Barbara Edelmann ist in Mindelheim geboren und aufgewachsen. Seit Jahrzehnten lebt sie glücklich und zufrieden im Allgäu. Ihr »Tal« verlässt sie höchstens für Ausflüge in ihre Lieblingsstadt Rothenburg ob der Tauber, weil sie sich vor Jahrzehnten unsterblich in diese bezaubernde Stadt mit ihrem historischen Flair verliebt hat. All ihre Erfahrungen und Beobachtungen verarbeitet sie in ihren Krimis.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: iStockphoto.com/Freeartist

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Uta Rupprecht

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-679-1

Franken Krimi

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»Zu hohe Schuhe gibt es nicht.«

Dodo Haug, Kommissarin

Sonntagabend, Rothenburg ob der Tauber

»Diese Germans sind auf liebenswerte Weise verrückt, und sie bauen hübsche Schlösser, aber die dicken Dinger aus Bayern esse ich nie wieder. Erinnerst du dich? Sie nennen sie ›Weißwürste‹.« Mary Walker, eine attraktive Frau Anfang fünfzig aus Lincoln, Nebraska, blickte ihren Mann George durch eine riesige getönte Brille vorwurfsvoll an. Ihre braun gefärbte Mähne ergoss sich in wallenden Locken über ein stramm sitzendes giftgrünes Viskoseshirt mit Blütendruck.

Das gemütliche Restaurant in der Galgengasse in Rothenburg ob der Tauber, in dem die beiden köstliche, mit Spinat und Ricotta gefüllte Ravioli mit Gorgonzolasoße und Nüssen genossen hatten, leerte sich allmählich. Schon vor über einer halben Stunde hatte sich die Nacht wie ein geheimnisvoller Schleier über die hübsche Stadt gelegt, sie verlieh den stillen Gassen ein bezauberndes Flair. Wer bereit war, einige am Straßenrand geparkte Autos zu übersehen, konnte sich mit ein wenig Phantasie vorstellen, sich auf einer Zeitreise ins Mittelalter zu befinden. Ziellos waren Mary und George einige Stunden zuvor durch die Gassen geschlendert und hatten sich dann, hin- und hergerissen angesichts der beachtlichen Anzahl englischsprachiger Speisekarten, die vor sämtlichen Lokalen aushingen, für das »Roma« entschieden, denn Mary hatte nach dem zweifelhaften Weißwurst-Experiment in München Appetit auf italienisches Essen.

»Wirklich kuschelig hier.« Sie sah sich kurz im Lokal um. »Viel Holz. Genauso hatte ich mir Deutschland vorgestellt. Und das Essen war großartig, nicht wahr? George? Warum sagst du nichts?«

Ihr Gatte, ein drahtiger Mann mit Bürstenhaarschnitt und der Miene eines depressiven Spaniels, zuckte zusammen, denn er war gedanklich etwas abgedriftet. Und anschließend mit offenen Augen eingeschlafen ab dem Moment, als seine Frau zum tausendsten Male damit begann, sich über den bisherigen Verlauf ihrer Reise auszulassen. Seine Zeit bei der US-Army hatte George gelehrt, jede Gelegenheit für ein kurzes Nickerchen zu nutzen – eine Fertigkeit, die ihm in seiner Ehe schon öfter zugutegekommen war.

Vor ihnen auf dem Tisch stand eine beinahe leere Flasche Bocksbeutel, die letzte von vieren, denn George – allem Neuen gegenüber aufgeschlossen – informierte sich vor jeder Reise wissbegierig über Land, Leute und Trinkgewohnheiten. Der Wein war seiner Meinung nach phantastisch, denn er hatte ihm geholfen, Marys quengelige Stimme beinahe vollständig auszublenden.

Nun warf er aufgeschreckt einen Rundblick durch die Gaststube und blinzelte dann enttäuscht, als ihm einfiel, dass er sich gerade weit entfernt von seinem Zuhause, seinem Barbecue-Grill und seinem Fernseher befand.

Mary redete noch immer. »Dieses Getränk hier schlägt mir auf den Magen, fürchte ich. Mir ist ein wenig flau.« Wie um ihre Aussage zu bestätigen, hob sie ihr Glas, in dem der Rest des Weißweins das Licht der Deckenlampen widerspiegelte. »Die nehmen hier ja scheinbar kein Blatt vor den Mund.« Stirnrunzelnd las sie die Aufschrift auf der Weinflasche. »›Bocksbeutel‹ – crazy Germans! Gott sei Dank konnte ich dich heute Mittag davon abbringen, diese angeblich einmaligen ›Sauren Zipfel‹ zu bestellen. Hör endlich auf, vor einer Reise im Internet nach regionalen Spezialitäten zu suchen. Was in einem Steak drin ist, weiß ich, aber diese weißen Würste in München …« Missbilligend schüttelte sie den Kopf.

»So schlecht kann es dir nicht geschmeckt haben«, antwortete George schwerfällig, der mit dem Sprechen allmählich so seine Schwierigkeiten bekam. Das kommt davon, wenn man die Klopfzahl einer Flasche anständigen Frankenweines unterschätzt. »Immerhin hast du noch einmal nachbestellt.«

»Weil ich solche Miniportionen nicht gewöhnt bin.« Mary zupfte an ihrem geblümten Oberteil, das nach dem opulenten Essen merklich spannte. »Willst du damit sagen, ich wäre zu dick? Ich habe deinen Blick sehr wohl bemerkt, als ich den Kellner nach Tiramisu gefragt habe.« Herausfordernd starrte sie ihren Ehemann an.

George versuchte, sich mittels seiner mit Frankenwein getränkten Synapsen krampfhaft zu erinnern, warum er seiner Gattin zur Silberhochzeit ausgerechnet eine romantische Deutschland-Rundreise geschenkt hatte anstatt eines Gutscheins für ihr Nagelstudio oder einen Spinningkurs. Es fiel ihm keiner ein. Für diesen verdammten Haufen Geld hätte er sich einen anständigen neuen Grill leisten können, um damit beim Barbecue seine Bowlingfreunde zu beeindrucken. Stattdessen musste er sich von seiner Angetrauten seit Tagen nur Beschwerden anhören. So viel mit offenen Augen schlafen, wie es nötig gewesen wäre, um Marys Klagen vollständig auszublenden, konnte kein Mensch. Da blieb einem nur der Alkohol, egal ob in kugeligen oder zylindrischen Flaschen. George war inzwischen so weit, dass er auch Brennspiritus getrunken hätte. Und er würde niemals wieder irgendwohin verreisen, das hatte er sich fest vorgenommen.

