Isolde Kurz

Wandertage in Hellas

1913 München bei Georg Müller

Isolde Kurz

Wandertage in Hellas

1913 München bei Georg Müller

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-48-5

null-papier.de/543

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Wid­mung

Triest – Pi­raeus

Athen

Ägi­na und Sala­mis

Eleu­sis

Me­nid­hi-Achar­nä

Kap Su­ni­on

Die Ar­go­lis

Ko­rinth und der Isth­mus

Del­phi

Nach Olym­pia

Ein ar­ka­di­scher Früh­lings­tag

Be­such in The­ben

Chal­kis

Letz­te Tage in Athen

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Widmung


Mit dei­ner Milch, ver­spreng­te Grie­chin, sog ich
den Traum von Grie­chen­land, als Wie­gen­lie­der
um­rausch­ten mich ho­me­ri­sche Ge­sän­ge,
und mei­ne däm­mern­den Ge­dan­ken wand­test
du Hel­las zu.

Nicht Bän­der und Ju­we­len
und was sonst Mut­ter­lust den Töch­tern schenkt,
gabst du der dei­nen, doch das lau­tre Gold
der Dich­tung häuf­test du auf sie und lies­sest
bei Göt­tern und Hero­en sie er­blühn,
die Glück­li­che, gabst Iphi­ge­ni­en ihr
zur Spiel­ge­fähr­tin und An­ti­go­ne.

Des Le­bens tie­fre Schön­heit lernt’ ich frü­he
von dir, die gros­sen schmerz­ge­nähr­ten Freu­den,
und dass kein Glück der Brust ge­nü­gen kann,
wenn es den Dä­mon nicht in uns be­glückt.

Lang war dein Tag und reich an Wun­dern. Jauch­zend
warfst du in Op­fer­flam­men dich und stiegst
ver­jüngt her­vor. Zu dei­ner Höhe dran­gen
die klei­nen Sor­gen nicht, und für die gros­sen
gab dir dein Pla­ton Trost. Dein Kin­der­herz,
das nie den ho­hen Ernst vom Lä­cheln trenn­te,
blüh­te nur se­li­ger zwi­schen Grä­bern auf,
denn die das Le­ben dir ent­fern­te, gab
der Tod dir ganz zu­rück. Dir war das Al­tern
nur wie ein Klei­der­wech­sel; ewig jung
leb­test du fort mit Ge­ni­en und Hero­en
und wuss­test nichts von Zeit. Das Siech­tum kam
und brach dich nicht, es sänf­tig­te zum Frie­den
den all­zu­ho­hen Schwung der See­le nur.
Und süs­ser reif­te dei­nes Le­bens Frucht
und hö­her strahl­ten dei­ne Hel­den­au­gen,
und dei­ne Lie­be hielt dich fest im Licht.
Für im­mer, dacht’ ich, müss­te sie dich hal­ten.

Um­sonst, die Stun­de rann. Da, auf dem Estrich,
er­scholl ein un­er­be­te­ner Schritt. Du hobst
das Haupt: Bist du es, al­ter Tha­na­tos?
Wohl­an, ich mur­re nicht, doch wär’ es schön,
ein Weil­chen zu ver­ziehn. – Der stand und staun­te,
ge­rührt, dass ihn ein­mal, den All­ver­hass­ten,
ein Strahl des Lä­chelns traf. Be­schei­den trat er
zu­rück und harr­te noch im Vor­ge­mach.

Wie hei­lig war dir die ge­schenk­te Stun­de.
Zu al­lem Le­ben­den sprachst du noch ein­mal:
Ich lie­be dich! – und ho­best ein­mal noch
zu al­lem Ho­hen, Herr­li­chen die Arme,
mit Ge­ni­en sprachst du noch und mit Hero­en,
und in die letz­ten Träu­me folg­ten dir
des So­pho­kles Ge­stal­ten. Also fest­lich
schiedst du hin­weg, die Hö­hen glüh­ten all
von dei­nem Licht. – Als es ver­glom­men war,
fiel jä­her Frost her­ab, die Welt ver­eis­te.

Auf dei­nen Hü­gel, Hei­li­ge, leg’ ich nun
dies Buch von Hel­las, dein ist je­des Wort
und dir ver­traut, du warst ja mit da­bei!
Als mich die jo­ni­schen Ge­wäs­ser wieg­ten,
als ich zum ers­ten Mal den Pal­las­berg
er­stieg und Sala­mis vor mei­nen Au­gen
auf­glänz­t’ im Mee­re mit den Schwes­te­r­in­seln,
ver­nahm ich dei­ne Stim­me, denn du sangst
und ju­bel­test in mir. Werd’ ich auch nie
dein Auge strah­len sehn auf die­sen Blät­tern,
weil es zur Son­ne heim­ge­kehrt, doch fühl’ ich
dein Lä­cheln rings­um­her, wenn ich dir sage:
Die schö­nen Mä­ren, die dem Kin­de du
er­zählt, sind alle, alle wahr! Ich sah
den Isth­mus, wo des jun­gen The­seus Hand
den Räu­ber Si­nis zwang, ich sah die Stel­le,
wo ras­tend sass die müt­ter­lichs­te Göt­tin,
ich sah den Weg, auf dem An­ti­go­ne
le­ben­dig ein­ging in des Ha­des Haus.
So hei­matin­nig sah das hei­li­ge Land
mich an, weil je­der Schritt mich dein ge­mahn­te.
Dort gab zum ers­ten Mal der Traum­gott dich
zu­rück, dort schmolz das Eis, von dem ich starr­te,
dort wärm­te mich zu­erst die Son­ne wie­der.

