Klaus Püschel
Bettina Mittelacher

DER
TOD GIBT
KEINE
RUHE

Faszinierende
Fälle aus der
Rechtsmedizin

Inhalt

Manchmal stirbt man schneller, als man denkt

„Bloß boom boom, nichts weiter“

Massenmord

Postmortale Computertomografie

Wer schön sein will, kann sterben

Ärztlicher Behandlungsfehler

Anästhesiologie

Eiskalt abserviert

Erfrierungen, Kältetod

Im Abseits

Serienmörder

Identifizierung durch rechtsmedizinische Untersuchungen

Tot – oder doch nicht?

Thanatologie, Phasen des Sterbens

Todesfeststellung

Nasser Tod

Problemfall Ertrinken

Um ein halbes Leben betrogen

Pädophilie

Leichenschau und Sektion

Der Mann, der auf Leichen steht

Störung der Totenruhe

Natürlicher und nicht-natürlicher Tod

Dame sticht Buben

Magic Mushrooms

Vorsicht: Greisverkehr!

Verkehrseignung

Mord auf Bestellung

Schusswaffen und Schussverletzungen

Sicherungsverwahrung

Hände weg vom Smartphone

Multitasking und geteilte Aufmerksamkeit

Das Beben im Kopf

Verletzungen des Gehirns

Klinische Rechtsmedizin

Ein Hauch von Ramses

Mumie, Mumifizierung

Schauriges Ende einer Geburtstagsfeier

Katastrophen in Hamburg und Umgebung

Und plötzlich bleibt die Zeit stehen

Cold Cases

Nachwort und Danksagung

Bildnachweis/Impressum

Manchmal stirbt man schneller, als man denkt

„Bemiss deine Lebenszeit; für so vieles reicht sie nicht.“ Es sind besonders kluge Worte, die von dem römischen Philosophen und Schriftsteller Seneca stammen. Wie viel Zeit bleibt jedem von uns? Wie kann er sie bestmöglich nutzen? Diese Fragen beschäftigen die meisten Menschen. Und während viele zumindest auf die zweite Frage ihre ganz persönliche Antwort finden, bleibt die erste im Dunkeln. Als Rechtsmediziner und damit als Experte in Sachen Tod wird man häufig in Diskussionen einbezogen, bei denen es um den Wert des menschlichen Lebens geht. Auch um den Sinn des Lebens, um die Frage eines Lebens nach dem Tod oder die Einstellung zu Tod und Sterben ganz allgemein.

Eine Feststellung ist gleichermaßen banal und tiefsinnig: Das einzig Sichere im menschlichen Leben ist, dass wir sterben müssen. Wir wissen nur nicht genau wann, wie, wo und woran. Die Fälle in der Rechtsmedizin lehren uns: Leider stirbt man manchmal schneller, als man denkt.

Dieser Gedanke macht vielen von uns Angst. Es gibt nicht wenige, die dagegen anarbeiten, zum Beispiel, indem sie versuchen, besonders gesund zu leben, indem sie häufig Ärzte aufsuchen oder ängstlich allen möglichen Gefahren aus dem Weg gehen. Das kann sich in Einzelfällen bis hin zu einer Phobie entwickeln, oder es entstehen Persönlichkeitsstörungen oder psychosomatische Krankheitsbilder. Andere Menschen haben Angst davor, eventuell vorschnell für tot erklärt zu werden. Die Furcht vor dem Scheintod gehört zu unseren Urängsten.

Und manche Menschen scheinen überhaupt keine Angst vor dem Tod zu haben. Sie stürzen sich in waghalsige Abenteuer, vielleicht treiben sie relativ gefährliche Sportarten wie Autorennen, Speedboot, Klettertouren und Gleitschirmfliegen. Sie scheinen den Kitzel der Gefahr regelrecht zu suchen.

Für diesen Typus gilt: Den Bruchteil einer Sekunde unaufmerksam, einmal falsch reagiert, ein Fehltritt, eine falsche Entscheidung – schon ist man tot. Einerseits ist der Mensch ein biologisches Wunderwerk. Man überlege nur: 60 Herzschläge pro Minute, 60 x 60 pro Stunde, 60 x 60 x 24 pro Tag, 60 x 60 x 24 x 365 pro Jahr, und das eventuell hundert Jahre lang: 60 x 60 x 24 x 365 x 100 = 3.153.600.000 Herzschläge ohne eine einzige Rhythmusstörung. Und andererseits genügt ein unter Umständen winziger Moment zur falschen Zeit für eine tödliche Komplikation.

Unsere genetische Information ist darauf ausgerichtet, dass wir maximal 120 Jahre alt werden können. Einige Menschen wollen allerdings nicht wahrhaben, dass dann auch die DNA so gealtert ist, dass die zum Weiterleben erforderlichen Steuerungsvorgänge versagen. In der Hoffnung, später einmal wieder aufgeweckt zu werden und weiterzuleben, lässt sich mancher bei minus 192 Grad in flüssigem Stickstoff einfrieren. In diesem Zusammenhang entsteht natürlich die Frage, ob es der Wissenschaft eines Tages gelingt, an unserem Erbgut, also der DNA, so frühzeitig Reparationsvorgänge durchzuführen, dass weder die DNA noch Zellen, Gewebe oder Organe altern. Das wäre dann der Schlüssel zum ewigen Leben!

Aber davon sind wir noch sehr weit entfernt. Altersbedingte Abbauvorgänge, Krankheiten und Krebs können wir nicht verhindern. Immerhin liegt die mittlere Lebenserwartung bei Frauen in Westeuropa heutzutage bei etwa 84 Jahren, die für Männer bleibt demgegenüber einige Jahre zurück. Von den heute geborenen Kindern werden relativ viele das biblische Alter von 100 Jahren erreichen. So weit, so gut, könnte man sagen. Andererseits gibt es in der Endphase des Lebens doch auch viele recht schwierige Aspekte: Altersabbau, Krankheiten, Immobilität, Demenz, Einsamkeit, fehlende Sinngebung.

Aus der Sicht der Rechtsmedizin kann man dies zum Beispiel bei der Krematoriumsleichenschau nachvollziehen, der in den meisten Bundesländern gesetzlich vorgeschriebenen zweiten Leichenschau vor einer Einäscherung. Hier begegnen uns immer wieder ausgemergelte Körper, gezeichnet von fortgeschrittenen Krankheiten und anderen Zeichen des Alters und auch von Vernachlässigung – oft ein bedrückender Anblick. Dann handelt es sich um keinen gnädigen schnellen Tod im hohen Alter, welches man noch geistig frisch, aktiv und kreativ und körperlich mobil im Kreise seiner Lieben erreicht hat. Das gibt es zwar auch. In der Mehrzahl der Fälle geht dem Tod allerdings eine längere Sterbephase mit langsam nachlassenden Organfunktionen voraus.