Fragen zu Marys Gewicht beantwortete er grundsätzlich nicht, denn das ähnelte dem Versuch, mit verbundenen Augen ein Minenfeld zu durchqueren. Stattdessen ging er strategisch geschickt zum Gegenangriff über. »Du löcherst mich seit fünfundzwanzig Jahren, dass du endlich in die alte Heimat deines Urgroßvaters reisen willst. Aber seit wir in Deutschland angekommen sind, lässt du an nichts ein gutes Haar.« Leider klang seine Offensive etwas verwaschen, denn jemand schien seinen Mund mit Wattebällchen gefüllt zu haben. Aber Mary verstand ihn schon. »Sogar Schloss Neuschwanstein war dir zu unordentlich und zu vergoldet. Zu vergoldet!«

Mary rückte energisch ihre Brille zurecht. Für ihre zweiundfünfzig Jahre war sie wirklich recht attraktiv, fand George. »Darling«, sagte sie, »ich weiß, du hast es gut gemeint mit deinem Geschenk, aber mittlerweile denke ich, wir hätten nach Disneyland fahren sollen. Hier ist alles so …«, sie überlegte einen Moment, »… realistisch. Und alt.«

Darauf hätte George eine gute Antwort parat gehabt, konnte sich aber trotz seines Blutalkoholspiegels von geschätzten eins Komma sechs Promille gerade noch bremsen. Immerhin war seine werte Gemahlin bei ihrer heutigen Ankunft in Rothenburg ob der Tauber endlich einmal delighted, also entzückt gewesen. Schon der erste im Schnellverfahren absolvierte Rundgang über die begehbare Stadtmauer hatte ihr ein »incredible!« nach dem anderen entlockt. Das pittoreske Meer aus Fachwerkfassaden und gotischen Türmen hatte sie zu mindestens zweihundert verwackelten Handyfotos inspiriert, mit denen sie per WhatsApp ihre hoffentlich neidischen Freundinnen im örtlichen Frauenverein von Lincoln im Minutentakt beglückte.

»Lass uns ins Hotel gehen, Honey«, lenkte Mary jetzt ein. »Es ist schon spät. Morgen möchte ich unbedingt in diesen Laden, in dem das ganze Jahr über Weihnachten ist, und etwas Geschnitztes kaufen oder was aus Porzellan. Danach darfst du mir eine Handtasche schenken, aus diesem bezaubernden kleinen Shop in der Nähe der Touristikinformation.« Das klang sehr entschlossen. »Warum antwortest du nicht? George? Ich wusste es! Diese letzte Flasche Wein war zu viel.« Missbilligend runzelte sie die Stirn. »Du weißt doch, dass diese Deutschen so starkes Bier brauen, denen ist bestimmt auch beim Wein nicht zu trauen.«

Erstaunlicherweise zeigte Mary, die beim Weintrinken tapfer mitgehalten hatte, selbst keinerlei Anzeichen von Beschwipstheit. Auch in dieser Hinsicht war sie ihrem Gatten haushoch überlegen.

Ergeben senkte George sein müdes Haupt. Wie viele kluge Ehemänner hielt er es für vernünftiger, seiner Frau nicht zu widersprechen. Die Reise würde noch länger dauern, außerdem hatte er schon vor fünfundzwanzig Jahren und vierzig von Marys dezentral verteilten Kilos früher bedingungslos kapituliert.

»Darf es noch etwas sein?«

Schwerfällig hob er den Kopf und musterte irritiert die beiden lächelnden Kellner mit den weißen Schürzen. Sie sahen aus wie eineiige Zwillinge. »Hat es Ihnen geschmeckt?«, fragten sie nun gleichzeitig.

»Danke, es war hervorragend«, beeilte Mary sich zu versichern. »Wir möchten bezahlen. Darling!« Das klang auffordernd.

Irritiert streckte George den zwei Kellnern wortlos seine Visakarte entgegen und schloss kurz die Augen, ehe er hastig noch einen letzten Schluck aus seinem beinahe leeren Weinglas trank.

»Schluss damit«, befahl Mary energisch. »Du hast dich wieder übernommen, genau wie in München.«

Eingeschüchtert ließ George das Glas sinken, Widerspruch war zwecklos. Seine Frau hatte sich bedauerlicherweise auch verdoppelt, wie er entsetzt feststellen musste. Und jede der beiden Marys sah sehr entschlossen aus. Die Kellner kamen flugs zurück und überreichten ihm mit einem jovialen Lächeln die Kreditkarte. Unsicher nahm George einen der beiden Kugelschreiber, die ihm entgegengestreckt wurden, und unterschrieb den Abrechnungsbeleg so leserlich, wie er nur konnte.

Seine Ehefrauen erhoben sich und sahen ihn streng an. »Wir schauen auf dem Rückweg noch einmal an der Stadtmauer vorbei«, bestimmten sie. »Die ist nur ein paar Meter entfernt, und die frische Luft wird dir guttun. Außerdem muss ich bei diesem herrlichen Vollmond noch ein, zwei Fotos schießen. Linda wird sich grün und blau ärgern.«

Die beiden servilen Kellner waren lautlos verschwunden. Mit wackeligen Knien erhob sich George und folgte der doppelten Gattin nach draußen, wo ihn die laue Juninacht mit samtigen Armen umfing. Über den Fachwerkfassaden leuchtete ein bleicher Mond und verlieh der Galgengasse etwas Surreales.

»Oh, das ist besser als Disneyworld.« Mary breitete begeistert ihre Arme aus und deutete nach links. »Sieh mal, George, da vorne ist sie schon, die Stadtmauer. Gruselig, oder? Ich habe im Reiseführer gelesen, dass auf dieser Straße die Verurteilten aus der Stadt hinaus zu ihrer Hinrichtung gefahren wurden. Stell dir das bloß vor!«

George, der sich dank der letzten fünfundzwanzig Ehejahre sehr gut vorstellen konnte, wie sich die bedauernswerten Delinquenten vor fünfhundert Jahren auf ihrem letzten Weg gefühlt haben mochten, fühlte sich urplötzlich schwindelig und geriet ins Straucheln. Hastig sah er sich nach einem Halt um und entdeckte im letzten Moment zwei Regenrinnen an einer Hausfassade. Er entschied sich blitzschnell für die linke und klammerte sich erleichtert daran fest.

»George?« Mary, der aufgefallen war, dass ihr niemand antwortete, sah sich suchend um und entdeckte ihren Gatten, wie er, schief wie ein Schiff im Sturm, mit verbissener Miene an der Regenrinne hing, ohne auch nur einen einzigen Blick auf den herrlichen Vollmond zu werfen.