In dei­nen Blu­men­hü­gel, wo dein Geist
am liebs­ten weilt, bei der Tyr­rhe­n­er­wel­le,
die, wenn sie an­rauscht, von der jo­ni­schen
er­zäh­len kann, hab’ ich ein Reis ge­senkt,
das auf­spross im Ge­röll der Pal­las­burg.
Du nahmst und sand­test es nach Mon­den­frist
ver­sechs­facht wie­der, über­schweng­lich warst du
ja stets im Ge­ben, und in taui­ger Frü­he
des schöns­ten Tags stand die To­s­ka­ner Magd
am Beet und rief und sag­te fromm: »Ein Wun­der!«
Ein Wun­der wahr­lich war’s, denn eine Blu­me
war über Nacht er­blüht, wie kei­ne noch
der Bo­den trug, die schöns­te Grie­chen­blu­me,
aus Son­nen­schein ge­wo­ben, sa­fran­far­ben
wie Fest­ge­wän­der der Athe­ne­rin­nen,
wenn sie, vom Rei­ter­zug um­braust, der Göt­tin
den hei­li­gen Pe­p­los brach­ten. Ei­nen Tag nur
stand sie in­mit­ten ih­rer ir­di­schen Schwes­tern,
die Fremd­lin­gin, und schloss den Kelch für im­mer.

Aus müt­ter­li­chen Rei­chen, wo du lie­bend
am ewi­gen Wachs­tum schaffst, war sie ge­kom­men
als Bo­tin, dass du nicht vom Let­he­be­cher
ge­trun­ken, dass auch bei den Un­sicht­ba­ren
du lie­bend, wir­kend dich im Sein er­hältst.

*

For­te dei Mar­mi, Herbst 1912.

Triest – Piraeus

Kalt bläst der Wind aus dem Karst­ge­bir­ge, zer­fetz­te graue Wol­ken zie­hen über den Him­mel, nur auf Schloss Mi­ra­mar liegt Son­nenglanz, wäh­rend wir durch den un­ru­hi­gen Wel­len­gang des Ha­fens von Triest ins of­fe­ne Meer steu­ern.

Un­ser »Baron Beck« vom ös­ter­rei­chi­schen Lloyd ist über­füllt mit Rei­sen­den, die sich zum Ori­en­ta­lis­ten­kon­gress nach Athen be­ge­ben. Da die Ge­le­gen­heit so ein­zig güns­tig ist, hat mei­ne alte Schutz­her­rin Pal­las Athe­ne auch mich im Handum­dre­hen zur Ori­en­ta­lis­tin um­ge­schaf­fen und mich mit der Kon­gress­kar­te, vor der sich alle Rie­gel öff­nen, auf dem »Baron Beck« ein­ge­schifft. Zum Beglei­ter gab sie mir mei­nen al­ten Freund Er­ne­stos, der mich in mei­ner Früh­zeit die grie­chi­schen Dich­ter im Ur­text le­sen lehr­te und mir schon da­mals den Traum von Grie­chen­land träu­men half. Als klas­si­scher Phi­lo­lo­ge konn­te er sich in al­ler Eile noch vor Ab­gang des Schif­fes in den Be­sitz von so viel Neu­grie­chisch set­zen, als wir bei­de an Ort und Stel­le brau­chen wer­den.

Das Fest­land ist schon weit zu­rück­ge­blie­ben, aber mei­ne al­ten Do­lo­mi­ten leuch­ten mir noch in nie ge­se­he­nem Glan­ze, bis tief her­ab mit Schnee be­deckt. Gleich un­ge­heu­ren sil­ber­nen Rie­sen­bur­gen ste­hen sie über der Küs­te und schau­en uns noch stun­den­lang nach. Wie die letz­te Abend­son­ne über ih­nen ver­sprüht, wird das Meer dun­kel­stahl­blau mit weis­sen Schaum­kro­nen. Links im Os­ten er­scheint selt­sam un­wirk­lich der ist­ri­sche Küs­tensaum mit dem dunklen Strich der nied­ri­gen Berg­wäl­der, hin­ter de­nen der Mon­te Mag­gio­re auf­ragt, und dem Leucht­turm auf vor­ge­scho­be­ner Spit­ze; ge­gen­über in kla­re­rer Zeich­nung das ge­bir­gi­ge Ufer Ita­li­ens. Doch be­vor die mit Un­ge­duld er­war­te­te Küs­te von Dal­ma­ti­en in Sicht kommt, ver­sinkt al­les in Dun­kel­heit.

Ein Blick in mei­ne Ka­jü­te hat­te mir zei­tig jede Hoff­nung auf Nachtru­he be­nom­men. Das Schiff war so voll, dass man un­ser vie­re in den en­gen Raum ge­pfercht hat­te. Jetzt fand ich dar­in noch einen Turm von Hutschach­teln al­ler­neues­ten Um­fangs auf­ge­baut, je­den Zoll­breit Fuss­bo­den mit Klei­dungs­stücken be­sät, und eine Luft, die nicht zu at­men war. Ich be­schloss also, die Nacht auf Deck zu ver­brin­gen, und Freund Er­ne­stos, in des­sen Ka­jü­te die Din­ge nicht viel bes­ser stan­den, leis­te­te mir Ge­sell­schaft. Um Mit­ter­nacht wur­de der Wind so stark, die Feuch­tig­keit so durch­drin­gend, dass wir uns die Lehn­stüh­le nach dem lee­ren un­te­ren Schiffs­raum, der als drit­te Klas­se be­nutzt wird, brin­gen lies­sen. Dort la­gen nur we­ni­ge ver­mumm­te Ge­stal­ten, die ich zu­erst für Sä­cke hielt, in der Ecke auf Prit­schen um­her. Doch nach ei­ner Stun­de war auch dort der feucht­kal­te Zug­wind un­er­träg­lich ge­wor­den, und es blieb uns nichts üb­rig, als uns in un­ser Ge­schick und in un­se­re Ka­bi­nen zu fü­gen. Ich hat­te noch einen Schwert­tanz zwi­schen den auf­ge­rich­te­ten gros­sen Stahl­spies­sen der am Bo­den lie­gen­den Hüte auf­zu­füh­ren, ehe ich auf der Lei­ter mein Bett er­klomm.

