Cover

Das Buch

„Manchmal kann das Leben Herausforderungen mit sich bringen, und wir können uns verloren fühlen. Doch die Samen der Freude keimen in jedem von uns. Wir laden Sie ein, uns dabei zu unterstützen, mehr von dieser Freude in unsere Welt zu bringen.“

Erzbischof Desmond Tutu und Seine Heiligkeit der Dalai Lama

Im April 2015 besuchte Desmond Tutu den Dalai Lama, um mit ihm dessen achtzigsten Geburtstag zu feiern – und um eine der wichtigsten Fragen überhaupt zu ergründen: Wie können wir innere Freude finden trotz des Leides in der Welt?

Fünf Tage lang tauschten die beiden Freunde ihre außergewöhnlichen Lebenserfahrungen aus. Sie lachten und weinten miteinander. Sie blickten gemeinsam in den Abgrund der Angst und scheinbaren Hoffnungslosigkeit, vor dem sich viele Menschen heutzutage sehen. Und sie zeigten, wie wir – unabhängig von allen Herausforderungen und Krisen, mit denen wir täglich konfrontiert werden – eine positive innere Kraft entfalten können, die unserem Leben Sinn und Erfüllung schenkt.

Das Buch der Freude lässt uns diese wegweisende Begegnung zweier der bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Zeit hautnah miterleben.

Die Autoren

Tenzin Gyatso, Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama, ist das geistliche Oberhaupt der Tibeter und des tibetischen Buddhismus. Geboren 1935, floh er nach der Besetzung Tibets 1959 nach Indien, wo er seitdem im Exil lebt. Seine spirituelle Arbeit, seine Bemühungen um die politische, religiöse und kulturelle Identität Tibets sowie sein Einsatz für den Weltfrieden finden Anerkennung in der ganzen Welt. 1989 wurde er mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

Desmond Mpilo Tutu, geboren 1931, ist emeritierter Erzbischof der Anglikanischen Kirche in Südafrika. Als wichtigste Symbolfigur neben Nelson Mandela im Kampf gegen die Apartheid erhielt er 1984 den Friedensnobelpreis. Seine Politik der Vergebung und Aussöhnung wurde zum leuchtenden Beispiel für gewaltfreie Konfliktlösung. Auch im Alter von 85 Jahren setzt sich Erzbischof Tutu unermüdlich weltweit für Frieden und Menschlichkeit ein.

Douglas Abrams ist Lektor, Autor, Literaturagent und seit mehr als zehn Jahren Koautor von Desmond Tutu. Er engagiert sich besonders für Projekte, die das Ziel verfolgen, mehr Weisheit, Gesundheit und Gerechtigkeit in die Welt zu bringen.

DALAI LAMA

DESMOND TUTU

& Douglas Abrams

DAS BUCH DER

FREUDE

Aus dem amerikanischen Englisch übertragen

von Helmut Dierlamm und Friedrich Pflüger

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Book of Joy. Lasting Happiness in a Changing World« im Verlag Avery, einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York, USA.

Abbildungsnachweis:

Coverfoto, Bild 1, Bild 2, Bild 3: © by Miranda Penn Turin

Alle weiteren Bilder: © by Tenzin Choejor

Lotos Verlag

Lotos ist ein Verlag der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Copyright © 2016 by The Dalai Lama Trust, Desmond Tutu und Douglas Abrams

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Lotos Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Redaktion: Ralf Lay

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Umschlagfoto: © by Miranda Penn Turin

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-19191-7
V003

www.ansata-integral-lotos.de

www.facebook.com/Integral.Lotos.Ansata

INHALT

Einladung zur Freude

Einleitung

Ankunft: Wir sind zerbrechliche Geschöpfe

TAG 1

DAS WESEN DER WAHREN FREUDE

Warum bist du nicht verdrossen?

Schönes entsteht nicht ohne ein wenig Leiden

Hast du dem Vergnügen abgeschworen?

Unsere größte Freude

Mittagessen: Es ist wunderbar, wenn zwei schelmische Menschen zusammentreffen

TAG 2 UND 3

HINDERNISSE AUF DEM WEG ZUR FREUDE

Ein Meisterwerk im Entstehen

Furcht, Stress und diffuse Ängste: Ich war sehr nervös

Wut und Ärger: Ich habe geschrien, wenn ich wütend wurde

Traurigkeit und Kummer: Harte Zeiten schweißen uns enger zusammen

Verzweiflung: Die Welt ist in einem solchen Chaos

Einsamkeit: Es ist nicht nötig, sich vorzustellen

Neid: Jetzt fährt dieser Kerl schon wieder mit seinem Mercedes hier vorbei

Leiden und Schicksalsschläge: Schwierigkeiten überstehen

Krankheit und Todesfurcht: Lieber möchte ich in die Hölle kommen

Meditation: Jetzt verrate ich euch ein Geheimnis

TAG 4 UND 5

DIE ACHT SÄULEN DER FREUDE

1. Blickwinkel: Es gibt viele verschiedene Sichtweisen

2. Bescheidenheit: Ich versuchte, demütig zu wirken

3. Humor: Zu lachen und zu scherzen ist viel besser

4. Akzeptanz: Der einzige Ort, an dem die Veränderung beginnen kann

5. Vergebung: Sich von der Vergangenheit befreien

6. Dankbarkeit: Was für ein Glück, dass ich lebe!

7. Mitgefühl: Wir wollen mitfühlend sein

8. Großzügigkeit: Wir sind von Freude erfüllt

Die Feier: Tanzen auf den Straßen Tibets

Abreise: Ein letztes Lebewohl

Übungen der Freude

Dank

Über die Autoren

EINLADUNG ZUR FREUDE

Aus Anlass eines besonderen Geburtstags haben wir in Dharamsala eine Woche lang gemeinsam unsere Freundschaft genossen und dabei, wie wir hoffen, auch ein Geburtstagsgeschenk für andere geschaffen. Wahrscheinlich gibt es nichts Schöneres als die Geburt, und doch verbringen wir so viel Zeit unseres Lebens in Trauer, Leid und Anspannung. Wir beide hoffen, mit diesem bescheidenen Buch zu mehr Freude und Lebensglück einzuladen.

Nicht düsteres Schicksal bestimmt unsere Zukunft – wir bestimmen sie selbst. Tag für Tag, in jedem Augenblick können wir nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch die Lebensqualität anderer Menschen auf unserem Planeten formen und erneuern. Wir verfügen über diese Macht. Freude und Glück lassen sich nicht erlangen, indem man eigenen Zielen und Erfolgen nachläuft. Auch in Reichtum und Ruhm sind sie nicht zu finden, sondern nur im Geist und im Herzen des Menschen, und wir hoffen, dass jeder dort Freude und Glück findet.