Und dann gibt es noch die Situation, dass ein „mitten im Leben“ stehender Mensch mit einer eigentlich gesunden und positiven Zukunftsperspektive ganz plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen wird. In der Sterbeanzeige steht dann: gänzlich unerwartet, völlig überraschend, ein Schicksalsschlag, herausgerissen aus der Mitte des Lebens oder auch: Verstorben, als das Leben eigentlich erst richtig anfing. Wir verstehen nicht, was geschehen ist.

Solche tödlich endenden Abläufe gibt es in jeder Phase des menschlichen Lebens: als Fehlgeburt beziehungsweise Abort aus der Schwangerschaft heraus, als Totgeburt, etwa infolge von Nabelschnurkomplikationen, als mütterlicher Tod bei oder kurz nach der Geburt, als plötzlicher Kindstod im ersten Lebensjahr, infolge eines gewaltsamen kindlichen Schütteltraumas ebenfalls im ersten Lebensjahr, nach perakuter Infektion wie beispielsweise Hirnhautentzündung, Herzmuskelentzündung, Lungenentzündung in der Kindheit oder auch später als Erwachsener. In jeder Phase des Lebens kann es zu einem Unfall oder Tötungsdelikt kommen, oder wir sterben infolge einer Herzrhythmusstörung bei angeborener Anomalität im Reizleitungssystem des Herzens, infolge eines akuten Herzinfarkts, einer Lungenembolie, Ruptur eines Hirnbasis-Aneurysmas oder durch einen Schlaganfall. In diesem Fall ist die Krankheitsbezeichnung zugleich eine charakteristische Bezeichnung des Geschehens: Wenn man einen Schlaganfall erleidet oder auch „vom Schlag getroffen“ wird. Beim plötzlichen Herztod aus innerer Ursache spricht man von einem sogenannten Sekundenherztod oder auch vom „Herzschlag“.

Der Erfahrungshorizont der Rechtsmedizin bietet darüber hinaus zahlreiche Abläufe, bei denen ein plötzliches Trauma das Leben jäh beendet, wobei der Sterbeprozess unter Umständen in wenigen Sekunden oder auch nur in Bruchteilen einer Sekunde abläuft.

Einige dieser Geschehnisse sind tatsächlich einzigartig, und man kann nur kopfschüttelnd registrieren, dass im Bereich plötzlicher oder unerwarteter Tod in der Praxis der Rechtsmedizin geradezu unglaubliche Abläufe und Zufälle auftreten. Es gibt im Hinblick auf ungewöhnliche Todesmechanismen nichts, was es nicht gibt. Im Jargon heißt es dann auch manchmal: dumm gelaufen … Wobei dies im Zusammenhang mit dem Tod natürlich herzlos, ja geradezu zynisch klingt.

Es geschehen die unmöglichsten Dinge. Hier eine Auswahl.

• Während die Menschen um ihn herum an Silvester ihre Böller hochgehen lassen, schießt ein Waffennarr scharf und trifft ein Kind auf der anderen Straßenseite tödlich. Keiner hört den Schuss. Trotzdem wird der Täter ermittelt.

• Der Jäger schießt, weil er einen Waschbären im Kirschbaum vermutet, und trifft den Nachbarn, der dort herumklettert, um Kirschen zu pflücken. Ein anderer Jäger schießt auf das Wildschwein im Maisfeld und erlegt den Treiber dahinter mit einem regelrechten Blattschuss.

• Der Golfspieler wird tödlich vom Blitz getroffen, als er mit seinem Schläger unter einem Baum Schutz vor dem Gewitter sucht.

• Der Mann in der Badewanne erleidet einen tödlichen Stromschlag, als die Wanne durch einen Kurzschluss im feuchten Mauerwerk unter Spannung steht.

• Ein junger Türke stirbt bei einem Auffahrunfall auf der Autobahn, während alle anderen Insassen des Wagens unverletzt bleiben. Sein Tod erscheint rätselhaft. Später in der Rechtsmedizin findet man heraus: Er wurde von hinten durch einen Dönerspieß mitten ins Herz getroffen, als der Spieß bei der Kollision durch die Rücklehne des Sitzes geschoben wird. Der Rettungsarzt hatte noch nicht einmal die Einstichstelle am Rücken bemerkt und war nach frustraner Reanimation von einem plötzlichen Herztod ausgegangen.

• Der Stich einer Biene oder Wespe kann akut tödlich ausgehen, wenn der Betroffene eine entsprechende Allergie hat und nicht sofort hochdosiert Cortison gespritzt bekommt.

• Für tödliche Explosionen mit Zerreißen des Körpers gibt es viele Ursachen, zum Beispiel Selbstmordattentäter, Bombenleger, Minen, Blindgänger oder auch Molotow-Cocktails oder Spraydosen mit explosiven Gasgemischen.

• Ein falsches Medikament eingenommen (beispielsweise die Ersatzdroge Methadon in Kinderhand) kann schon bei einzelnen Tabletten tödlich sein. Die falsche Infusion führt innerhalb von Sekunden zum Tod infolge von Herzrhythmusstörungen.

• Tragisch die Geschichte des Rechtsmediziners, der im Bordell bei einer Domina erotische Strangulationsmanöver an sich praktizieren lässt. Als die Dame hinausgeht, um schnell Geld zu wechseln, begibt er sich schon in die gewünschte Hängeposition. Nur kommt die Dame nicht gleich zurück, weil sie erst noch mit einer Kollegin schwatzt. Als sie ins Studio zurückkehrt, hängt der Mann tot am Schmuckgalgen.

• Beim sogenannten Bolustod (Bissentod) bleibt ein größeres Nahrungsstück am Kehlkopfeingang hängen, reizt die Nervengeflechte und es kommt zum sofortigen reflektorischen Herzstillstand.

• Das Hirnbasis-Aneurysma platzt, während ein Mensch im Sessel vor dem Fernseher sitzt, infolge einer kurzfristigen Bluthochdruckerhöhung. Es resultiert fast momentan der Hirntod.

• Das Blutgerinnsel aus der Beinvenenthrombose löst sich beim Gang zur Toilette. Daraus resultiert der plötzliche Tod infolge einer Lungenembolie.

• Der Tod an sich: eine plötzliche Herzrhythmusstörung, für die es diverse Ursachen geben kann, die zuweilen aber auch völlig unerklärlich bleibt.

Es handelt sich um Fallkonstellationen, die neugierig machen sollen auf fatale Überraschungen, die der Tod bereithält. Unsere Fälle in diesem Buch setzen teilweise Schwerpunkte mit anderen Spannungsbögen.