Durch über­lau­tes Ge­schä­ker in tries­ti­ni­schem Ita­lie­nisch vor der Zeit ge­weckt, bot sich mir der un­er­freu­lichs­te An­blick: zwei Da­men wa­ren von der See­krank­heit stumm und re­gungs­los nie­der­ge­streckt; die drit­te Lär­men­de, die zu ei­ner der Stil­len sprach, hat­te sich des ge­mein­sa­men Wasch­ge­räts und al­ler üb­ri­gen Ge­brauchs­ge­gen­stän­de in ei­ner Wei­se be­mäch­tigt, die es un­mög­lich und auch nicht mehr wün­schens­wert mach­te, sich der­sel­ben gleich­falls zu be­die­nen. Mei­ne höf­li­che Bit­te um et­was Platz hat­te eine un­höf­li­che Ant­wort und ver­mehr­te Aus­brei­tung ih­rer­seits zur Fol­ge. Kei­ne Ret­tung, als den Ort zu räu­men und mich ins Ba­de­ka­bi­nett zu flüch­ten, wo­hin mir bald eine Dame aus Ber­lin nach­kam, die gleich­falls vor ih­ren Zel­len­ge­nos­sin­nen floh. Wel­che Aus­sicht auf die drei wei­te­ren Näch­te, die noch an Bord zu ver­brin­gen wa­ren!

Der gan­ze Tag ver­geht uns auf ho­her See. Man sieht nichts als die schwarz­blaue, ge­heim­nis­vol­le Flut, die um das Schiff her durch den vor­quel­len­den Schaum weiss­lich ge­ädert er­scheint, ein selt­sa­mer An­blick, wie wenn far­bi­ger Mar­mor flüs­sig ge­wor­den wäre. Um 11 Uhr nachts wird in Brin­di­si an­ge­legt: vie­le Lich­ter am Quai, ita­lie­ni­scher Ha­fen­lärm, durch­tönt vom Ge­sang deut­scher Ma­tro­sen, dann wird eine Trep­pe nie­der­ge­las­sen, und zu un­se­rem Schre­cken er­giesst sich noch ein gan­zer Strom von Ori­en­ta­lis­ten in un­ser Schiff, die alle bis Pa­tras mit­fah­ren wol­len, aber kei­ne Ka­bi­nen­plät­ze be­kom­men kön­nen. Ess­zim­mer und Rauch­sa­lon wer­den zu Schlaf­sä­len für die Her­ren ver­wan­delt; wo die Da­men un­ter­kom­men, bleibt ein Rät­sel. Ich quar­tie­re mich im Ba­de­ka­bi­nett ein, wo mir der Ste­wart auf mei­ne Bit­te ein Brett mit Kis­sen über die Wan­ne le­gen lässt, weil ich un­ter kei­nen Um­stän­den mehr mit der tries­ti­ni­schen Hul­din in ei­nem Rau­me schla­fen will.

Das Gute hat ein sol­ches La­ger, dass man am Mor­gen nicht ver­schläft. Ich bin in der Frü­he un­ter den ers­ten auf Deck und stau­ne die Ber­ge von Al­ba­ni­en an, die sich in herr­li­chen For­men zu un­se­rer Lin­ken er­he­ben, lich­ter, zar­ter als ir­gend et­was je im Sü­den Ge­se­he­nes, wie aus zart­grau­em Duft ge­wo­ben. In San­ti Qua­ran­ta wird an­ge­legt. Hier ist schon der Ori­ent. Eine Men­ge Al­ba­nier in der be­kann­ten ma­le­ri­schen Tracht kom­men an Bord, ein ge­bun­de­nes Lämm­chen mit sich füh­rend, das sie, wie ich fürch­te, un­ter­wegs zu ver­zeh­ren ge­den­ken, denn Os­tern ist vor der Tür. Die­se gan­ze bun­te Welt wird un­ten in der drit­ten Klas­se ver­staut und ver­schwin­det zu­nächst un­se­ren Bli­cken.

Am Mit­tag er­rei­chen wir die schö­ne Bucht von Kor­fu, die der stol­ze Pan­to­kra­tor über­ragt. Be­vor wir ein­fah­ren, er­le­ben wir eine son­der­ba­re Über­ra­schung. Aus der Tie­fe des Schif­fes tau­chen erst ein­zeln, dann in im­mer wach­sen­der An­zahl kor­fio­ti­sche Boots­leu­te und Trä­ger auf, die uns ge­räusch­voll in ita­lie­ni­scher Spra­che ihre Diens­te für die Lan­dung an­bie­ten. Es ist, als hät­te das Meer sie auf un­ser Schiff ge­spien, denn wir sind noch weit vom Land, und man be­greift nicht, wo sie her­kom­men. Als wir uns der Ein­fahrt nä­hern, hat ihr An­sturm et­was Be­täu­ben­des und so Ge­walt­tä­ti­ges, dass man mei­nen könn­te, wir sei­en von Pi­ra­ten ge­ka­pert. Erst spä­ter in Grie­chen­land, wo der glei­che Vor­fall sich vor je­der Lan­dung wie­der­hol­te, er­fuhr ich, wie es die Leu­te mit Hil­fe der Ma­tro­sen fer­tig brin­gen, sich an ei­nem aus­ge­häng­ten Seil schon auf ho­her See in den fah­ren­den Damp­fer ein­zu­schwär­zen.