Douglas Abrams hat sich freundlicherweise dazu bereit erklärt, uns bei diesem Vorhaben zu unterstützen, und er führte im Verlauf einer Woche zahlreiche Gespräche mit uns beiden. Wir hatten ihn darum gebeten, unsere Stimmen zusammenzuweben und seine eigene als Erzähler hinzuzufügen. Auf diese Weise können wir nicht nur unsere Ansichten und Erfahrungen teilen, sondern auch das, was beispielsweise Wissenschaftler über den Ursprung der Freude herausgefunden haben.

Natürlich müssen Sie uns nicht alles glauben. Nichts von dem, was wir sagen, ist als Glaubensgrundsatz gedacht. Wir möchten nur weitergeben, was wir beide als Freunde, die aus sehr verschiedenen Welten kommen, in unserem langen Leben erfahren und gelernt haben. Wir hoffen, die Leser werden am Beispiel ihres eigenen Lebens zu dem Schluss kommen, dass sich unsere Erkenntnisse als wahr erweisen.

Jeder Tag ist eine Gelegenheit, wieder neu zu beginnen. Jeder Tag ist unser Geburtstag.

Möge dieses Buch allen empfindsamen Geschöpfen und allen Kindern Gottes ein Segen sein – Sie als Leser mit eingeschlossen.

TENZIN GYATSO, Seine Heiligkeit der Dalai Lama

DESMOND TUTU, emeritierter Erzbischof, Südafrika

EINLEITUNG

VON DOUGLAS ABRAMS

Als wir auf dem kleinen Flugplatz vor der imposanten Kulisse der schneebedeckten Ausläufer des Himalajas unter dem Heulen der Triebwerke die Maschine verlassen hatten, fielen sich zwei alte Freunde in die Arme. Der Erzbischof berührte zärtlich die Lippen des Dalai Lama, und dieser spitzte den Mund, als würde er dem Erzbischof einen Kuss zuwerfen. Es war ein Augenblick voller Zuneigung und Freundschaft. Während der etwa ein Jahr dauernden Vorbereitungen war uns die Bedeutung dieses Treffens für die Welt durchaus bewusst gewesen, aber wir hatten nicht damit gerechnet, was die gemeinsame Woche für die beiden bedeuten würde.

Mit dem Privileg, den bemerkenswerten Austausch während dieser Woche als Gäste im Exil des Dalai Lama im indischen Dharamsala zu vermitteln, ging eine mindestens ebenso große Verantwortung einher. Ich hoffe, in diesem Buch dem vertraulichen Dialog der beiden mit dem scheinbar endlosen Lachen und den vielen rührenden, liebevollen und bisweilen auch traurigen Augenblicken gerecht zu werden.

Im Verlauf von etwa einem Dutzend vorangegangener Begegnungen hatten Erzbischof Tutu und der Dalai Lama eine enge Verbindung geknüpft, die weit über diese kurzen Treffen hinausging, und jeder betrachtete den anderen als seinen »schelmischen Bruder im Geiste«. Die Gelegenheit, ihre Freundschaft so intensiv zu genießen, würde sich künftig wohl kein weiteres Mal bieten, das war beiden klar.

In allen unseren Gesprächen klangen die pochenden Schritte der menschlichen Vergänglichkeit mit. Zweimal mussten die Reisepläne geändert werden, damit der Erzbischof bei Begräbnissen von Freunden zugegen sein konnte. Die aktuelle Weltpolitik und die Gesundheit haben Begegnungen der beiden zu oft verhindert, als dass man auf ein weiteres derartiges Treffen hoffen dürfte.

So saßen wir eine Woche lang zusammen und wurden dabei von fünf Videokameras gefilmt – in sorgsam gedämpftem Licht, um die empfindlichen Augen des Dalai Lama zu schonen. Die Suche nach dem Ursprung der Freude führte uns zu den tiefgreifendsten Fragen des Lebens. Es ging dabei um die wahre, nicht von den Wechselfällen der äußeren Umstände abhängende Freude, und wir mussten uns dabei auch den Hindernissen widmen, die den Weg zur Freude erschweren. Während des Dialogs erörterten die beiden acht tragende Säulen der Freude – vier Säulen des Geistes und vier Säulen des Herzens. Trotz aufschlussreicher Meinungsverschiedenheiten waren sich die zwei großen Vordenker bei den Grundprinzipien einig und erarbeiteten Möglichkeiten, wie jeder Einzelne von uns in dieser sich ständig wandelnden und häufig schmerzlich erlebten Welt dauerhaft Glück finden kann.

Täglich genossen wir köstlichen Darjeeling und teilten das Brot – typisches tibetisches Fladenbrot. Bei diesen Pausen zur Mittags- und zur Teezeit war immer das ganze Filmteam mit eingeladen. An einem Morgen ließ der Dalai Lama den Erzbischof in seinen Privatgemächern an seinen morgendlichen Meditationsübungen teilhaben, und Tutu erteilte seinem Freund die Kommunion – ein Sakrament, das sonst Christen vorbehalten bleibt.

Am Ende der Woche feierten wir dann den Geburtstag des Dalai Lama im tibetischen Kinderdorf, einem der ehemals in Tibet beheimateten Internate, wo die chinesische Regierung eine Erziehung auf Grundlage der tibetischen Kultur nicht mehr zulässt. Noch heute werden Kinder von dort mit Führern über die Gebirgspässe zu den Schulen des Dalai Lama geschickt – häufig schon im Alter von fünf Jahren. Das Leid dieser Eltern und Kinder, die sich, wenn überhaupt, dann vielleicht erst ein Dutzend Jahre später wiedersehen, ist kaum vorstellbar.

Gerade vor diesem traumatischen Hintergrund lässt sich vielleicht die Begeisterung der Schüler und ihrer Lehrer ermessen, als ihr spirituelles Oberhaupt – dem als buddhistischem Mönch das Tanzen eigentlich versagt ist – angespornt durch Desmond Tutus unwiderstehlichen Boogie ebenfalls schüchtern zu wippen begann.

