Cover

Buch

Singapur 1897: Die Zwillingsschwestern Harriet und Mae werden von ihrem schwerreichen Vater nach Singapur geschickt – sie sind das Produkt einer skandalösen Affäre mit einer Bediensteten. Dort soll der strenge David Keeley eine von beiden zur Frau nehmen, um ein Vermögen zu erben. Während Mae der Meinung ist, David zu gefallen, sei ihre einzige Hoffnung auf eine Zukunft ohne Schande, möchte Harriet lieber ausbrechen und ihr eigenes Leben führen. Doch dann lernt sie den jungen wohlhabenden Alexander Blake kennen, und die beiden verlieben sich Hals über Kopf ineinander. Doch Davids Eifersucht und Maes Schmerz führen zu einem furchtbaren Verrat.

London 1941: Ivy, eine junge Frau des britischen Geheimdienstes, wird von der Navy ins kriegszerrüttete Singapur versetzt. Sie soll ihre exzellenten Sprachkenntnisse nutzen, um die Pläne der Japaner in Erfahrung zu bringen. Sie kann nicht ahnen, dass die Insel ihr eine neue Liebe schenken und erschütternde Geheimnisse aus dem Leben ihrer Großmutter Mae offenbaren wird.

Autorin

Jenny Ashcroft, 1980 in England geboren, verbindet in ihren Romanen ihre Leidenschaft für exotische Schauplätze und Historie. Sie studierte Geschichte in Oxford und lebte und arbeitete viele Jahre in Asien und Australien. Heute wohnt sie mit ihrem Mann und drei Kindern in Brighton.

Jenny Ashcroft im Goldmann Verlag:

Die Frauen vom Rose Square. Roman ( nur als E-Book erhältlich)

Jenny Ashcroft

Das Echo

unserer Träume

Roman

Aus dem Englischen

von Henriette Zeltner

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Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

»Island in the East« bei Sphere, London.


Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2018

Copyright © der Originalausgabe by Jenny Ashcroft

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: Frauenkörper: Arcangel/MALGORZATA MAJ | Kopf und Blüte: GettyImages/Shestock und GettyImages/emilbaiera | Pavillion + Landschaft: GettyImages/DuKai photographer

Redaktion: Antje Steinhäuser

MR · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-22799-9
V002


www.goldmann-verlag.de

Für meine Eltern, Jean und Frank

Singapur, Oktober 1897

Die Hitze im Schlafzimmer war erdrückend, feucht, beengend und wurde von den geschlossenen Fensterläden gefangen gehalten. Seit etlichen Tagen war keine frische Luft mehr ins Zimmer gedrungen. Maes Hals war ganz feucht, und ihre Kopfhaut juckte. Sie spürte, wie der Schweiß unter dem Kleid an ihr herablief. Draußen lärmten die Zikaden im Garten und dem angrenzenden Dschungel. In der Ferne hörte sie Affen kreischen. Stumm lauschte sie dieser nächtlichen Kakophonie und versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass sie all das nie wieder hören würde. Jetzt war es nur noch eine Frage von Stunden, bis sie gehen würde – nicht wie von ihr erhofft, nicht wie von ihr geplant –, aber fort, von diesem Ort, dieser Insel. In der drückenden Luft ging ihr Atem schneller. Nicht allein, erinnerte sie sich und legte eine Hand auf ihren Bauch. Nicht allein.

Es war fast so weit.

Ihr Blick schoss hinüber zu ihrem Sekretär, der nur als Schatten zu erkennen war. Darauf Stapel von Papieren: Reisedokumente, Zertifikate … auch Banknoten aus Alex’ Safe. Sie hatte schreckliche Angst, dass es nicht genug Geld sein würde. Es musste genügen. Sie runzelte die feuchte Stirn, als sie zum wiederholten Mal Panik überkam, dem könnte nicht so sein. Jetzt war es ohnehin zu spät, noch irgendetwas zu unternehmen.

Sie wollte unverzüglich aufbrechen. Das Warten fiel ihr am schwersten. Doch sie musste erst noch Harriet sehen. Endlich hatte sie gewusst, was zu tun war. Nervös krallten sich ihre Finger in das Bettlaken unter ihr. Halte durch. Sie wird kommen.

Sie wird kommen.

Eine Stunde verging. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, wo David war, was er wohl dachte. Dann starrte sie die Tür an und versuchte, Harriet mit purer Willenskraft dazu zu bringen, durch sie hindurchzutreten. Komm schon.

Komm.

Und endlich vernahm sie ein Geräusch in dem ansonsten stillen Haus. Sie hätte ihn überall erkannt: Harriets Schritt, der die Dielenbretter knarzen ließ. Sie ließ die Tür nicht aus den Augen und wartete. Sie blieb völlig reglos. Halte durch. Der Knauf drehte sich, die Tür ging auf, Kerzenschein fiel herein, und ihre Zwillingsschwester betrat das Zimmer.

Sie blickte Harriet in die Augen, die ihren eigenen so vollkommen glichen, und sah, wie sie sich in verzweifeltem Schrecken weiteten.

»Oh Gott«, sagte sie. »Oh Mae.«

1. KAPITEL

London, Januar 1940

Ivy blieb vor der Tür des Wartezimmers stehen und holte tief Luft. Ihr Blick ging zu ihren Arbeitsschuhen auf dem Linoleum des Krankenhauses und den an den Knöcheln Falten werfenden Nylonstrümpfen. Du schaffst das. Sie strich die Jacke ihrer Navy-Uniform glatt und trat ein.

Im Wartezimmer war es still. An einer Eichentür am anderen Ende des Raums hing ein Messingschild mit der Aufschrift DOCTOR MICHAEL GREGORY, MBCHB, MD, CCT, FRCPSYCH. Abgewetzte gepolsterte Stühle standen an zwei der anderen Wände aufgereiht, ein Schreibtisch an der dritten. Ein Empfangsfräulein, etwa so alt wie Ivy – also noch keine Mitte zwanzig –, saß dort. Sie hatte ein zerfleddertes Time Magazine vor sich und eine Zigarette in der Hand.

