Kontrollverlust – wenn Schüler zu Tätern werden
Diebstähle, Mobbing, Gewalt – bis hin zu Vergewaltigungen: Von Kriminalität ist fast jede Schule betroffen, unabhängig von der Schulform oder dem sozialen Hintergrund der Kinder. Die Kriminalkommissarin Petra Reichling enthüllt anhand schockierender Fallgeschichten, was beinahe täglich auf unseren Schulhöfen passiert. Sie analysiert, woher die Gewalt kommt und warum sie zunimmt. Und sie stellt klare Forderungen an Eltern, Lehrkräfte, Schulleitungen und die Politik: Die Opfer nicht allein lassen und mit aller Konsequenz gegen die Täter vorgehen.
Ein bestürzender Befund – eine aufrüttelnde Botschaft!
PETRA REICHLING
MIT LEO LINDER
TATORT
SCHULHOF
Warum Schulen kein geschützter Raum
mehr für unsere Kinder sind
Eine Kommissarin schlägt Alarm
Inhalt
Einleitung »Messer an der Schule sind doch normal«
Sex & Crime und (Cyber)Mobbing – Alltag an unseren Schulen
Die Klassenhorde – von Bossen, Untertanen und anderen
Wunsch und Wirklichkeit – die Schulleiterkonferenz
»Das bisschen Haschisch …«
Mobbing und mehr – das tägliche Elend an unseren Schulen
Für immer nackt – Spielarten des Cybermobbings
Liebe in gefühllosen Zeiten
Unklare Verhältnisse
Sex als Zahlungsmittel
Vorschlag zur Reform des Sexualkundeunterrichts
Schulleitungen und Lehrkräfte – verunsicherte Garanten
Keine Angst vor Mitgefühl – Opfer brauchen Vertrauen
Gegen die Mentalität des Wegsehens – Vertrauenslehrkräfte sind wichtige Garanten
Juristische Kalamitäten im Schulalltag – und wie man sie löst
Lehrkräfte unter Beschuss
Die Krise der Autorität beginnt im Elternhaus
Der Verlust von sozialen Regeln und seine Folgen
Die schwierige Verantwortung der Eltern
Im Bespucktwerden waren wir Vorreiter – die Krise der Autorität
Respekt! Wie man verhindert, dass Kinder zu Tätern oder Opfern werden
»Ich rede mit dir, wie man mit einer Frau redet«
Anzeigen und Strafen – die beste Lösung?
Der Respekt vor dem Opfer verlangt nach einer Anzeige
Was Jugendliche auf der Polizei erwartet
Strafe muss sein
Justiz mit Beißhemmung
Wir wollen doch alle, dass es aufhört!
Wir müssen kooperieren! Ein Appell an die Schulen
Wir brauchen Unterstützung! Ein Appell an die Politik
Nachtrag Was tun? Handlungsempfehlungen für Schulleitungen, Lehrkräfte und Eltern
Wie kann man sich auf angemessenes Verhalten bei Straftaten vorbereiten?
Wie erfährt man Genaueres über die Straftat?
Wer hilft Eltern weiter?
Welche Straftaten müssen, welche sollten von der Schule angezeigt werden?
Wer hilft Lehrkräften und Schulleitungen weiter?
Weitere nützliche Anlaufstellen
Danksagung
Einleitung »Messer an der Schule sind doch normal«
Ich hatte Anfang des Jahres gerade mit dem Manuskript zu diesem Buch begonnen, als mir eine Meldung der »New York Times« in die Hände fiel: »Schießerei an einer Schule in Kentucky. Amerikaweit ist es das elfte Schulmassaker in diesem Jahr. Wir schreiben den 23. Januar …« Dann die Einzelheiten: Ein 15-jähriger Schüler hatte morgens um 8 Uhr das Gebäude seiner Highschool betreten und um sich geschossen. In der Eingangshalle herrschte Hochbetrieb, 14 Menschen wurden von Kugeln getroffen. Auf seiner Flucht verletzte er fünf weitere. Zwei von ihnen starben kurze Zeit später … Im Verlauf der Meldung erfuhr ich weiterhin: Ein Viertel aller Schießereien in den USA mit mehr als drei Opfern ereignet sich auf dem Gelände von Bildungseinrichtungen, Tendenz steigend. Inzwischen haben viele Schulen Notfallpläne für den Fall eines bewaffneten Angriffs aufgestellt, etliche führen Notfallübungen durch. Erwogen wird die dauerhafte Stationierung bewaffneten Personals an Schulen.