Der Dalai Lama und der Erzbischof zählen nicht nur zu den großen spirituellen, sondern auch zu den moralischen Orientierungspersönlichkeiten unserer Zeit. Sie gehen beide weit über ihre eigenen Traditionen hinaus und bewahren den Blick auf die Menschheit als Ganzes. Mit ihrem Mut, ihrer zähen Widerstandskraft und ihrer unerschütterlichen Hoffnung sind sie für Millionen ein leuchtendes Vorbild, denn sie stellen sich der überall wachsenden Verzweiflung und dem grassierenden Zynismus entschlossen entgegen. Ihre Freude und ihre Zuversicht sind ganz klar nichts Einfältiges oder Oberflächliches, sondern geschmiedet mit dem Feuer des Widerstands, der Unterdrückung und des Kampfs. Der Dalai Lama und Erzbischof Tutu erinnern uns daran, dass Lebensfreude unser Geburtsrecht und sogar noch fundamentaler ist als Glück.

»Freude«, erklärte der Erzbischof im Verlauf der Woche, »ist sehr viel umfassender als Glück, das doch häufig von äußeren Umständen abhängt, im Gegensatz zur Freude.«

Dies ist intellektuell wie gefühlsmäßig sehr nah an der Überzeugung des Dalai Lama wie des Erzbischofs darüber, was unser Leben beseelt und ihm letztlich Bedeutung und Erfüllung gibt.

In den Dialogen ging es um das, was der Dalai Lama den eigentlichen »Sinn des Lebens« genannt hat – das Ziel, Leiden zu vermeiden und dauerhaftes Glück zu finden. Beide teilten einander und uns ihre Erfahrungen mit, wie es sich angesichts der unvermeidlichen Bekümmernisse des Lebens in Freude leben lässt. Gemeinsam erkundeten sie, wie wir die Freude von einem vorübergehenden Zustand in ein beständiges Merkmal unseres Daseins umwandeln können, von einem flüchtigen Gefühl zu einer dauerhaften Daseinsform.

Dieses Buch war gleich von Anfang an als eine Art dreischichtige Geburtstagstorte gedacht.

Die erste Schicht bilden die Lehren des Dalai Lama und des Erzbischofs über die Freude: Ist es wirklich möglich, Freude zu empfinden trotz der Schwierigkeiten des Alltags – vom Ärger über den morgendlichen Berufsverkehr bis zu existenziellen Ängsten über die Versorgung unserer Familie, von der Wut über erlittenes Unrecht bis zur Trauer über den Verlust naher Angehöriger, von den Prüfungen durch Krankheit bis zum Abgrund des Todes? Wie können wir die Realität unseres Daseins akzeptieren, ohne sie zu leugnen, und Schmerz und Leid überwinden, denen wir nicht entgehen können? Und selbst wenn wir ein gutes Leben haben – wie können wir Freude empfinden, wenn so viele andere leiden; wenn ihnen bittere Armut jede Zukunft raubt, wenn in den Straßen Gewalt und Terror herrschen und wenn die Verwüstung der Umwelt die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten zerstört? Dieses Buch ist der Versuch, solche und viele andere Fragen zu beantworten.

Die zweite Schicht bilden die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Freude und alle anderen Umstände, die beide für dauerhaftes Glück als unerlässlich erachten. Neue Erkenntnisse der Gehirnforschung und der experimentellen Psychologie geben uns tiefe Einblicke in die Art und Weise, wie menschliches Leben gedeihen kann.

Zwei Monate vor der Reise traf ich mich zum Mittagessen mit dem Neurowissenschaftler Richard Davidson, einem der Pioniere auf dem Gebiet der Erforschung des Glücks. Wir saßen im Außenbereich eines vietnamesischen Restaurants in San Francisco, und der allgegenwärtige Wind fuhr in die grauschwarzen Locken seines jugendlichen Haarschnitts. Wir waren gerade bei den Frühlingsrollen, als Professor Davidson mir erzählte, was der Dalai Lama ihm verraten habe: Ihn inspiriere die wissenschaftliche Bestätigung, dass Meditation dem Gehirn guttut, sehr – vor allem dabei, aus dem Bett zu kommen und sich hinzusetzen. Wenn schon dem Dalai Lama die Wissenschaft dabei hilft, sich für seine geistigen Übungen zu motivieren, dann hilft sie uns wahrscheinlich noch viel mehr.

Nur allzu oft sehen wir Spiritualität und Wissenschaft als antagonistische Kräfte, die einander an die Kehle wollen. Doch Erzbischof Tutu ist überzeugt von der Bedeutung einer von ihm so genannten »sich selbst bestätigenden Wahrheit«: Auf vielen Wissensgebieten gibt es Erkenntnisse, die zu denselben Schlüssen führen. Und auch der Dalai Lama wollte unmissverständlich klarstellen, dass dies kein buddhistisches oder christliches, vielmehr ein universelles Buch ist, das nicht nur auf persönlichen Ansichten und Traditionen beruht, sondern ebenso auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. (Offen gesagt: Ich bin jüdischen Glaubens, sehe mich aber auch als säkular – das Projekt mag also ein wenig nach einem Witz der Art »Treffen sich ein Buddhist, ein Christ und ein Jude …« klingen.)

Die dritte Schicht der Geburtstagstorte bilden die Schilderungen der mit dem Dalai Lama und Erzbischof Tutu in Dharamsala verbrachten Woche. In diesen sehr persönlichen Kapiteln laden wir den Leser zu unserer Reise mit ein, und zwar von der ersten Umarmung bis zum Abschied.

Am Ende des Buchs haben wir eine Auswahl von Übungen zur Freude angeführt. Beide Lehrer ließen uns an den täglichen Übungen teilhaben, die ihrem emotionalen und spirituellen Leben Halt geben. Sie sind nicht so sehr als etwas wie ein »Rezept für ein Leben in Freude« gedacht, sollen aber einige Methoden und Überlieferungen vorstellen, die dem Dalai Lama, dem Erzbischof und vielen anderen seit Jahrtausenden nützlich sind. Wir hoffen, diese Übungen werden den Lesern dabei helfen, die Lehren, die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Schilderungen in ihr eigenes Leben zu tragen.

Es ist mir eine besondere Ehre, mit bedeutenden geistigen Führungspersönlichkeiten sowie wissenschaftlichen Pionieren zusammengearbeitet zu haben und ihre Erkenntnisse hier wiedergeben zu können. Viele dieser Wissenschaftler haben mit ihrer Forschung großzügig zu diesem Buch beigetragen.