Beim Aus­boo­ten in Kor­fu wird das Drän­gen und Schrei­en die­ser Wil­den nur im­mer är­ger; man muss acht­ge­ben, dass man nicht von der Schiff­strep­pe ins Meer ge­stos­sen wird. Wir las­sen uns zu Wa­gen, denn die Zeit ist knapp, in die schö­ne Phä­aken­in­sel hin­ein­füh­ren. Die Fahrt geht zwi­schen üp­pi­gen Oli­ven­hai­nen durch, doch scheint mir der viel­be­wun­der­te Öl­baum von Kor­fu nicht mäch­ti­ger als der im Luc­che­si­schen. Grü­ne Wie­sen und Wei­de­plät­ze, von Aga­ven um­säumt, wech­seln mit dür­rem Acker­ge­län­de, des­sen lo­cke­re, gelb­li­che Schol­le aus­sieht, als wol­le sie sich in Staub auf­lö­sen. An den Rai­nen blüht viel stark rie­chen­der As­pho­de­los, der aber bei wei­tem nicht die Höhe des rö­mi­schen er­reicht. Zu­erst wird beim Achil­lei­on halt­ge­macht, das wir nicht be­tre­ten kön­nen, weil die Kai­ser­flag­ge dar­über weht. Da­rauf lässt man uns noch die Aus­sicht von Ga­stu­ri be­wun­dern, und dann geht es im Trab nach der Spit­ze ei­ner Land­zun­ge, die von ei­nem dort auf­ge­stell­ten al­ten Ge­schütz Ca­no­ne heisst. Von hier aus zeigt man die Bucht, wo der Strom­gott den vom Schwim­men er­schöpf­ten Odys­seus freund­lich ans Ge­sta­de ret­te­te, und wo dann die kö­nig­li­che Jung­frau Nau­si­kaa sich des Ver­stürm­ten er­barm­te. Das rei­zen­de, ganz mit Zy­pres­sen be­wach­se­ne Fel­sen­in­sel­chen Pon­ti­ko­ni­si (Mäus­ein­sel), das zwi­schen dem of­fe­nen Mee­re und ei­ner tie­fen Ein­buch­tung ge­ra­de Ca­no­ne ge­gen­über liegt, galt von al­ters her für das Phä­aken­schiff, das der Meer­gott zur Stra­fe für die Ret­tung des Odys­seus auf der Heim­kehr im An­ge­sicht al­ler Phä­aken ver­stei­ner­te. Deut­sche wol­len dar­in auch Böck­lins »To­ten­in­sel« er­ken­nen, die so vie­le Vor­bil­der in der Na­tur hat und doch ganz aus der Fan­ta­sie des Künst­lers ent­sprun­gen ist. Eine hes­pe­ri­sche Schol­le, die­ses Kor­fu oder Kerky­ra, wie es jetzt wie­der heisst, das mich wie ein ab­ge­spreng­tes, ver­klär­tes Stück Ita­li­en an­mu­tet. Noch sehe ich nichts, das mei­ner er­ha­be­ne­ren Vor­stel­lung von grie­chi­scher Land­schaft ent­sprä­che.

Bei ei­nem klei­nen Aus­gra­bungs­feld ne­ben ei­ner Kir­che wird noch ein­mal halt­ge­macht, und wir be­sich­ti­gen auch den neu­en Fund, den sie schon ins Mu­se­um ver­bracht ha­ben: einen gro­tes­ken ar­chai­schen Gor­go­nen­fries, der die grie­chi­sche Kunst ein­mal von der Sei­te wil­der Fan­tas­tik zeigt.

Mehr will die knap­pe Frist uns nicht ge­wäh­ren. Der »Baron Beck« hat schon das ers­te Zei­chen ge­ge­ben, und brau­ne Phä­akensöh­ne, die ih­ren ›ru­der­be­rühm­ten‹ Vor­fah­ren Ehre ma­chen, füh­ren uns durch ho­hen Wo­gen­gang flink und si­cher zu un­se­rem Schiff zu­rück.

Lang­sam geht die Fahrt auf der schma­len Was­ser­stras­se zwi­schen der lang­ge­zo­ge­nen kor­fio­ti­schen Küs­te, die im Vor­über­fah­ren im­mer neue Ge­stal­ten an­nimmt, und den schö­nen Ber­gen von Epi­ros hin. Bis wir das of­fe­ne Meer er­rei­chen, sinkt schon der Abend.

In­zwi­schen ist es un­ten, wo die Al­ba­nier ver­staut sind, le­ben­dig und laut ge­wor­den. So­lan­ge es hell war, hock­ten sie schwei­gend am Bo­den und spiel­ten Kar­ten oder schlie­fen. Jetzt sind sie mit ei­nem­mal auf den Bei­nen und ge­ben sich dem Ge­nus­se des Tan­zes hin. Zu­erst dreht sich nur ein Sol­dat zum rhyth­mi­schen Hän­de­klat­schen der an­de­ren, bald aber tanzt ein gan­zer Rei­gen jun­ger Män­ner Hand in Hand, in lang­sa­men Be­we­gun­gen, hin­ter de­nen man doch eine ver­hal­te­ne Lei­den­schaft fühlt, zu halb­lau­tem Ge­san­ge. Alle an­de­ren, Män­ner und Frau­en, um­ste­hen sie in ge­spann­ter Auf­merk­sam­keit, und wir Pas­sa­gie­re se­hen un­ter der of­fe­nen Tür gleich­falls zu, bis uns der Bro­dem ver­treibt, den die­se zu­sam­men­ge­keil­te, knob­lauch­duf­ten­de Mensch­heit aus­strömt. Un­ter­des­sen sind die Ster­ne auf­ge­gan­gen. Die In­seln Pa­xos und An­ti­pa­xos sind das letz­te, was sich deut­lich er­ken­nen lässt.

Als Pa­xos in Sicht kam, sag­te eine Stim­me auf un­se­rem Schiff: »Der gros­se Pan ist tot!« und weck­te in un­se­ren Her­zen das Echo der rät­sel­haf­ten Kla­ge, die einst über die­ses Was­ser er­scholl. In den Ta­gen des Ti­be­ri­us, wo das al­tern­de Hel­lenen­tum in sich selbst er­seufz­te wie ein mor­scher Baum, der den ers­ten Axt­hieb spürt, da ge­sch­ah es, dass ein grie­chi­sches Han­dels­schiff mit vie­len Rei­sen­den, das nach Ita­li­en woll­te, plötz­lich durch eine Wind­stil­le in der Nähe die­ser In­seln fest­ge­hal­ten wur­de. Es war Abend wie heu­te, aber die meis­ten wa­ren noch wach und tran­ken, als man plötz­lich von Pa­xos her eine Stim­me ver­nahm, die den Steu­er­mann, einen Ägyp­ter mit Na­men Thamûs, an­rief. Dar­über ver­wun­der­ten sich alle, und Thamûs, dem die Sa­che nicht ge­heu­er war, gab erst auf den drit­ten An­ruf Ant­wort, wor­auf es mit an­ge­streng­ter Stim­me her­über­rief: »Wenn du Pa­lo­dos vor­über­kommst, so mel­de, dass der gros­se Pan ge­stor­ben ist.« – Die an Bord be­fiel ein Schau­der, und alle rat­schlag­ten, ob das Ge­bot aus­zu­füh­ren sei oder nicht. Der Steu­er­mann aber ent­schied, wenn der Wind güns­tig sei, so wol­le er still an dem Ort vor­über­fah­ren, tre­te aber eine Wind­stil­le ein, so wol­le er tun, wie ihm ge­heis­sen sei. Als sie zur Stel­le ka­men, flau­te der Wind von neu­em ab, und alle Se­gel hin­gen schlaff, da rief der Steu­er­mann Thamûs vom Hin­ters­te­ven nach dem Lan­de: »Der gros­se Pan ist ge­stor­ben!« Als­bald er­hob sich ein ge­wal­ti­ges Jam­mern und Stöh­nen, mit Lau­ten des Er­stau­nens un­ter­mischt, nicht wie von ei­nem ein­zel­nen, son­dern wie von ei­ner gan­zen Volks­men­ge. Der Vor­fall, der durch die vie­len Zeu­gen in Rom bald ruch­bar wur­de, ver­brei­te­te eine all­ge­mei­ne Be­stür­zung, und selbst in das ver­schlos­se­ne Ge­müt des sphin­xen­haf­ten Ti­be­ri­us schlich das Grau­en, dass er sei­ne Phi­lo­so­phen zu­sam­men­rief, um mit ih­nen über die Sa­che zu grü­beln; denn was kann es für den Men­schen Un­heim­li­che­res ge­ben, als wenn er sei­ne Göt­ter ster­ben sieht!

