Schreibtisch und lehnte sich zurück. Hinter ihr stöhnte der Hauptmann der Greifer leise, aber Frava kniff die Lippen zusammen und sagte nichts. Shai entspannte ihre Muskeln und sprach ein stummes Gebet zu dem Unbekannten Gott.

Dunkle Nacht! Es hatte den Anschein, als ob sie es ihr wirklich abkaufen würden! Sie selbst wusste genug vom Fälschen, um eine solche Lüge sofort zu durchschauen.

»Heute Nacht wäre ich geflohen«, sagte Shai. »Was Ihr von mir wollt, muss sehr wichtig sein, denn sonst würdet Ihr Euch nicht an eine Übeltäterin wie mich wenden. Und deshalb will ich eine Bezahlung haben.«

»Ich könnte dich noch immer hinrichten lassen«, erwiderte Frava. »Hier und jetzt.«

»Aber das werdet Ihr nicht, oder?«

Frava biss die Zähne zusammen.

»Ich hatte Euch gewarnt, dass sie nur schwer zu manipulieren ist«, sagte Gaotona zu Frava. Shai erkannte, dass sie ihn beeindruckt hatte, aber gleichzeitig schien sein Blick … sorgenvoll zu sein. War das der richtige Ausdruck? Dieser alte Mann war für sie genauso schwer zu lesen wie ein Buch, das in svordischer Sprache geschrieben war.

Frava hob den Finger und spreizte ihn zur Seite. Ein Diener erschien mit einem kleinen, in ein Tuch gehüllten Kästchen. Shais Herz tat einen Sprung, als sie es sah.

Der Mann öffnete die Verschlüsse an der Vorderseite und hob den Deckel an. Das Innere war mit weichem Tuch ausgepolstert und wies fünf Vertiefungen auf, in denen Seelenstempel lagen. Jedes zylindrische Steinsiegel war so lang wie ein Finger und so breit wie der Daumen eines großen Mannes. Das ledergebundene Notizbuch, das im Deckel des Kästchens lag, war abgenutzt vom häufigen Gebrauch. Shai nahm eine Spur des vertrauten Geruches wahr.

Es waren Wesenspräger, die mächtigste Art der Seelenstempel. Jeder Wesenspräger musste auf ein bestimmtes Individuum eingestellt werden und konnte dessen Geschichte, Persönlichkeit und Seele für eine kurze Zeit umschreiben. Diese fünf hier waren auf Shai eingestellt.

»Fünf Wesenspräger zum Umschreiben einer Seele«, sagte Frava. »Jeder einzelne ist eine reine Abscheulichkeit, und ihr Besitz verstößt gegen das Gesetz. Diese Wesenspräger sollten heute Nachmittag vernichtet werden. Selbst wenn du entkommen wärest, hättest du sie verloren. Wie lange dauert es, um einen von ihnen zu erschaffen?«

»Jahre«, flüsterte Shai.

Es gab keine weiteren Exemplare. Und es war zu gefährlich, Aufzeichnungen und Diagramme davon zu machen, damit niemand Einblick in die eigene Seele nehmen konnte. Shai ließ diese Wesenspräger nie aus den Augen, es sei denn, sie wurden ihr weggenommen.

»Bist du bereit, diese als Bezahlung anzunehmen?«, fragte Frava und zog dabei die Mundwinkel herab, als ob sie über eine Mahlzeit aus Schleim und verwestem Fleisch spräche.

»Ja.«

Frava nickte, und der Diener schloss das Kästchen wieder. »Dann werde ich dir zeigen, was du dafür tun sollst.«

Shai war noch nie einem Kaiser begegnet, und erst recht hatte sie noch nie einem Kaiser den Finger ins Gesicht gesteckt.

Kaiser Ashravan von den Achtzig Sonnen – der neunundvierzigste Herrscher im Reich der Rose – reagierte nicht, als Shai ihn berührte. Er starrte ins Leere; seine runden Wagen waren rosig und gesund, aber sein Gesichtsausdruck war vollkommen leblos.

»Was ist passiert?«, fragte Shai und richtete sich neben dem Bett des Kaisers wieder auf. Es repräsentierte den Stil des alten Lamio-Volkes; das Kopfteil war wie ein Phönix gestaltet, der sich in den Himmel aufschwingt. In einem Buch hatte sie schon einmal die Zeichnung eines solchen Kopfteils gesehen; vermutlich stammte die Fälschung aus dieser Quelle.