Mein eigenes Interesse für das Thema »Freude« – nun gut: meine Besessenheit – hat ihren Ursprung wahrscheinlich darin, dass ich in einer zwar intakten, aber von Depressionen überschatteten Familie aufgewachsen bin. Menschliches Leid, das aus unserem eigenen Kopf und Herzen erwächst, ist mir daher aus frühester Kindheit vertraut; und die Woche in Dharamsala war für mich in dieser Hinsicht Höhepunkt und Herausforderung zugleich. So war ich fünf Tage lang sozusagen als Abgesandter der Menschheit bei diesen Gesprächen zugegen und durfte dabei den beiden mitfühlendsten Menschen dieser Welt in die Augen blicken. Ich bin sehr skeptisch gegenüber Berichten von magischen Empfindungen in Gegenwart spiritueller Führer, muss jedoch zugeben, dass es vom ersten Tag an in meinem Kopf kribbelte. Es war verblüffend, aber vielleicht nur ein Beispiel dafür, wie meine Spiegelneuronen das verarbeiteten, was mir die Augen dieser beiden außergewöhnlich liebevollen Menschen sagten.

Glücklicherweise lastete die Verantwortung, die Weisheit der beiden in Worte zu fassen, nicht allein auf meinen Schultern. Thupten Jinpa, ein buddhistischer Gelehrter, der seit mehr als dreißig Jahren für den Dalai Lama als Übersetzer tätig ist, stand mir von Anfang bis Ende zur Seite. Er hat viele Jahre als buddhistischer Mönch gelebt, dann aber das Gewand abgelegt, geheiratet und in Kanada eine Familie gegründet, was ihn zum perfekten Vermittler zwischen den Welten wie auch den Sprachen macht. Wir waren beide bei den Gesprächen zugegen, doch Jinpa half mir auch, die Fragen zu formulieren und die Antworten zu übertragen. Bei der gemeinsamen Arbeit sind wir enge Freunde geworden.

Es war aber nicht nur an uns, Fragen zum Thema »Freude« zu stellen. Wir hatten die ganze Welt zur Beteiligung aufgerufen. Und obwohl uns nur drei Tage blieben, diese zu sammeln, erhielten wir mehr als tausend Einsendungen. Zu unserem großen Erstaunen war die häufigste Frage nicht, wie wir die Freude für uns selbst entdecken können, sondern wie man in Freude leben soll in einer Welt voller Leid.

Im Verlauf dieser Woche wedelten Erzbischof Tutu und der Dalai Lama nur allzu häufig in scherzhaftem Widerspruch mit dem Zeigefinger, doch ebenso oft fassten sie sich voller Freundschaft an den Händen. Beim ersten Mittagessen erzählte Tutu von einem Vortrag, den die beiden zusammen gehalten hatten. Sie sollten gerade gemeinsam die Bühne betreten, als der Dalai Lama – der Inbegriff für Mitgefühl und Frieden – so tat, als wolle er seinen älteren Bruder im Geiste erwürgen. Tutu wandte sich daraufhin zum Dalai Lama um und sagte: »He, die Kameras laufen, du musst dich jetzt wie ein heiliger Mann benehmen.«

Die beiden Männer erinnern uns daran, dass es die Wahl unseres Verhaltens ist, die zählt. Heilige Männer müssen sich wie heilige Männer benehmen: ernst und streng, fromm und zurückhaltend – so erwarten wir das. Und doch begegnen diese zwei der Welt und einander völlig anders.

Erzbischof Tutu hat nie so etwas wie Heiligkeit für sich reklamiert, und der Dalai Lama sieht sich selbst als einfachen Mönch. Beide bieten uns die Reflexion eines wirklichen, von Schmerz und Aufruhr erfüllten Lebens, in dem sie für sich ein Maß an Frieden, Mut und Freude gefunden haben, das auch wir anstreben können. Sie wollen uns mit diesem Buch nicht nur ihre Weisheit, sondern auch ihre Menschlichkeit vermitteln. Das Leid lässt sich nicht vermeiden, erklärten sie während der gemeinsamen Woche, aber wie wir dem Leid begegnen, das ist unsere eigene freie Entscheidung. Keine Besatzung oder andere Unterdrückung kann uns dieser Freiheit berauben.

Fast bis zur letzten Minute vor der gemeinsamen Woche war nicht sicher, ob die Ärzte Desmond Tutu die Reise überhaupt gestatten würden. Der Prostatakrebs war wieder aufgetreten, und diesmal sprach er nur langsam auf die Behandlung an. Derzeit kommt bei ihm eine neuartige Behandlungsmethode zum Einsatz, und es bleibt zu hoffen, dass die Krankheit eingedämmt werden kann.

Bei der Landung in Dharamsala erstaunte mich vielleicht am meisten die Erregung und Freude, vermischt vielleicht mit einem Hauch von Sorge, die aus dem breiten Lächeln und den funkelnden blaugrauen Augen des Erzbischofs zu lesen waren.

ANKUNFT

WIR SIND ZERBRECHLICHE GESCHÖPFE

»Wir sind zerbrechliche Geschöpfe, und wir können zur wahren Freude finden – nicht trotz, sondern wegen dieser Schwäche«, sagte Erzbischof Tutu, als ich ihm seinen feinen schwarzen Gehstock mit dem silbernen Knauf in Form eines Windhunds reichte. »Das Leben ist voller Herausforderungen und Widrigkeiten«, fuhr er fort. »Die Furcht lässt sich ebenso wenig vermeiden wie der Schmerz und der Tod. Und was die Rückkehr des Prostatakrebses angeht – nun, es sorgt jedenfalls dafür, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.«

Müdigkeit war eine der Nebenwirkungen seiner Medikamente, und er hatte fast während des gesamten Flugs nach Indien geschlafen, die beigefarbene Decke über den Kopf gezogen. Eigentlich hatten wir uns unterhalten wollen, aber der Schlaf war wichtiger gewesen, und nun teilte er mir seine Gedanken mit, während wir auf Dharamsala zuflogen.

Wir hatten in Amritsar einen Zwischenhalt eingelegt und dort zu seiner Schonung die Nacht verbracht. Außerdem war der Flughafen in Dharamsala nur wenige Stunden täglich geöffnet. Noch an diesem Morgen hatten wir den berühmten Goldenen Tempel besucht, den heiligsten Ort der Sikh-Religion. Die Obergeschosse des Harmandir Sahib sind mit Blattgold belegt, woher sein volkstümlicher Name rührt. In den Gurdwara – die Gebets- und Schulstätte der Sikhs – führen vier Tore zum Zeichen der Offenheit gegenüber allen Menschen und Religionen – einem passenderen Ort hätten wir im Vorfeld des bevorstehenden tiefen Dialogs zwischen zwei Weltreligionen, dem Christentum und dem Buddhismus, kaum unseren Respekt zollen können.