Mein Herz aber gab Ant­wort je­ner Stim­me auf un­se­rem Schiff und sag­te:

»Der gros­se Pan ist nicht tot, der gros­se Pan kann nie­mals ster­ben. Habe ich ihn nicht sel­ber so man­chen Som­mer­tag am glü­hen­den Stran­de des Mit­tel­meers im Schil­ficht sit­zen se­hen und zu­ge­hört, wie er auf sei­ner Hir­ten­pfei­fe den Rei­gen des gros­sen Stirb und Wer­de spielt? Der gros­se Pan lebt, nur dass er nicht mehr in bocks­füs­si­gem Un­ver­stand ein­her­tollt mit Nym­phen und Hir­ten. Schön und schreck­haft thront er, wie ihn Si­gno­rel­li ge­malt hat, den Ster­nen­man­tel um die Brust ge­schla­gen, oben Gott und un­ten Tier. Die Ju­gend bringt ihm ihre Sehn­sucht, und das Al­ter bringt ihm sei­ne Lei­den, alle Erin­ne­run­gen wol­len zu ihm, und alle Träu­me su­chen ihn, er aber lä­chelt sein un­nenn­ba­res Lä­cheln und er­wi­dert auf al­les: Ich weiss es. Sei­ne Au­gen bli­cken schmerz­voll, und eine tra­gi­sche Glo­rie strahlt um sein Haupt, weil der Un­ver­gäng­li­che nur Ver­gäng­li­chen das Le­ben gibt.« –

Mond und Ster­ne auf dem Jo­ni­schen Meer. Un­se­re Ge­schwin­dig­keit ist jetzt so gross, dass das Was­ser reis­sen­der als der reis­sends­te Strom an uns vor­über­schiesst. Sei­ne gros­sen Wo­gen sind schwarz­blau, von weis­sem Schaum über­gos­sen. Man könn­te schwö­ren, dass sie es sind, die so wild hin­ra­sen, nicht wir, sie for­dern un­wi­der­steh­lich zum Wett­lauf auf, und man kommt tau­melnd am Ende des Schif­fes an, in­des die eben durch­ge­schlüpf­te Wel­le schon weit ent­fernt ist; wie der Au­gen­blick da­hin­ter­bleibt mit dem, was eben noch un­ser war, wäh­rend wir un­auf­halt­sam vor­wärts ins Dunkle ra­sen.

Mehr eine Ah­nung als ein Ge­sichts­bild taucht zu un­se­rer Lin­ken die In­sel Leu­kas auf mit dem geis­ter­haf­ten Fel­sen, in des­sen Nähe Ho­mer den Ein­gang zum Ha­des kann­te. Um­schwir­ren ihn wohl so­eben die See­len der Frei­er, die Her­mes mit er­ho­be­nem Stab zu den As­pho­de­los­wie­sen der Un­ter­welt führt? Oder wälzt die un­ter ihm bran­den­de Wel­le die Lei­che der Sapp­ho mit sich, die hier von ih­rem Lie­bes­gram die Hei­lung fand? Wir brau­chen es ja heu­te nicht zu wis­sen, dass auch der To­dess­prung der Les­bie­rin vom leu­ka­di­schen Fel­sen in das Reich der Fa­bel ge­hört.

Die Er­schei­nung ist vor­über. Jetzt ist nichts mehr vor­han­den als der hun­der­t­äu­gi­ge Ster­nen­him­mel und die nacht­schwar­ze Woge, die un­ter uns hin­rauscht.

Auch auf un­se­rem Schiff ist schon al­les zur Ruhe. Nur aus den Ma­schi­nen­räu­men dringt Licht, und oben flat­tre ich noch al­lein als nächt­li­cher Sche­men auf dem Ver­deck in Dun­kel­heit und wach­sen­der Käl­te. Vi­el­leicht dass ich heu­te doch in der Ka­jü­te schla­fen kann, denn un­se­re Zahl hat sich ver­min­dert. Ich öff­ne lei­se die Tür. Aber die Luft, die mir da ent­ge­gen­schlägt, treibt mich als­bald wie­der hin­aus und in das Ba­de­ka­bi­nett. Ich be­stei­ge mei­ne Prit­sche auf der Wan­ne und den­ke an den gött­li­chen Dul­der, der vor mir die­se Was­ser be­fah­ren hat und der man­ches­mal noch viel schlech­ter ge­bet­tet war.

Die auf­ge­hen­de Son­ne fin­det uns im Ha­fen von Pa­tras, der von Damp­fern und Seg­lern al­ler Na­tio­nen be­deckt ist. In der küh­len Mor­gen­be­leuch­tung er­scheint das Meer grün mit weis­sen Käm­men. Drü­ben am äto­li­schen Ufer er­hebt sich der schöns­te Berg, den ich je­mals ge­se­hen habe; sei­ne For­men sind so kühn und edel, dass er das Auge nicht los­lässt. Er heisst Warás­so­wa, aber im Al­ter­tum trug er den Na­men Chal­kis, der ihm bes­ser stand. Ne­ben ihm ragt ein zwei­ter, bei­na­he eben­so schö­ner, der Kló­ko­wa.