»Du bekommst für den Rest unseres Aufenthaltes nur noch Diet-Coke.« Entschlossen packte sie ihren sich sträubenden Ehemann am Ellbogen, doch der weigerte sich störrisch, die Regenrinne loszulassen. »Komm jetzt endlich«, befahl sie. »Ich habe doch gesagt, dass ich noch Fotos von mir vor diesem gruseligen Tor machen muss.«

Auch darauf hätte George eine Antwort parat gehabt, verkniff sie sich aber aus einleuchtenden Gründen.

»Gut, dass ich meinen Selfiestick dabeihabe.« Mary betrachtete ihn mitleidlos. »Du bist ja heute zu nichts mehr zu gebrauchen.« Hektisch kramte sie in ihrer voluminösen Tasche nach ihrem Mobiltelefon.

»Wehe, du fotografierst mich«, drohte George seiner Frau. Die drei Flaschen Bocksbeutel hatten ihn offenbar nicht nur schwindelig, sondern auch mutig gemacht. »Dann rede ich nie mehr ein Wort mit dir.«

»Ich zittere jetzt schon vor Angst.« Unbeeindruckt zog Mary ihren Gatten am Arm mit sich und ließ ihn erst vor dem Treppenaufgang zur Stadtmauer wieder los. George blickte sich verzweifelt um und entdeckte erleichtert die nächsten beiden Regenrinnen, die ihm helfen würden, in der Vertikalen zu bleiben. Sollte seine Frau doch machen, was sie wollte.

Mary baute sich vor dem Treppenaufgang auf und zog ihren Selfiestick bis zur vollen Länge auseinander, nachdem sie ihr iPhone daran befestigt hatte. Dann warf sie sich breit grinsend in Positur. Auf dem Display ihres Handys war hinter mindestens drei Vierteln ihres breit lächelnden Gesichts wunderbar deutlich die Stadtmauer zu erkennen. Doch ihr begeisterter Gesichtsausdruck verwandelte sich in erschrockenes Erstaunen, als plötzlich eine gepresste Stimme hinter ihrem Rücken »Du Miststück!« keuchte.

George hätte sich so eine Insubordination nie angemaßt, das musste jemand anderer gewesen sein. Im Display erkannte Mary zwei dunkle Gestalten, die oben auf der Mauer miteinander kämpften. Eine Schrecksekunde lang überlegte sie, ob das Gerangel vielleicht eine Sondervorstellung für Touristen war, da ließ sie ein spitzer Schrei wie unter einem elektrischen Schlag zusammenzucken. Das klang jetzt echt. Und sehr beängstigend.

Hastig drehte sie sich um und sah gerade noch, wie eine Frau die Treppe herab auf sie zufiel. Unmittelbar vor Marys perfekt manikürten Zehennägeln in den bequemen Sandalen blieb sie liegen. Der Kopf der Frau war sonderbar verdreht, ihre Augen starrten blicklos in den sternenglitzernden Nachthimmel, und aus ihrem Bauch ragte ein merkwürdiges, dünnes Stück Holz.

Schockstarr und ausnahmsweise einmal sprachlos ließ Mary den Selfiestick sinken. George hingegen war schlagartig beinahe nüchtern geworden. Er ließ die Regenrinne los, hastete mit schlingernden Schritten zu seiner erstarrten Frau und löste das Mobiltelefon aus seiner Halterung, um mit zitternden Fingern die Nummer der German police zu googeln.

»Oh my God«, hörte er seine Frau keuchen. »George, she’s dead.«

Sonntagabend, Ansbach

»Einen Moment bitte.« Die hübsche üppige Blondine im eng anliegenden kobaltblauen Sommerkleid, deren lange Haare sich in perfekten Locken über die nackten Schultern ringelten, hangelte aus ihrer silbernen Clutch hastig ein Mobiltelefon, das in einer mit Strass verzierten Hülle steckte. »Ja, Chef?« Ihre Stimme klang sachlich, und für einen Moment schien sie vergessen zu haben, wo sie sich befand. Während sie lauschte, spielte sie gedankenverloren mit einem halb vollen Cocktailglas auf dem Tresen, beobachtet von einem schüchtern wirkenden Mann, der die Augen nicht von ihr lassen konnte. Als sie mit einer einzigen eleganten Bewegung die in hochhackigen Riemchensandalen steckenden Beine auf dem Barhocker übereinanderschlug, holte er tief Luft.

»Selbstverständlich.« Die Blondine nickte, als könnte ihr Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung sie sehen. »Echt jetzt? Voggel? Der Neue vom Rauschgift? Bitte nicht!« Sie verdrehte die perfekt geschminkten Augen. »Warum ich?« Der Mittdreißiger im Ralph-Lauren-Poloshirt ihr gegenüber verstand nur Bahnhof, ließ sie aber nicht aus den Augen, denn diese Frau war ein echter Hingucker mit ihrem engen Kleid, den ausgeprägten Rundungen und dem rot bemalten Schmollmund, der gerade leider mürrisch verkniffen war.

»Das schaffe ich notfalls auch allein, aber wenn Sie meinen …«, sagte sie jetzt verdrossen. »Wie lange ich brauche?« Kurz warf sie einen Blick auf das Display ihres Handys. »Zwanzig Minuten, wenn ich mich nicht umziehe. Wiederhören, Chef.«

»Ist was passiert?« Ihr Gegenüber starrte sie erwartungsvoll an, als sie das Gespräch beendet hatte.

Die hübsche Blonde hob bedauernd die Schultern. »Sorry, Frank, Notfall im Job. Muss leider gehen.« Die beiden saßen an der Theke eines überfüllten Lokals. Auf der spärlich ausgeleuchteten Tanzfläche drehten gut gekleidete Paare selbstvergessen ihre Runden, an den Tischen wurde einander zugeprostet und gelacht. Jeder schien sich bestens zu amüsieren, abgesehen von ein paar hektisch hin und her eilenden Servicekräften, die mühsam versuchten, sich mit voll beladenen Tabletts einen Weg durch das Getümmel zu bahnen, das für einen Sonntagabend in der bekanntesten Tanzbar am Rande von Ansbach durchaus normal war.

»Ich muss weg. Sofort.« Die attraktive Frau kletterte anmutig vom Barhocker und strich sich das Seidenkleid glatt. Ihr Gegenüber hielt sich an der Theke fest, denn sie sah dabei wirklich atemberaubend aus.