Sie schaute lächelnd zu Ivy hoch. »Hallo.«

»Hallo. Ivy Harcourt. Ich habe einen Termin bei Doctor Gregory.«

»Ja, natürlich.« Das Empfangsfräulein deutete mit ihrer Zigarette auf die Eichentür. »Es wird nicht mehr lange dauern. Er spricht noch mit einem Matrosen, der gerade vom Mittelmeer zurück ist. Nehmen Sie Platz.«

Ivy setzte sich auf den nächstbesten Stuhl und merkte, wie dessen Federn knarzten. Sie schlug die Beine übereinander und stellte sie gleich danach wieder parallel nebeneinander.

Das Empfangsfräulein musterte sie neugierig. »Eine Tasse Tee?«

»Nein danke«, sagte Ivy.

»Kakao?«

»Nein, sehr freundlich.«

»Dann Kaffee? Wir haben Camp.«

Ivy schüttelte den Kopf. »Vielen Dank.« Sie konnte sich nicht vorstellen, irgendetwas zu trinken.

Die junge Frau taxierte sie weiter. »Geht es Ihnen gut?«, fragte sie schließlich.

»Anscheinend nicht.« Ivy lachte gezwungen. Es klang schrecklich nervös. »Ich schätze, deshalb bin ich hier.«

Das Empfangsfräulein wollte offensichtlich noch mehr sagen, doch da ging die Eichentür auf. Ein blasser Junge in weißer Matrosenuniform schlich gesenkten Hauptes heraus. Ein anderer Mann folgte ihm. Doctor Gregory, schloss Ivy aus seinem Tweedanzug und dem souveränen Auftreten. Er trug eine Brille und ein knallrotes Taschentuch in der Brusttasche. Ivy fragte sich, wie oft er das wohl seinen Patienten anbot.

Er drehte sich zu ihr. Seine Augen blickten freundlich.

»Officer Harcourt«, sagte er, »kommen Sie herein.«

Das Sprechzimmer war klein und wurde von einem Gasofen beheizt. Es gab darin einen Schreibtisch aus Mahagoni, zwei gepolsterte Stühle und ein einziges Fenster, das kreuz und quer mit braunem Klebeband bedeckt war, damit es bei einem Bombenangriff nicht zersplitterte. Auf dem Linoleumboden lag ein Teppich, und eine Vase mit Plastikblumen stand auf dem Schreibtisch. Jemand hatte versucht, den Raum ein wenig gemütlich zu machen.

Doctor Gregory ließ Ivy auf einem der Stühle Platz nehmen und setzte sich selbst auf den anderen. Er streckte den Arm aus und angelte sich eine Akte und auch seine Pfeife vom Tisch. Ob es sie störe, wenn er rauche. (Das tat es nicht.)

»Nun denn«, sagte er. »Sie haben ja einiges hinter sich.«

Ivy räusperte sich. »Mir …« Ihre Stimme versagte. Sie setzte erneut an. »Mir geht es gut.«

»Ihre Rippen bereiten Ihnen keine Schmerzen mehr?«

»Nein.«

»Auch keine Atembeschwerden mehr?« Demonstrativ vertiefte er sich in ihre Akte. Ivy dachte sich, dass er das ihr zuliebe tat, damit es weniger so aussah, als wüsste er ohnehin bereits alles über sie. »Sie hatten eine hässliche Infektion wegen des Staubs«, sagte er. »Ich lese hier, dass Sie neun Stunden lang verschüttet waren.«

»Es geht mir besser.«

Er lächelte besorgt. »Aber Sie wurden an mich überwiesen.«

Sie schluckte und wünschte, sie hätte vorhin um ein Glas Wasser gebeten. »Ja.«

»Weil der Arzt, der Sie seit dem Unfall behandelt hat«, ein weiterer Blick in die Unterlagen, »Doctor Myer, meint, Sie seien noch nicht wiederhergestellt für den Dienst.«

»Nein.«

»Halten Sie sich für wiederhergestellt?«

»Ich möchte zurück an die Arbeit.«

»Hm«, machte Doctor Gregory. »Doctor Myer macht sich Sorgen wegen«, er blätterte und rückte seine Brille zurecht, »wegen wiederkehrender und akuter Anfälle von Klaustrophobie zusammen mit schweren Schocksymptomen.« Er sah Ivy an. »Stimmt das?«

Ivy zwang sich, seinem Blick standzuhalten. »Es geht mir gut.«

Mit einem Ausdruck von Mitleid kniff er die Augen ein wenig zu. »Er scheint diese Meinung nicht zu teilen. Und man hat mich darüber informiert, dass Sie um eine Versetzung von Ihrem alten Posten in Camberwell gebeten haben. Dass Sie das Gesuch noch vom Krankenhaus aus eingereicht haben?«

»Das stimmt.«

»Die Bombe hat Sie ganz nah bei dem Bunker, in dem Sie gearbeitet haben, erwischt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und Sie hatten früher an diesem Abend bei der Arbeit bereits einen schweren Schock erlitten?«

»Ja.« Sie presste die Antwort hervor.

»Und nun wollen Sie nicht mehr dorthin zurück?«

»Würden Sie das wollen?«

»Wir sind nicht hier, um über mich zu sprechen.«

Ivy rutschte auf ihrem Stuhl herum. Es war so heiß in diesem Zimmer.

»Ivy«, sagte Gregory, »ich möchte, dass Sie mir mit Ihren eigenen Worten erklären, warum Sie sich nicht vorstellen können, nach Camberwell zurückzukehren.«

Sie schwitzte in ihrer Uniform aus Wollstoff und deutete auf den Heizofen. »Macht es Ihnen etwas aus, den etwas runterzudrehen?«

Er legte die Pfeife auf die Armlehne, stand auf und ging durchs Zimmer. Als er vor dem Ofen in die Hocke ging, um an dem Einstellungsrad zu drehen, schaute er zu Ivy zurück. »Ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss«, sagte er. »Sie möchten nicht hier sein. Das möchte niemand. Ich versuche, es nicht persönlich zu nehmen.« Er lächelte. Es war ein Scherz. Ivy bemühte sich, ebenfalls ein Lächeln zustande zu bringen. »Aber damit ich Ihnen helfen kann, gesund zu werden«, sagte er, »muss ich Ihnen diese Fragen stellen. Ich möchte, dass Sie mir vertrauen und über alles sprechen, was passiert ist. Es wird viel leichter werden, wenn Sie das tun. Klingt das nachvollziehbar?«

»Ja«, sagte Ivy, obwohl sie sich nicht sicher war.

