|3| Julian Caskel  Hartmut Hein (Hrsg.)

Handbuch Dirigenten

250 Porträts

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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eBook-Version 2016

© 2015 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel

Umschlaggestaltung: +CHRISTOWZIK SCHEUCH DESIGN unter Verwendung folgender Fotos (von links oben nach rechts unten): René Jacobs, Gustavo Dudamel, Yannick Nézet-Séguin, Simon Rattle (alle akg-images / Marion Kalter), Andris Nelsons (Marco Borggreve), Simone Young (Klaus Lefebvre)

Lektorat: Diana Rothaug

Korrektorat: Daniel Lettgen, Köln

ISBN 978 - 3 - 7618 - 7027 - 3

DBV 114 - 08

www.baerenreiter.com  www.metzlerverlag.de

eBook-Produktion: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zur Einleitung

Essays

Komponierende Kapellmeister und dirigierende Konzertmeister: Zur Vorgeschichte des »interpretierenden Dirigenten«

Dirigenten, Komponisten und andere Diktatoren

Der Dirigent »im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«

Dirigent und Probe

Aspekte einer Kultur- und Ideengeschichte des Dirigierens

»Werktreue« und die »Aura« des Dirigenten: Eine Einführung in ein ästhetisches Dilemma

Abkürzungsverzeichnis

Dirigenten A bis Z

A B C D E F G H I J K L M N O P R S T V W Y Z

Abbado, Claudio

Abendroth, Hermann

Abravanel, Maurice

Albrecht, Gerd

Albrecht, Marc

Alessandrini, Rinaldo

Alsop, Marin

Ančerl, Karel

Ansermet, Ernest

Antonini, Giovanni

Ashkenazy, Vladimir

Bamert, Matthias

Barbirolli, John

Barenboim, Daniel

Barshai, Rudolf

Bátiz, Enrique

Beecham, Thomas

Beinum, Eduard van

Bělohlávek, Jiří

Berglund, Paavo

Bernstein, Leonard

Bertini, Gary

Billy, Bertrand de

Blech, Leo

Blomstedt, Herbert

Böhm, Karl

Bolton, Ivor

Boskovsky, Willi

Boulez, Pierre

Boult, Adrian

Bour, Ernest

Brico, Antonia

Brown, Iona

Brüggen, Frans

Bülow, Hans von

Busch, Fritz

Bychkov, Semyon

Cambreling, Sylvain

Cantelli, Guido

Celibidache, Sergiu

Chailly, Riccardo

Christie, William

Chung, Myung-Whun

Cluytens, André

Conlon, James

Coppola, Piero

Craft, Robert

Dausgaard, Thomas

Davies, Dennis Russell

Davis, Andrew

Davis, Colin

Denève, Stéphane

Désormière, Roger

Dixon, Dean

Dohnányi, Christoph von

Doráti, Antal

Dudamel, Gustavo

Dutoit, Charles

Ehrhardt, Werner

Elmendorff, Karl

Erede, Alberto

Eschenbach, Christoph

Falletta, JoAnn

Fedoseyev, Vladimir

Ferencsik, János

Ferrara, Franco

Fey, Thomas

Fiedler, Arthur

Fischer, Ádám

Fischer, Iván

Fricsay, Ferenc

Fried, Oskar

Frühbeck de Burgos, Rafael

Furtwängler, Wilhelm

Gardelli, Lamberto

Gardiner, John Eliot

Gatti, Daniele

Gergiev, Valery

Gielen, Michael

Gilbert, Alan

Giulini, Carlo Maria

Goebel, Reinhard

Golowanow, Nikolaj

Goodall, Reginald

Gülke, Peter

Guttenberg, Enoch zu

Haenchen, Hartmut

Haïm, Emmanuelle

Haitink, Bernard

Handley, Vernon

Harding, Daniel

Harnoncourt, Nikolaus

Hausegger, Siegmund von

Heger, Robert

Hengelbrock, Thomas

Herbig, Günther

Herreweghe, Philippe

Hickox, Richard

Hogwood, Christopher

Honeck, Manfred

Horenstein, Jascha

Immerseel, Jos van

Inbal, Eliahu

Inghelbrecht, Désiré-Émile

Jacobs, René

Janowski, Marek

Jansons, Mariss

Järvi, Kristjan

Järvi, Neeme

Järvi, Paavo

Jochum, Eugen

Jurowski, Vladimir

Kabasta, Oswald

Karajan, Herbert von

Kegel, Herbert

Keilberth, Joseph

Kempe, Rudolf

Kertész, István

Kitajenko, Dmitrij

Kleiber, Carlos

Kleiber, Erich

Klemperer, Otto

Knappertsbusch, Hans

Kondraschin, Kirill

Konwitschny, Franz

Koopman, Ton

Koussevitzky, Serge

Krauss, Clemens

Kreizberg, Yakov

Krips, Josef

Kubelík, Rafael

Kuijken, Sigiswald

Leibowitz, René

Leinsdorf, Erich

Leppard, Raymond

Levi, Hermann

Levine, James