»Gibst du mir wenigstens deine Telefonnummer?«, bat er dann. »Ich fand’s wirklich nett heute.«

»Vielleicht beim nächsten Mal.« Die fünfunddreißigjährige Dorothea Haug, genannt »Dodo«, bemühte sich um einen bedauernden Gesichtsausdruck. Während die Kommissarin des K1 in Ansbach ihr Mobiltelefon wieder in der winzigen Handtasche verstaute, versuchte sie, sich ihre Erleichterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

»Hat dein überstürzter Aufbruch etwas mit dieser geheimnisvollen Arbeit zu tun, über die du nicht sprechen kannst?« Frank konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Im düsteren Licht der Tanzbar sah er bleich aus. »Dann sehen wir uns also nicht mehr? Oder kommst du am nächsten Sonntag vielleicht zur Karaoke-Nacht?«

»Ich und Karaoke? Glaub mir, das will sich keiner anhören.« Dodo warf einen Zehn-Euro-Schein auf den Tresen. »Bitte bezahl für mich, der Rest ist Trinkgeld. Hat mich gefreut, Frank. Viel Glück noch bei der Suche nach deiner Traumfrau.«

»Schade.« Frank betrachtete erst den Geldschein und dann wieder Dodo. »Du gefällst mir nämlich wirklich gut.«

»Das Kompliment kann ich leider nicht erwidern«, flüsterte Dodo, als sie außer Hörweite war und sich durch das Gedränge auf der Tanzfläche in Richtung Ausgang arbeitete. Sie winkte dem enttäuschten Verehrer noch ein letztes Mal zu, während sie mit der anderen Hand schon in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel kramte. Hastig stöckelte sie über den dürftig beleuchteten Parkplatz zu ihrem Kombi. Dann fuhr sie hinein in die warme Juninacht.

»Sind das die Zeugen?« Kurt »Kurti« Voggel, der in Rothenburg soeben sein ultraleichtes Mountainbike an eine Hausfassade gelehnt und sorgfältig gesichert hatte, sah sich aufmerksam am Tatort um und wies auf ein älteres Ehepaar, das mit zwei Polizisten diskutierte und einen aufgeregten Eindruck machte. Die Spurensicherung war bereits dabei, das Terrain zu sichern.

In seinen kurzen Hosen und dem kurzärmeligen Camouflage-Shirt hatte ihn ein Beamter der Rothenburger Polizei zuerst für einen Touristen gehalten und mit harschen Worten zum Gehen aufgefordert, bis er endlich seinen Ausweis zeigte. Kurti nahm es gelassen, denn das war ihm schon öfter passiert. Mit dem zerzausten blonden Haarschopf über neugierigen grünen Augen wirkte der attraktive Mittdreißiger wie jemand, der den Großteil seines Tages auf einem Surfboard irgendwo an der Pazifikküste verbringt.

Jetzt betrachtete Kurti das Ehepaar näher. Der Mann ließ die Schultern hängen und sah aus, als müsste er sich gleich übergeben, die Frau, eine vollschlanke Dame mit riesiger Brille, versuchte gerade, an den Polizisten vorbei zur Leiche zu gelangen, um dort zu fotografieren.

»Ja, das sind sie«, antwortete der Beamte verdrossen. »Vermutlich Amerikaner. Der Mann ist total besoffen, und die Frau … ach, sehen Sie doch selbst.«

Im selben Moment drängelte sich die Frau auch schon mit gezücktem Handy an dem Streifenbeamten vorbei.

»Nehmen Sie ihr gefälligst das Telefon weg«, verlangte Kurti.

»Haben wir schon.« Anklagend hielt der Beamte einen durchsichtigen Beutel hoch, in dem ein silbernes iPhone glänzte. »Die hat aus ihrer riesigen Handtasche einfach ein zweites gekramt. Also machen Sie das bitte. Wer weiß, wie viele von den Dingern sie noch dabei hat. Ich verstehe zwar nur die Hälfte von dem, was sie sagt, aber freundlich klingt es nicht. Und ihr Mann erzählt die ganze Zeit was von Kellnern, die Zwillinge sind.« Es klang frustriert.

»Tja, man sollte nie mit jemandem diskutieren, der zwei Liter Vorsprung hat.« Kurti seufzte. »Bitte sorgen Sie mit Ihren Kollegen schleunigst dafür, dass die Anwohner in ihren Häusern bleiben.« Er deutete auf ein Fenster im ersten Stock, an dem ein neugieriges Gesicht erschienen war. Der Beamte eilte davon.

Kurti trat zu der aufgeregten Amerikanerin und ergriff sachte ihre Hand, in der sie tatsächlich ein weiteres Smartphone hielt. »Madam«, bat er. »Please.«

Mary Walker sah den attraktiven Kripobeamten skeptisch an. »Wer sind Sie denn?«, wollte sie wissen, während ihr Blick mit jeder Sekunde freundlicher wurde.

Wenn es nämlich überhaupt irgendjemanden gab, dem Shorts einwandfrei standen, dann war es der neue Mitarbeiter des K1 mit einem Körperfettanteil von einundzwanzig Prozent, verteilt auf stattliche hundertfünfundachtzig Zentimeter Muskelmasse.

»Voggel, Kriminaldauerdienst Ansbach. Special police, you understand?« Kurti war an Verständigungsschwierigkeiten mit Touristen gewöhnt, denn er wohnte in Detwang, einem Ortsteil von Rothenburg, und kannte sich in der Stadt gut aus. »Ich hatte keine Zeit, mich umzuziehen.« Erneut präsentierte er seinen Ausweis, den Mary zweifelnd betrachtete.

»Was haben Sie gesehen?«, erkundigte sich Kurti nun höflich in einwandfreiem Englisch.

»Nicht viel.« Mary Walker musterte ihn neugierig durch ihre riesige Brille. »Jemand schrie etwas, ich drehte mich um, und da ist mir die Frau vor die Füße gefallen.« Sie schien nicht sonderlich schockiert.

»Haben Sie verstanden, was gerufen wurde?«, wollte Kurti wissen, aber Mary schüttelte den Kopf. »Mein Deutsch ist nicht so gut. Aber das sind Ihre dicken weißen Würste auch nicht.«

»Ich kann jetzt nur raten, wie Sie das meinen.« Kurti grinste. »Wie viele Personen haben Sie gesehen?«

Mary dachte nach. »Zwei. Sie schienen zu kämpfen. Aber es ging viel zu schnell. Außerdem haben wir denen da«, sie zeigte auf die Streifenbeamten, »schon alles erzählt. Darf ich jetzt mein Telefon wiederhaben?« Fordernd streckte sie ihre Hand aus.

»Morgen, wenn wir die Daten gesichert haben, Madam, dann können Sie Ihre beiden Telefone gern wieder abholen«, erwiderte Kurti höflich. »Wo sind Sie untergebracht?«

Mary klaubte aus ihrer riesigen Tasche einen Schlüssel mit goldenem Anhänger und ließ ihn vor seinem Gesicht baumeln.