Der Anruf erreichte uns inmitten des Zuges der schier endlosen Menge von Menschen, die den Tempel täglich besuchen. Wir erfuhren, dass der Dalai Lama beschlossen hatte, Bischof Tutu schon am Flughafen zu treffen – eine besondere Ehre, die er nur wenigen aus dem endlosen Strom der Würdenträger zuteilwerden lässt. Es hieß, er sei schon unterwegs. Wir mussten also zurück zum Flughafen und schoben Bischof Tutu in seinem Rollstuhl in aller Eile aus dem Tempel. Mit dem für die Besucher dieser Stätte obligatorischen orangefarbenen Tuch auf dem Kopf wirkte er fast wie ein Pirat im Neon-Dress.

Mühsam schob sich unser Kleinbus in einem Konzert von Autohupen durch die Straßen Amritsars, die durch Massen von Autos, Fußgängern, Fahrrädern, Motorrollern und Tieren verstopft waren. Überall an den Straßen ragte als Zeichen beständiger Expansion Bewehrungsstahl aus den unvollendeten Betonbauten. Schließlich erreichten wir doch noch den Flughafen und bekamen die Maschine. Nun machten wir uns Sorgen, ob der Dalai Lama in Dharamsala wohl schon auf dem Flugfeld warten würde, und wünschten, wir hätten den zwanzigminütigen Flug bereits hinter uns.

»Es tut mir leid, das zu sagen«, meinte Erzbischof Tutu, als wir gerade in den Sinkflug übergingen, »aber wenn wir mehr Freude finden, bewahrt uns das nicht vor Not und Kummer. Möglicherweise müssen wir sogar eher weinen, aber dafür fällt uns auch das Lachen leichter. Vielleicht sind wir einfach nur lebendiger. Dafür können wir, wenn wir mehr Freude finden, dem Leid in einer Weise begegnen, die uns erhebt, anstatt uns zu verbittern. Wir erleben Not, ohne dass sie uns verhärtet. Wir erleben Kummer, ohne daran zu zerbrechen.«

Ich hatte die Tränen wie auch das Lachen des Erzbischofs nur allzu oft erlebt – mehr Lachen als Tränen, genau genommen, aber sie fließen doch häufig um dessentwillen, was noch nicht erlöst ist, nicht geeint ist. Ihm ist alles wichtig, und alles berührt ihn tief. Seine Gebete, die auch mich eingeschlossen haben, gehen hinaus in die Welt zu allen in Not und Leid. Nachdem der Enkel eines seiner Verleger erkrankt war, kam auch das Kind auf die lange Liste der Fürbitten des Erzbischofs. Als der Verleger mehrere Jahre später erneut um geistliche Fürsprache für seinen Enkel bat, weil die Krankheit wieder aufgeflammt war, erklärte Erzbischof Tutu, er habe nie aufgehört, für den Jungen zu beten.

Vor dem Fenster zogen nun die schneebedeckten Berge vorüber, die aus der Heimat des Dalai Lama im Exil eine Postkartenidylle machen. Als der Dalai Lama und die anderen Flüchtlinge aus Tibet nach dem Einmarsch der Chinesen nach Indien kamen, wurden viele Tibeter zunächst im indischen Tiefland angesiedelt, wo die ungewohnte Hitze und die Moskitos ihrer Gesundheit sehr zusetzten. So bestimmte die indische Regierung das höher gelegene und kühlere Dharamsala zum Wohnsitz des Dalai Lama, wofür dieser sehr dankbar war. Im Laufe der Zeit ließen sich viele Tibeter hier nieder, und die vertraute Bergkulisse half ihnen ein wenig über das Heimweh hinweg. Am wichtigsten aber war, dass sie ihrem geistigen und politischen Führer hier nahe sein konnten.

Dharamsala liegt im nordindischen Bundesstaat Himachal Pradesh, und schon während der Kolonialzeit hatten die Engländer hier vor der gnadenlosen Hitze des indischen Sommers Zuflucht gesucht. Bereits beim Anflug auf die ehemalige britische Sommerfrische war der leuchtend grüne Flickenteppich aus Feldern und Kiefernwäldern zu sehen. Nur allzu oft hüllt sich der kleine Flughafen in Nebel oder Gewitterwolken – so auch bei meinem vorigen Besuch. Heute aber strahlte der Himmel blau, und die Bergketten hielten feine, ferne Federwolken im Zaum. Dann ging es steil zur Landung hinab.

»Eine große Frage bestimmt unser Dasein«, hatte der Dalai Lama vor unserer Reise erklärt. »Was ist der Sinn des Lebens? Nach vielen Überlegungen bin ich davon überzeugt, der Sinn des Lebens ist, Glück zu finden. Dabei spielt es keine Rolle, ob man wie ich Buddhist ist oder ein Christ wie der Erzbischof – oder einer anderen Religion angehört oder überhaupt keiner. Vom Augenblick der Geburt an möchte jedes menschliche Wesen Glück finden und Leid vermeiden. Weder kulturelle Unterschiede noch unsere Erziehung haben einen Einfluss darauf. Aus dem Innersten unserer Existenz heraus erstreben wir nichts als Freude und Zufriedenheit. Aber nur zu oft sind diese Gefühle flüchtig und schwer zu erreichen, wie ein Schmetterling, der sich kurz auf uns niederlässt und dann wieder davonflattert.

Die Quelle des Glücks liegt in uns selbst. Nicht in Geld, Macht oder Status. Manche meiner Freunde sind Milliardäre, und doch sind sie sehr unglückliche Menschen. Macht und Geld bringen keinen inneren Frieden. Äußerliche Erfolge bringen keine wahre innere Freude. Wir müssen nach innen schauen.