»Gut.« Er setzte sich wieder und blätterte weiter in der Akte. »Beginnen wir mit etwas, das ein bisschen einfacher ist. Wann sind Sie in den Dienst der Navy getreten?«

»Zu Beginn des Krieges.«

»Warum die Navy?«

»Mein ehemaliger Dozent hat das vorgeschlagen.«

»Wegen Ihrer Sprachkenntnisse?«

»Ja. Er wusste, dass sie dort Leute brauchten, die Deutsch sprechen. Er schlug mich vor.«

»Und Sie sind Lauscherin.« Gregory lächelte sie fragend an. »Was genau ist das eigentlich?«

Ivy schaute auf seine Unterlagen. »Haben Sie das da nicht drinstehen?«

»Tun Sie mir doch den Gefallen und erklären Sie es mir.«

Ihr Rücken kribbelte. Sie hatte Gregorys Worte von vorhin noch im Ohr. Sie hatten früher an diesem Abend bei der Arbeit bereits einen schweren Schock erlitten. Sie wusste, wohin er sie lotsen wollte. »Ich darf nicht über meine Tätigkeit sprechen«, sagte sie. »Die Wände haben Ohren.«

Er verzog den Mund. »Ein netter Versuch, Ivy. Aber die einzigen Ohren hier sind meine, und ich habe eine offizielle Verpflichtung zur Geheimhaltung unterschrieben. Also …« Er nickte ihr zu, damit sie fortfuhr.

»Wir hören Funksprüche ab«, sagte sie zurückhaltend.

»Wer ist ‚wir’?«

»Frauen und Männer des Navy-Geheimdienstes. Und ein paar von der Air Force.«

»In Camberwell?«

»Ja.«

»Und wen hören Sie ab?«

»Schiffe, Funksprüche aus Deutschland …«

»Aber hauptsächlich Piloten, oder?«

»Ja«, sagte Ivy zögernd. »An unserem Posten.«

»Britische Piloten?«

»Manchmal. Aber hauptsächlich interessiert uns, was die von der Luftwaffe sagen.«

»Warum?«

»Sie verraten Dinge, wenn sie sich unterhalten«, sagte sie. »Darüber, wo ihre Schiffe unten gerade sind. Wir schicken das an die Admiralität. Dazu deren Kurs und die Flughöhe. Es hilft dem Oberkommando zu wissen, wo sie ihre Spits hinschicken sollen, um sie abzufangen.«

»Sehr clever.« Der Doctor zog an seiner Pfeife. »Ist das alles, was Sie hören? Die Koordinaten und die Ziele?«

»Nein«, sagte sie zurückhaltend.

»Nein?«

»Nein. Die Männer reden auch über andere Sachen.«

»Und zwar?«

»Den Mond«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass es nicht das war, was er von ihr hören wollte. »Wie schön er über der See aussieht.«

»Das tut er von da oben aus wohl.«

»Ja.«

»Was kriegen Sie noch zu hören?«

Sie fühlte sich eingeengt, in die Ecke getrieben.

»Die Piloten reden mit uns«, sagte sie, immer noch ausweichend.

»Sie reden mit Ihnen?«

»Sie vermuten, dass wir sie abhören.«

Gregory musste lächeln. »Und was sagen sie so, Ivy?«

»Dinge wie Guten Abend, mein Fräulein. Deutschland ruft an

»Verstehe. Ich spreche auch ein wenig Deutsch.« Er schaute in seine Unterlagen. »Sie haben in Cambridge studiert?«

»Ja.«

»Auch Japanisch?«

»Ja.«

Er blickte wieder zu ihr hoch. »Ich liebe Sprachen.«

Sie lächelte angestrengt und machte sich auf seine nächste Frage gefasst.

»Und was sagen unsere Jungs so?«, fragte Gregory. »In ihren Spitfires?«

»Vieles.«

»Nennen Sie mir ein Beispiel.«

Sie holte tief Luft. »Tally-ho«, sagte sie. »Achte auf deine Höhe, deinen Flügel. Banditen auf zehn Uhr.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sie reden über alles Mögliche.«

»Und«, sein Blick nahm einen schmerzlichen Ausdruck an, »manchmal hören Sie, wie sie sterben.«

Obwohl sie darauf gefasst gewesen war, zuckte sie zusammen.

»Ivy?«

»Ja«, sagte sie.

»Wie fühlen Sie sich, wenn Sie sie sterben hören?«

»Traurig. Sehr traurig.«

»Noch mehr?«

»Ich denke an die Menschen, die sie lieben. Ich frage mich, ob sie je erfahren, was passiert ist.«

Sein Gesicht nahm einen bedrückten Ausdruck an, als verstünde er.

Für einen Moment herrschte Schweigen. Hoffnungsvoll fragte sie sich, ob er es dabei belassen würde. Doch er fuhr fort: »Sie haben jemand sterben hören, nicht wahr? Jemand, der ihnen am Herzen lag?«, fragte er. »Bei Ihrem letzten Einsatz, eine knappe Stunde bevor Sie selbst von dieser Bombe getroffen wurden.«

Sie starrte vor sich hin.

»Ivy?«

»Darüber möchte ich nicht sprechen«, sagte sie.

»Ich glaube, dass es Ihnen helfen wird.«

»Ich möchte es vergessen.«

»Ich weiß«, sagte er, »aber ich glaube, das können Sie nicht. Erst nachdem Sie sich der Sache gestellt haben.«

Sie antwortete nicht.

