LEGO ® . 100 Seiten

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Die E-Books des Reclam Verlags verwenden entsprechend der jeweiligen Buchausgabe Sperrungen zur Hervorhebung von Textpassagen. Diese Textauszeichnung wird nicht von allen Readern unterstützt.

Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Grundstein für den Erfolg: Das US-amerikanische Patent für einen »Toy Building Brick« von 1961, ausgestellt auf Godtfred Kirk Christiansen

Wir haben die Bausteine, ihr habt die Ideen

Eine Schule in meiner Wohnregion hat den ehrlichsten Barfußpfad gebaut, den ich kenne. Tannenzapfen, Steine, Kiesel, Sand – und ein Element mit LEGO-Steinen. Die ultimative Herausforderung selbst für Könner. Man könnte meinen, der Pieks an der Fußsohle sei für jeden mit ein paar Steinen zu Hause eine Selbstverständlichkeit wie blaue Flecken für Inlineskater oder Hockeyspieler. Weit gefehlt. Die Steine gehören zu den gefürchtetsten Erfahrungen im Kinderzimmer. Umso mehr, weil man sie stets zu spät entdeckt und vor dem äußerst unbarmherzigen Stechen nie rechtzeitig zurückzucken kann. Ein fachgerecht ausgeführter, zeitgenössischer Fluch lautet nicht umsonst »I hope you step on a LEGO«. Die kleinen Plastiksteine sind der Härtetest schlechthin. Dabei fing alles doch so harmlos an. Als pädagogisch wertvolles Kinderspielzeug und eine Weiterentwicklung des Urvaters aller Bausteine, dem klassischen Holzklotz. Umgesetzt in einer Version, in der sich aufeinandergestapelte Blöcke fest miteinander verbinden lassen. Die Steine sollten zunächst die Motorik der Kinder fördern, dann ihre Kreativität. Überdies hielten die Bauwerke viel länger als solche aus einfachen Stapelsteinen (wobei aus kindlicher Perspektive grundsätzlich nichts gegen einen Holzturm

Nur für Waghalsige: Der Lego-Barfußpfad

In der Spielzeugbranche überleben die meisten Spielzeuge nicht sehr lange. Zwar ist der Markt äußerst ertragreich: 2019 wurden mit Spielzeugen über 70 Milliarden Euro umgesetzt. Zugleich steht die Branche aber unter dem Druck, kontinuierlich Neuigkeiten auf den Markt zu werfen. Dazu kommt eine starke Konkurrenz durch die Bildschirme, seien es Fernsehen, Social Media oder Computerspiele. Für die Spielzeughersteller ist das kein einfaches Umfeld. Werbung für die gewünschten Zielgruppen wird zudem aufwendiger und damit teuer und

Als ich vor rund 15 Jahren das erste Mal einen erwachsenen LEGO-Fan traf, erzählte er, mit welcher Akribie er Fahrzeuge

Aus genau diesem poppigen Auftritt speist sich eine ungeheure Attraktivität. Welches Bauwerk auch nachgebaut wird, es sieht erkennbar aus wie das Original und doch so viel attraktiver! Das Umwidmen von Material für die Kunst hat Tradition und löst großartige Paarungen aus. Kunst aus Alltagsgegenständen zum Beispiel ist so spannend, weil sie ein Umdenken in Formen, Farben und ganz besonders der Nutzung erfordert. Das gilt ebenso für ein Kinderspielzeug. Viel mehr als klassische Kunst spricht LEGO obendrein alle Altersstufen an, denn mit diesen Bausteinen identifizieren sich fast alle Menschen automatisch. Selten habe ich so viele leuchtende Augen und staunende Gesichter gesehen wie auf einer

Der Lego-Künstler Nathan Sawaya bei seiner Ausstellung The Art of the Brick 2014 in London