Leider erschaffen wir viele Dinge selbst, die unser Glück und unsere Freude untergraben. Häufig hat dies seinen Grund in negativen Neigungen unseres Verstandes, in emotionalen Reaktionen oder der Unfähigkeit, unsere eigenen Ressourcen zu schätzen und zu unserem Nutzen einzusetzen. Das Leid, das eine Naturkatastrophe mit sich bringt, können wir nicht kontrollieren, wohl aber das Leid, das unsere täglichen ›Katastrophen‹ verursachen. Das meiste Leid bereiten wir uns nämlich selbst; also ist es eigentlich logisch, dass wir auch die Fähigkeit besitzen, mehr Freude zu schaffen. Dabei kommt es einfach auf die Haltung an, die Perspektive und unsere Reaktion auf die verschiedenen Situationen sowie auf unsere Beziehung zu anderen Menschen. Was das persönliche Glück anbelangt, kann jeder Einzelne von uns sehr viel tun.«

Als die Bremsen an den Rädern zupackten, wurden wir nach vorn gerissen. Die Maschine holperte, schüttelte sich und kam auf der kurzen Landebahn alsbald zum Stehen. Durchs Fenster konnten wir den Dalai Lama schon unter einem großen gelben Schirm auf dem Flugfeld stehen sehen. Er trug seine rotbraune Robe, einen roten Schal, und an seiner ärmellosen Weste war ein safrangelber Punkt zu sehen. Er war umgeben von einer Entourage von Mitarbeitern und Flughafenpersonal in Anzügen. Für die Sicherheit sorgten indische Soldaten in kakifarbenen Uniformen.

Medienvertreter hatte man vom Flughafen ferngehalten, denn bei diesem freundschaftlichen Wiedersehen sollte nur der persönliche Fotograf des Dalai Lama Bilder machen. Erzbischof Tutu in seinem blauen Blazer und der unverkennbaren Prinz-Heinrich-Mütze auf dem Kopf humpelte die steile Fluggasttreppe hinunter, und der Dalai Lama kam heran. Der Dalai Lama lächelte, und seine Augen funkelten hinter der großen, eckigen Brille. Er verbeugte sich tief, Erzbischof Tutu breitete die Arme weit aus, und dann umarmten sie sich. Sie lösten die Umarmung, hielten sich an den Schultern und sahen sich in die Augen, als müssten sie sich vergewissern, dass sie tatsächlich wieder vereint waren.

»Ich habe dich lange nicht gesehen«, sagte Tutu, legte dem Dalai Lama behutsam die Fingerspitzen an die Wange und drehte sein Gesicht herum, um es zu mustern. »Du siehst sehr gut aus.«

Der Dalai Lama hielt den Erzbischof immer noch an den schmalen Schultern und spitzte die Lippen, als wollte er ihm einen Kuss zuwerfen. Tutu hob die linke Hand mit dem glänzenden goldenen Ehering und fasste den Dalai Lama am Kinn, wie man es vielleicht bei einem geliebten Enkelkind tut. Dann beugte sich Tutu vor und küsste ihn auf die Wange. Der Dalai Lama, der sonst bei der Begrüßung wohl eher nicht geküsst wird, zuckte ein wenig zusammen, lachte aber beglückt auf und stimmte in das hohe Gekicher des Erzbischofs mit ein.

»Du magst keine Küsse«, sagte der Erzbischof und verpasste ihm noch einen auf die andere Wange. Ich fragte mich, wie viele Küsse der Dalai Lama in seinem Leben wohl bekommen hatte. Schon im Alter von zwei Jahren war er von seinen Eltern getrennt worden und in einem abgesonderten Umfeld fern von allen Küssen aufgewachsen.

Dann folgte die in Tibet zur Begrüßung und Ehrung übliche förmliche Übergabe der Khata, eines weißen Schals. Der Dalai Lama verbeugte sich mit vor dem Herzen aneinandergelegten Händen, eine Grußgeste, die unsere Verbundenheit ausdrückt. Tutu nahm die Mütze ab und verbeugte sich ebenfalls. Der Dalai Lama legte ihm den weißen Seidenschal um den Hals. Über den im Hintergrund immer noch dröhnenden Flugzeugmotoren flüsterten sie sich gegenseitig in die Ohren. Der Dalai Lama nahm Bischof Tutu an der Hand, und wie die beiden so lachten und miteinander scherzten, wirkten sie eher wie Acht- als wie Achtzigjährige. Sie begaben sich zum Terminal, mit dem gelben Schirm vor der Sonne geschützt.

Obwohl der weiße Schal dem Erzbischof großzügig um den Hals drapiert war, hing er doch fast bis zum Boden herunter. Die Größe einer Khata ist ein Zeichen für die Wertschätzung des Empfängers, und die längsten sind den hohen Lamas vorbehalten. Diese Khata war die längste, die ich je gesehen habe. Als man Tutu im Verlauf der Woche eine Khata nach der anderen um den Hals legte, scherzte er immer wieder, er käme sich vor wie ein menschlicher Garderobenständer.

Man führte uns in den Aufenthaltsraum des kleinen Flughafens, wo mehrere ausladende braune Sofas bereitstanden für den Fall, dass der Dalai Lama wegen der hier oft verspäteten oder abgesagten Flüge wieder einmal warten musste. Draußen vor dem Gebäude drängten sich die versammelten Journalisten und Fotografen an den Glasscheiben und warteten auf eine Gelegenheit, zu fotografieren oder eine Frage zu stellen. Nach all den Ablenkungen durch die umfangreichen Vorbereitungen wurde mir jetzt wieder die historische Bedeutung dieser Reise bewusst: Das Zusammentreffen der beiden war ohne Zweifel ein Ereignis von Weltrang, was man bei all der Logistik und dem Drumherum schon mal vergessen konnte.

In der Flughafenlounge entspannte sich der Erzbischof auf einer Couch, während der Dalai Lama auf einem großen Stuhl neben ihm saß. Neben dem Erzbischof hatte sich seine Tochter Mpho niedergelassen. Sie trug ein Kleid in leuchtend grünem und rotem afrikanischem Stoffdruck mit passendem Kopftuch. Als jüngstes von vier Kindern war Mpho ihrem Vater ins Kirchenamt gefolgt und wirkte nun als Geschäftsführerin der Desmond and Leah Tutu Legacy Foundation. Im Verlauf dieser Reise ließ sich Mpho vor ihrer Partnerin Marceline van Furth auf die Knie und machte ihr einen Heiratsantrag, und nur wenige Monate nach der Reise sollte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten seine aufsehenerregende Entscheidung zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe bekannt geben. Tutu hatte sich jedoch schon jahrzehntelang für die Rechte von Schwulen und Lesben eingesetzt. Er sagte, er würde sich weigern, in einen homophoben Himmel zu kommen. Viele – und besonders diejenigen, die sich durch seine moralische Kritik angegriffen fühlen – vergessen, dass er sich immer und überall gegen Unterdrückung und Diskriminierung jeder Art ausgesprochen hat. Kurz nach der Hochzeit wurde Mpho gezwungen, ihr Priesteramt niederzulegen, da die südafrikanische anglikanische Kirche die Ehe Gleichgeschlechtlicher nicht anerkennt.

