1 | Warum dieses Buch?

Mein Buch »Handelt!« (Alt, 2020) wurde gut angenommen und stieß eine Fülle von konstruktiven Diskussionen an. Zugleich fanden viele LeserInnen das Buch doch recht abstrakt – zu wenig handlungsorientiert und handlungsermutigend. So hieß es etwa: »Es ist ja recht und schön, was die Katholische Soziallehre gut findet. Aber deckt sich das mit dem, was in der realen Welt diskutiert wird und machbar ist?« Nachfolgend versuche ich, diese Fragen ausführlicher zu beantworten.

Dabei habe ich immer wieder Zweifel, ob ich als Soziologe berechtigt bin, auch über fachfremde Herausforderungen und Probleme zu sprechen. Andererseits merke ich zunehmend, wie wichtig es ist, dass Menschen ein umfassenderes Verständnis der aktuellen Krisen und ihrer Ursachen haben. Zu viele sehen nur die Komplexität und werden mutlos oder haben das Gefühl, sich bei Symptomkurierung zu verzetteln. Oder sie haben ihren Spezialbereich, in dem sie dieses und jenes zum Besseren verändern wollen, und übersehen aufgrund wachsender globaler Vernetzung die Gefahr negativer Wechselwirkungen mit anderen Teilbereichen. Einen solch umfassenden Blick zu vermitteln, erfordert eine leicht verständliche Zusammenstellung von Kerneinsichten, nicht aber komplexe Fachdiskussionen. Auch dies ist ein Ziel dieses Buchs.

Zudem möchte es Hoffnung machen. Es werden bereits die richtigen Diskussionen geführt, es gibt vieles, mit dem wir die Dinge in die richtige Richtung lenken können. Je mehr Menschen den Mut haben, Horizont und Perspektive zu weiten, desto eher gelingt es, jenen ExpertInnen Gehör zu verschaffen, deren Vorschläge unsere Welt sozial gerechter und ökologisch nachhaltiger gestalten können.

Bevor es losgeht, noch dies:

3.1 Problemveranschaulichung

Wie finden Sie das folgende Zitat:

Zentrale Werte unserer Zivilisation sind in Gefahr. In weiten Teilen unserer Erde sind die essenziellen Voraussetzungen für Menschenwürde und Freiheit bereits verschwunden. In anderen sind sie konstant bedroht durch laufende Entwicklungen in der Politik. Die Stellung des Individuums und freiwilliger Zusammenschlüsse werden zunehmend untergraben durch die Ausübung willkürlicher Macht. Selbst der wertvollste Besitz des westlichen Menschen, Gedanken- und Meinungsfreiheit, ist bedroht durch jene Glaubensbekenntnisse, die Toleranz beanspruchen, wenn sie in der Minderheit sind, dann aber, wenn sie eine Machtbasis erlangt haben, alle anderslautenden Sichtweisen zu unterdrücken suchen.

Klingt es vertraut? Knüpft es an Ihre Erfahrung an? Spiegelt es Zeitgeist und Zeitgeschehen wider? Ich möchte wetten, Sie denken an Populismus, Verschwörungstheorie, Meinungsmanipulation, Donald Trump und Brexit.

Und schon hätten Sie sich geirrt. Denn so geht es weiter: Unsere Gruppe

ist der Auffassung, dass diese Entwicklungen genährt werden durch eine Sichtweise von Geschichte, die absolute moralische Standards leugnet und durch das Wachstum von Theorien, die die Herrschaft des Rechts als nicht wünschenswert betrachten. Die Gruppe ist weiter der Auffassung, dass diese Entwicklungen genährt werden durch die Abnahme des Glaubens an Privatbesitz und einen wettbewerbsorientierten Markt, denn ohne die Verteilung von Macht und Initiative, die diese Institutionen mit sich bringen, ist eine Gesellschaft schwer vorstellbar, die Freiheit effektiv zu bewahren vermag. Das Ziel der Gruppe ist, indem sie den Austausch von Gedanken unter jenen ermöglicht, die von gemeinsam geteilten, bestimmten Idealen und Begriffen inspiriert werden, zur Bewahrung und Verbesserung der freien Gesellschaft beizutragen.

Es handelt sich um die 1947 formulierte Absichtserklärung (»Statement of Aims«) der Mont Pelerin Society, der Keimzelle des heutigen Neoliberalismus, die sich und ihrem weltumspannenden Netzwerk aus Think-Tanks, Lehrstühlen, Lobbyisten und Unternehmern seither und bis heute zum Ziel gesetzt hat, entsprechendes Gedankengut zu verbreiten.