Bis ich auf Deck stei­ge, sind un­se­re Rei­se­be­kann­ten schon alle ver­schwun­den und mit ih­nen die Mehr­zahl der Pas­sa­gie­re, die sämt­lich auf dem Land­weg nach Athen wol­len. Vor uns liegt jetzt der schöns­te Teil der Fahrt, die Um­schif­fung des Pe­lo­pon­nes, die we­gen der Win­de am be­rüch­tig­ten Kap Ma­ta­pan oder Tä­naron von min­der see­fes­ten Rei­sen­den lie­ber ver­mie­den wird. Dies der Grund, warum wir nur noch we­ni­ge Köp­fe an Bord sind – we­nigs­tens scheint es so, da alle Ka­jü­ten der ers­ten und zwei­ten Klas­se leer ste­hen. Aber was ist das für eine neue Ge­sell­schaft, die mit ei­nem Male die lee­ren Plät­ze auf Deck be­setzt? Der Ori­ent, den wir ganz ver­ges­sen hat­ten, ist aus dem Bau­che des Schif­fes ans Ta­ges­licht ge­drun­gen und macht sich breit, wo eben noch eu­ro­päi­sche Kul­tur ge­herrscht hat. Schlan­ke, kräf­ti­ge Män­ner und schön­äu­gi­ge Frau­en, in bunt­ge­streif­te De­cken gehüllt, lie­gen auf al­len Lehn­stüh­len und am Bo­den um­her, ein An­blick voll Reiz, den man je­doch lie­ber aus der Ent­fer­nung be­wun­dern möch­te. Hät­te ich nicht ge­se­hen, mit wel­chen Strö­men von Meer­was­ser die Schiffs­jun­gen je­den Abend die Plan­ken des Ver­decks über­flu­ten, so müss­te ich mich fra­gen, wie der »Baron Beck« je­mals wie­der eu­ro­päi­sche Ge­sell­schaft be­her­ber­gen soll. Es sind aus­wan­dern­de Al­ba­nier mit ih­ren Fa­mi­li­en, die in Kon­stan­ti­no­pel Ar­beit su­chen. Möge ih­nen das Schick­sal güns­tig sein. Mit wel­cher Ge­nüg­sam­keit sie le­ben, ha­ben wir schon ges­tern durch die gros­se Luke des Ver­decks be­ob­ach­ten kön­nen. Nur muss ich lei­der fest­stel­len, dass das Lämm­chen un­ter­des­sen ver­schwun­den ist.

Mein Rei­se­ge­fähr­te hat sich mit er­höh­tem Ei­fer in Gram­ma­tik und Wör­ter­buch ver­senkt, seit in Kerky­ra die ers­ten grie­chi­schen Lau­te sein Ohr er­reich­ten. Ich su­che mir den al­ba­ne­sen­frei­es­ten Win­kel im Schiff und bin für die­sen gan­zen Tag nur noch Auge.

Al­les ist strah­lend und tief­ernst zu­gleich. Selbst das Meer ist noch schö­ner ge­wor­den, seit­dem es sich das jo­ni­sche nennt; die Wel­len­kro­nen he­ben sich in noch vollen­de­te­rer Form wie in dunklen Stahl ge­trie­ben, eine flüs­si­ge, im­mer wech­seln­de Me­tall­plas­tik. Jo­ni­sche In­seln, Vor­hal­len des Tem­pels Hel­las. Durch­sich­tig und blass­schim­mernd wie Opa­le lie­gen sie da in ih­rer Mor­gen­schön­heit, so fein von Form und so zart von Far­be, wie das ge­prie­se­ne Schön­heits­land Ita­li­en nichts Glei­ches hat.

Für einen kur­z­en Au­gen­blick ist Itha­ka auf­ge­taucht; jetzt glei­ten wir an Ke­phal­le­nia hin und stau­nen lan­ge das stil­voll küh­ne Berg­pro­fil sei­ner süd­öst­li­chen Spit­ze an, das sich von bei­den Sei­ten in gleich­ge­schwun­ge­nen Bo­gen nach dem Mee­re senkt und in der Mit­te in ei­ner brei­ten, tur­mar­ti­gen Er­hö­hung gip­felt. Dann er­scheint Zan­te oder Zaky­n­thos, bei Ho­mer die »wäl­der­rei­che«, von hier aus fast kahl mit schrof­fer Ge­birgs­ket­te und stei­len Vor­hü­geln, und ihr ge­gen­über am eli­schen Ufer das Kap Che­lo­na­tas. Und nun für lan­ge Zeit nichts mehr als Was­ser und Him­mel, bis die mes­se­ni­sche Küs­te ins Meer her­austritt, vom Äga­le­on ge­krönt. Es geht der In­sel Sphak­te­ria und der Bucht von Na­va­rin oder Py­los ent­ge­gen. Welch eine Grup­pie­rung von mäch­ti­gen In­sel­mas­sen mit aus­ge­wa­sche­nen Steil­küs­ten, die Höh­len und Fel­sen­to­re bil­den, von flach­ge­wölb­ten grü­nen In­sel­chen, von brei­ten und schma­len Was­ser­stras­sen, von fan­tas­tisch ge­zack­ten, ko­ral­len­ähn­li­chen Klip­pen im Meer, um die rings­her eine weiss auf­blit­zen­de Bran­dung wogt. In die­sem Ge­wäs­ser wur­de 1827 die Frei­heit Neu-Grie­chen­lands ge­bo­ren; viel­leicht fah­ren wir eben jetzt über Trüm­mer der zer­stör­ten Tür­ken­flot­te hin. Am Fest­land ragt auf stei­ler Höhe ein al­tes Ve­ne­tia­ner­kas­tell mit der­bem Mau­er­werk und Zin­nen. Na­va­rin hiess der Ort noch im vo­ri­gen Jahr­hun­dert, aber heu­te wie­der mit sei­nem al­ten Na­men Py­los. Dort hat man von al­ters her den Wohn­sitz des grei­sen Ne­stor ge­sucht, doch von dem san­di­gen Ge­sta­de, das man nach Ho­mer er­war­ten muss, ist we­nigs­tens von hier aus nichts zu se­hen. Schon halb im Däm­me­rungs­schlei­er tau­chen neue Berg­ge­stal­ten auf, die sich nicht mehr er­ken­nen las­sen. Das Dun­kel sinkt, und das Meer wird öde. Aber oben sieht mit tau­send Au­gen der Him­mel von Hel­las nie­der.