»Sie können vor so etwas nicht davonlaufen, Ivy. Sonst werden Sie Ihr ganzes Leben auf der Flucht verbringen.«

Sie schaute auf ihre Halbschuhe. An der rechten Spitze war eine Schramme. Sie sollte sie putzen.

»Dr. Myer hat mir berichtet, dass Sie im Krankenhaus im Schlaf Felix’ Namen gerufen haben und dass Sie nur bei Licht überhaupt schlafen konnten. Er schreibt hier«, Gregory tippte auf seine Akte, »dass Ihre Klaustrophobie, nachdem Sie verschüttet gewesen waren, so schlimm war, dass Sie nicht mehr in den Bunker wollten, wenn die Sirenen losgingen. Dass Sie ihn angefleht haben, auf der Station bleiben zu dürfen.«

Ivy spürte, wie sie rot wurde.

»Niemand verurteilt Sie«, sagte Gregory, »allenfalls vielleicht Sie selbst.«

»Mir geht es wieder gut«, sagte sie. »Wirklich.«

»Sie brauchen zum Schlafen also kein Licht mehr?«

Ivys Wangen wurden noch heißer.

»Wie sind Ihre Nächte zu Hause denn jetzt, Ivy? Wie geht es Ihnen im Bunker?«

Sie antwortete nicht. Aber sie sah sich selbst, wie ein Kind vor Angst zitternd, unter dem gewellten Dach des Luftschutzunterstands ihrer Großmutter, wo sie darauf wartete, dass die nächste Bombe sie finden würde.

»Warum wollen Sie nicht nach Camberwell zurück?«

»Ich«, fing sie an, »ich …«

»Was macht Ihnen mehr Angst?«, fragte Gregory sanft. »Die Vorstellung, an den Ort zurück zu müssen, wo die Bombe Sie erwischt hat, oder dahin, wo Sie mitanhören mussten, was Ihrem Liebsten Schreckliches widerfuhr?«

»Er war nicht mein Liebster.«

»Nein?«

»Nein. Nicht mehr.«

»Vielleicht«, meinte Gregory, »macht das die Sache noch schlimmer?«

Ivy zerrte an ihrem Kragen. »Der Ofen ist immer noch so heiß.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie traumatisch das gewesen sein muss«, sagte Gregory, »so etwas mitanhören zu müssen, das muss furchtbar für Sie gewesen sein. Und dann am selben Abend selbst fast umzukommen.«

Ivy wandte sich zu dem beschlagenen Fenster. Es dämmerte. Vier Uhr und fast schon Abend.

»Warum sind Sie so erpicht darauf, wieder zu arbeiten, Ivy? Was versprechen Sie sich von einer anderen Stelle?«

»Dass ich darüber hinwegkomme.«

»In der Schule wären Sie jetzt durchgefallen«, sagte Gregory.

Irritiert sagte Ivy: »Verzeihung?«

»Sie werden nicht darüber hinwegkommen«, erklärte er. »Das können Sie erst, nachdem Sie verarbeitet haben, was passiert ist.«

»Ich habe es verarbeitet.«

»Sie sprechen ja nicht einmal darüber.«

Wieder blickte sie zum Fenster.

»Was da draußen beschäftigt Sie, Ivy?«

»Dass es dunkel wird«, sagte sie.

»Und?«

»Ich bin im Dunkeln nicht mehr gern draußen.« Das Geständnis rutschte ihr heraus, bevor sie darüber nachdenken konnte.

Er seufzte. »Na dann, los. Gehen Sie nach Hause.«

Sie sah ihn überrascht an. »Sie schreiben mich diensttauglich und stimmen meiner Versetzung zu?« Es kam ihr zu einfach vor, zu schön, um wahr zu sein.

»Natürlich nicht«, sagte Gregory. »Wir sehen uns morgen wieder. Kommen Sie um eins, damit wir mehr Zeit haben.«

Sie war schon um fünf vor da und entschlossen, es heute besser zu machen.

»Wieder da?«, fragte das Empfangsfräulein.

»Ich fürchte, ja«, sagte Ivy.

Die Frau musterte sie nachdenklich. »Darf ich fragen, was Ihnen fehlt?«

»Es geht mir gut.«

»Tut es das?«

»Ja.«

Die junge Frau seufzte. »Das sagen sie alle.«

Der Ofen in Gregorys Sprechzimmer heizte an diesem Tag nicht so heftig. Als Ivy beim Krankenhaus angekommen war, hatte es zu regnen begonnen. Die Tropfen glitten an der Fensterscheibe herunter.

»Im Moment wohnen Sie bei Ihrer Großmutter«, sagte Gregory. »Ist das richtig?«

»Ja.«

»Und vorher?«

»Da wohnte ich mit ein paar der anderen Mädchen in einer Truppenunterkunft bei der Dienststelle, in der Nähe von Camberwell.«

»Vermissen Sie sie, die anderen Mädchen, meine ich?«

»Sie rufen mich relativ oft an.«

»Ach ja?«

»Ja«, sagte sie. »Sie erkundigen sich, ob es mir schon besser geht.«

»Tun sie das?« Er lächelte fast. »Gehen Sie manchmal zusammen mit den Mädchen aus?«

»Manchmal zum Tee. Sie haben mich auch gefragt, ob ich nächste Woche zu einer Tanzveranstaltung mitkomme.«

»Das klingt nach einer guten Idee.«

»Tut es das?« Ivy war sich da nicht so sicher.

Gregory musterte sie. »Gefällt es Ihnen bei Ihrer Großmutter?«

»Ja.«

»Sie hat Sie großgezogen, nicht wahr?«

»Richtig.«

»Macht es Ihnen etwas aus, mir zu erzählen, warum?«

Es machte Ivy etwas aus, aber sie antwortete dennoch. »Meine Eltern sind beide im letzten Krieg ums Leben gekommen.«

»Das ist sehr traurig.«

Es würde ihm nicht gelingen, sie aus der Fassung zu bringen. Nicht damit. »Ja, das ist es«, sagte sie.