Und damit sind wir mitten im Thema, um das es geht: Das »Statement of Aims« enthält alles an Dramatik und Schablonen, was eine gute Erzählung braucht: eine Krise! Die Warnung vor weiteren Gefahren und Bedrohungen! Eine Ermutigung durch den Aufweis von Helden und Waffen, die Schutz, Gemeinschaft, Kampf für Verteidigung und Befreiung verheißen! Und als Happy End eine herrliche Zukunft!

Das »Statement of Aims« ist die inspirative Quelle der jahrzehntelangen weltweiten Dominanz von Profit, Wettbewerb und Wachstum. Propheten eines Wandels verkündigen in dieser »Bergpredigt« in wenigen Sätzen eine großartige Vision. Es ist wie eine Brille, durch die man auf das Durcheinander dieser Welt blickt. Plötzlich erkennt man Struktur, Ordnung und Orientierung. Alles fällt an seinen Platz. Man sieht, was man tun muss, damit eine bessere Welt für alle möglich wird. Wer dies liest und hört, ist angesprochen, vielleicht begeistert. Und schon ist man Fan und Anhänger einer Ideologie, deren Handlungsrezepte man bereitwillig übernimmt und die man dann energisch gegen Andersdenkende oder widersprüchliche Fakten verteidigt.

Die heute dominierende neoliberale Erzählung rechtfertigt aus drei Gründen eine genauere Analyse. Zum einen, weil es ihr weltweit gelang, nationale und kulturelle Interessen zu überlagern und sie deshalb zurecht als »Große Erzählung« gelten kann (siehe 3.3). Zum Zweiten, weil sie eine wichtige Ursache hinter den vielen Gegenwartsproblemen ist und deshalb – drittens – eine Fülle von Gegenerzählungen provozierte, von denen national-völkisch-populistische »kleine« Erzählungen lediglich besonders virulente sind.

All dies legt nahe, dass jeder Einsatz gegen die heute dominierende Erzählung sowie die dadurch provozierten populistischen Gegenerzählungen eine eigene, alternative Erzählung braucht, die eine gleich starke Verheißung und »Frohe Botschaft« anbietet. Dabei wird es sich auch um eine Erzählung von Konflikt, Kampf und Befreiung handeln, im Fall dieses Buchs freilich um eine, die die Gebote der christlichen Bergpredigt, die Erfahrungen eines Gandhi oder Martin Luther King sowie neueste Erkenntnisse der Forschung zu Bewegungen zivilen Widerstands einbezieht.

Bevor wir aber dahin kommen, zunächst einige Darlegungen, wie Erzählungen entstehen.

3.2 Individuelle Erzählungen

Wenn wir über aktuelle Themen diskutieren, halten wir uns für intelligent und rational, so wie es sich für den »Homo Sapiens« gehört. In den Debatten über die Beschränkungen in und die Folgen der Coronakrise wurde aber zuletzt wieder deutlich, dass Menschen sich in dieser Welt nicht nur rational-logisch, sondern auch »irrational«, emotional und oft unbewusst aus dem Bauch heraus über existenziell und tief verankerte Erkenntnis- und Bedeutungsmechanismen orientieren. Dies hat frühkindliche Wurzeln, denn die früheste Wissensgewissheit, die ein Mensch hat, ist keine intellektuelle, sondern die emotionale Gewissheit von Angenommensein durch die Eltern. Recht bald im Anschluss an den Spracherwerb sind Märchen und Sagen erste Instrumente, die Kindern helfen, eine als ungeordnet-chaotisch erlebte Umgebung zu ordnen und zu verstehen. Durch deren Bilde(r)kraft erwerben sie ihr Wissen über Richtig und Falsch sowie Gut und Böse. Sie werden gefesselt durch Erzählungen von Helden, Schurken, Gefährtenschaft, Abenteuer, Kampf und Verteidigung, Treue und Verrat. Sie sind gefangen von den Verheißungen, der Suche und dem Auffinden unermesslicher Schätze und so weiter. Durch die gemeinsame Sprache und die gemeinsam geteilte Bilderwelt entstehen Vertrautheit und Vertrauen in einer Gemeinschaft ebenso wie unreflektiert geteilte Werte und Normen. Diese prägenden Ordnungskategorien werden zeitlebens mithilfe von Opern, Literatur, Kinofilmen und Netflix-Serien verfeinert und vertieft. Mit diesen Prozessen beschäftigen sich heute nicht nur Biologen und Psychologen, sondern auch Futurologen, Soziologen, Anthropologen, Linguisten, Politikwissenschaftler, Historiker, Journalisten und Ökonomen.