Keinen Monat später erschütterte das Schulmassaker in Parkland, bei dem 17 Menschen starben, die USA, und Präsident Trumps Vorschlag, die Lehrkräfte zu bewaffnen, schlug hohe Wellen.
So weit, dachte ich, sind wir noch nicht. Diese Welle der Gewalt hat uns noch nicht erreicht. Amokläufe an Schulen kommen zwar auch in Deutschland vor, aber nicht im Wochenrhythmus. Fernsehbilder von erschossenen Schülerinnen und Schülern, von getöteten Lehrpersonen sind immer noch die erschütternde Ausnahme. Aber ist eine ähnliche Entwicklung hierzulande undenkbar? Immerhin hat die Verrohung an unseren Schulen ein alarmierendes Stadium erreicht. Und ich spreche nicht von Disziplinlosigkeit, von Kindern und Jugendlichen, die lernunwillig sind und den Unterricht stören – daran hat man sich längst gewöhnt, damit muss man an Schulen leben. Mittlerweile gibt es andere Sorgen.
Große Pause an einer Grundschule. Auf dem Schulhof wird einem 11-Jährigen von einem Klassenkameraden ein Messer an die Kehle gesetzt. Der bedrohte Junge hat vor Kurzem erst die Schule gewechselt, weil er von Mitschülern schikaniert worden war, jetzt bekommt er zu hören: »Ich schneide dir die Kehle durch.« Der Angreifer hat vielleicht gar nicht die Absicht, ihn zu verletzen, wahrscheinlich will er sein Opfer nur gefügig machen, aber in diesem Moment bräuchte ihn nur jemand anzurempeln, und schon würde Blut fließen. Juristisch gesehen könnte diese Attacke jedenfalls in den Bereich des versuchten Tötungsdelikts fallen. Als sich die Mutter des bedrohten Jungen nach dem Vorfall an die Mutter des Angreifers wendet, erfährt sie eine eiskalte Abfuhr: »Messer in der Schule sind doch normal.«
Tatsächlich?
»Schon vor zehn Jahren ist mir aufgefallen, dass sich immer mehr Jungen mit Messern bewaffnen«, bestätigte mir ein Lehrer, Studienrat an einem renommierten Gymnasium. »An Schulen dürften ziemlich viele Messer im Umlauf sein.«
Wenige Wochen später erreichte mich im Dienst die Nachricht: An einer Gesamtschule in Lünen wurde ein Schüler durch einen Messerstich in den Hals getötet. Der Getötete ist 14 Jahre alt. Der Täter ein Jahr älter. Als Grund gab er nach seiner Verhaftung an, er habe sich durch provozierende Blicke herausgefordert gefühlt, die der 14-Jährige seiner Mutter zugeworfen haben soll. »Der Täter war vorher nur wegen Sachbeschädigung bei der Polizei bekannt«, stand anderntags in der Zeitung. Dann wurde aus einem Brief der Schulleitung an die Eltern dieser Schule zitiert: »Leider mussten wir feststellen, dass in letzter Zeit Schüler vermehrt Waffen mit in die Schule gebracht haben.« Von Messern, Schreckschusspistolen und Pfefferspray war die Rede.
Ein gewöhnlicher, alltäglicher Fall ist das – zum Glück – nicht. Trotzdem kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren: Auch an unseren Schulen wird das Klima rauer, aggressiver, gnadenloser. Etwas Beunruhigendes ist im Gange. Gehässigkeit und Gewalt breiten sich wie ein ansteckendes Virus aus. Oder täuscht man sich? War es früher gar nicht viel anders?
Der aus zahlreichen französischen Gangsterfilmen bekannte frankoitalienische Schauspieler Lino Ventura sagte in einem Dokumentarfilm über sein Leben über seine Jugend als Einwandererkind im Paris der 1920er-Jahre: »Kinder können unvorstellbar grausam sein. Sie fallen erbarmungslos über Schwächere und Außenseiter her. Ich habe es selbst erlebt, als ich mit sieben Jahren mit meiner Mutter nach Paris kam, zwei Italiener, die die Sprache nicht beherrschten. Meine Schulzeit war extrem kurz – nach zwei Jahren war ich schon wieder auf der Straße und habe Geld verdient, als Zeitungsausträger oder Fahrradbote.« Der kleine Lino Ventura hatte vor der Grausamkeit seiner Klassenkameraden kapituliert und war einfach nicht mehr zur Schule gegangen.