»Wie sind sie gestorben?«

»Mein Vater fiel in Mesopotamien. Meine Mutter steckte sich kurz nach meiner Geburt mit der Grippe an. Sie war Krankenschwester in einem Lazarett. Aus Australien.«

»Ist sie hier begraben?«

»Ja.«

»Besuchen Sie ihr Grab?«

Das tat Ivy. Oft. Früher, als sie noch klein war, war ihre Gran jeden Monat mit ihr zum Friedhof gegangen. Gemeinsam hatten sie ihr die Bilder gezeigt, die Ivy in der Schule gezeichnet hatte, oder erzählten ihr von Ausflügen ans Meer.

»Ivy?«

»Ja, ich besuche ihr Grab.«

»Und das Ihres Vaters? Konnten Sie das auch besuchen?«

»Ich verstehe nicht ganz, warum wir darüber sprechen.«

Gregory erwiderte nichts.

Ivy seufzte. »Einmal«, sagte sie. »Wir sind einmal dorthin gereist.« Es war das einzige Mal gewesen, dass Ivy ihre Gran je hatte weinen sehen. Mein Junge, hatte sie gesagt, als sie vor dem einfachen Holzkreuz gestanden hatten. CAPTAIN BEAU ALEXANDER HARCOURT; ROYAL LONDON GUARDS. 1898 – 1918 war darauf zu lesen gewesen. Mein Junge. »Es gab so viele Gräber dort«, sagte Ivy. »Es war schrecklich.«

»Dachten Sie an Ihre Eltern, Ivy, als diese Bombe Sie begrub?«

Ivy zuckte zusammen. Deshalb also sprachen sie darüber. »Nein«, sagte sie. »Das habe ich nicht getan.«

»Gar nicht?«

»Ich glaube nicht.«

»Was haben Sie dann gedacht? Schließlich waren Sie sehr lange verschüttet.«

Ihr Blick huschte zum Fenster. Es regnete jetzt heftig. Sie hatte keinen Schirm dabei.

»Neun Stunden unter einem Gebäude gefangen, das ist eine lange Zeit«, sagte Gregory.

»Ist es«, sagte Ivy.

»Wollen Sie nicht darüber reden?«

»Nein«, sagte sie. »Nicht wirklich.«

»Ich möchte trotzdem, dass Sie es tun.«

»Das habe ich befürchtet.«

»Ivy, würden Sie mich bitte ansehen?«

Langsam und mühevoll wandte sie den Blick von den Regentropfen ab, wie er es verlangte. Er betrachtete sie durch seine Brillengläser. Heute trug er ein blaues Tuch in der Brusttasche seines Blazers.

»Sie haben Ihre Schicht frühzeitig beendet«, begann Gregory. Er blickte nicht in seine Unterlagen. »Es war erst kurz nach zehn Uhr abends.« Er klang, als würde er die ersten Zeilen einer Geschichte vorlesen. »Sie hatten gerade gehört, wie Felix abgeschossen worden war.«

»Ja«, sagte sie leise.

»Man hat sie nach Hause geschickt.«

»Ja.«

»Weil es Sie sehr mitgenommen hat.«

»Natürlich hat es mich mitgenommen.«

»Hatte es schon Entwarnung gegeben?«

»Ja«, sagte sie.

»Es muss sehr dunkel auf der Straße gewesen sein.«

»Das war es.«

»Beschreiben Sie es mir, Ivy.«

Sie verlagerte ihr Gewicht in dem Sessel. »Es war kalt«, sagte sie. »Neblig. Ich hatte meine Taschenlampe nicht dabei.«

»Also konnten Sie nichts sehen.«

»Nicht viel.« Sie hatte sich langsam, stolpernd, an den Gebäudemauern entlanggetastet. Hatte sie immer noch geweint? Sie konnte sich nicht erinnern. Wahrscheinlich.

»Wo waren Sie«, fragte Gregory, »als sie die Flieger kommen hörten?«

»Ungefähr auf halbem Weg zur U-Bahn.«

»Sie haben nicht mit ihnen gerechnet?«

»Nein. Sie kamen aus dem Nichts.«

»Keine Sirene?«

»Erst nachdem sie anfingen, ihre Bomben abzuwerfen.«

»Und sie bombardierten überall um Sie herum?«

»Ja.«

»Wie war das?«

Sie blies die Backen auf und atmete wieder aus, die Erinnerungen kamen gegen ihren Willen: die blendenden Blitze, der ohrenbetäubende Lärm und die plötzliche Hitze der Flammen. Und die Todesangst, als sie durch den Nebel rannte.

»Sie müssen ja außer sich vor Angst gewesen sein«, sagte Gregory.

»Ich konnte nichts hören«, sagte sie, »nichts sehen.«

»Dachten Sie, dass Sie sterben würden?«

Ivy gab ein seltsames Geräusch von sich, irgendetwas zwischen Lachen und Schluchzen. »Ja«, sagte sie, »so fühlte es sich an.«

»Was passierte dann?«

»Da war ein Mann, er tauchte einfach so auf.« Ihre Stimme stockte, als sie ihn erwähnte. »Ich stieß mit ihm zusammen, fiel fast hin. Danach weiß ich nichts mehr.« Sie schloss die Augen, war wieder dort. Warum hatte Gregory sie dorthin zurück gezwungen?

»Was passierte als Nächstes?«, fragte er.

»Ich wachte auf. Ich lag auf dem Bauch. Mein Gesicht wurde gegen Stein gepresst. Als ich die Hände hob«, sie nahm sie nur ein paar Zentimeter hoch, um es zu demonstrieren, »berührte ich auch Stein.«

»Ihre Rippen waren gebrochen, nicht wahr?«

»Ja. Der Mann – er hieß Stuart – lag auf mir. Alles war schwarz.« Wir befinden uns in einem Hohlraum, hatte Stuart geflüstert. Bewegen Sie sich kein bisschen, damit wir nicht riskieren, dass er einstürzt. »Es wurde einfach nicht hell.« Ivy erschauerte, als sie an die absolute Dunkelheit zurückdachte. »Egal, wie sehr ich meine Augen anstrengte. Es blieb komplett schwarz.«

Gregory notierte etwas.