»Ah, der ›Goldene Hirsch‹. Wenn Sie möchten, werden Sie von zwei Beamten ins Hotel begleitet.«

»Das schaffen wir schon allein«, sagte Mary entschieden.

»Gut.« Kurti lächelte ihr zu. »Ihre Personalien wurden ja bereits aufgenommen. Bitte seien Sie so freundlich und kommen morgen noch auf die Wache in Ansbach, um Ihre Aussage offiziell zu Protokoll zu geben. Wie geht es Ihrem Mann?«

»Er wird es überleben«, antwortete Mary mitleidlos. »Immerhin war er bei der Army. Hier geht es ja zu wie in Detroit. Wenn ich das vorher gewusst hätte, dann hätte ich eine Reiseversicherung abgeschlossen.«

»Nicht nötig, gnädige Frau«, erwiderte Kurti beruhigend. »Alles pretty hier, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Und nun muss ich Sie bitten, das Fotografieren zu unterlassen. Nur für den Fall, dass Sie noch ein drittes Smartphone irgendwo versteckt haben.« Sanft, aber resolut entwand er Marys kräftigen Fingern das zweite Mobiltelefon.

Als sie wütend protestierte, erklärte Kurti bestimmt: »Sie bekommen es zurück, wenn wir sichergestellt haben, dass Sie keine unerlaubten Bilder vom Tatort geschossen haben. – Und nein, ich werde darüber mit Ihnen nicht diskutieren. Ich bin von der police, das hier ist unsere Angelegenheit.«

Offenbar hatte Kurti sich deutlich genug ausgedrückt. Leise vor sich hin schimpfend, stapfte Mary, ohne sich zu verabschieden, zurück zu ihrem eingeschüchterten Mann.

Gerade als Kurti sich der Leiche zuwenden wollte, hörte er plötzlich hinter sich eine weibliche Stimme.

»Du bist bestimmt der Neue. Ab sofort übernehme ich.« Er drehte sich um, und eine hübsche Frau mit lockigen blonden Haaren und ernstem Gesicht streckte ihm die Hand zur Begrüßung entgegen. In dem engen blauen Kleid, über dem sie eine weite Chiffonjacke trug, und mit hohen silbernen Absätzen wirkte sie merkwürdig deplatziert. Einige der Kollegen starrten sie an, ebenso wie ein paar Passanten, und Axel Heiße von der Spurensicherung winkte ihr freundlich. Sie warf ihm einen Kussmund zu und wandte sich wieder an Kurti.

»Hallo, ich bin Dodo. Man hat uns gestern schon einander vorgestellt. Wie war dein Name doch gleich? Karl? Kuno?«

»Kurti.« Er zwinkerte ihr zu. »Ist das dein übliches Outfit für Tötungsdelikte? Schick. Oder trägst du das extra für mich?« Anerkennend musterte er sie von oben bis unten.

»An Selbstbewusstsein fehlt es dir offenbar nicht«, bemerkte Dodo. »Hatte keine Zeit, mich umzuziehen. Du ja wohl auch nicht, Rambo.« Sie warf einen vielsagenden Blick auf seine Shorts und die nackten Füße in Sneakers. »Der Chef hat mich informiert, dass wir ab sofort zusammenarbeiten. Eigentlich hätten Fitz und Geiger heute Dienst gehabt, aber die sind in Ansbach unterwegs. Na ja, wir werden schon klarkommen.«

Routiniert schlüpfte sie samt ihren Sandaletten in ein Paar Überschuhe aus Papier, um den Tatort nicht zu kontaminieren. »Das sieht bescheuert aus«, sagte sie seufzend. »Scheint so, als dürfte ich künftig nur noch in Zehensandalen ausgehen.«

»Bei diesem Kleid achtet niemand auf deine Füße«, versicherte ihr Kurti. »Nur das Gürtelholster unter der Jacke trägt ein wenig auf.« Er streifte sich, genau wie seine neue Kollegin, Latexhandschuhe über.

»Wieso bewirbt sich eigentlich jemand vom Rauschgift wie du beim K1?«, fragte Dodo, als sie neben der Toten in die Hocke ging.

»Na, wegen dem Kopfgeld«, erklärte ihr Kurti mit todernster Miene. »Und ich wollte hübsche Frauen kennenlernen, bevorzugt lebendige natürlich.«

»Na toll, ein Komiker.« Dodo deutete auf die Tote. »Der Chef hat mich telefonisch informiert. Die Frau wurde vermutlich die Treppe hinuntergestoßen.«

»Deckt sich mit der Aussage unserer Zeugin«, bestätigte Kurti. »Sie hat im Display ihres Handys gesehen, wie zwei Gestalten miteinander kämpften. Armes Ding, so jung und so schön.« Er beugte sich über die Tote, um das merkwürdige Stück Holz in ihrem Bauch zu mustern.

»Das ist ein Kerbholz«, erklärte ihm Dodo. »Kenne ich aus dem Kriminalmuseum, in das mich meine Mutter einmal pro Jahr schleppt. Eigentlich gehört so was in eine klimatisierte Vitrine.«

»Sie hat ein Hämatom am Auge.« Kurti zeigte auf das Gesicht des Opfers, wo sich deutlich ein Bluterguss unter der rechten Augenbraue abzeichnete.

»Und sie trägt ein Kleid von Prada«, antwortete Dodo. »Außerdem nur einen Schuh, und zwar ein teures Fabrikat.« Suchend sah sie sich um. »Hat den zweiten der verschwundene Prinz mitgenommen? Vielleicht finden wir ihn oben auf der Mauer. Hinauf mit uns.«

Auf der obersten Treppenstufe entdeckten sie eine winzige blaue Handtasche, verziert mit übergroßen Initialen eines exklusiven Designerlogos.

»Alles drin.« Dodo entnahm der Tasche vorsichtig ein Handy und versuchte vergeblich, es zu aktivieren. »Lässt sich nicht einschalten«, sagte sie enttäuscht. »Ich hatte schon mal mehr Glück. Das kommt davon, wenn man keine Hülle benützt, hoffentlich ist nur der Akku leer. Schlüssel, Portemonnaie, Lippenstift, ein Kosmetiktuch, ein Kamm. Ausgeraubt wurde sie nicht.«

Kurti schnappte sich die winzige Geldbörse. »Sandra Kaiser«, las er laut vom Personalausweis der Toten vor. »Sie wohnt hier in Rothenburg, draußen am Stadtrand. Nobles Viertel.«

»Diese Tasche kostet außerdem knapp tausendvierhundert Euro.« Nachdenklich betrachtete Dodo das teure Stück. »Raub können wir also ausschließen. Bis auf ihr Veilchen keinerlei Kampfspuren, soweit ich das beurteilen kann.« Mit einer kleinen Taschenlampe leuchtete sie in sämtliche Winkel des gemauerten Durchgangs. »Das werden sich die Jungs von der Spurensicherung sehr gründlich ansehen müssen. Ich schlage vor, wir machen uns sofort auf den Weg zu ihrer Wohnung. Den Schlüssel haben wir ja.«

»Gehört das zu deiner normalen Ausrüstung, wenn du abends ausgehst?« Erstaunt zeigte er auf die Leuchte in Dodos Hand.