»Ich hatte mich wirklich darauf gefreut, zu deinem Geburtstag zu kommen«, sagte der Dalai Lama, »aber eure Regierung sah da einige Schwierigkeiten. Du hattest dich damals mit sehr starken Worten geäußert«, sagte er und legte dem Erzbischof die Hand auf den Arm. »Und ich schätzte das sehr.« – »Starke Worte« war eine Untertreibung.

Der Plan, in Dharamsala gemeinsam den Geburtstag des Dalai Lama zu feiern, hatte seinen Ursprung vier Jahre zuvor bei der Feier zum achtzigsten Geburtstag von Erzbischof Tutu in Kapstadt. Der Dalai Lama war als Ehrengast eingeladen, aber die südafrikanische Regierung hatte ihm unter dem Druck der chinesischen Diplomatie das Einreisevisum verweigert. China ist ein bedeutender Abnehmer südafrikanischer Mineralien und Rohstoffe.

Tutu war im Vorfeld der Feierlichkeiten täglich in den Schlagzeilen der Zeitungen Südafrikas gewesen und hatte das perfide, doppelzüngige Spiel der Regierung seines Landes scharf angeklagt. Dabei verglich er den regierenden Afrikanischen Nationalkongress ANC – die Partei, für deren Belange und ihre inhaftierten und exilierten Vertreter er jahrzehntelang gekämpft hatte – mit dem verhassten Apartheid-Regime. Sie seien sogar schlimmer, denn die Niederträchtigkeit des Apartheid-Regimes sei wenigstens offensichtlich gewesen

»Ich versuche immer, Unannehmlichkeiten zu vermeiden«, meinte der Dalai Lama grinsend und deutete dann auf Tutu, »aber ich war sehr froh, dass jemand anders wagte, unbequem zu sein. Ich war sehr glücklich darüber.«

»Ich weiß«, antwortete der Erzbischof. »Du benutzt mich. Das ist das Problem. Du benutzt mich, und ich lerne nichts daraus.«

Dann streckte Tutu die Hand aus und ergriff die des Dalai Lama.

»Dass dich die Südafrikaner nicht zu meinem achtzigsten Geburtstag kommen ließen, machte das ganze Ereignis noch bedeutsamer, weil unsere Unterhaltung über Google lief, was das Interesse der Presse enorm verstärkte. Aber es spielt keine Rolle, denn das Interesse ist immer gewaltig, ganz egal, wo du bist. Ich bin deswegen nicht neidisch.

Weißt du noch, damals in Seattle, als sie nach einem Ort suchten, der groß genug war für all die Leute, die dich sehen wollten, und am Ende brauchten sie ein Fußballstadion? Siebzigtausend wollten diesen Mann sehen und hören, und dabei spricht er nicht einmal anständig Englisch!«

Der Dalai Lama musste herzhaft lachen.

»Das gefällt mir nicht«, fuhr Tutu fort. »Du musst wirklich mal dafür beten, dass ich auch ein bisschen berühmter werde, so wie du.«

Jemanden zu necken ist ein Zeichen für Vertrautheit und Freundschaft, das auf dem Wissen um ein Reservoir aus Zuneigung gründet, aus dem wir uns als fröhliche und fehlerhafte Menschen alle nähren. Zielscheibe der Späße waren stets sie selbst statt der jeweils andere; nie wurde der andere dabei herabgewürdigt. Ganz im Gegenteil: Sie verstärkten damit nur das Band ihrer Freundschaft.

Dann dankte Tutu den Menschen, die diese Reise möglich gemacht hatten, und stellte sie nacheinander vor: seine Tochter Mpho, die Philanthropin und Friedensaktivistin Pam Omidyar und mich. Aber der Dalai Lama sagte, er kenne uns alle schon. Dann stellte Tutu meine Ehefrau Rachel als seine amerikanische Ärztin vor, Pat Christian, eine Kollegin von Pam aus der Omidyar-Gruppe, und Marceline, die künftige Verlobte seiner Tochter, Kinderärztin und Professorin für Epidemiologie in Holland. Das letzte Mitglied unserer Gruppe, den ehrwürdigen Lama Tenzin Dhonden, brauchte er als Angehörigen des Klosters Namgyal des Dalai Lama nicht vorzustellen.

Der Dalai Lama strich Bischof Tutu liebevoll über die Hand, was er im Verlauf der Woche noch häufig tun sollte. Sie unterhielten sich über die Flugroute und unseren Aufenthalt in Amritsar. »Das ist sehr gut. Ausruhen ist nötig«, sagte der Dalai Lama. »Ich schlafe jede Nacht acht oder neun Stunden.«

»Aber du stehst doch sehr früh auf, nicht wahr?«, fragte Tutu.

»Das stimmt. Um drei Uhr.«

»Um drei?«

»Jeden Tag.«

»Und dann betest du fünf Stunden lang?« Tutu reckte fünf Finger in die Höhe.

»Ja.«

Der Erzbischof blickte auf und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist zu viel.«

»Manchmal meditiere ich auch über die Natur des Seins nach der sogenannten ›siebenfachen Analyse‹«, sagte der Dalai Lama. Jinpa erklärte später, dass es sich dabei um eine buddhistische Übung der Kontemplation handelt, bei der man der wahren Natur des Seins nachspürt, indem man die Verbindung zwischen sich selbst und den physikalischen und geistigen Gesichtspunkten unseres Körpers und Geistes analysiert. »Zum Beispiel«, fuhr der Dalai Lama fort, »wenn ich dich jetzt ansehe und analysiere, dann sehe ich, dass dies mein lieber und verehrter Freund Bischof Tutu ist. Nein, es ist sein Körper, nicht er selbst. Es ist sein Geist, aber nicht er selbst.« Zur Betonung dieses paradoxen Rätsels, das so alt ist wie der Buddhismus selbst, beugte sich der Dalai Lama vor. »Aber wo ist das Wesen von Bischof Tutu? Wir können es nicht finden.« Er tätschelte dem Erzbischof liebevoll den Arm.