Klaus Püschel: Manchmal denke ich, ich hätte schon alles gesehen, nach mehr als vier Jahrzehnten im Beruf des Rechtsmediziners mit 60.000 Sektionsfällen (etwa 1500 jährlich), 1,2 Millionen Mal Leichenschau (30.000 Fälle jährlich im Institut, am Geschehensort sowie bei der Krematoriumsleichenschau vor der Einäscherung). Trotzdem: Immer wieder einmal stehe ich vor einem Toten und sage: „Das gibt’s doch nicht!“ Oder: „Das gab es noch nie!“

Leider gilt dies auch für die Fantasie des Mörders. Auch bei Tötungsdelikten heißt es dann: „Ein so zugerichtetes Opfer habe ich vorher noch nicht gesehen.“

Man denkt ja auch, es könnte nicht sein, dass bei einer Amputation im Krankenhaus das falsche Bein abgenommen wird, dass bei einer Magen- oder Darmspiegelung die Wand des Organs durchstoßen wird oder ein Katheter ein Blutgefäß von innen so verletzt, dass in wenigen Minuten eine tödliche Blutung entsteht.

Das Leben hängt unter Umständen am sprichwörtlichen „seidenen Faden“, wenn die Naht des Operateurs wieder aufgeht. Oder es kommt zum schleichenden Tod, wenn Kohlenmonoxid sich als farb- und geruchloses Gas im Raum ausbreitet und die dort Wohnenden im Schlaf ersticken. Auch andere Gasvergiftungen können uns plötzlich und unerwartet an Stellen treffen, wo wir eigentlich nicht damit rechnen.

Das Tröstliche ist: Auch die vielen negativen Eindrücke darüber, wie plötzlich ein menschliches Leben ausgelöscht werden kann, wie zerbrechlich der menschliche Organismus ist, wie böse die Fantasie des Mörders ist und wie traurig Angehörige sein können, müssen nicht verunsichern und deprimieren. Im Gegenteil: Es kann dazu anspornen, dem Leben alles, was es an Positivem bietet, abzuringen und das Leben zu genießen. Carpe diem …

„Bloß boom boom, nichts weiter“

„Böse Männer waren da.“ Die kleine Lucy hat Furchtbares erlebt, den blanken Horror. Sie hat zusehen müssen, wie fremde Menschen in ihr Zuhause eindringen, wie diese maskierten, skrupellosen und bewaffneten Männer um sich ballern und die bis dahin heile Welt des Mädchens zerstören, gnadenlos. Als schließlich alle niedergestreckt sind und eine gespenstische Stille herrscht, kauert die Zweijährige unter einer blutverschmierten Decke zwischen zwei Leichen. Und wenig später sitzt das Mädchen da, die Augen noch vom Schreck geweitet, das Gesicht ein Spiegel des Entsetzens, und fasst das Grauen in einem Satz zusammen: „Böse Männer waren da.“ Es ist eine zutreffende und doch vollkommen unzureichende Beschreibung dessen, was sich ereignet hat. Aber wie soll man es nennen, dieses Massaker in einem Lokal in Sittensen in der Nordheide, bei dem sieben Menschen eiskalt erschossen wurden, darunter die Mutter und der Vater der kleinen Lucy?

Gut zwei Jahre später, nachdem die Schuldigen an diesem Blutbad gefunden und ihnen der Prozess gemacht ist, bezeichnet der Vorsitzende Richter die Tat als „eines der schwersten Verbrechen der Nachkriegsgeschichte“ und spricht von einer „kaum vorstellbaren Schuld“, die die Täter auf sich geladen haben. Einer der Verbrecher reduziert das vielfache Morden auf ein paar schnöde Worte – womöglich seiner mangelnden Sprachkenntnis geschuldet, vielleicht aber auch einer erschreckenden Kaltblütigkeit? „Bloß boom boom, nichts weiter“, sagt er. Nichts weiter? Was ist mit den Opfern, ihren Schmerzen und ihren Ängsten, was ist mit dem Leid der Angehörigen?

Dreidimensionale Rekonstruktionen der Kopfschussverletzungen bei zwei Opfern der Chinesenmorde in Sittensen

An diesem 4. Februar 2007 deutet nichts darauf hin, welcher Albtraum bevorsteht. In einem chinesischen Restaurant im niedersächsischen Sittensen haben die Betreiber gerade Feierabend gemacht. Die Tische sind bereits für den nächsten Tag vorzubereiten, die Mitarbeiter mit letzten Handgriffen beschäftigt. Es ist schon nach 23 Uhr, als die Chefin noch mit einem Bekannten telefoniert, der vermutlich als letzter Gast das Restaurant verlassen hat. Sie hat den Software-Spezialisten gebeten, sich eine beschädigte Computerdatei anzusehen und möglichst wieder in Gang zu bringen. Auf der Datei befinden sich chinesische Kinderlieder; die Wirtin möchte ihrer zwei Jahre alten Tochter eine Freude machen und ihr die Lieder vorspielen. Der Anrufer hört beim Telefonat im Hintergrund erst das unbeschwerte Lachen des Mädchens, dann plötzlich ihre ängstlichen Schreie und fremde Stimmen. Dann bricht die Verbindung ab. Der Mann am Telefon vermutet, dass etwas Schlimmes geschehen ist. Wie schlimm es ist, kann er nicht ahnen.

Schussbruch des Schädels und Projektil in der Hirnsubstanz eines Opfers, dargestellt mittels Computertomografie

Rekonstruktion der Brustschussverletzung bei einem weiteren Opfer, wiederum mittels Computertomografie. Das Projektil hier im Rückenbereich in Höhe des Schulterblatts.

Vor allem vermag niemand den Ehemann einer Kellnerin auf das Grauen vorzubereiten, in das dieser hineinstolpert. Als er seine Frau von der Arbeit abholen will, tritt er an der Tür in eine Blutlache. Im Eingangsbereich des Lokals liegen zwei erschossene Männer. Ein paar Schritte weiter, hinter dem Tresen, entdeckt der schockierte Mann den Leichnam seiner Frau, daneben, die Beine in die andere Richtung gestreckt, befindet sich eine weitere Tote. Es dauert einige Augenblicke, bis der Mann aus seiner Starre erwacht, in die ihn der grauenvolle Anblick versetzt hat. Dann wählt er den Notruf. Seine ersten Worte sind: „Schönen guten Tag“, bevor er nach einer Ambulanz fragt. Doch für die vier Opfer im Restaurant können die Helfer nichts mehr tun. Im Obergeschoss liegen noch zwei Personen, auch sie von Kugeln niedergestreckt. In einem Lagerraum wird ein weiterer Mann gefunden; auf ihn wurde ebenfalls ein Schuss abgefeuert, doch der 31-Jährige atmet noch. Am nächsten Tag stirbt auch er im Krankenhaus.

