3.3 Große Erzählungen
Dies leitet über zu dem, was der Philosoph Jean-François Lyotard als »Große Erzählungen« bezeichnet (Lyotard, 1979). Große Erzählungen bieten weit über Einzelpersonen, weltanschauliche Grüppchen, ja Völker und Nationen hinaus einen gemeinsamen Deutungs- und Referenzrahmen. Darin entwickeln Menschen trotz aller Verschiedenheit etwa gemeinsame Vorstellungen von Fortschritt oder Wohlstand. Als Beispiele nennt Lyotard die mittelalterliche Weltordnung, die von der Kirche bestimmt war, das Zeitalter der Aufklärung oder den Marxismus. Es gibt zudem Anhaltspunkte, dass Lyotard die heutige Ausformung des Kapitalismus und dessen Weg zur »Schaffung von Reichtum« den Großen Erzählungen zurechnete.
Wie im Kleinen, so im Großen: Wie oben anhand des plötzlich arbeitslos Gewordenen gezeigt, geht es auch hier um Sätze, Werte, Grundannahmen und -überzeugungen und andere Bausteine, die man nehmen und zu einem Referenzrahmen für den Umgang mit der Welt und darin bestimmte Ziele verknüpfen kann. Wie dies im größeren Rahmen funktioniert, habe ich oben (3.1) anhand des »Statement of Aims« gezeigt: Dort »verpackte« eine Gruppe Annahmen und Überzeugung mit einem bestimmten Zweck und einer bestimmten Absicht. Dieser Vorgang ist als »Framing« (Rahmung) bekannt, und das Ergebnis ist ein Deutungsrahmen, in den jeder bewusst oder unbewusst Informationen und Fakten stellt.
Wie wichtig das Verhältnis zwischen »Fakt« und »Frame« ist, möchte ich anhand von zwei Beispielen aus meiner eigenen Arbeit schildern. In der Kampagne für das Verbot von Anti-Personen-Landminen ging es darum, das Framing der Streitkräfte (»Landminen sind unabdingbar für die Sicherheit des Landes und den Schutz unserer Soldaten«) durch eine humanitäre Sicht zu ersetzen (»Landminen verletzen vor allem Unschuldige, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt sind«).
Ähnlich hinsichtlich des Einsatzes für soziale Rechte illegaler Migranten. Hier galt es, die ursprünglich dominierende Wahrnehmung, nach der »illegale Migranten allesamt Kriminelle sind«, durch eine differenziertere Sicht zu ersetzen. Etwa, dass es sich in der überwiegenden Mehrheit um Menschen handelt, die auf der Suche nach einem Job sind und mangels legaler Optionen zum unerlaubten Aufenthalt gezwungen sind. Das ist zwar eine Straftat, aber eben kein kriminelles Verhalten, welches auf absichtliche Schädigung Dritter aus ist. Beides endete erfolgreich: Im ersten Fall kam es 1997 zu einer Waffenverbotskonvention und zur Verleihung des Friedensnobelpreises, im zweiten Fall wurden soziale Rechte von Migranten sowie die Rechtssicherheit ihrer Helfer per Gesetz gestärkt.
Wie wichtig Framing für den ganz großen Kontext sein kann, veranschaulichte bereits der griechische Philosoph Aristoteles in seinem Buch »Die Politik«. Dort erläutert er, welchen Unterschied es macht, ob eine Gesellschaft ihre Wirtschaft entlang der »oikonomia« (Kunst des Haushaltens mit knappen Ressourcen) oder der »chrematistike« (Kunst des Bereicherns) organisiert. Das ist noch immer aktuell: Auch heute kann ich, je nach den Wertfundamenten meines Theoriegebäudes, entweder eine empirisch-anwendungsorientierte Wirtschaftsweise entwickeln, in deren Zentrum die Kunst des Haushaltens mit knappen Ressourcen steht, oder eine Wirtschaftsweise, in deren Zentrum Kapitalrendite, Shareholder Value und andere Formen schamloser Bereicherung stehen.
Sie erkennen: Zwar ist dieses Verpacken von Fakten in jeder Kommunikation unvermeidlich, aber das besonders kunstvolle Verpacken und Präsentieren von Inhalten ist auch ein einträgliches Geschäft: Lobbyisten, PR-Experten, Think-Tanks oder Spin-Doktoren verdienen viel Geld damit, um für Auftraggeber bestimmten Werten und Grundüberzeugungen breite Akzeptanz und Respekt zu verschaffen. Sie haben dann gewonnen, wenn niemand mehr merkt, dass die Gedanken gelenkt werden. Dann hält man bestimmte Sichtweisen irgendwann für so selbstverständlich, dass man sie ebenfalls übernimmt.