»Dieser Mann, Stuart«, sagte er, »erzählen Sie mir von ihm.«

»Er hat mir das Leben gerettet.« Wieder brach Ivys Stimme.

»Inwiefern?«

»Er hat mich beruhigt, abgelenkt. Er stellte mir so viele Fragen«, sie holte tief Luft, »über alles Mögliche. Er redete und redete, erzählte mir von seiner Frau, seinen Kindern. Es hielt mich davon ab, zu schnell zu atmen und so den ganzen Sauerstoff aufzubrauchen.«

»Und das tat er, bis Sie gerettet wurden?«

»Nein.«

»Nein?«

Ivy sah ihn an. »Sie wissen, dass er das nicht getan hat.«

Gregory hielt ihrem Blick stand. Ivy sah zur Uhr an der Wand. Sie war nun schon über eine Stunde hier. Bestimmt war es Zeit zu gehen.

Gregory fragte: »Wie fühlten Sie sich, als sie hörten, dass Leute Ihnen zu Hilfe kamen?«

»Ich dachte, dass ich das vielleicht nur träume.«

»Sie brauchten lange, um zu Ihnen vorzudringen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Beinah hätten sie aufgegeben. Und der Sauerstoff wurde zunehmend knapp, sodass es schwer war zu schreien.«

Ivy nickte.

»Wieso haben die Leute weitergesucht, Ivy?«

»Ich habe an den Steinen gekratzt. Eine Frau hörte mich.«

»Und Stuart tat nichts?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Ivy schluckte. »Sie wissen, warum.«

»Erzählen Sie es mir, Ivy. Was war mit ihm?«

Sie starrte auf ihren Schoß. Sie konnte sein Gewicht auf ihrem Rücken noch immer spüren, sein Kopf, der sich gegen ihren Nacken presste. »Er war tot«, sagte sie. »Er ist verblutet.«

»Sie waren also in einem winzigen Loch gefangen, während ein toter Mann auf Ihnen lag. Ein Mann, der Ihnen das Leben gerettet hatte. Und Sie hatten eben erst erfahren, dass jemand, der Ihnen sehr am Herzen lag, abgeschossen worden war.«

Der Regen zeichnete Muster auf die Glasscheiben. Die Wanduhr tickte.

»Was für eine furchtbare Nacht muss das gewesen sein, Ivy. Was für eine schreckliche, schreckliche Nacht.«

»Ich möchte mit Ihnen über Felix sprechen«, sagte Gregory bei ihrer fünften Sitzung. Es war wieder ein regnerischer Vormittag. Ivys wollene Uniformjacke roch in dem warmen Sprechzimmer unangenehm feucht. Durchs Fenster fiel nur schwaches Licht herein. Auf dem Schreibtisch brannte eine kleine Lampe. »Als ich noch ein Kind war, hatte meine Nachbarin einen Kater namens Felix«, sagte Gregory.

»Einen Kater?«

»Ja.«

»Oh«, Ivy wünschte sich, der Ofen würde nicht brennen. »Was für einen Kater?«

»Einen deutschen, Ivy. Meine Nachbarin war Deutsche.«

Sie merkte, wie ihr übel wurde.

»Felix war kein Pilot der Royal Air Force, oder? Auch wenn alle das denken.«

Sie brauchte einen Moment, um sich zu fassen. »Wie kommen Sie darauf?«

»Nur so eine Ahnung«, sagte er und klang dabei kein bisschen anklagend. »Ich bat einen Freund, mir die Namen der britischen Männer zu besorgen, die in jener Nacht abgeschossen wurden. Das waren nur zwei, und keiner davon hieß Felix.«

»Bitte«, sagte sie, »erzählen Sie es niemandem.«

»Tue ich nicht.«

»Wenn die anderen Mädchen das erfahren würden. Wenn meine Vorgesetzte …«

»Werden sie nicht. Ich spreche nie über das, was hier gesagt wird. Aber es muss sehr schwer für Sie sein, das alles für sich zu behalten.«

Sie zupfte an einem losen Faden ihres Blazers. »Meine Gran weiß es.«

»War er Bomberpilot?«

Sie schüttelte den Kopf. »Jagdflieger. Er flog eine Messerschmitt.«

»Wie haben Sie beide sich kennengelernt?«

»In meinem ersten Jahr in Cambridge. Er war älter als ich, nur ein paar Jahre. Vor dem Krieg arbeitete er in London als Übersetzer an der deutschen Botschaft, aber er kam mich immer wieder besuchen.«

»Wann kehrte er zurück nach Deutschland?«

»Als der Krieg ausbrach. Er wollte nicht.«

»Nein?«

»Er hasste die Nazis. Sein Vater war gegen Hitler. Er tauchte unter, vor ein paar Jahren schon.« Sie zog weiter an dem Faden, der immer länger wurde. »Felix bat mich, ihn zu heiraten«, sagte sie und wunderte sich, weil sie zum ersten Mal unaufgefordert sprach. »Er sagte, wenn ich ihn heirate, könne er in England bleiben.«

»Aber Sie haben Nein gesagt.«

»Ich liebte ihn nicht. Nicht mehr.« Wieder zupfte sie an dem Faden. »Ich hatte ja keine Ahnung, was noch kommen, was für ein Krieg das sein würde.« Sie schaute zu Gregory hoch. »Hätte ich gewusst, was es für ihn bedeuten würde zurückzukehren, dann hätte ich ihm geholfen, ihn gerettet.«

»Das konnten Sie nicht wissen«, sagte Gregory.

»Er schrieb mir«, sagte Ivy, und die Worte kamen wie von selbst. (War das ein Fortschritt? Würde sie heute Nacht nicht von Felix träumen?) »Letzten Sommer. Er gab den Brief einem Flüchtling mit, einem jüdischen Mann. Der brachte ihn zum Haus meiner Großmutter.«

»Und was schrieb Felix Ihnen?«

»Dass es die Hölle sei. Er glaubte nicht daran, den Krieg zu überleben. Er bat darum, dass ich mich bei ihm melde, um ihn wissen zu lassen, dass er mir noch etwas bedeutete.«

»Haben Sie das getan?«

»Nein«, sagte Ivy. »Ich hatte zu große Angst. Schließlich wusste ich nicht, was passieren würde, wenn jemand mitbekam, dass ich versuchte, Briefe nach Deutschland zu schmuggeln. Ich war einfach zu feige.«

»Bedeutete er Ihnen denn noch etwas?«

»Nicht genug. Jedenfalls damals nicht.«

»Heute schon?«

»Ja«, sagte sie.