»Ist nicht das erste Mal, dass ich mitten in der Nacht losmuss«, erklärte sie und balancierte auf ihren hohen Absätzen vorsichtig die sehr steile Treppe hinunter. »Hab immer alles im Kofferraum, was ich brauchen könnte, außer anderen Klamotten, aber das passiert mir in Zukunft nicht mehr. Gehört das Fahrrad an der Hauswand dir?«

Kurti nickte. »Ist ökologischer. Und gesünder.«

»Die Gerüchte stimmen also.« Dodo grinste. »Wir nehmen meinen Wagen. Ich hoffe, du bist ein guter Beifahrer und nicht so zimperlich wie mein letzter Partner. Der war vielleicht eine Mimose.«

»Können wir, Frau Haug?« Axel Heiße von der Spurensicherung musterte Dodo wohlwollend. Er freute sich immer, seine hübsche Kollegin zu sehen, auch wenn der Anlass meistens unerfreulich war. Irgendwann würde sie seine Einladung zu einer Tasse Kaffee und einem Heiratsantrag annehmen, dessen war er sich sicher.

»Ja. Bringen Sie sie weg«, bat Dodo. »Je schneller, umso besser. Ich könnte mir vorstellen, dass eine Leiche geschäftsschädigend für den Tourismus ist. Wie lange brauchen Sie hier noch?«

»Kommt drauf an. Sie dürfen mich nicht hetzen.« Axel schaute auf seine Uhr. »Wir müssen ein so breites Gebiet wie möglich abdecken und werden ohnehin nicht viel Verwertbares finden, dazu sind hier jeden Tag zu viele Menschen unterwegs.«

Dodo übergab ihm die Handtasche des Opfers. »Bitte sofort zum Revier bringen und Peter Waltner telefonisch informieren. Wir benötigen so bald wie möglich die Daten aus dem Mobiltelefon, am besten gestern. Peter kommt auch nachts, der ist so was von digitalisiert, dass Sie ihn auf irgendeine Art und Weise immer erreichen. Versuchen Sie es über WhatsApp und Skype oder sehen Sie zur Not auf Instagram, Twitter oder Facebook nach. Irgendwo im Netz treibt er sich um diese Uhrzeit schon noch herum. Schönen Gruß von mir.«

»Worauf wartest du?«, forderte sie dann ihren neuen Kollegen auf. »Wir wollten doch zur Wohnung der Toten.«

»Fahr einfach vor, mit dem da bin ich genauso schnell wie du.« Kurti wies auf sein Fahrrad an der Hausmauer. »Wir treffen uns dort.«

»Ich hätte den Gerüchten wirklich glauben sollen.« Dodo seufzte. »Leg das Ding in meinen Kofferraum. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für Diskussionen über meinen CO2-Fußabdruck.«

»Dazu ist nie der falsche Zeitpunkt«, widersprach Kurti. »Und dieses ›Ding‹ besitzt einen verschweißten Titanrahmen, wiegt insgesamt zweitausendeinhundertfünfundsechzig Gramm und kostet sehr wahrscheinlich mehr als deine vorsintflutliche Feinstaubschleuder.«

»Vorsintflutlich? Alles unter hundertachtzig PS ist sowieso nur eine Gehhilfe«, protestierte Dodo empört, während sie auf ihren hohen Hacken und wild gestikulierend neben Kurti, der verdrossen sein Fahrrad schob, durch das Galgentor zum Parkplatz Rödergasse verschwand. Beide achteten nicht auf den hochgewachsenen grauhaarigen Herrn, der ihren Weggang interessiert beobachtete und sich dann auf den Weg zum Tatort machte. Immer an der Wand lang.

Im Hotel »Goldener Hirsch« in der Schmiedgasse hatte sich Mary Walker soeben in aller Gemütsruhe die Zähne geputzt, nun fand sie ihren Gatten gedankenverloren auf dem Bett sitzend vor.

»Sollen wir nicht besser nach Hause fahren?«, fragte er, grau im Gesicht. »In Lincoln wäre uns so was nie passiert. Und mir ist immer noch übel.«

»Richtig!«, rief Mary enthusiastisch. »In Lincoln wäre uns so etwas nicht passiert. Darum bleiben wir. Ich werde viel erzählen können, wenn wir wieder zurückkommen. Außerdem müssen wir morgen zu diesem Ryan-Reynolds-Verschnitt mit den phantastischen Zähnen und meine beiden Telefone abholen. Jetzt beruhige dich und schlaf endlich.«

Und wieder tat George, was er am besten konnte: Er gab nach.

Ich hoffe, der niedliche Typ mit dem treuherzigen Blick trägt morgen wieder kurze Hosen, dachte Mary, während sie in ein voluminöses Kunstfasernachthemd schlüpfte, das mit mehreren Metern pinkfarbener Rüschen besetzt war.

Dann ging sie zufrieden schlafen. Es knisterte leicht, als sie sich ins Bett legte, aber das taten ihre Gedanken auch.

Sonntagabend, Rothenburg ob der Tauber

»Beeindruckend.« Anerkennend pfiff Dodo durch die Zähne und deutete auf einen offenen Kamin im Landhausstil. »Echtes Holz, kein Bioethanol wie bei mir.« Soeben hatten sie ein geräumiges, mit weißen Luxusmöbeln ausgestattetes Wohnzimmer betreten. Eine verglaste Doppeltür führte hinaus auf eine mit Kübelpflanzen bestandene Dachterrasse. Alles wirkte schlicht und elegant.

»Italienische Sitzmöbel, Bauhaus-Leuchten und Seidenkissen«, flüsterte sie. »Nicht übel. Was ziehst du für ein Gesicht, Kollege?«

»So sehe ich immer aus, wenn mein Magen langsam wieder an die dafür vorgesehene Position rutscht«, erklärte Kurti. »Du bist vorhin übrigens geblitzt worden. Geschwindigkeitsübertretung ist wohl eine liebe Angewohnheit von dir. Ich habe schon gehört, dass deine Strafzettel pro Jahr einen Fernsehkarton füllen.«

»Kann dir auf deinem Titanrad ja nicht passieren«, antwortete Dodo gelassen.