Hast du es denn dei­nem Schick­sal wirk­lich zu­ge­traut, klein­gläu­bi­ges Herz, dass es dir ver­gön­nen wür­de, im Pi­raeus zu lan­den? Sahst du es nicht bis zum Au­gen­blick der Ab­fahrt lau­ern, wie es dir schnell noch den Plan ver­eit­le? Und als du auf ho­her See schwammst, warst du nicht dar­auf ge­fasst, dass es sich noch als Schiff­bruch nei­disch zwi­schen dich und dein Ziel stel­le? Sie­he, klein­gläu­bi­ges Herz, nun bist du schon in den grie­chi­schen Ge­wäs­sern, und nur ei­ne Nacht trennt dich noch vom An­blick Athens. Wenn dich jetzt noch et­was kränkt, so ist es nur der Ge­dan­ke, dass du zwi­schen Kap Ma­lea und der Ky­ther­ein­sel durch­fah­ren wirst, ohne sie zu se­hen, von den myr­toi­schen Wel­len in Schlum­mer ge­wiegt.

Aber wohl tut es doch, jetzt end­lich in der vier­ten Nacht wie­der ein­mal auf ei­nem mensch­li­chen La­ger zu ru­hen und im Al­lein­be­sitz der Ka­jü­te zu sein.

Zwar die Al­ba­nier, die im­mer un­ge­bun­de­ner un­ser Schiff durch­schwärm­ten, und de­ren Neu­gier so gross war, dass sie so­gar, wäh­rend wir speis­ten, die Köp­fe durch die Fens­ter des Ess­sals streck­ten, schu­fen mir ei­ni­ges Be­den­ken, denn es wi­der­streb­te mir, die Ka­jü­ten­tür zu ver­rie­geln. Aber ich schob mei­nen Schiffs­kof­fer vor den of­fe­nen Aus­gang, be­fahl mei­ne Habe Gott und ent­schlum­mer­te fried­lich.

Athen

Im An­ge­sicht der at­ti­schen Ber­ge bin ich er­wacht. Die­ses noch blaue­re Was­ser ist der Saro­ni­sche Golf mit Kap Su­ni­on und den In­seln Ägi­na und Sala­mis; wir damp­fen schon dem Pi­raeus ent­ge­gen. Un­se­re Au­gen su­chen und fin­den die Akro­po­lis. Jetzt wer­de ich nie­mals mehr das Schick­sal nei­disch nen­nen.

Was ist das für ein läng­li­ches, schrof­fes, völ­lig nack­tes In­sel­chen, das sich ganz nahe zu un­se­rer Lin­ken wie eine Schran­ke vor­legt und auf sei­nem vor­ders­ten, nach Athen ge­wand­ten Ende den Leucht­turm trägt? Eine in­ne­re Stim­me nennt mir au­gen­blick­lich den Na­men, aber mein Mund wagt ihn nicht aus­zu­spre­chen, so über­wäl­ti­gend ist die Ge­wiss­heit die­ser Nähe. Nur halb­laut tre­ten mir die Wor­te des Äschy­los auf die Lip­pen:


Ein klei­nes Ei­land liegt vor Sala­mis,
Zur Lan­dung schwie­rig, wo auf stei­lem Strand
Der rei­gen­fro­he Pan zu wan­deln liebt.

Hier an dem Fel­sen der klei­nen Psyt­ta­leia brach sich die un­ge­heu­re Macht des Per­ser­kö­nigs, und aus den sa­la­mi­ni­schen Ge­wäs­sern, die da­hin­ter wo­gen, stieg ein neu­es und schö­ne­res Hel­las her­auf.

Vor der Ein­fahrt in den Pi­raeus wie­der­holt sich der Über­fall von Kor­fu: die Trä­ger und Boots­leu­te kom­men in Mas­se an Bord, be­vor das Schiff an­legt. Ge­drän­ge, Ge­schrei, aber dies­mal in grie­chi­scher Spra­che, Boo­te, die um uns her wim­meln wie hung­ri­ge Haie. Wie wer­den wir uns jetzt durch­schla­gen? Da tönt schon aus ei­nem Boot mein Name her­auf, und ein Kom­mis­sär schwingt mir ein Brief­lein ent­ge­gen, in­dem er mir auf fran­zö­sisch zu­ruft, zu war­ten, bis er an Bord kom­me und uns hole. Ein gu­tes Zei­chen zum Ein­stand, das uns gleich das Ge­fühl des Fremd­seins nimmt. Aus dem Brief­lein er­fah­re ich, dass hilf­rei­che Hän­de un­se­ren Weg ge­eb­net ha­ben und dass für un­ser Un­ter­kom­men in der über­füll­ten Stadt auf das bes­te ge­sorgt ist. Wir wer­den mit un­se­ren Kof­fern aus­ge­boo­tet, im Eil­schritt durch das Zoll­amt ge­führt, in einen zwei­spän­ni­gen Wa­gen ge­setzt und rol­len auf der Pi­raeuss­tras­se nach Athen hin­ein.