»Wann haben Sie ihn das erste Mal über Funk gehört?«

»Gleich, als ich in Camberwell anfing. Ich erkannte seine Stimme. Danach versuchte ich immer, sie herauszuhören. Ich wollte nicht, dass ihm etwas zustieß.«

»Natürlich wollten Sie das nicht.«

»Er war nett«, sagte sie, »zu den anderen Piloten. Vor allem zu den Jungen, die noch neu waren. Er erinnerte sie daran, ihre Flughöhe zu überprüfen und den Sauerstoffgehalt. Er sagte stets, er würde auf sie aufpassen.«

»Klingt, als wäre er ein guter Mensch gewesen.«

»Das war er.« Ivy presste die Hände an ihre Wangen. Erst da merkte sie, dass sie weinte. »Er hat so gelitten, als er starb. Seine Maschine brannte.«

»Das tut mir leid.« Gregory beugte sich vor und gab ihr sein Taschentuch. Das rote, das sie bei ihrem ersten Termin an ihm gesehen hatte. »Niemand sollte so etwas mitanhören müssen.«

»Niemand sollte derart leiden müssen.«

»Nein«, stimmte er ihr zu. »Das sollte niemand.«

»Er hat das nicht verdient«, sagte Ivy. »Ich habe ihn im Stich gelassen.« Sie wischte sich über die Augen. »Als ich danach von der Bombe verschüttet wurde, kam mir das wie eine Strafe vor.«

»Ja«, sagte Gregory, »ich dachte mir schon, dass Sie das sagen würden.«

»Meine Gran hat Shortbread für Sie gebacken«, sagte Ivy bei ihrer neunten Sitzung und überreichte ihm die Blechdose, als er sie hereinbat.

»Ich liebe Shortbread«, sagte er lächelnd. »Bitte richten Sie ihr meinen Dank aus.«

»Sie ist froh, dass ich zu Ihnen komme.«

»Findet sie, dass Sie das brauchen?«

»Sie hat den Großteil ihrer Zuckerration für das Shortbread verbraucht, also ja.«

Sie setzten sich. Gregory zündete seine Pfeife an. »Haben Sie gestern mal versucht, ohne Licht zu schlafen?«

»Ja«, sagte sie.

»Und?«

»Ich schlief ein, aber dann bin ich wieder aufgewacht.«

»Hatten Sie wieder einen Albtraum?«

»Ja.«

»Waren Sie darin verschüttet, oder ging es um Felix?«

Sie zögerte. »Beides«, gestand sie.

Er machte sich eine Notiz.

»Ich habe das Licht wieder angemacht«, sagte sie, »aber dann ging sowieso der Alarm los, also mussten wir in den Anderson-Unterstand.«

»Wie ging es Ihnen während des Luftangriffs?«

»Ich hatte schreckliche Angst«, sagte sie und wünschte sich, sie könnte ihm eine andere Antwort geben. »Dabei waren die Bomben gar nicht so nah, aber der Lärm, der Unterstand, das stürmte alles auf mich ein …« Ihre Haut wurde klamm, wenn sie nur davon sprach. »Ich konnte nicht atmen und nicht richtig sehen.«

»Und wann hörte das auf?«

»Erst als der Alarm vorbei war«, sagte sie. »Ich lag am Boden, und meine Gran kniete neben mir. Ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, wie ich dort hinuntergekommen bin.«

Gregory nickte gemessen. »Danke, dass Sie mir das anvertraut haben.«

Bei Ivys zwölftem Termin schlug Gregory vor, dass sie eine Runde im gegenüberliegenden Park spazieren gehen könnten. Es war ein stürmischer Tag, kalt und leicht dunstig. In der Luft hing noch der Geruch des Kordits der nächtlichen Luftangriffe. An einem Kiosk holten sie sich zwei Becher süßen Tee. Ivy bestand darauf zu bezahlen. Inzwischen mochte sie den Arzt mit der sanften Stimme und den freundlichen Augen. Sie pustete auf ihren Tee, um ihn abzukühlen, während sie dem Weg um den Teich herum folgten.

»Hier draußen sind Sie entspannter«, stellte Gregory fest.

»Ja«, sagte sie, »ich bin lieber im Freien.«

»Wenn Sie eine Situation als schwierig empfinden oder wieder an einen beengten Ort müssen oder einfach so Panik bekommen, suchen Sie in Gedanken einen Platz wie diesen auf. Das hilft vielleicht.«

»In Ordnung.«

Sie gingen noch ein Stück weiter. Als sie an einer Bank vorbeikamen, schlug Gregory vor, sich für einen Moment zu setzen.

»Gestern habe ich Sie aufgefordert«, fing er an, »mit Ihren Kolleginnen zu dieser Tanzveranstaltung zu gehen. Waren Sie dort?«

»Ja.«

»Und wie war’s?«

»Es war …« Sie verstummte. Wie sollte sie ihm die endlose Fahrt mit der U-Bahn, den Fußmarsch bei Stromausfall bis zu dem Saal, den Lärm der Band und die Hitze der vielen Körper beschreiben? »Erträglich.« Sie schaute stirnrunzelnd auf ihren Tee. »Früher habe ich so etwas geliebt.«

»Und Sie wünschen sich, es würde wieder so.« Das war keine Frage.

Ivy antwortete trotzdem darauf. Es wurde so viel einfacher, ehrlich zu sein. Ihm gegenüber zumindest. »Ja«, sagte sie.

»Und haben Sie getanzt? Ich schätze, dass Sie oft aufgefordert wurden.«

»Ein- oder zweimal.«

»Und haben Sie angenommen?«

Sie sah ihn im Licht dieses Wintermorgens von der Seite an. Er betrachtete sie durch seine Brillengläser. Sein Atem war als weißes Wölkchen sichtbar.