»Attentäter«, erklärte Schlichter Gaotona. Er stand auf der anderen Seite des Bettes neben zwei Ärzten. Von den Greifern war nur dem Hauptmann namens Tzu die Anwesenheit erlaubt worden. »Die Mörder sind vor zwei Nächten eingebrochen und haben den Kaiser sowie dessen Frau angegriffen. Sie wurde getötet. Der Kaiser wurde von einem Armbrustpfeil am Kopf getroffen.«

»In Anbetracht dessen sieht er noch erstaunlich gut aus«, bemerkte Shai.

»Bist du vertraut mit dem Neusiegeln?«, fragte Gaotona.

»Ein wenig«, antwortete Shai. In ihrem Volk wurde es Fleischfälschung genannt. Dadurch konnte ein Chirurg mit großer Geschicklichkeit einen Körper fälschen, um dessen Wunden und Narben zu entfernen. Dazu aber bedurfte es eines gewaltigen Fachwissens. Der Fälscher musste jede Sehne, jede Ader und jeden Muskel kennen, um die Heilung korrekt durchführen zu können.

Die Neusiegelung war eine der wenigen Zweige des Fälschens, die Shai nicht eingehend studiert hatte. Wenn man eine gewöhnliche Fälschung verpatzte, erschuf man ein Werk von nur geringem künstlerischem Wert. Wenn man aber eine Fleischfälschung nicht richtig durchführte, starb ein Mensch.

»Unsere Neusiegler sind die besten der Welt«, sagte Frava, während sie das Fußende des Bettes umrundete; dabei hielt sie die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Der Kaiser wurde sofort nach dem Mordversuch behandelt. Die Wunde in seinem Kopf konnte geheilt werden, aber …«

»Aber nicht sein Geist?«, fragte Shai und fuhr abermals mit der Hand vor dem Gesicht des Mannes hin und her. »Das klingt nicht so, als ob sie ihre Arbeit sehr gut gemacht hätten.«

Einer der Ärzte räusperte sich. Der kleine Mann hatte Ohren wie Fensterläden, die an einem sonnigen Tag weit aufgestoßen worden waren. »Das Neusiegeln heilt den Körper und erneuert ihn. Es ist jedoch so, als würde man ein Buch nach einer Feuersbrunst mit frischem Papier neu einbinden. Es mag zwar genauso aussehen wie vorher, und es mag auch durch und durch wiederhergestellt sein. Aber die Wörter … die Wörter sind verschwunden. Wir haben dem Kaiser ein neues Hirn gegeben. Es ist lediglich leer.«

»Hm«, meinte Shai. »Habt Ihr herauszufinden versucht, wer ihn töten wollte?«

Die fünf Schlichter wechselten rasche Blicke. Ja, sie wussten es.

»Wir sind uns nicht sicher«, sagte Gaotona.

»Das heißt, Ihr wisst es, aber Ihr könnt es nicht beweisen und daher keine Anklage erheben«, fügte Shai hinzu. »Es handelt sich also um eine der anderen Fraktionen am Hof?«

Gaotona seufzte. »Um die Fraktion des Ruhmes.«

Shai stieß einen leisen Pfiff aus. Das ergab durchaus einen Sinn. Wenn der Kaiser starb, bestand die Möglichkeit, dass die Fraktion des Ruhmes die Erlaubnis erhielt, seinen Nachfolger zu stellen. Mit seinen vierzig Jahren war Kaiser Ashravan nach den Maßstäben der Erhabenen noch jung. Es war erwartet worden, dass er noch mindestens fünfzig weitere Jahre regieren würde.

Aber wenn er nun ersetzt würde, dann verloren die fünf Schlichter in diesem Raum ihre Aufgabe, und das wäre ein gewaltiger Schlag für ihre gesellschaftliche Stellung. Sie würden von den mächtigsten Menschen in der Welt zu Mitgliedern der unbedeutendsten der achtzig Fraktionen des Reiches.

»Die Attentäter haben ihren Angriff nicht überlebt«, sagte Frava. »Die Fraktion des Ruhmes weiß noch nicht, ob ihr Anschlag erfolgreich war. Du wirst die Seele des Kaisers durch …« Sie holte tief Luft. » durch eine Fälschung ersetzen.«

Sie sind verrückt, dachte Shai. Die eigene Seele zu fälschen, war schon schwierig genug, und diese musste nicht von Grund auf neu erschaffen werden.

Die Schlichter hatten keine Ahnung, worum sie da baten. Natürlich hatten sie keine Ahnung. Sie hassten das Handwerk des Fälschens; zumindest behaupteten sie das. Sie schritten über nachgemachte Bodenplatten an den Kopien antiker Vasen vorbei, und ihre Ärzte stellten Körper wieder her, aber all das nannten sie in ihrer Sprache nicht »Fälschung«.