So erwerben und bilden wir unseren Common Sense, den gesunden Menschenverstand. Das sind jene einfachen, eingängigen, ja selbstverständlichen Leitlinien, nach denen wir uns in der Regel unbewusst und unreflektiert persönlich, gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich richten und organisieren. Durch die Brille dieser Erzählungen deuten wir Fakten bzw. versuchen wir in verwirrenden Situationen, den Fakten Bedeutung für uns abzugewinnen. Setzt sich solch eine hilfreich-nützliche Erzählung fest, ist sie kaum zu erschüttern und wird zäh verteidigt. Das hat seinen Grund im sogenannten confirmation bias (Bestätigungsvorurteil). Dieser Ausdruck bezeichnet die menschliche Neigung, sich Fakten und Informationen so zu suchen, auszuwählen und zu interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen erfüllen. Letztlich besitzt niemand eine objektiv unbestreitbare Wahrheit. Eben weil jeder seinen Zugang zu Welt und Wirklichkeit nur durch seine individuelle Brille sieht, kann er auch nach außen nur seine subjektive Sicht der Dinge kommunizieren.

Um das zu verstehen, stellen Sie sich Folgendes vor: Jemand ist glücklich und engagiert in seinem Job und bekommt viel positive Rückmeldung von Kunden, Kollegen und dem Chef. Plötzlich wird er dennoch entlassen.

Die Welt, wie er sie kennt, bricht zusammen, und er fragt sich: Warum ich? Warum nicht andere? Habe ich in den letzten Jahren die Signale falsch gedeutet? Lag der Fehler bei mir? Oder doch bei anderen? Ich bin doch der Held der Geschichte! Wer also ist der Bösewicht? Waren es die bösen Kapitalisten, die Unternehmensbereiche »outgesourct« haben? Oder »Asylanten«, die mir den Job wegnehmen? Und wo liegt die (Er-)Lösung? Wie kann ich diesen unerwarteten Schritt für mich aufarbeiten und verständlich machen? Und wenn ich um Rat und Meinung frage: Wem glaube ich? Meinem Chef? Meinen Kollegen? Den Medien? Kurz und gut: Man biegt sich die Dinge zurecht.

Dieses Beispiel veranschaulicht erneut, wie viele andere Formen von Wissen und Gewissheit es für Menschen gibt: intellektuelle, emotionale, intuitive usw. Weltbilder sind dabei umso stabiler, je mehr ihnen anhängen und je ausgeprägter das geteilte Wir-Gefühl ist. Populisten wissen das und arbeiten damit. Genau das wird deutlich, wenn AfD-Politiker Pazderski bekräftigt: »Perception is reality«. Und es erklärt, warum es dort, wo keine »Ausländer« wohnen, besonders einfach ist, ausländerfeindliche Mythen zu verankern: Da niemand einen realen Ausländer trifft und kennenlernt, sind Vorurteil und Feindbild unerschütterlich.

Dieses Beispiel macht zudem andere Probleme verständlich, mit denen wir dieser Tage auf gesellschaftlicher Ebene zu kämpfen haben, etwa beim Klimawandel: Weil jeder nur einen subjektiven Zugang zur Wirklichkeit hat, funktioniert auch Wissenschaft »nur« nach Regeln, die zwischen Subjekten, also intersubjektiv, vereinbart wurden. Diese legen dann fest, welche Methoden beweiskräftig sind oder aufgrund welches Beweises welche Aussagen als wahr und richtig überprüft oder widerlegt werden. Insofern ist Wissenschaft nicht objektiv, sondern intersubjektiv, wenngleich es selbst in komplexen Fällen zu einem wissenschaftlichen Konsens kommen kann.

Viele Menschen haben heute im Persönlichen wie im Globalen zunehmend Probleme, den Durchblick zu behalten. Forscher berichten, dass gerade Menschen, die von der Komplexität der Welt überfordert sind, unter Kontrollverlust und Abstiegsangst leiden.

Diese seien besonders empfänglich für Mythen, die dies auffangen und kompensieren – vielleicht sogar dem Hörer das Gefühl vermitteln, über Geheimwissen zu verfügen, das ihm gegenüber der Masse der Bevölkerung einen Machtvorteil verschafft.