Litton, Andrew

Lloyd-Jones, David

López Cobos, Jesús

Luisi, Fabio

Maazel, Lorin

Mackerras, Charles

Maier, Franzjosef

Malgoire, Jean-Claude

Mälkki, Susanna

Markevitch, Igor

Marriner, Neville

Martinon, Jean

Masur, Kurt

Matačić, Lovro von

Max, Hermann

Mehta, Zubin

Mengelberg, Willem

Metzmacher, Ingo

Minkowski, Marc

Mitropoulos, Dimitri

Monteux, Pierre

Morris, Wyn

Mrawinski, Jewgeni

Müller-Brühl, Helmut

Munch, Charles

Münchinger, Karl

Muti, Riccardo

Nagano, Kent

Nelsons, Andris

Neumann, Václav

Nézet-Séguin, Yannick

Nikisch, Arthur

Niquet, Hervé

Norrington, Roger

Nott, Jonathan

Oramo, Sakari

Ormandy, Eugene

Ozawa, Seiji

Panula, Jorma

Pappano, Antonio

Parrott, Andrew

Petrenko, Kirill

Petrenko, Vasily

Pierné, Gabriel

Pinnock, Trevor

Plasson, Michel

Pluhar, Christina

Prêtre, Georges

Previn, André

Rahbari, Alexander

Rattle, Simon

Reiner, Fritz

Richter, Hans

Richter, Karl

Rilling, Helmuth

Rodziński, Artur

Rosbaud, Hans

Roschdestwenski, Gennadi

Rostropowitsch, Mstislaw

Roth, François-Xavier

Rousset, Christophe

Rowicki, Witold

Runnicles, Donald

Sabata, Victor de

Sacher, Paul

Salonen, Esa-Pekka

Sanderling, Kurt

Saraste, Jukka-Pekka

Sawallisch, Wolfgang

Scherchen, Hermann

Schmidt-Isserstedt, Hans

Schønwandt, Michael

Schuricht, Carl

Segerstam, Leif

Šejna, Karel

Serafin, Tullio

Serebrier, José

Sinopoli, Giuseppe

Skrowaczewski, Stanisław

Slatkin, Leonard

Smetáček, Václav

Sokhiev, Tugan

Solti, Georg

Steinberg, William

Stenz, Markus

Stock, Frederick

Stokowski, Leopold

Storgårds, John

Suitner, Otmar

Svetlanov, Evgeny

Swarowsky, Hans

Szell, George

Talich, Václav

Tennstedt, Klaus

Thielemann, Christian

Thomas, Michael Tilson

Tintner, Georg

Toscanini, Arturo

Vänskä, Osmo

Waart, Edo de

Walter, Bruno

Wand, Günter

Weil, Bruno

Weingartner, Felix

Welser-Möst, Franz

Wenzinger, August

Wit, Antoni

Wood, Henry

Young, Simone

Zagrosek, Lothar

Zender, Hans

Zinman, David

Zweden, Jaap van

|7| Zur Einleitung

I.

Über Dirigenten kann man sich wundervoll streiten. Sie bieten dem informierten Experten wie dem interessierten Publikum eine Projektionsfläche für sämtliche Formen einer angemessenen oder unsachlichen Verbalisierung der erklingenden Musik. Dabei sind die Rezeptionsurteile über das Dirigieren relativ risikolos: Weit weniger als bei Sängern oder Instrumentalisten gibt es eindeutige technische Kriterien, an denen das Gefallen oder Missfallen sich zu orientieren hätte. Man erkennt das daran, dass die Inhalte, die in Lehrbüchern des Dirigierens unterrichtet werden, in der Musikkritik und auch in der musikwissenschaftlichen Interpretationsforschung fast nie eine Rolle spielen. Es wird über andere Dinge geredet als über die Angemessenheit einer bestimmten Schlagfigur in einer bestimmten Taktart in einem bestimmten Tempo. Das gilt auch für dieses Buch: Es entwickelt seine eigenen Sach- und Werturteile vornehmlich anhand von Tonträgern. Denn erstens kann trotz der möglichen Manipulationen durch Mikrofone, Nachbearbeitungen und Neukopplungen in den meisten Fällen unterstellt werden, dass der Dirigent sozusagen wie ein Regisseur das Recht über den »Final Cut« einer Aufnahme besitzt. Zweitens wird durch Tonträger eine einheitliche Grundlage zur Beschreibung verschiedener zeitlicher, stilistischer und auch geografischer Orte des Dirigierens gegeben. Drittens macht diese Aussagebasis für den Leser »jede unserer Aussagen nachprüfbar« (so haben es Ingo Harden und Gregor Willmes, die Autoren der PianistenProfile, formuliert). Mithilfe solcher Um-Schreibungen des fixierten Klangs sollen in diesem Handbuch exakt 250 Dirigenten der Gegenwart wie der Vergangenheit porträtiert werden.