Die Fälschung der Seele hingegen sahen sie als Gräuel und Abscheulichkeit an. Das bedeutete, dass Shai ihre einzige Möglichkeit war. Niemand in ihrer eigenen Regierung wäre zu so etwas in der Lage. Und Shai konnte es möglicherweise genauso wenig.

»Schaffst du das?«, fragte Gaotona.

Ich habe keine Ahnung, dachte Shai. »Ja«, sagte sie.

»Es muss eine exakte Fälschung sein«, sagte Frava streng. »Wenn die Fraktion des Ruhmes herausfinden sollte, was wir getan haben, wird sie zuschlagen. Die Handlungen des Kaisers müssen absolut folgerichtig sein.«

»Ich habe gesagt, dass ich das schaffe«, erwiderte Shai. »Aber es wird schwierig sein. Ich brauche alle Informationen über Ashravan und sein Leben, die Ihr beschaffen könnt. Die Geschichtsbücher wären ein guter Anfang, aber sie sind zu steril. Ich brauche ausgiebige schriftliche und mündliche Zeugnisse von denen, die ihn am besten kennen. Diener, Freunde, Familienmitglieder. Hat er ein Tagebuch geführt?«

»Ja«, sagte Gaotona.

»Ausgezeichnet.«

»Diese Dokumente sind unter Verschluss«, sagte einer der anderen Schlichter. »Er wollte, dass sie vernichtet werden …«

Alle im Zimmer sahen den Mann an. Er schluckte und senkte den Blick.

»Du wirst alles erhalten, was du brauchst«, sagte Frava.

»Außerdem benötige ich ein Testobjekt«, erklärte Shai. »Jemanden, an dem ich meine Fälschungen auf die Probe stellen kann. Einen Erhabenen, einen Mann – jemanden, der engen Umgang mit dem Kaiser pflegte und ihn gut kannte. An ihm muss ich überprüfen, ob ich die Persönlichkeit gut getroffen habe.« Dunkle Nacht! Die Persönlichkeit gut zu treffen war zweitrangig. Der erste Schritt bestand darin, einen Stempel zu erschaffen, der wirklich hielt. Sie war sich nicht einmal sicher, ob ihr das gelingen würde. »Und natürlich brauche ich einen Seelenstein.«

Frava sah Shai an und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ihr könnt nicht von mir erwarten, dass ich das ohne einen Seelenstein schaffe«, sagte Shai trocken. »Ich könnte mir zwar einen Stempel aus Holz schnitzen, wenn es unbedingt sein muss, aber die Aufgabe, die Ihr mir stellt, ist auch so schon schwierig genug. Ich brauche einen Seelenstein. Einen großen.«

»In Ordnung«, sagte Frava. »Aber in den nächsten drei Monaten wirst du unter strengster Beobachtung stehen.«

»Drei Monate?«, fragte Shai. »Ich gehe davon aus, dass es mindestens zwei Jahre in Anspruch nehmen wird.«

»Du hast hundert Tage«, sagte Frava. »Genau genommen sind es jetzt nur noch achtundneunzig.«

Unmöglich.

Einer der anderen Schlichter erklärte: »Der Grund dafür, warum der Kaiser in den letzten zwei Tagen nicht mehr gesehen wurde, liegt offiziell darin, dass er den Tod seiner Frau betrauert. Die Fraktion des Ruhmes wird annehmen, dass wir nach dem Tod des Kaisers Zeit herausschinden wollen. Sobald aber die hundert Tage Abgeschiedenheit verstrichen sind, wird diese Fraktion verlangen, dass sich Ashravan dem Hof zeigt. Wenn er es nicht tut, sind wir erledigt.«

Und du auch, schien der Tonfall der Frau anzudeuten.

»Für diese Aufgabe will ich Gold haben«, sagte Shai. »Nehmt die Summe, die ich nach Eurer Meinung fordern werde, und verdoppelt sie. Ich werde dieses Land als reiche Frau verlassen.«

»In Ordnung«, sagte Frava.

Das war zu einfach, dachte Shai. Wie nett. Man hatte vor, sie umzubringen, sobald das hier vorbei war.

Nun, ihr blieben noch achtundneunzig Tage, um einen Ausweg zu suchen. »Besorgt mir diese Aufzeichnungen«, sagte sie. »Ich brauche einen Ort für meine Arbeit, eine Menge Vorräte und meine eigenen Sachen.« Sie hob einen Finger, bevor die anderen etwas einwenden konnten. »Nicht meine Wesenspräger, aber alles andere. Ich habe nicht vor, drei Monate lang in derselben Kleidung zu arbeiten, die ich schon im Kerker getragen habe. Und wenn ich es mir recht überlege, soll mir erst einmal jemand ein Bad einlassen.«