»Sie wissen, was ich darauf sagen werde«, antwortete sie.

»Dann sagen Sie es«, erwiderte er.

»Nein«, sagte sie. »Ich habe nicht getanzt.«

»Wegen Felix?«

»Ja.«

»Denken Sie, er würde wollen, dass Sie für den Rest Ihres Lebens am Rand einer Tanzfläche sitzen? Und dass Sie sich solche Vorwürfe machen?«

Sie dachte an die besitzergreifende Art, mit der er auf Partys in Cambridge immer ihre Hand gehalten hatte, an seine Befürchtungen, sie würde jemand anderen finden, nachdem er zum Arbeiten nach London gegangen war. Und an die Worte in seinem letzten Brief. Sag mir, dass du mich noch lieben kannst, sag es mir, und ich werde daran glauben, dass ich das hier durchstehe.

»Ja«, sagte sie, »ich glaube, das würde er wollen.«

»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen mitteilte, dass Sie nach Camberwell zurückmüssen?«

Es war ihre fünfzehnte Sitzung.

»Ich will nicht nach Camberwell zurück«, sagte Ivy.

»Aber Sie wollen zurück an die Arbeit?«

»Ja.«

Gregory legte seine Fingerspitzen unter der Nase aneinander. »Warum?«

»Weil ich darüber hinwegkommen will.«

»Wieder durchgefallen, Ivy«, sagte er.

»Schön.« Sie ließ ihren Blick an die Decke wandern und suchte nach Worten. »Ich will wieder ich selbst sein, arbeiten, normal sein. Ich habe es satt, im Garten zu arbeiten, zu stricken und all diese Dinge zu tun, die meine Gran mir vorschlägt, damit ich auf andere Gedanken komme. Ich bin es leid, jemand zu sein, den man auf andere Gedanken bringen muss. Ich will ich selbst sein.«

Seine Augen wurden schmal, und sie hätte nicht sagen können, ob Zustimmung oder Enttäuschung aus ihnen sprach.

»Sie müssen zurück nach Camberwell«, sagte er.

»Was?« Sie starrte ihn entsetzt an. »Ich …«

Er hob die Handflächen, und sie verstummte. »Nur für eine Schicht«, sagte er. »Man hat mich gebeten, Sie heute Nachmittag herüberzuschicken. Ich halte es nicht für besonders ratsam, aber das spielt anscheinend keine Rolle. Es gibt akuten Bedarf an mehr Lauscherinnen, und irgendwer bei der Admiralität möchte sehen, welche Fortschritte Sie machen.«

»Kann man denn nicht an einem anderen Ort sehen, welche Fortschritte ich mache?«, fragte sie mit erstickter Stimme.

»Ich fürchte, nein. Gehen Sie von hier direkt hin. Ich sehe Sie morgen wieder. Dann können wir darüber sprechen, wie es gelaufen ist.«

Sie machte den Mund auf, um zu protestieren, aber er kam ihr zuvor. »Sie müssen hingehen, Ivy, es tut mir leid. Ein Befehl, selbst wenn er Kummer auslösen mag, ist immer noch ein Befehl.«

Sie blieb noch einen Moment sitzen und starrte vor sich hin. Aber weil es tatsächlich nichts gab, das sie dagegen tun konnte, erhob sie sich und ging langsam davon, ihre Schritte schwer vor lauter Furcht.

»Es war … in Ordnung«, sagte sie am nächsten Vormittag. »Aber bitte zwingen Sie mich nicht, dorthin zurückzukehren.«

»Nein?«

»Nein.« Sie hätte ihm davon erzählen können, welche Panik sie erfasst hatte, als sie auf den Bunker zuging, vorbei am Schutt der Gebäude, die über ihr eingestürzt waren. Sie hätte beschreiben können, wie ihre Hände gezittert hatten, als sie die Kopfhörer mit dem Mikrofon aufsetzte. Welche Trauer sie gepackt hatte, als sie an ihrem Funkgerät drehte und die Stimmen der Männer und Jungen hörte. Aber das brauchte sie gar nicht. Sie sah an der Sorge in seinem Blick, dass er sie auch so verstand. »Ich habe es gemacht«, sagte sie nur. »Ich habe bewiesen, dass ich es kann. Wahrscheinlich könnte ich es auch noch einmal tun, wenn es wirklich sein müsste, aber bitte sagen Sie nicht, dass Sie mich dorthin zurückschicken werden.«

»Das werde ich nicht«, sagte Gregory. Zum ersten Mal saß er hinter seinem Schreibtisch. Ivys Akte war nirgends zu sehen, vor ihm lagen nur irgendwelche offiziell aussehenden Papiere. »Sie werden versetzt«, sagte er.

»Wirklich?« Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Bin ich diensttauglich?« Sie hatte erwartet, dass sich die Nachricht anders anfühlen würde.

»In meinen Augen sind Sie noch zu gar nichts tauglich. Aber das gestern war ein Test, und Ihre Vorgesetzte ist der Meinung, dass Sie ihn bestanden haben. Man braucht Sie im Ausland.«

»Im Ausland?«, echote sie.

»Ja«, sagte er, »dafür hat Ihr Japanisch gesorgt.«

»Mein Japanisch?« Sie schien geradezu zwanghaft alles wiederholen zu müssen, was er sagte.

»Im Osten wird die Lage brenzlig.« Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Stirn. »Wenn ich könnte, würde ich Sie noch für ein paar Monate freistellen. Ich möchte Sie weiterhin sehen, bis Sie abreisen, um Ihnen noch ein paar Bewältigungsstrategien gegen Ihre Klaustrophobie beizubringen. Die weite Reise, die Kabinen … ich weiß wirklich nicht, ob das eine gute Idee ist.«

Jetzt, wo er es sagte, war sich Ivy da auch nicht so sicher.

»Wann reise ich ab?«, fragte sie.

»Nächste Woche.«

»Wohin? Wo im Osten?«

»Ihr Ziel heißt Singapur, Ivy. Was halten Sie davon?«