In mehr als vierzig Jahren als Rechtsmediziner habe ich viele Tausend Tote gesehen und unendlich viele Tatorte. Aber der Fall aus Sittensen war für mich einzigartig. Er ist bis heute das Mordszenario mit den meisten Toten im Verlauf eines kurzzeitigen Geschehens. Dass sieben Menschen einfach abgeknallt wurden – man muss es wohl so nennen –, gab dem Verbrechen zudem eine außergewöhnliche Brutalität. In der Anklage hieß es später, die Tötungen hätten „Hinrichtungscharakter“. Die Kaltblütigkeit, mit der die Morde verübt wurden: Das schien einfach nicht in eine eher verschlafene deutsche Kleinstadt zu passen. Das sah eher nach Profikillern aus, die im Auftrag der Mafia handeln, oder nach einem Machtkampf unter Drogendealern oder einem Racheakt, weil Schutzgeldzahlungen verweigert werden. Als Motive wurden auch Eifersucht und Glücksspiel in Betracht gezogen. Tatsächlich war es ein Raubüberfall, der aus dem Ruder gelaufen und eskaliert ist. Das ergab sich aus der Auswertung Hunderter Spuren und der Rekonstruktion des Verbrechens durch die Ermittler, und das wurde schließlich auch belegt durch die Angaben der Angeklagten im Prozess.

Am Anfang der Geschichte stehen mehrere Menschen, die der Zufall zusammengebracht hat und die eine fatale Interessengemeinschaft eingehen. Alle sind aus Vietnam nach Deutschland gekommen und leben hier in einer Art Subkultur. Einer hat als Aushilfskraft in dem gut gehenden chinesischen Lokal gearbeitet und kennt die Räumlichkeiten genau. Die anderen haben Schulden und suchen einen schnellen Weg, um ihre finanzielle Notlage abzuwenden. Gemeinsam tüfteln die fünf Männer den Plan eines Überfalls aus. Der Tippgeber, der seine Komplizen mit Raumskizzen ausgestattet hat, ist zu Hause geblieben. Von den beiden Brüderpaaren, die sich im Auto zum Tatort aufgemacht haben, bleibt ein Mann zum Schmierestehen und als Chauffeur in dem VW Polo sitzen. Einer der anderen drei holt aus dem Kofferraum eine Box hervor, in der er eine halbautomatische Selbstladepistole aufbewahrt. Er ergreift die Waffe, aus der die Seriennummer herausgefeilt wurde, schraubt auf die Mündung des Laufs einen Schalldämpfer auf und lädt die Pistole mit einem Magazin mit sieben Schuss Munition. Ein zweites Magazin steckt er ein. Alle Männer streifen Handschuhe über. Außerdem haben sie weiße Kabelbinder aus Nylon bei sich, die bereits zu Ringen gebunden sind. Hiermit wollen sie ihre Opfer fesseln.

Professionelle Fesselung des Opfers durch enge Fixierung der beiden Daumen mittels Kabelbinder

Eine weitere perfide Fesselung mittels Kabelbinder um beide Daumen herum

Im Schutz der Dunkelheit bewegen sich die drei auf das Restaurant zu. Es liegt in der ersten Etage eines zweigeschossigen Gebäudes. Im Erdgeschoss befinden sich mehrere Läden, über dem Lokal in der zweiten Etage gibt es drei Wohnungen. Eine bewohnen die Restaurantbesitzer mit ihrer zweijährigen Tochter. In der zweiten Wohnung haben die Betreiber ihren Mitarbeitern – alle stammen aus China – Zimmer zur Verfügung gestellt. Die dritte Wohnung ist vermietet. Die Täter rechnen damit, dass sich mindestens fünf Erwachsene und das kleine Kind des Restaurantbetreibers in dem Lokal aufhalten. Jeweils notdürftig mit einem Schal, einem Stirnband beziehungsweise einem hochgezogenen Pullover maskiert, stürmen die Täter in das Lokal hinein und fordern Geld. Der Pistolenmann fuchtelt mit der Waffe herum. Das reicht als Drohgebärde, um alle einzuschüchtern. Die Restaurantbesitzerin versucht noch, einen Brillantring in Sicherheit zu bringen. Sie zieht das Schmuckstück von ihrem Finger und verbirgt es in einer der gefalteten Servietten auf einem der Tische.

Ein baugleiches Exemplar der Tatwaffe

Dann sorgen die Verbrecher dafür, dass die Opfer ihnen vollkommen ausgeliefert sind: Sie fesseln deren Daumen mit den Kabelbindern, bei manchen vor dem Bauch, bei anderen hinter dem Rücken. Einem Mann, der Schuhe und Strümpfe ausziehen muss, werden die großen Zehen zusammengeschnürt. Lediglich der Besitzer wird nicht gefesselt. Und einen weiteren Mitarbeiter haben die Täter noch nicht entdeckt. Es ist der Koch, der sich zunächst in der Küche versteckt. Die Verbrecher haben es also nicht mit fünf Menschen zu tun, wie angenommen, sondern mit sieben – und mit dem kleinen Kind sowie einem Hund. Aber von diesem geht eher keine Gefahr für die Täter aus. Der Pekinese ist etwa so groß wie eine Katze und verfügt über kein beeindruckendes Gebiss.

Nachdem die Männer die meisten Opfer unter Kontrolle gebracht haben, nehmen sie ihnen die Wertsachen ab, vor allem Mobiltelefone und Portemonnaies. Die Restaurantbetreiberin wird von dem Pistolenmann gezwungen, mit ihm in die obere Etage zu gehen, wo er nach weiteren Wertsachen suchen will. Die beiden anderen bewachen unterdessen die Gefangenen im Restaurant. Der Wirt, der Arme und Beine ungehindert bewegen kann, sieht, dass sie unbewaffnet sind, und versucht zu fliehen. Zwischen dem 36-Jährigen und den beiden Bewachern kommt es zum Kampf. Den zwei Tätern gelingt es nicht, den Flüchtenden zu bändigen. Sie rufen den Pistolenmann zu Hilfe, der die mit Kabelbindern gefesselte Besitzerin zurücklässt und wieder ins Lokal läuft. Dort beginnt er, auf den fliehenden Restaurantbetreiber zu schießen und dann auch auf den Koch, der jetzt ebenfalls wegzulaufen versucht. Der Schütze hört nicht mehr auf, die Pistole abzufeuern, bis das Magazin leer ist. Dann setzt er das zweite Magazin ein und drückt weitere sieben Male ab. Er ist ein guter, effizienter Schütze. Als die Täter kurze Zeit später fliehen, lassen sie ein Blutbad zurück mit sechs Leichen und einem Mann, der mit dem Tode ringt.