Das Schreiben über das Dirigieren scheint nun genauso alt zu sein wie der gar nicht so alte Beruf des »modernen« Dirigenten – der wohl nicht zufällig relativ zeitgleich mit einem öffentlichen Presse- und Rezensionswesen zu Bedeutung gekommen ist. Man könnte vielleicht sogar sagen: Ohne die Musikkritik ist der Dirigent eigentlich gar nicht zu ertragen. Erst die Möglichkeiten zur Karikatur, zum Verriss, aber auch zum fundierten Lob bewirken, dass der Dirigent nicht als anachronistisch-autoritärer Dinosaurier in einer demokratischen Gesellschaft erscheint (auf diese Problematik hat Wolfgang Hattinger in seinem neuen Standardwerk Der Dirigent hingewiesen). Man könnte aber vielleicht auch sagen: Ohne den Dirigenten ist die Musikkritik eigentlich kaum zu ertragen. Erst die Idee vom »Dirigent als Statthalter« (Carl Dahlhaus) des komponierten Werks erzeugt einen Autor der einzelnen Aufführung, auf den die Kritik auch im Fall der groß besetzten Orchestermusik ihre eigenen Ausführungen zurücklenken kann. In diesem Spannungsfeld sollen »populäre« Charakteristika der 250 Dirigenten diskutiert werden, doch besteht auch ein Anspruch der »objektiven« Beschreibung von Interpretationsformen und Klangstrategien, der sich einer stärker fachspezifischen Erwartung an wissenschaftlich haltbare Urteile zu stellen hat. Die einzelnen Porträts müssen sich also einerseits daran messen lassen, ob sie Lust darauf machen, einen Dirigenten neu zu entdecken oder anders zu bewerten, und möchten andererseits dennoch immer eine kritische Distanz zu allen »Pult-Legenden« bewahren. Einige vorangestellte Überlegungen sollen daher unsere Entscheidungen als Herausgeber sowohl in der »harten« Frage der Auswahl der |8| Dirigentennamen wie auch in den »weicheren« Fragen der für die Darstellung gewählten Stilistik transparent machen.

II.

Dieses Buch befasst sich mit einem Feld, das üblicherweise der Musikkritik zugeordnet ist, auch wenn es hauptsächlich von Menschen verfasst wurde, deren Tätigkeitsbereich die öffentlich meist weniger präsente »akademische Musikwissenschaft« ist. Dazu muss man wissen, dass der Dirigent und die Musikwissenschaft erst sehr spät und sehr zögerlich zueinandergefunden haben. Man könnte sagen, sie misstrauen sich gegenseitig: Der Musikwissenschaftler ist solide, aber glanzlos (und unterstellt dem Dirigenten, bei ihm sei es umgekehrt). Vor allem aber erfüllen Wissenschaftler und ausführende Künstler im Musikleben tatsächlich gegensätzliche Aufgaben. Der Wissenschaftler kann schriftliche Quellen auswerten, Drucke und Handschriften eines Werks vergleichen und dessen Fassungen kritisch edieren, aber auch das »Jedes-Mal-Anders« vergangener Aufführungen darstellen; er überführt also generell vorhandene Musik in einen möglichst zuverlässigen Notentext oder auch in kommentierende Texte, die beide in bestimmten Fällen für folgende Aufführungen verpflichtend werden können. Ein Interpret wiederum soll aus solchen verbindlichen Vorlagen »seine« individuelle Aufführung herleiten und wandelt somit Texte neuerlich in Taten um. Die Musikkritik schließlich ist davon abhängig, dass es beides gibt, das objektive »Werk«, an dem man die einzelne Aufführung messen kann, und die subjektive Ausführung, durch die der Interpret als Individuum beschreibbar wird. Musikkritiker und Musikwissenschaftler misstrauen sich daher noch viel mehr, weil das Geschäft des einen schon vor der Aufführung zu enden und das Geschäft des anderen erst mit der Aufführung zu beginnen scheint.