Mit Appellen, Belächeln und Beschimpfung dagegen anzugehen, hilft nicht, sondern erreicht eher das Gegenteil. Gelingt es nicht, die Lücke zwischen Verschwörungstheoretikern, Populisten und dem Mainstreamwissen zu überbrücken, dann suchen sich Menschen weiter das zu ihrer Gewissheit passende Wissen an anderer Stelle und igeln sich mit Gleichgesinnten ein. Die Folge: Die Gesellschaft zerfällt in Teilöffentlichkeiten, Filterblasen und Echokammern.

3.3 Große Erzählungen

Dies leitet über zu dem, was der Philosoph Jean-François Lyotard als »Große Erzählungen« bezeichnet (Lyotard, 1979). Große Erzählungen bieten weit über Einzelpersonen, weltanschauliche Grüppchen, ja Völker und Nationen hinaus einen gemeinsamen Deutungs- und Referenzrahmen. Darin entwickeln Menschen trotz aller Verschiedenheit etwa gemeinsame Vorstellungen von Fortschritt oder Wohlstand. Als Beispiele nennt Lyotard die mittelalterliche Weltordnung, die von der Kirche bestimmt war, das Zeitalter der Aufklärung oder den Marxismus. Es gibt zudem Anhaltspunkte, dass Lyotard die heutige Ausformung des Kapitalismus und dessen Weg zur »Schaffung von Reichtum« den Großen Erzählungen zurechnete.

Wie im Kleinen, so im Großen: Wie oben anhand des plötzlich arbeitslos Gewordenen gezeigt, geht es auch hier um Sätze, Werte, Grundannahmen und -überzeugungen und andere Bausteine, die man nehmen und zu einem Referenzrahmen für den Umgang mit der Welt und darin bestimmte Ziele verknüpfen kann. Wie dies im größeren Rahmen funktioniert, habe ich oben (3.1) anhand des »Statement of Aims« gezeigt: Dort »verpackte« eine Gruppe Annahmen und Überzeugung mit einem bestimmten Zweck und einer bestimmten Absicht. Dieser Vorgang ist als »Framing« (Rahmung) bekannt, und das Ergebnis ist ein Deutungsrahmen, in den jeder bewusst oder unbewusst Informationen und Fakten stellt.

Wie wichtig das Verhältnis zwischen »Fakt« und »Frame« ist, möchte ich anhand von zwei Beispielen aus meiner eigenen Arbeit schildern. In der Kampagne für das Verbot von Anti-Personen-Landminen ging es darum, das Framing der Streitkräfte (»Landminen sind unabdingbar für die Sicherheit des Landes und den Schutz unserer Soldaten«) durch eine humanitäre Sicht zu ersetzen (»Landminen verletzen vor allem Unschuldige, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt sind«).

Ähnlich hinsichtlich des Einsatzes für soziale Rechte illegaler Migranten. Hier galt es, die ursprünglich dominierende Wahrnehmung, nach der »illegale Migranten allesamt Kriminelle sind«, durch eine differenziertere Sicht zu ersetzen. Etwa, dass es sich in der überwiegenden Mehrheit um Menschen handelt, die auf der Suche nach einem Job sind und mangels legaler Optionen zum unerlaubten Aufenthalt gezwungen sind. Das ist zwar eine Straftat, aber eben kein kriminelles Verhalten, welches auf absichtliche Schädigung Dritter aus ist. Beides endete erfolgreich: Im ersten Fall kam es 1997 zu einer Waffenverbotskonvention und zur Verleihung des Friedensnobelpreises, im zweiten Fall wurden soziale Rechte von Migranten sowie die Rechtssicherheit ihrer Helfer per Gesetz gestärkt.

Wie wichtig Framing für den ganz großen Kontext sein kann, veranschaulichte bereits der griechische Philosoph Aristoteles in seinem Buch »Die Politik«. Dort erläutert er, welchen Unterschied es macht, ob eine Gesellschaft ihre Wirtschaft entlang der »oikonomia« (Kunst des Haushaltens mit knappen Ressourcen) oder der »chrematistike« (Kunst des Bereicherns) organisiert. Das ist noch immer aktuell: Auch heute kann ich, je nach den Wertfundamenten meines Theoriegebäudes, entweder eine empirisch-anwendungsorientierte Wirtschaftsweise entwickeln, in deren Zentrum die Kunst des Haushaltens mit knappen Ressourcen steht, oder eine Wirtschaftsweise, in deren Zentrum Kapitalrendite, Shareholder Value und andere Formen schamloser Bereicherung stehen.