Wir sind noch in der Nacht zum Tatort gekommen. Zunächst einmal ging es um die Spurensicherung vor Ort zusammen mit den Beamten der Mordkommission und der Spurensicherung der Kriminalpolizei. In diesem speziellen Fall kamen zusätzliche Experten dazu, unter anderem vom LKA Hannover und später auch vom Bundeskriminalamt. Es bot sich ein furchtbares Bild: In nahezu jedem Raum fanden sich Tote. Von den beiden Männern im Eingangsbereich lag einer auf dem Rücken, der andere kauerte in einer merkwürdigen Hockposition zu dessen Füßen, mit zusammengeschnürten Daumen. Von den beiden jungen Frauen, die hinter dem Tresen gestorben sind, war die eine auf den Rücken gedreht, die andere lag auf dem Bauch. Auch bei ihr waren die Daumen mit Kabelbindern zusammengebunden. Ein Stockwerk höher, in den Wohnungen, lagen ein toter Mann, der 31 Jahre alte Hilfskoch, und die erschossene Betreiberin, 28 Jahre alt.

Als vergleichsweise einfach erwies sich die Ermittlung und Festlegung der Todeszeit. Wir haben vor Ort wie stets üblich zunächst einmal die sicheren Todeszeichen, also die Leichenflecke und die Leichenstarre, geprüft. Außerdem haben wir bei allen Toten die Rektaltemperatur gemessen und auch mittels Reizstromgerät die Erregbarkeit der Gesichtsmuskulatur geprüft. Hierzu werden Elektroden in die mimische Muskulatur des Gesichts eingestochen, man beobachtet, ob sich durch einen Stromfluss die Muskeln noch zusammenziehen und das Gesicht sich verzerrt. Je kürzer der Todeszeitpunkt zurückliegt, desto stärker ist die Reaktion der Muskulatur. Aus den Untersuchungen ergab sich eine Todeszeit etwa gegen Mitternacht.

Aus der Blutspurenverteilung kann man Schlüsse für die Geschehensrekonstruktion ziehen, man kann beispielsweise das Wo und Wie der Tötungsmethode beantworten und auch die Frage, welche Tatmittel eingesetzt wurden. Auffällig war, dass die Täter bei fünf der Opfer vor den tödlichen Schüssen Tischdecken beziehungsweise in einem Fall ein Hemd über die Köpfe der Männer und Frauen gelegt haben. Sehr gut möglich ist, dass der Schütze verhindern wollte, mit dem Blut der Opfer bespritzt zu werden. Rechtsmedizinisch spricht man vom sogenannten Backspatter, wenn aus einem Einschuss, insbesondere beim aufgesetzten Schuss, Blut und kleinste Gewebeteile gegen die Waffe und die Hand des Schützen spritzen.

Unsere weiteren Untersuchungen an den Toten erfolgten dann verzögert, drei Tage nach den Morden. Die Leichen wurden zunächst in der Auffindesituation vor Ort belassen, damit die Ermittler alles in Ruhe und aufs Sorgfältigste aufnehmen konnten. Hierbei ging es zum Beispiel auch um Faserspuren, Haare, Schmauch.

Die Polizei richtet eine Sonderkommission ein, der in ihrer Spitzenzeit 105 Beamte angehören. Tausende Spuren werden erfasst und ausgewertet. Folgender Geschehensablauf wird rekonstruiert: Der Pistolenmann schießt, nachdem er ins Restaurant zurückgeeilt ist, zweimal auf den Wirt. Währenddessen versucht der noch nicht entdeckte Koch aus der Küche zu fliehen und läuft durch den angrenzenden Lagerraum ins Treppenhaus. Die Täter bemerken dies, der Schütze folgt dem Koch und schießt fünfmal. Er wechselt das Magazin und jagt dem zusammengebrochenen Opfer wie bei einer Hinrichtung aus kurzer Distanz eine weitere Kugel in den Hinterkopf. Während der Schüsse ist ihm sein Pullover vom Gesicht heruntergerutscht, sodass er unmaskiert ist.

Jetzt entschließt sich der Pistolenmann, auch alle weiteren Opfer zu töten. Er legt den beiden hinter dem Tresen hockenden Frauen jeweils eine der rosafarbenen Tischdecken über den Kopf, die zum Eindecken benutzt werden. Beiden Opfern schießt er mit aufgesetzter Waffe von hinten einmal in den Kopf. Weiterhin streckt der Mörder den im Lagerraum an Händen und Füßen gefesselten fünften Mann hinrichtungsartig mit aufgesetzter Waffe durch einen Kopfschuss nieder. Auch hier hat er zuvor eine Tischdecke über den Kopf gelegt. Die Verletzung ist nicht sofort tödlich. Das Opfer verfällt in tiefe Bewusstlosigkeit und wird nach Entdeckung der Tat in das nächstgelegene größere Krankenhaus gebracht. Es verstirbt wenige Stunden später, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Zuletzt steigt der Täter wieder hinauf ins zweite Obergeschoss, wo er einem dort wohnenden Mitarbeiter ebenfalls mit aufgesetzter Waffe in den Kopf schießt. Zuletzt tötet er die auf dem Boden liegende, an den Händen gefesselte Restaurantbetreiberin auf die gleiche Weise. Einzig die zweijährige Tochter der Lokalchefs überlebt das Massaker. Sie wird, körperlich unverletzt, im Restaurant hinter dem Tresen zwischen den beiden Getöteten gefunden, auch sie liegt unter einer blutbesudelten Tischdecke. Die Täter erklären später, sie hätten das Kind bewusst verschont. Der Schütze äußert dazu: „Das Kind kann nichts wissen und nichts verraten, es ist zu klein.“ Das Mädchen wird psychologisch betreut und zieht später zu den Großeltern ins Ausland.

Im Fall der Morde von Sittensen haben wir im Institut für Rechtsmedizin am Uniklinikum Eppendorf erstmals systematisch an allen Getöteten eine Computertomografie durchgeführt. Was heute zur Routine gehört, war 2007 noch relatives Neuland. Die Untersuchungsergebnisse im CT waren faszinierend. Wir konnten in allen Fällen schon vor Beginn der eigentlichen Sektion die Schussdefekte lokalisieren, die Schussrichtung und die Schusskanäle verfolgen sowie die Endlage der Projektile festlegen. Dies ist für die Planung der einzelnen Präparationsschritte bei der Obduktion eine wichtige Information und erleichtert die Entscheidungsfindung beziehungsweise Diagnostik enorm.