Freilich: Das Verständnis der heute dominierenden, neoliberalen Großen Erzählung, die von vielen Menschen immer noch als die alternativlos beste Weise gesehen wird, Wirtschaft und Gesellschaft zu organisieren, ist bei einem Wirtschaftsprofessor sicher deutlich komplexer, reflektierter und systematischer ausgeprägt als beim Großteil der Bevölkerung. Und doch wird es Überlappungen geben, etwa im Glauben an den Satz: »Erfolg beruht auf Leistung«, der Bedeutung von Wirtschaftswachstum für Wohlstand und freien Märkten für Wettbewerb oder die (nie bewiesene) Gewissheit, dass Erbschaftsteuern für Superreiche Jobs kosten.
Dass es trotzdem höchste Zeit ist, den Neoliberalismus in Frage zu stellen, erkennen inzwischen selbst Musterschüler der Mont Pelerin Society, etwa das Weltwirtschaftsforum in Davos. Dessen Gründer, Klaus Schwab, mahnt nach Corona einen »Great Reset« (Große Zurücksetzung) unserer Weltwirtschaftsordnung an. Damit müsse eine vorurteils- und schonungslose Bestandsaufnahme einhergehen, »insbesondere der neoliberalen Ideologie« (Schwab, 2020).
Sehr richtig. Nur gilt es, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Solche Bestandsaufnahmen erfolgten bislang vor allem auf der Argumentationsebene. Eine Auseinandersetzung nur auf dieser Ebene führt aber dazu, dass die Angegriffenen erst recht einen »confirmation-bias Turbo« anwerfen: Sie sehen in der Ausführlichkeit, mit der sich kritisch mit ihren Inhalten auseinandergesetzt wird, gerade wieder eine Bestätigung von deren Alternativlosigkeit. Denn hielten die Kritiker Alternativen für möglich, würden sie solche ja entwickeln und promoten, und sich nicht mit der Kritik am Bestehenden aufhalten.
Schon 1999 erkannte Donella Meadows, dass man wahren Wandel nur vorantreiben kann, wenn man die Denkweise hinter der aktuell gültigen Erzählung einer Gesellschaft durch eine alternative Denkweise ersetzen kann, die Gleichwertiges oder Besseres verheißt und zugleich nachweisen kann, dass sie in dieser Welt eine realistische und machbare Alternative ist. Oder, im Bild von Pierre Bourdieu gesprochen: Wie Feuer oft nur durch das Legen eines Gegenfeuers bekämpft werden kann, so bedarf es letztlich einer Gegenerzählung, um den Neoliberalismus zu bekämpfen.
Gibt es eine solche alternative Erzählung, werden Informationen und Argumente anders aufgenommen, bedeutungsvoll geordnet und in Handlungsoptionen überführt. Auch hilft diese Erzählung dabei, stets das im Kopf präsent zu haben, was ich will und was ich nicht (mehr) will. Dies verhindert, dass ich mich in der Hitze komplexer Debatten verzettele, sondern immer wieder einen Schritt zurückzutreten und rechtzeitig merken kann: Wohin sich die Diskussion gerade entwickelt, dort möchte ich einfach nicht (mehr) sein und deshalb nicht mehr mitgehen. Eine solche Erzählung hilft, sich nicht mehr am Bestehenden abzuarbeiten und dadurch dessen Leben zu verlängern, sondern sich dem Neuen zuzuwenden
Also: Arbeiten wir uns nicht länger an den Ewiggestrigen ab. Tun wir ihnen diesen Gefallen nicht mehr länger. Definieren wir neue Ziele für unser eigenes Leben und unser Zusammenleben. Wenden wir uns innerhalb dieses neuen Werterahmens mit aller Energie dem Entwickeln und Zusammenpassen von alternativen Organisationsformen für unsere Gesellschaft zu. Verbinden wir uns mit jenen, die mit Kreativität und Kraft eine sozialere und nachhaltigere Alternative umsetzen und stärken wollen! Werden wir Change Agents! Und versuchen wir, die Unentschlossenen und Zweifler für unsere Sichtweise zu gewinnen.