Schar­fer Wind, der uns ent­ge­gen­weht, un­end­li­cher Staub auf schat­ten­lo­ser Stras­se, dürf­ti­ger Baum­wuchs, har­te ma­ge­re Acker­schol­le, de­ren gelb­graue Far­be sich an Häu­sern und Ge­mäu­er wie­der­holt, das ist der ers­te Ein­druck vom at­ti­schen Bo­den. Aber von oben sieht tröst­lich die Akro­po­lis her­un­ter. Der klei­ne Fluss, den wir eben über­schrit­ten ha­ben, kann kein an­de­rer als der Ke­phis­sos sein. Dort glänzt schon eine Grab­s­te­le zwi­schen den Bäu­men durch, und ich er­ken­ne im Vor­über­fah­ren den herr­li­chen Stier vom Di­py­lon. Sonst ist al­les noch so ver­wir­rend. Die frem­de Spra­che, an de­ren le­ben­di­gen Laut das Ohr noch nicht ge­wöhnt ist, wogt um uns her wie ein un­schiff­ba­res Meer. Nicht ein­mal die Auf­schrif­ten an Stras­sen und Lä­den las­sen sich mit ei­nem Bli­cke le­sen, sie wol­len ent­zif­fert sein. So er­rei­chen wir das Ho­tel auf dem Omó­nia­platz, wo für uns die Zim­mer be­stellt sind, und un­se­re ers­te Sor­ge ist jetzt, die Uhren vor­zu­rück­en, die ge­gen die grie­chi­sche Zeit um fünf­und­dreis­sig Mi­nu­ten nach­ge­hen.

Der Mé­gas Aléx­an­dros oder Alex­and­re le Grand ist ein gut­ge­führ­ter Gast­hof zwei­ten Ran­ges, der sich über die Dau­er des Kon­gres­ses mit den Prei­sen des ers­ten schmückt. Die Ver­stän­di­gung macht kei­ne Schwie­rig­keit, denn der Por­tier, ein Grie­che mit selt­sam un­ver­än­der­li­chem Lä­cheln, wie das der Krie­ger vom Ägi­ne­ten­gie­bel, spricht voll­kom­men deutsch, und der Zim­mer­kell­ner, der uns als zwei­ter in Empfang nimmt, kann ei­ni­ge Bro­cken fran­zö­sisch, wo­ge­gen der Ephe­be, der die Stel­le des Stu­ben­mäd­chens ver­tritt, nur grie­chisch ver­steht. Hier ist Rho­dus, hier heisst es tan­zen. So oft ich et­was brau­che, muss ich mir zu­vor bei Freund Er­ne­stos, der sel­ber auf dem glat­ten Bo­den des Neu­grie­chi­schen die ers­ten Geh­ver­su­che macht, die nö­ti­gen Wör­ter ho­len, ehe ich zu klin­geln wage. Dann hört der Jüng­ling mich mit tiefer Hochach­tung an, und wenn ihn die Lach­lust über­wäl­tigt, so ent­schlüpft er wie ein Wie­sel. Wie soll man sich auch gleich zu­recht­fin­den in ei­nem Lan­de, wo nicht ein­mal die Post mehr »Post«, son­dern ta­chy­dro­meíon heisst? Da­für ist die An­re­de Ky­ría, die mich über­all emp­fängt, wie ein schö­nes neu­es Kleid, in dem die Trä­ge­rin sich selbst als eine neue Per­son er­scheint. Noch wun­der­sa­mer mu­tet es mich an, dass mein Rei­se­ge­fähr­te der Ky­ri­os ist, ein Wort, das ich sonst nur in Be­zug auf das höchs­te We­sen kann­te.

Von mei­nem Zim­mer geht der Blick über eine ge­ra­de Stras­sen­flucht hin­weg un­mit­tel­bar auf die Akro­po­lis mit Par­the­non und Erecht­hei­on. Un­ter dem Fens­ter aber senkt sich’s schwarz in eine mit klei­nen Ei­sen­bahn­wa­gen aus­ge­füll­te Tie­fe; das ist der Pi­raeus­bahn­hof, zu dem man auf vie­len Stu­fen von der Athen­astras­se hin­ab­steigt.

So­bald die lang­wie­ri­ge Mit­tags­ta­fel auf­ge­ho­ben ist, wan­dern wir durch das im Fest­schmuck pran­gen­de Neu-Athen dem Pal­las­berg ent­ge­gen. Zu ver­feh­len ist er nicht; in ge­ra­der Li­nie führt die Athen­astras­se auf ihn zu. Bald tut ein Platz mit by­zan­ti­ni­scher Kir­che sich auf, und gleich da­nach fin­den wir uns vor den Säu­len der Stoa des Ha­dri­an. Stün­den sie ir­gend­wo auf ita­lie­ni­schem Bo­den, so wür­den wir ge­wiss nicht vor­über­ei­len; aber jetzt zieht es uns un­auf­halt­sam wei­ter. Der Weg hebt sich schon, da wird un­se­re Eile durch einen son­der­ba­ren Lärm un­ter­bro­chen. Aus nied­ri­gen, dop­pelt ver­git­ter­ten Fens­tern wer­den lan­ge Holz­löf­fel vor­ge­streckt, und Stim­men tö­nen aus der Tie­fe: gra­zia, Ma­da­ma, gra­zia! Er­staunt ste­he ich still, was die­se ita­lie­ni­schen Lau­te auf grie­chi­schem Bo­den be­deu­ten. Sind es Sträf­lin­ge, Kran­ke oder Irre, die man hier ein­ge­sperrt hält? Ich leg­te ein Geld­stück auf einen der Löf­fel. Jetzt aber wur­de das Ge­klap­per der an­de­ren be­täu­bend, und es heul­te her­auf wie die Stim­men von hun­dert Dä­mo­nen: gra­zia, Ma­da­ma! dass ich vol­ler Schre­cken da­von­lief, wäh­rend mir noch die gan­ze Stras­se her­auf das Ge­heul: gra­zia! gra­zia! nach­folg­te. Spä­ter be­stä­tig­te sich mei­ne ers­te Ver­mu­tung, die mir sel­ber zu un­wahr­schein­lich er­schie­nen war: es sind wirk­lich Ge­fan­ge­ne, de­nen ver­stat­tet ist, auf die­se Wei­se ihre lan­ge Mus­se zu ver­kür­zen.

Akro­po­lis, mit was er­greifst du zu­erst die See­le der Her­an­na­hen­den? Sind es dei­ne Mau­ern, dei­ne nack­ten Schrof­fen, über die dich einst die Per­ser er­stie­gen, Uner­steig­li­che? Ist es der ge­wal­ti­ge do­ri­sche Ernst des Par­the­non, die leich­te jo­ni­sche Gra­zie des Erecht­hei­on? Nein, es ist der Duft dei­ner Ka­mil­len, den du den Wall­fah­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­