Diese Frage lässt sich in kleinem Rahmen wissenschaftlich exakt beantworten. LEGO selbst gab über Jahre hinweg die folgende Antwort: Sechs 2×4-Steine könne man in 102 981 504 unterschiedlichen Variationen aufeinandersetzen. Gerechnet wurden dafür Türme mit der jeweils maximal möglichen Höhe. Schöpft man allerdings die Kombinationsmöglichkeiten vollends aus, wird das schnell kompliziert. Deshalb befasste sich der dänische Mathematikprofessor Søren Eilers 2005 erneut mit der Frage. Er berechnete die Variationsmöglichkeiten für sechs solcher Steine und kommt auf über 900 Millionen (präzise gesagt 915 103 765) Möglichkeiten, bei sieben Steinen sind es schon Milliarden, nämlich 85 747 377 755. Sobald die Berechnungen acht Steine oder mehr erreichen sollen, erinnern die erwarteten Rechenzeiten an den legendären Computer Deep Thought, den der Science-Fiction-Schriftsteller Douglas Adams (1952–2001) erfunden hat und der für die ihm gestellte Frage 7,5 Millionen Jahre Rechenzeit benötigt. Eilers vermutet auf Basis seiner Daten, dass die Zahl der Möglichkeiten für 25 Steine etwa 47 Stellen hat und die Zahl der Jahre, um das auszurechnen, hätte 42 (ich habe Deep Thought nicht umsonst erwähnt). Einfach zu rechnen ist nur die Zahl der Türme, die sich mit 25 Steinen bauen lässt, weil dafür dieselbe einfache Rechenmethode benutzt wird, die LEGO vor mehr als vierzig Jahren eingesetzt hatte und alleine das ist eine Zahl, die bereits sagenhafte 40 Stellen hat. Steine in unterschiedlichen Farben werden in dieser Rechnung nicht einmal berücksichtigt. Zu sagen, die Spielmöglichkeiten seien »unendlich«, ist also keine Übertreibung, sondern erwiesenermaßen Realität.

Eine kleine Manufaktur auf dem Land

Die Geschichte von LEGO beginnt vor über 100 Jahren im kleinen dänischen Dorf Billund. Ein winziger Weiler mit einer Handvoll Bauernhöfe, mitten im »finstersten Jütland«, wie man in Kopenhagen seinerzeit urteilte. Dort wuchs LEGO-Gründer Ole Kirk Christiansen (1891–1958) in einer landwirtschaftlich geprägten, recht kargen und ärmlichen Region auf. Ein älterer Bruder brachte ihm das Tischler- und Zimmermannshandwerk bei, mit dem Ole sich künftig seinen Lebensunterhalt verdienen sollte. Nach der üblichen Wanderschaft kehrte er als junger Mann nach Billund zurück und kaufte dort 1916, mit 25 Jahren, eine Tischlerei. Die kommenden Jahre stellte Ole genau das her, was zum üblichen Sortiment gehört: Schränke, Kommoden oder einzelne Elemente für die Bauernhäuser. Seine Kunden kamen vorrangig aus der näheren Umgebung, in der sich der junge Handwerker mit Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit einen guten Ruf erarbeitete. Das ging gut bis ins Jahr 1924. Zwei der Söhne, einer davon gerade vier Jahre alt, feuerten einen Ofen an. Dabei setzten sich Späne in der Werkstatt in Brand und aus einem wärmenden Feuer gegen die strenge Kälte wurde ein Großbrand, der Haus und Werkstatt zerstörte. Doch Vater Ole hatte ausreichend

Von Oles vier Söhnen entpuppte sich besonders Godtfred als heller Kopf, der wie sein Vater ein geschickter Tüftler und Handwerker war und obendrein kaufmännischen Verstand zeigte. Nach dem frühen Tod der Mutter musste der damals erst Zwölfjährige nach Anleitung des Vaters Buchführung und Rechnungsstellung übernehmen. Mit 14 Jahren trat der junge Godtfred dann nach seinem Schulabschluss offiziell in die Firma des Vaters ein.