Nein, eine Oase der Mitmenschlichkeit war die Schule wohl nie, und Mobbing ist keine Erfindung unserer Tage, es hatte früher andere Namen, handfestere; man sprach von Hänseln, von Drangsalieren und Quälen. Rüpeleien und Schlägereien kamen dazu. Jeder dürfte das aus seiner eigenen Jugend kennen, und dennoch …
Früher wurde auch gerauft, aber wenn einer am Boden lag, wenn Sieger und Verlierer feststanden, war Feierabend – denn darum ging es bei der klassischen Rauferei: Sieger und Verlierer zu ermitteln. Heutzutage wird nachgetreten, und zwar gegen den Kopf, ins Gesicht, und das Opfer kann von Glück sagen, wenn der Angreifer nicht noch zum Messer, zur Zaunlatte, zur Bierflasche greift. Heute geht es oft genug um Vernichtung, und ich konnte meinem Sohn vor einigen Jahren schon nicht mehr guten Gewissens sagen: Es ist okay, wenn ihr euch mal prügelt.
Dazu kommt die Digitalisierung. Alles wird mit Handy oder Smartphone aufgenommen. Mit solchen Aufnahmen hat man ein hervorragendes Druckmittel in der Hand, das weit über die früher üblichen Beschimpfungen oder Drohungen hinausgeht. Es ist eben demütigender, wenn nicht nur der kleine Kreis der Zuschauer, sondern alle Welt mitansehen kann, wie ich zusammengeschlagen werde. Und das Filmen folgt den Regeln der dramatischen Steigerung, das heißt: Die Eskalation ist vorgesehen. Sie ist eine dramaturgische Notwendigkeit. Sie setzt außer Kraft, was an Hemmungen noch da ist, weil die Show weitergehen muss.
Im Bereich der Sexualität ist es ähnlich. Kinder und Jugendliche sind im Internet mit knallharter Pornografie konfrontiert. Es gibt Webseiten, die Vergewaltigung als die einzige erfüllende Form der Sexualität propagieren. Wovon wir zu unserer Zeit gnädig verschont geblieben sind, das ist heute jederzeit verfügbar; Schmutz und Schrecken kommen in nacktem, brutalem Realismus daher, und unsere Jugendlichen kriegen dieses schauerliche Zerrbild der Wirklichkeit ungefiltert und in aufreizender Deutlichkeit mit. Schon so ließe sich erklären, wieso Kinder und Jugendliche heute Dinge machen, an die meine Generation im Leben nicht gedacht hätte, die weit jenseits unserer Vorstellungskraft lagen.
Nach den fast zehn Jahren, in denen ich beim Düsseldorfer Kriminalkommissariat 12 für Sexualdelikte zuständig war und im Zuge meiner Ermittlungen auch mit den Verhältnissen an Schulen vertraut wurde, muss ich sagen: Es gibt eine Tendenz, sie ist nicht zu übersehen. Die Qualität der Straftaten an Schulen hat sich geändert. Die Hemmungslosigkeit ist größer geworden. Die Gewaltbereitschaft ist gewachsen. Die Geringschätzung für das Leben und den Besitz anderer hat zugenommen. Früher habe ich mit der Antwort gezögert, wenn ich gefragt wurde, ob es schlimmer geworden ist. Heute sage ich, ohne zu zögern, Ja.
Statistisch lässt sich diese Entwicklung weder bestätigen noch widerlegen. Das liegt daran, dass Kriminalität an Schulen lange Zeit nicht gesondert erfasst wurde. Inzwischen wird es bei der Polizei hier und da gemacht, aber es bleibt die Unsicherheit, wie Schule als Tatort einzugrenzen wäre – gehören Straftaten dazu, die sich im schulischen Bereich anbahnen und außerhalb ausgeführt werden, auf dem Schulweg zum Beispiel oder in der Wohnung eines Schülers? Bemerkt die ermittelnde Person überhaupt den Zusammenhang mit Vorgängen in der Schule? Und wenn ja, erscheint er ihr relevant? Das sind Unsicherheitsfaktoren, die keine zuverlässige Erfassung erlauben. Im Übrigen spielen auch in Kriminalstatistiken politische Interessen hinein, die ihre Aussagekraft schmälern.