Dieser blickte etwas verblüfft drein und meinte verwirrt: »Wirklich

»Und inzwischen«, fuhr der Dalai Lama fort, »kommen sie in der Quantenphysik zu einer ganz ähnlichen Sichtweise. Jeder beliebige Gegenstand existiert nicht wirklich. Letztlich lässt sich nichts finden. Dies ist der analytischen Meditation sehr ähnlich.«

Bischof Tutu schlug bestürzt die Hände vors Gesicht. »Ich könnte das nicht tun.«

Der Dalai Lama mochte behaupten, dass ein wirklicher Bischof Tutu nicht anwesend sei, aber gleichzeitig war da doch eine Person, ein Freund, der ihm, der allen freundlich gesinnt war, in seiner Einzigartigkeit besonders viel bedeutete. Jinpa und ich erörterten, was an dieser Beziehung so bedeutend sein mochte. Tutu und der Dalai Lama besitzen beide nur wenige wahre Freunde. Der Klub der moralischen Vordenker der Welt hat einfach zu wenige Mitglieder. Ihr Leben ist angefüllt mit Menschen, die sie als Symbole verehren. Da muss es einfach angenehm sein, jemanden zu haben, der nicht vor allem auf ein Erinnerungsfoto aus ist. Zweifellos achten sie beide dieselben Werte an der Stelle, wo sich alle Religionen treffen, und natürlich verfügen sie beide über einen außerordentlichen Sinn für Humor. Mehr und mehr wurde mir klar, wie wichtig Freundschaft und Beziehung im Allgemeinen für unser Erleben von Freude sind. Dieser Gesichtspunkt trat im Verlauf der gemeinsamen Woche immer wieder zutage.

»Ich sage den Leuten«, fuhr Bischof Tutu fort, »vielleicht das Beste an dir sei deine Gelassenheit. Und ich sage ›Weißt du, da verbringt er jeden Morgen diese fünf Stunden mit Meditation, und das merkt man daran, wie er diesen fürchterlichen Dingen begegnet, dem Leid in seinem Land und dem Leid in der Welt.‹ Wie ich schon sagte, versuche ich das auch, aber fünf Stunden sind einfach zu viel.« In seiner typischen Bescheidenheit tat Tutu seine eigenen Gebete – immerhin über drei oder vier Stunden täglich – als geringfügig ab. Es ist wahr, er schläft … bis um vier! Was bringt diese geistigen Führer dazu, fragte ich mich, dass sie so früh aufstehen, um zu beten oder zu meditieren? Offensichtlich gehen sie auf diese Weise ihren Tag völlig anders an. Als ich zum ersten Mal hörte, dass der Dalai Lama morgens um drei aufsteht, ging ich von einem weiteren Fall von außerordentlicher menschlicher Hingabe aus und erwartete, dass er nachts nur zwei oder drei Stunden schläft. Daher vernahm ich mit Erleichterung, dass er dafür sehr früh zu Bett geht, meist gegen neunzehn Uhr. Für Menschen, die Kinder füttern und zu Bett bringen müssen, mag das nicht besonders praktisch sein, aber für die meisten ist es doch machbar, eine Stunde früher zu Bett zu gehen und dafür eine Stunde früher aufzustehen. Konnte man auf diese Weise geistig wachsen? Und mehr Freude empfinden?

Der Dalai Lama führte Tutus Hand an seine Wange. »Und jetzt gehen wir zu mir nach Hause.«

-

Obwohl die Straßen immer enger wurden, fuhren die Fahrzeuge sehr schnell durchs dichte Gedränge und bremsten nur, wenn sich eine heilige Kuh auf die Straße verirrt hatte, vielleicht um die beiden heiligen Männer besser in Augenschein nehmen zu können. Die rasche Fahrt mochte in der Sorge um die Sicherheit begründet sein oder dem Bestreben, die Straße so rasch wie möglich wieder freizugeben – ich hielt den ersten Grund für wahrscheinlicher.

Wie ganz Indien ist auch diese Stadt geprägt durch die beständige und fast tektonische Reibung und Verzahnung verschiedener kultureller Schichten, was sich in schillernden und bisweilen beunruhigenden Demonstrationen von Hingabe und Gruppenzugehörigkeit manifestiert.

Diesem Bild gemäß repräsentiert die tibetisch-buddhistische Bergsiedlung McLeod Ganj, auch Upper Dharamsala genannt, nur eine weitere Sedimentschicht, die über der indisch-hinduistischen Stadt liegt. Dharamsala – oder Dharamshala, wie es auf Hindi ausgesprochen wird – bedeutet »Haus des Dharma« beziehungsweise Pilgerherberge. Für einen derart von Pilgerschaft geprägten Ort könnte der Name kaum passender sein.

Wir eilten durch die einfachen Metalltore der Residenz des Dalai Lama, wo seine Amtsräume wie auch die Privatgemächer liegen, und hielten an einer Auffahrt, die halbkreisförmig ein prächtiges Beet voller Frühlingsblumen darbot. Ich war schon im Januar in Dharamsala gewesen, um mit Mitarbeitern des Dalai Lama Einzelheiten des Treffens zu besprechen. Damals war es eiskalt gewesen, und die ganze Stadt hatte sich in Wolken gehüllt. Jetzt reckten sich die Blumen der strahlenden Sonne in einer Weise entgegen, wie es für die kurze Wachstumsperiode in großer Höhe typisch ist, wenn das Leben nur kurz währt und jeder einzelne Tag mit großer Dringlichkeit ausgeschöpft werden muss.

Nun rückten die Gespräche immer näher, und meine Nervosität wuchs immer mehr an. Mir war allerdings klar, dass es nicht allein mir so ging. In einem vorbereitenden Telefongespräch hatte es mich tief berührt, als Desmond Tutu mir anvertraute, er sehe dem geistigen Austausch mit dem Dalai Lama in einiger Besorgnis entgegen. »Er ist sehr viel mehr verstandesorientiert als ich«, hatte er gesagt und sich dabei auf die Lust des Dalai Lama auf Diskussionen, intellektuelle Nachforschungen und wissenschaftliche Untersuchungen bezogen. »Ich bin viel instinktiver veranlagt«, erklärte er; und ich erinnerte mich an seine früheren Worte, an allen wichtigen Wendepunkten seines Lebens und seinem Kampf für ein Ende der Apartheid habe er sich immer vom intuitiven Empfinden und der Hingabe im Gebet leiten lassen. Eine Reise ins Unbekannte lässt offenbar auch große spirituelle Führer nicht kalt.

Nach einem Ruhetag für den Erzbischof sollten dann die Gespräche über das Wesen wahrer Freude beginnen.