Erste Spielwaren aus Billund

Wirtschaftlich waren die 1930er Jahre in Jütland nach der Weltwirtschaftskrise ebenso hart wie überall sonst. Der Tischlerbetrieb musste irgendwann seinen Mitarbeitern kündigen und Ole blieb zeitweilig neben dem Sohn Godtfred nur ein Lehrling als Mitarbeiter. Die Kirk Christiansens erweiterten ihr Sortiment der Kasse zuliebe um andere Holzprodukte wie Trittleitern, Bügelbretter oder Weihnachtsbaumständer. Als offizielle Firma meldete Ole Kirk Christiansen seinen Betrieb erst 1932 an. Um diese Zeit herum begann er, aus Abfallholz Miniaturen für Puppenhäuser zu bauen – die ersten Spielwaren aus Billund waren aus der Not heraus geboren. Ein Händler, der die Modelle auf der Durchfahrt entdeckte, forderte kurz darauf die erste Lieferung an. Seiner Meinung nach würden kleine Spielzeuge wie

Ermutigt durch diesen Erfolg entwarf Godtfred weitere Spielzeugmodelle. Das Sortiment erweiterte sich unter anderem um Autos oder zusammenklappbare Puppenhäuser. Doch ein finanzieller Aufschwung sollte lange Zeit ausbleiben. Die 1930er überstand der Betrieb letztlich, weil Oles neun Geschwister mit einem Darlehen aushalfen. Verbunden übrigens mit dem dringenden Hinweis darauf, der Bruder möge mit der Finanzspritze bitteschön etwas Sinnvolleres herstellen als ausgerechnet Spielzeuge. Erst gegen Ende des Jahrzehnts stand die Firma wirtschaftlich so gut da, dass sie anderen Familien wieder Arbeit geben konnte. Allerdings nicht, weil Ole den Ratschlag der Geschwister beherzigt hatte. Sondern weil er an seinem Sortiment festgehalten, stur an den Erfolg geglaubt und glücklicherweise Recht behalten hatte.

Trotz der ständig knappen Kassen bestand der Firmengründer stets darauf, sämtliche Waren in perfekter Qualität abzuliefern. Bis heute erzählen die Dänen die Anekdote, dass Godtfred einst bei den Herstellkosten sparen wollte und die sonst dreifache Lackschicht nur doppelt ausführte. Stolz auf seine günstige Neuerung berichtete er dem Vater. Der allerdings schickte ihn umgehend zum Bahnhof, um die bereits versendeten Waren zurückzuholen und erwartete, dass der

Ein kürzerer Firmenname muss her

Der Firmenname, der inzwischen einen globalen Konzern und umgangssprachlich eine komplette Spielwarengattung prägt, entstand 1934. Verpackungen galten damals als überflüssig, weil kostspielig. Besser war es, die Produkte einfach auf der Unterseite zu stempeln. Für diesen Zweck war ein Schriftzug wie »Spielwaren aus der Tischlerei Kirk Christiansen, Billund« allerdings zu lang. 1934 lancierte die Firma deshalb einen Wettbewerb unter den Mitarbeitern, um eine bessere Lösung zu finden. Zur Auswahl standen schlussendlich die zwei Begriffe Legio und LEGO. Das erste Wort war abgeleitet von Legion, weil die Werkstatt eine »Legion von Spielzeugen« herzustellen vermochte. Das zweite war ein griffiger Zusammenschluss des dänischen »leg godt«, der Ausdruck für »spiele gut«. Der Ausgang dieser Wahl ist offenkundig, der Ausgang des Wettbewerbs weniger: Den Preis, den Ole ausgelobt hatte, eine Flasche Wein, strich der Chef mit seiner Kreation am Ende selber ein. Dass LEGO auch mit dem Lateinischen »ich sammle« oder »ich wähle aus« zusammenpasst, ist ein schöner Zufall, der allerdings erst Jahre später auffiel.