Ich will mich deshalb in diesem Buch nicht mit Zahlen und Daten aufhalten, sondern erzählen, Fallbeispiele bringen, nach Ursachen und Folgen fragen und gesellschaftliche Entwicklungen beleuchten, kurz gesagt, aus der langjährigen Erfahrung einer Kriminalhauptkommissarin in einer deutschen Großstadt berichten. Und aus dieser Sicht gibt es nichts zu beschönigen.
Auch wenn in der Vergangenheit nicht alles besser war – die Zeiten sind härter geworden. Nicht nur schwieriger, sondern tatsächlich härter, nämlich rücksichtsloser, gnadenloser. Und wie in den USA bekommen das auch in Deutschland die Schulen zu spüren, unter anderem in Form von strafrechtlich relevanten Delikten. Wobei keine Schulform davon ausgenommen ist. Ich werde ja häufig danach gefragt, von der Presse oder von Schulleitungen, die sich die leise Hoffnung machen, Kriminalität im schulischen Bereich beschränke sich auf Grund-, Haupt- und Förderschulen. Ich muss sie dann enttäuschen. Meine Erfahrung ist: Straftaten kommen an allen Schultypen vor, auch an Gymnasien, sogar an Waldorfschulen, und manche sind bereits an der Tagesordnung, der Handel und Besitz von Drogen beispielsweise, aber auch Vandalismus, körperliche Gewalt, sexuelle Nötigung und Cybermobbing.
Dass sich dies alles nicht allein im Klassenraum abspielt, versteht sich von selbst. Ich werde den Begriff der Schule deshalb sehr weit fassen und alle Straftaten einbeziehen, die von Schülern und Schülerinnen ausgehen und sich gegen Lehrkräfte oder Mitschüler richten, egal ob auf dem Schulgelände oder außerhalb – im digitalen Zeitalter ist eine räumliche Zuordnung sowieso fast sinnlos geworden.
Klar ist auch, dass das Verhalten von Eltern zunehmend Einfluss auf das Klima an unseren Schulen gewinnt, dass die Rolle der Justiz beleuchtet werden muss, dass man gesellschaftliche Entwicklungen und politische Entscheidungen nicht außer Acht lassen kann. Die Digitalisierung ist ja nur ein Faktor unter vielen. Ein grundsätzliches Misstrauen der Politik gegenüber einer starken Staatsmacht ein anderer. Auch die Öffnung unserer Grenzen für Flüchtlinge und Einwanderer in großer Zahl hat das Problem verschärft, um nur eine weitere Ursache zu nennen. Dieser Aspekt wird bei manchem auf inneren Widerstand stoßen – darf, soll, muss man das erwähnen? Ja. Denn es ist nichts damit gewonnen, die Augen zu verschließen oder bloß verklausuliert darüber zu reden. Die Wirklichkeit zu leugnen würde bedeuten, vor den Schwierigkeiten zu kapitulieren, und Gefahren abzuwenden liegt ja nicht allein im Interesse der Polizei.
Ich werde also Erfahrungen, die wir in unserer Arbeit fast täglich machen, und Tatbestände, mit denen wir fast täglich zu tun haben, nicht um des lieben gesellschaftlichen Friedens willen verschweigen. Ich werde sie, um desselben Friedens willen, aussprechen und strikt bei dem bleiben, was wir in jedem Ermittlungsverfahren, bei jeder Zeugenaussage unter Wahrheit verstehen – nämlich alles, was einer wahrgenommen hat, was sich vor seinen eigenen Augen und Ohren abgespielt hat. Die persönliche Tatsachenschilderung ist immer noch der beste Ausgangspunkt für jede weiterführende Erkenntnis.
Ich verstehe mich als Opferschützerin. Meine Motivation bei meiner täglichen Arbeit und auch für dieses Buch, das hoffentlich mit seinen Berichten, Fragen und Vorschlägen einen kleinen Beitrag zur Verbesserung der Situation leistet, indem es zumindest zur Diskussion auffordert, ist ganz schlicht: Das Leiden der Opfer muss aufhören! Ich habe zu diesem Zweck bewusst auch zum Teil drastische Beispiele aus meiner langjährigen Praxis verwendet, dabei aber immer aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen auf die Nennung von Namen und Orten verzichtet und auch sonst individualisierende Merkmale wenn möglich verändert. Das Alter der Betroffenen entspricht dem zum jeweiligen Tatzeitpunkt.