Im Einzelnen fanden wir bei fünf Getöteten solitäre Schüsse auf die Hinterkopfregion mit einem aufgesetzten Schuss im Sinne einer Hinrichtung. Zwei der Ermordeten wiesen mehrere Schussverletzungen auf. Das waren die Männer, die zu fliehen versucht hatten. Der Wirt hatte zwei Schussverletzungen am Rumpf, die Herz und Lunge tödlich trafen. Er starb aufgrund inneren Verblutens. Der Koch wies sechs Schussverletzungen im Bereich von Kopf, Rumpf und Extremitäten auf.

In einzelnen Fällen stellten wir zusätzliche Verletzungen fest, zum Beispiel hatte ein Täter dem fliehenden Wirt mit einer Holzlatte über den Schädel gehauen und ihn am Jochbein getroffen. Und bei der Frau des Besitzers diagnostizierten wir, dass sie vor der tödlichen Schussverletzung noch mit einem Tuch gedrosselt wurde, wodurch es zu Blutungen im Bereich des Kehlkopfes und punktförmigen Stauungsblutungen in den Augenbindehäuten, in der Gesichtshaut und in der Schleimhaut der Mundhöhle kam. Der Grund für die Strangulation ist nie eindeutig festgestellt worden. Ich denke, dass die Täter möglicherweise noch weitere Geldverstecke herauspressen wollten. Mit wenig Erfolg: Tatsächlich fand die Kripo in den Wohnungen der Restaurantbesitzer später noch insgesamt 19.000 Euro, die in verschiedenen Geldkassetten und Pergamenttüten sowie Briefumschlägen aufbewahrt und von den Tätern offensichtlich übersehen wurden. Dass sie das Geld nicht gefunden haben, ist allerdings nicht weiter verwunderlich. Während die Räume des Lokals sauber, ordentlich und heimelig wirkten, mit gediegenen Möbeln und einem kleinen Teich mit Koi-Karpfen, herrschte in den Zimmern der darüberliegenden Wohnungen ziemliches Chaos. Alles war regelrecht zugemüllt, vollgestopft bis in die letzten Winkel mit Papier, Verpackungen, schmutzigem Geschirr, ungebügelter Wäsche, Überflüssigem, Unbrauchbarem. Zwischen dem ganzen Unrat lagen die Toten auf dem Fußboden.

Bei mehreren der Opfer waren die Fesselungen der Daumen derartig fest, dass wir Durchblutungsstörungen festgestellt haben. Teilweise waren die Gliedmaßen schwarz verfärbt. Im Hinblick auf die Art der Verschnürung entstand der Eindruck einer hoch professionellen Vorgehensweise, jedenfalls waren die Fesselungen so effektiv, dass die Opfer sich hieraus unmöglich befreien konnten. Auch im Hinblick auf die Beibringung der tödlichen Kopfschüsse, ähnlich einer Hinrichtung, drängt sich der Eindruck auf, dass der Täter sehr professionell vorgegangen ist.

Ein einziger Mann hat diesen Überfall überlebt. Dem Mieter der dritten Wohnung über dem Restaurant wird nicht ein Haar gekrümmt, obwohl er an jenem Abend zu Hause ist. Sein Glück: Er ist mit Kopfhörern über den Ohren stundenlang in ein Computerspiel vertieft und so sehr in seine virtuelle Welt versunken, dass er nicht bemerkt, wie die Täter an seine Zimmertür klopfen und mit an das Holz gepressten Ohren horchen. Fingerabdrücke und Schweißspuren belegen, dass die Räuber sichergehen wollten, auch nicht einen Zeugen zu übersehen. Auch sonst bemühen sie sich, keine verwertbaren Spuren zu hinterlassen. So sammeln sie vor dem Verlassen des Restaurants noch einzelne Patronenhülsen auf und nehmen sie mit. Zuhause reinigt der Schütze seine Waffe zunächst, zerlegt sie in ihre Einzelteile, wickelt diese in Zeitungspapier und vergräbt sie. Noch am selben Abend teilen die Täter nach der Rückfahrt die Beute auf. Zudem schalten sie die mitgenommenen Handys der Opfer aus, um deren Ortung zu verhindern. Aber gerade durch das Abschalten werden bei den Netzbetreibern der entsprechende Zeitpunkt und die letzte Position mit Funkkontakt gespeichert. Dies sind einige der zahllosen Daten, die die Ermittler zusammentragen und die später zur Aufklärung des Verbrechens beitragen.

Der wichtigste Hinweis allerdings, der später als „Spur 32“ seinen Weg in die Akten findet, ergibt sich schon am Tag nach der Tat. Bei einer Routine-Verkehrskontrolle, bei der es um die Ermittlung von illegalen Einwanderern geht, stoppen Polizisten bei Wildeshausen einen VW Polo, in dem zwei Asiaten sitzen. Die beiden Männer können sich nicht ausweisen. In ihrem Wagen findet man eine kleine Packung Kokainsubstanzgemisch und mehr als 5000 Euro in bar. Als die Polizeibeamten das Fahrzeug weiter durchsuchen, fällt ihnen auf, dass einer der Verdächtigen versucht, einen zusammengefalteten Zettel im Fußraum des Wagens verschwinden zu lassen. Die Beamten schauen sich das Papierstück genauer an – und entdecken eine handschriftliche Notiz, die auf ein Restaurant in Sittensen hinweist, und dazu eine Skizze. Längst ist das Mordgeschehen in dem Lokal bekannt; die Beamten geben ihren Kollegen vom Landeskriminalamt einen Hinweis. Wie sich später herausstellt, zeigt die Skizze einen groben Lageplan des Restaurants, außerdem sind auf dem Papierstück noch Angaben über die Anzahl der Personen in dem Lokal und auf die räumlichen Verhältnisse notiert sowie auf die erhoffte Tatbeute. Die Verbrecher gehen davon aus, etwa 10.000 Euro erbeuten zu können.

Im Verhältnis zu manchen Landsleuten galten die Eheleute, die das Sittensener Lokal betrieben, als relativ wohlhabend. Von dem 36-Jährigen und seiner acht Jahre jüngeren Frau hieß es, sie spielten regelmäßig in Casinos und auch im privaten Kreis Poker. Die Chefin soll den Spitznamen „Shopping-Monster“ gehabt haben. Auch eine Bedienung des Lokals soll wertvollen Schmuck getragen und beim Glücksspiel Geld verzockt haben. Möglicherweise hat dieser Lebensstil Begehrlichkeiten geweckt.

Letztlich sind es tatsächlich in etwa 10.000 Euro, die die Verbrecher in dem Lokal erbeuten, zusammen mit ein paar Handys und einem Notebook. Ein paar Tausend Euro – um welchen Preis? Wie viel ist ein Menschenleben wert?