Eingehend betrachtete Kurti die schlichte, weiß lackierte Wohnwand, deren Türen weit offen standen. »Ich vermute, deinen letzten Partner hast du in einer Kurve verloren, so wie du fährst. Fällt dir nichts auf? Hier hat jemand etwas gesucht.« Er sah sich um. Sämtliche Schubladen eines weiß lackierten Sideboards waren herausgezogen, und am Boden lagen mehrere aufgeschlagene Bücher neben einem zerbrochenen Bilderrahmen.

»Vielleicht sieht es ja immer so aus.« Dodo hob eines der Bücher auf und las laut den Titel: »›Wie finde ich den Mann fürs Leben – 100 erfolgreiche Tipps‹. Klingt interessant.«

Kurti lachte und pflückte mit behandschuhten Fingern vorsichtig eine Porzellanscherbe vom schneeweißen Hochflorteppich. »Wie ein Messie wirkte sie nicht«, sagte er. »Obwohl wir letztes Jahr eine angesehene Physiotherapeutin hochgenommen haben, die im großen Stil ihr eigenes Marihuana züchtete, und zwar in einem ihrer Gästezimmer. Da wischte tatsächlich die Putzfrau einmal in der Woche durch. Oh, vielleicht finden wir auf diesem Glas ja Abdrücke.« Er bückte sich, um neben der Couch einen umgefallenen Weinkelch einzusammeln, und zuckte erschrocken zusammen, als lautes Kreischen ertönte. »Autsch!«, rief er und wich überrascht zurück. Ein lang gestreckter grauer Schatten raste davon und verschwand hinter einer angelehnten Tür.

Verdattert rieb sich Kurti die Wange, auf der ein leuchtend roter Kratzer prangte. »Was war denn das?«

»Die vierbeinige Alarmanlage.« Dodo lachte. »Eine Katze. Zieh dir beim nächsten Mal besser lange Hosen an. Die hat sich sicher nur vor dir erschreckt, weil du daherkommst wie ein Pfadfinder.«

»Sieh mal, hier.« Kurti hob einen Laptop hoch, der auf dem Boden neben dem Sofa gelegen hatte, klappte ihn auf und schaltete ihn ein. »Die Unterseite ist noch warm, er wurde vor Kurzem benutzt. Nicht passwortgesichert, gut für uns.«

»Keine Einbruchspuren an der Wohnungstür, das Apartment liegt im zweiten Stock, kein Eindringen über die Fenster ersichtlich«, überlegte Dodo halblaut. »Da hatte vielleicht jemand einen Schlüssel. Schon was gefunden?«

»Keine Dokumente, keine Fotos, keine Musik.« Kurti sah verblüfft von der Tastatur hoch. »Das Ding ist so blütenrein wie mein ökologisches Gewissen. Die Festplatte wurde gelöscht.«

»Soll Peter sich ansehen, der kann eventuell einige Daten rekonstruieren. Nein, ziemlich sicher sogar.« Dodo öffnete eine angelehnte Tür, die ins Schlafzimmer führte. Auf dem pinkfarbenen Kingsize-Bett lag ein großer grauer Kater und starrte sie mit funkelnden gelben Augen aufmerksam an.

»Hallo, Süßer«, säuselte sie. »Verrätst du mir deinen Namen?« Aber die Katze antwortete nicht. Auch im Schlafzimmer standen sämtliche Schranktüren weit offen, das Bettzeug lag zerwühlt auf dem Boden, und vor einer herausgerissenen Kommodenschublade türmte sich in wildem Durcheinander ein Häuflein hauchzarter Dessous in verschiedenen Pastelltönen.

»Heilige Coco Chanel!« Andächtig ließ Dodo den Blick über ein Einbauregal schweifen, in dem säuberlich aufgereiht um die hundert mit Staubbeuteln geschützte Designerhandtaschen standen. »Für den Gegenwert von diesen Dingern bekäme ich ein neues Auto.« Widerwillig riss sie sich von dem Regal los und kniete sich vor den riesigen Einbauschrank. Sie schaltete die Beleuchtung ein und las dann die Aufschrift auf einem Schuhkarton, der zur Hälfte mit zerrissenen Unterlagen gefüllt war.

Der Kater maunzte, sprang vom Bett und kam geduckt auf sie zu.

»Das warst du, oder?« Anklagend wies Dodo auf den wirren Haufen Papierschnipsel auf dem Schrankboden und im Schuhkarton. »Hättest du deinen Frust nicht woanders auslassen können?« Sie streichelte ihm vorsichtig über den Kopf. Der Kater sah sie unergründlich an und huschte davon.

»Katzen.« Ratlos griff sich Kurti, der inzwischen nachgekommen war, einen größeren Papierfetzen. »Letzte Ma…«, las er halblaut. »Inkassobü…« Dann ließ er den Schnipsel sinken. »Warum tun die so was?«

»Manche lieben den Geruch«, erklärte ihm Dodo. »Die zwei Siamkatzen meiner Mutter machen es sich gern im Altpapier gemütlich, nachdem sie es zerfetzt haben. Aber das bekommen wir schon geklebt. Und Peter kümmert sich um den Check der Bankkonten, dann haben wir sämtliche finanziellen Informationen.«

»Peter Waltner? Wie ist der so?«

Dodo schnappte sich einen weiteren Schnipsel und hielt ihn ins Licht. »Kontoauszüge, Sparkasse«, las sie gedankenverloren. »Peter? Kompetent, intelligent. Hat einen nachgewiesenen IQ von hundertneununddreißig und ist der Beste, wenn es um Recherche geht. Ein bisschen schräg drauf, ziemlich schüchtern, und seine einzigen Dates, von denen ich weiß, sind Updates. Wenn du ihn fragst, wie das Wetter ist, sieht er im Internet nach. Warum?«

»Hab von ihm gehört. Er soll spitze sein auf seinem Gebiet.« Kurti warf dem grauen Kater, der es sich mittlerweile wieder auf dem Bett gemütlich gemacht hatte, einen scheelen Blick zu, und hob einen weiteren Papierfetzen hoch. »Diesen zerrissenen Kontoauszügen entnehme ich, dass Sandra Kaiser nicht nur ihr Bett überzogen hat, sondern auch ihr Konto, denn der Dispo ist bis zum Anschlag ausgereizt. Leben am Limit. Andererseits habe ich hier eine Barzahlung …« Er studierte den Schnipsel. »Himmel, dieser Kater! Viertausend Euro, eingezahlt vor vier Wochen. Mehr kann ich nicht lesen wegen dieser vierbeinigen Katastrophe.«

»Ich habe hier auch eine Bareinzahlung.« Dodo hob einen Papierfetzen hoch. »Dreitausend, im März.«

»Vielleicht war sie Ärztin? Hier hängt ein weißer Kittel.« Kurti deutete auf die Kleiderstange.