Sie erkennen: Zwar ist dieses Verpacken von Fakten in jeder Kommunikation unvermeidlich, aber das besonders kunstvolle Verpacken und Präsentieren von Inhalten ist auch ein einträgliches Geschäft: Lobbyisten, PR-Experten, Think-Tanks oder Spin-Doktoren verdienen viel Geld damit, um für Auftraggeber bestimmten Werten und Grundüberzeugungen breite Akzeptanz und Respekt zu verschaffen. Sie haben dann gewonnen, wenn niemand mehr merkt, dass die Gedanken gelenkt werden. Dann hält man bestimmte Sichtweisen irgendwann für so selbstverständlich, dass man sie ebenfalls übernimmt.

Freilich: Das Verständnis der heute dominierenden, neoliberalen Großen Erzählung, die von vielen Menschen immer noch als die alternativlos beste Weise gesehen wird, Wirtschaft und Gesellschaft zu organisieren, ist bei einem Wirtschaftsprofessor sicher deutlich komplexer, reflektierter und systematischer ausgeprägt als beim Großteil der Bevölkerung. Und doch wird es Überlappungen geben, etwa im Glauben an den Satz: »Erfolg beruht auf Leistung«, der Bedeutung von Wirtschaftswachstum für Wohlstand und freien Märkten für Wettbewerb oder die (nie bewiesene) Gewissheit, dass Erbschaftsteuern für Superreiche Jobs kosten.

Dass es trotzdem höchste Zeit ist, den Neoliberalismus in Frage zu stellen, erkennen inzwischen selbst Musterschüler der Mont Pelerin Society, etwa das Weltwirtschaftsforum in Davos. Dessen Gründer, Klaus Schwab, mahnt nach Corona einen »Great Reset« (Große Zurücksetzung) unserer Weltwirtschaftsordnung an. Damit müsse eine vorurteils- und schonungslose Bestandsaufnahme einhergehen, »insbesondere der neoliberalen Ideologie« (Schwab, 2020).

Sehr richtig. Nur gilt es, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Solche Bestandsaufnahmen erfolgten bislang vor allem auf der Argumentationsebene. Eine Auseinandersetzung nur auf dieser Ebene führt aber dazu, dass die Angegriffenen erst recht einen »confirmation-bias Turbo« anwerfen: Sie sehen in der Ausführlichkeit, mit der sich kritisch mit ihren Inhalten auseinandergesetzt wird, gerade wieder eine Bestätigung von deren Alternativlosigkeit. Denn hielten die Kritiker Alternativen für möglich, würden sie solche ja entwickeln und promoten, und sich nicht mit der Kritik am Bestehenden aufhalten.

Schon 1999 erkannte Donella Meadows, dass man wahren Wandel nur vorantreiben kann, wenn man die Denkweise hinter der aktuell gültigen Erzählung einer Gesellschaft durch eine alternative Denkweise ersetzen kann, die Gleichwertiges oder Besseres verheißt und zugleich nachweisen kann, dass sie in dieser Welt eine realistische und machbare Alternative ist. Oder, im Bild von Pierre Bourdieu gesprochen: Wie Feuer oft nur durch das Legen eines Gegenfeuers bekämpft werden kann, so bedarf es letztlich einer Gegenerzählung, um den Neoliberalismus zu bekämpfen.

Gibt es eine solche alternative Erzählung, werden Informationen und Argumente anders aufgenommen, bedeutungsvoll geordnet und in Handlungsoptionen überführt. Auch hilft diese Erzählung dabei, stets das im Kopf präsent zu haben, was ich will und was ich nicht (mehr) will. Dies verhindert, dass ich mich in der Hitze komplexer Debatten verzettele, sondern immer wieder einen Schritt zurückzutreten und rechtzeitig merken kann: Wohin sich die Diskussion gerade entwickelt, dort möchte ich einfach nicht (mehr) sein und deshalb nicht mehr mitgehen. Eine solche Erzählung hilft, sich nicht mehr am Bestehenden abzuarbeiten und dadurch dessen Leben zu verlängern, sondern sich dem Neuen zuzuwenden

Also: Arbeiten wir uns nicht länger an den Ewiggestrigen ab. Tun wir ihnen diesen Gefallen nicht mehr länger. Definieren wir neue Ziele für unser eigenes Leben und unser Zusammenleben. Wenden wir uns innerhalb dieses neuen Werterahmens mit aller Energie dem Entwickeln und Zusammenpassen von alternativen Organisationsformen für unsere Gesellschaft zu. Verbinden wir uns mit jenen, die mit Kreativität und Kraft eine sozialere und nachhaltigere Alternative umsetzen und stärken wollen! Werden wir Change Agents! Und versuchen wir, die Unentschlossenen und Zweifler für unsere Sichtweise zu gewinnen.