Im Rahmen der späteren Gerichtsverhandlung ergab sich allerdings kein konkreter Hinweis darauf, dass die Tötungen bei diesem Raubüberfall von vornherein geplant waren. Nach den Aussagen der Täter ist die Situation entgleist, als die beiden Männer ihren Fluchtversuch starteten und in diesem Zusammenhang dann auch die Maskierung des Schützen verloren ging. Aus den Vorstrafen der Männer, die alle aus Vietnam stammten, ergab sich kein Hinweis auf vorausgegangene Tötungsdelikte oder sonstige schwere Gewalttaten hier in Deutschland. Die weitere persönliche Vorgeschichte, etwa in ihrem Heimatland, liegt völlig im Dunkeln.

Als Rechtsmediziner habe ich hier von Anfang an über viele Aspekte gegrübelt. Die große Zahl der Getöteten, die professionellen Fesselungsmaßnahmen, später dann über die allumfassende Rekonstruktion, über die Analyse der Mobilfunkverbindungen. Gegrübelt habe ich auch über Kommissar Zufall, der die Spurenaufnahme der Täter schon am Tag nach dem Verbrechen ermöglichte. Hier gilt, diesmal aus Tätersicht: zur falschen Zeit am falschen Ort. Eine eigentlich zu einem ganz anderen Zweck eingerichtete Kontrollmaßnahme der Polizei führte zur Ermittlung zweier Raubmörder. Über diese beiden festgenommenen Männer ergaben sich schließlich Hinweise auf die weiteren Verdächtigen.

Die weiteren Indizien resultieren unter anderem aus Spuren, insbesondere Blut, Körperflüssigkeiten sowie Schmauchanhaftungen und nicht zuletzt einer großen Menge elektronischer Daten. Darüber hinaus sichern die Ermittler elf Patronenhülsen der Marke Remington, Kaliber .22, die beim Abfeuern der später sichergestellten Tatwaffe FEG Luger ausgeworfen worden und am Tatort verblieben sind. Auch verschiedene Faserspuren werden gesichert. Insgesamt ergibt sich eine Fülle von Ermittlungsansätzen, die schließlich in vielen Hundert Ordnern gesammelt werden. Allein die Hauptakte besteht aus rund 32.000 Seiten mit zusätzlichen 587 sogenannten Spurenakten.

Knapp ein Jahr später beginnt vor dem Landgericht Stade der Prozess gegen fünf Angeklagte. Es handelt sich um die beiden Brüderpaare sowie einen weiteren Mann. Es wird ein Prozess, der so manchen Beteiligten bis an seine Grenzen belastet. Auch Polizisten, viele davon Routiniers was Ermittlungen in Sachen Gewaltverbrechen angeht, schildern als Zeugen das ungewöhnlich grausame Szenario, das sich ihnen in dem Lokal darbot. Bilder vom Tatort, von Blutlachen und zerschossenen Gesichtern werden in der Hauptverhandlung in Großaufnahme gezeigt.

Gutachter schildern, wie der Weg der Waffe und der Munition von der Polizei minutiös rekonstruiert worden ist. Die verwendete Pistole konnte drei Monate nach dem Verbrechen von der Polizei geborgen werden. Die Schusswaffensachverständigen des Bundeskriminalamts konnten speziell auch wegen besonderer Verfeuerungsspuren eindeutig herausarbeiten, dass mit dieser Waffe insgesamt 14 Schuss abgegeben wurden. Bei den Patronen handelte es sich um sogenannte High Velocity-Geschosse. Die gesicherten Kugeln beziehungsweise Geschossteile und Hülsen konnten eindeutig der Waffe zugeordnet werden.

Durch sorgfältige DNA-Spurenanalyse konnte auch nachgewiesen werden, dass Blut der Opfer auf die Kleidung der Täter übertragen wurde, und zwar nicht nur auf den Schützen. Dies ist dadurch erklärlich, dass am Geschehensort sehr zahlreiche und umfangreiche Blutspuren entstanden sind. In der Gesamtschau der Beweisergebnisse sprechen die Faser- und die DNA-Spuren eindeutig dafür, dass die drei Hauptangeklagten, also der Wortführer, der Schütze sowie ein Mittäter, sich am Tatort aufgehalten haben. Als wichtiges weiteres Indiz fand man an der sichergestellten Kleidung des Schützen auch Schmauchspuren am rechten und linken Ärmelbündchen sowie in den Außentaschen seiner Strickjacke. Auch bestimmte Fasern sowie ein einzelnes Hundehaar von dem Pekinesen dienten später als Nachweis, dass insbesondere der Schütze in unterschiedlichen Bereichen des Tatorts war.

Zudem hatte man bei einer Durchsuchung der Wohnung eines der Verdächtigen, dem später die Rolle des Anführers zugeordnet wurde, Kabelbinder aus demselben Material, in derselben Bauart und Funktionalität wie jene gefunden, mit denen die Opfer gefesselt worden waren. Die weiteren Kabelbinder, die am Tatort gesichert wurden, waren bereits vorgeformt in die Schlaufe gelegt. Dies war ebenfalls ein wichtiges Indiz, obwohl derartige Kabelbinder Massenware darstellen.

In der Gerichtsverhandlung belasten sich die Täter teilweise gegenseitig und versuchen, jeweils anderen Personen ein größeres Ausmaß an der Tatbeteiligung in die Schuhe zu schieben. Der Mann, dem später die Rolle des Schützen nachgewiesen wird, lässt beispielsweise eine Aussage verlesen, nach welcher der Schmieresteher die Waffe beschafft, besessen und auch eingesetzt habe. Allerdings wird dieser Schütze auch beschrieben als „Typ, der vor nichts Angst hat“, beziehungsweise dass der 31-Jährige „ein zur Gewalt neigender, leicht reizbarer Mensch ist“. Der Anführer, ein 35-Jähriger, galt unter den anderen Vietnamesen als Respektsperson. Er wurde gelegentlich auch als „großer Bruder“ bezeichnet.