»Oder Visagistin«, meinte Dodo. »Wenn ich nach dem Tuschkasten gehe, den ich im Bad entdeckt habe. An dem hätte Salvador Dalí seine Freude gehabt. Sie besaß allein vierundzwanzig verschiedene Rouge-Pinsel. Und die Handtaschen da drüben im Regal sind locker fünfzehntausend Euro wert. Was auch immer sie tat, es war lukrativ.«

»Nun, wir haben das Notebook und die Belege.« Kurti erhob sich. »Im Bad befinden sich keinerlei Tabletten oder Hinweise auf Drogen. Insgesamt ist das alles unauffällig. Die Kollegen von der Spurensicherung werden ohnehin gleich anrollen. Den Computer und den Schuhkarton nehmen wir am besten gleich mit.«

Dodo schaute sich nochmals suchend um. »Mich irritiert das Fehlen von privaten Fotos.«

»Fotos finden wir unter Umständen auf ihrem Smartphone.« Kurti klemmte sich das Notebook unter den Arm. »Sind wir damit für heute fertig?«

»Noch lange nicht.« Dodo schnappte sich den Karton und begann, die Schnipsel einzufüllen. »Wir machen uns auf zum Revier und fangen am besten gleich an, uns die Auszüge und Belege genauer anzusehen. Ich habe das Gefühl, wir sollten bei der Besprechung morgen früh vorbereitet sein, denn der Chef klang gar nicht amüsiert. Ausgerechnet Rothenburg. Sag mal, siehst du hier irgendwo einen Karton? Einen großen? Komm her, Süßer … Na, wird’s bald?«

»Redest du immer so mit Männern?«, wollte Kurti entgeistert wissen. »Lass mich raten … du bist sicher noch Single?«

»Ja, bin ich«, gestand Dodo. »Ich warte noch auf den richtigen Mann, am besten so einen Typen wie Rhett Butler aus ›Vom Winde verweht‹.«

»Du meinst mit Segelohren, Brillantine im Haar und Schnurrbart? Der muss doch aufzutreiben sein. Gesetzt den Fall, du schaffst es irgendwie ins Jahr 1930, wo du mit diesem Männerbild auch unbedingt hinsolltest.«

»Für dich besteht jedenfalls keinerlei Gefahr, neuer Kollege«, beruhigte ihn Dodo. »Wo bist du, mein Kleiner?« Erstaunlich elegant huschte Dodo auf ihren hohen Absätzen aus dem Zimmer und öffnete aufs Geratewohl eine Tür.

Montagmorgen, Ansbach

In dem von der Morgensonne beleuchteten lang gestreckten Gebäude der Kriminalpolizei Ansbach in der Schlesierstraße herrschte um diese Uhrzeit bereits Hochbetrieb. Nur in einem einzigen Raum war es mucksmäuschenstill.

»Fehlt noch jemand?« Wolfgang Hübner, der Leiter des K1 in Ansbach, sah alle anwesenden Mitglieder seiner neu gegründeten Sonderkommission der Reihe nach streng an. Niemand getraute sich auch nur zu husten, denn Hübner, ein hochgewachsener, schlanker Mann Ende fünfzig mit dichtem grauen Haar und scharfen blauen Augen, schien an diesem Montagmorgen nicht sonderlich viel Spaß zu verstehen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte er gegen sein übliches Sodbrennen schon mindestens zwei Beutelchen Säurebinder geschluckt. Vermutlich war ihm heute Morgen das ausführliche Telefonat mit einer hochrangigen Rothenburger Lokalgröße nicht bekommen.

Aufmerksam musterte er alle Anwesenden, als er plötzlich niesen musste. Er zog ein blütenweißes Stofftaschentuch mit Monogramm aus der Tasche seiner akkurat gebügelten Leinenhose und warf Dodo dabei einen scheelen Seitenblick zu.

Sie wurde blass. »Verdammt, das hatte ich ganz vergessen«, flüsterte sie Kurti erschrocken zu, der ihr einen fragenden Blick zuwarf.

Hübner verkündete säuerlich: »Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass ich heute Morgen einen Anruf des Bürgermeisters von Rothenburg bekommen habe.« Er steckte sein Taschentuch wieder ein. »Diese Angelegenheit muss so schnell wie möglich vom Tisch beziehungsweise von der Mauer. Gott sei Dank haben die Kollegen der Spurensicherung gute Arbeit geleistet, sodass der Tatort bereits freigegeben werden konnte. Aber zuerst …« Er nieste nochmals, wobei Dodo mit schuldbewusstem Blick zusammenzuckte, dann öffnete er eine Aktenmappe und entnahm ihr ein Blatt Papier. Eine große Ecke war offensichtlich abgerissen und mehr schlecht als recht wieder angeklebt worden. »Frau Haug, Sie waren ja heute Nacht noch mit Herrn Voggel im Büro. Haben Sie hierfür eine Erklärung?« Hübner hielt Dodo das Blatt mit vorwurfsvollem Blick unter die Nase.

»Keine, die Sie mir abkaufen würden«, wand sich Dodo verlegen.

»Das ist der Autopsiebericht der Rechtsmedizin über den Oswald-Fall«, grollte Hübner. »Er lag oben auf meinem Schreibtisch. Wo ist sie?«

»Wo ist wer?« Dodo wurde rot.

»Ist das Ihr Ernst, Frau Haug? Wie lange kennen wir uns?« Hübner stemmte beide Arme in die Hüften und sah sie durchdringend an.

Kurti mischte sich ein. Heute trug er zur Feier des Tages eine ausgewaschene Jeans und ein weites dunkelbraunes Shirt, das wie aufgepinselt wirkte. »Im Zuge der Ermittlungen mussten wir in der Wohnung des Opfers ein herrenloses Tier sicherstellen, um eine weitere Kontamination des Tatortes und eine Zerstörung von Beweisen zu verhindern. Die Katzentoilette war nämlich seit Tagen nicht gesäubert worden, und wir wollten nichts riskieren.«

»Hab schon gehört, dass Sie ein Witzbold sind, Herr Voggel. Also, wo?« Hübner sah sich misstrauisch um. »Frau Haug, Sie wissen doch, dass ich allergisch gegen Katzenhaare bin.«