Zuletzt, am Ende eines fast zwei Jahre dauernden Prozesses, legen vier der fünf Angeklagten doch noch Geständnisse ab und bekunden Reue über das monströse Verbrechen. „Ich bin tief traurig. Es tut mir leid“, sagt der mutmaßliche Fahrer der Gruppe. „Ich bereue zutiefst, was ich getan habe“, sagt der 35-Jährige. „Ich wollte, dass niemand zu Schaden kommt.“ Sein ebenfalls wegen Mordes angeklagter 31 Jahre alter Komplize erklärt: „Ich war an der Tat mit beteiligt.“ Dadurch sei sein ganzes Leben verändert, und das werde ihn wahrscheinlich bis an sein Lebensende verfolgen. „Ich wäre froh, wenn es den Tag nie gegeben hätte.“ Und der Schmieresteher erklärt über sich selbst: „Ich war aussichtslos in diesem Albtraum gefangen.“ Die vier Angreifer berufen sich in unterschiedlichem Ausmaß darauf, sie hätten Alkohol getrunken, Haschisch geraucht und auch Kokain gesnifft. Aufgrund der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen in der Hauptverhandlung wird allerdings keinem Täter eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit oder Schuldfähigkeit eingeräumt.

Nach insgesamt 107 Hauptverhandlungstagen verkündet das Schwurgericht schließlich das Urteil, das später auf 209 Seiten schriftlich begründet wird. Der 31-Jährige, dem das Gericht die Schüsse zuschreibt, wird wegen siebenfachen Mordes in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Zusätzlich stellt das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest. Sein als Wortführer geltender 35-jähriger Bruder muss ebenfalls lebenslang in Haft, hat aber die Chance auf eine Entlassung nach 15 Jahren. Ihn verurteilt das Gericht wegen eines Mordes in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge. Für den dritten Haupttäter, einen 33-Jährigen, der während des Massakers mit im Lokal war, verhängt das Landgericht eine Haftstrafe von 14 Jahren wegen Raubes mit Todesfolge. Der Fahrer des Fluchtwagens erhält wegen Beihilfe zu schwerem Raub eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten. Der fünfte Beschuldigte, eine 43-jährige Aushilfe des China-Restaurants, der als Tippgeber gilt, wird wegen Anstiftung zu schwerem Raub zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Kein einziger Täter wird später abgeschoben, weil es in Vietnam die Todesstrafe gibt. Die Männer, die für den Tod von sieben Unschuldigen verantwortlich sind, würden in dem fernöstlichen Land wahrscheinlich hingerichtet werden.

Im Hinblick auf die Psychologie aufseiten der Täter entsteht für mich vor allem die Frage, wie es zu dieser Exzess-Tötungsserie kommen konnte, die angeblich überhaupt nicht geplant war. Im Prozess betonten die Mittäter wiederholt, dass der konkrete Einsatz der Schusswaffe eigentlich nicht vorgesehen war, es sollte nur ein Drohszenarium geschaffen werden. Die anderen Täter zeigten sich von der extremen Tötungsserie persönlich überrascht und betroffen und erklärten wiederholt, sie hätten das nicht gewollt. Natürlich muss man berücksichtigen, dass der Schütze seine Waffe gezielt mitgenommen hat und ein Ersatzmagazin parat hatte. Für mich drängt sich auch auf, dass er recht gut schießen konnte. Es gab überhaupt nur einen einzigen Fehlschuss. Ein Projektil wurde in einer Wand entdeckt. Der Mann hatte die Waffe professionell vorbereitet und die Registrierungsnummer herausgefeilt, außerdem setzte er einen Schalldämpfer ein. All dies spricht für eine sehr gezielte Vorgehensweise.

Im Zusammenhang mit solchen Geschehnissen entsteht immer wieder die Frage, ob es eine besondere Gewaltbereitschaft bei Menschen gibt, die unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen, möglicherweise in einer Umgebung mit weitergehender Gewalt als hier in unserem Kulturkreis, großgeworden sind. Die Frage kann ich mir selbst ehrlicherweise nicht konsequent beantworten. Gerade im Zusammenhang mit Gewaltkriminalität haben wir in der Rechtsmedizin eine höhere Beteiligung von Ausländern, als es dem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Zu berücksichtigen sind jedoch auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen die Menschen leben, und die Tatsache, dass es sich häufiger um junge Männer handelt, die bekanntermaßen statistisch gesehen besonders oft in Gewaltkriminalität verwickelt sind. In Bezug auf die persönliche Situation der Angeklagten wird aus den Ermittlungen deutlich, dass diese Täter hier in Deutschland erhebliche Startschwierigkeiten hatten, gekennzeichnet von prekären wirtschaftlichen Verhältnissen, Abhängigkeiten von sozialen Strukturen aus dem Heimatland, schwierigen Wohnverhältnissen, sehr schlechten Arbeitsbedingungen und daraus resultierendem Alkohol- und Drogenkonsum, hier in diesem Fall Cannabis und Kokain.

Massenmord

Als Massenmord bezeichnet man in den Kriminalwissenschaften den Mord an einer Vielzahl von Personen in kurzer Zeit an einem oder wenigen zusammenhängenden Orten. Der Massenmord wird abgegrenzt vom Serienmord, der durch mehrere Tötungsdelikte durch denselben Täter über einen längeren Zeitraum gekennzeichnet ist.

Von Massenmord spricht man insbesondere auch im Zusammenhang mit diktatorischen Regimen und kriegerischen Handlungen, wenn anders denkende, eigentlich unbeteiligte Menschen von den Machthabern oder rivalisierenden Gruppen getötet werden. Extreme stellen hier der Völkermord beziehungsweise der Genozid dar.

Massenmorde im lokalen Kontext haben sehr unterschiedliche Dimensionen. Erinnert sei beispielsweise an Charles Manson, der 1969 aus einer unklaren rituell-religiösen Motivation heraus durch seine Hippie-Sekte die schwangere Schauspielerin Sharon Tate in der Nähe von Los Angeles töten ließ (insgesamt sieben Morde, ohne dass Manson selbst Hand angelegt hat). Manson wurde zunächst zum Tod in der Gaskammer verurteilt. 1972 erklärte der Oberste Gerichtshof von Kalifornien die Todesstrafe für verfassungswidrig. Alle Todesurteile wurden daraufhin in lebenslange Haftstrafen umgewandelt. Manson starb 2017 im Alter von 83 Jahren an den Folgen eines Krebsleidens.

Der Norweger Anders Behring Breivik ist ein rechtsterroristischer, islamfeindlicher Massenmörder, der am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utoya Anschläge durchführte, bei denen 77 Menschen getötet wurden. In Oslo zündete er eine Autobombe, durch die acht Menschen starben. Auf der Ferieninsel erschoss er als Polizist verkleidet 69 junge Menschen in einem Ferienlager. Breivik wurde zu 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, die höchste Strafe, die das norwegische Strafrecht vorsieht.

Mit großer Betroffenheit werden die immer wiederkehrenden Massenmorde an Schulen in den USA, gelegentlich aber auch in anderen Ländern, diskutiert. In Deutschland erschoss beispielsweise der Schüler Robert S. am 26. April 2002 am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt binnen zehn Minuten 16 Schüler, Lehrer und sich selbst.