Nun gibt es durchaus honorige Gründe, warum man mit einem Musikwissenschaftler über vieles sehr schön reden kann, nur nicht über Musik. Der transitorische Charakter des musikalischen Klangs, der nur durch einen gegebenen Notentext vermindert werden kann, vermag vielleicht am besten zu erklären, warum das Tabu einer Wissenschaft auch über Konzerte, Tonträger und Interpretationen bis in das späte 20. Jahrhundert hinein Bestand haben konnte. Doch bleibt es bis heute ein geradezu elementares Bedürfnis der Musikwissenschaft, auch dann, wenn sie über Konzerte und Tonträger spricht, eine Annäherung an die »subjektive« Beschreibungssprache der Musikkritik unter allen Umständen zu vermeiden. Es stellt sich dann aber die Frage, ob es überhaupt möglich ist, musikalischen Klang in einer nicht-empirischen Weise und dennoch »objektiv« zu beschreiben. Warum dies immer noch ein Risiko zu sein scheint, kann man am besten verständlich machen, indem man in aller gebotenen Kürze die wesentlichen Methoden und Begriffe einer musikalischen Interpretationsforschung erläutert.

Metaphorisch könnte man das Haus, in dem sich die musikwissenschaftliche Analyse von Tonträgern eingerichtet hat, als eher schmucklosen Plattenbau bezeichnen. Das erste und eigentlich bis heute einzig wirklich etablierte Kriterium zur Klassifizierung des Klangs bezieht sich darauf, ob eine interpretatorische Entscheidung dem Partiturtext entspricht oder vom Partiturtext abweicht. Im Plattenbau der Interpretationsforschung gibt es eine große Anzahl immer gleich eingerichteter Zweizimmerwohnungen: Der Raum der Erfüllung des Notentexts heißt »Neue Sachlichkeit«, der Ort der Abweichungen heißt »Espressivo«. Der fragile Status der Interpretationsanalyse ist schon daran erkennbar, dass sich für diese eigentlich präzisen Zuordnungen zwei derart unpräzise Etiketten etabliert haben. Der Begriff des »Espressivo« konzentriert sich auf konkrete technische Merkmale wie das Rubato oder Portamento, die er als ästhetische Qualitäten wahrnimmt. Der Begriff der »Sachlichkeit« weitet den Namen einer kurzlebigen Erscheinung der |9| Kunstgeschichte auf einen sich fast zeitgleich nach dem Ersten Weltkrieg entwickelnden, bis heute dominanten »neuen« Modus der Interpretation aus, für den sich jenseits der Postulate der »Werktreue« (bzw. Text- oder Partiturtreue) weitere technische Sach-Kriterien viel weniger klar angeben lassen (auch weil das Befolgen von Gesetzen schwerer nachzuerzählen ist als das Nicht-Befolgen). Die beiden gängigen aufführungspraktischen Antipoden gehen allerdings in Theorie wie Praxis durchaus Synthesen ein: in der heutigen Orientierung gerade auch »traditionell« ausgebildeter Dirigenten und Orchester an historischen Erkenntnissen, aber auch mit dem zunehmenden Interesse an einer Rekonstruktion der Anfänge unserer nach wie vor eigentlich »romantischen« Tradition öffentlicher Institutionen (des zumeist immer noch »städtischen« Konzertwesens wie auch der Opernhäuser und Festivals). Problematisch sind die Etiketten vor allem, weil sie dazu verleiten, den grundlegenden Dualismus von Partiturtreue und Partiturabweichung ungeprüft auf andere Dualismen zu übertragen. So sind die beiden Modi der Interpretation direkt mit den Namen von Wilhelm Furtwängler und Arturo Toscanini verbunden worden; jedoch erzeugen Furtwänglers Tempomodifikationen oftmals auch die bewusst kalkulierte Abbildung einer verborgenen musikalischen »Tiefenstruktur« (besonders typisch als Temposteigerung hin zum Werk- oder Satzende). Die Magie Toscaninis wiederum beruht weniger darauf, dass seine Interpretationen das Ideal unbedingter Texttreue tatsächlich erfüllen, sondern dass sie erstmals ostentativ ein solches Ideal erfüllen wollen (und ihm selbst dort eine Gestalt zu verleihen scheinen, wo de facto wie in den Sinfonien Beethovens die tradierten Retuschen zu hören sind). Das Denken im Dualismus von Espressivo und Sachlichkeit wird zudem problematisch, wenn sich zentrale Interpreten mit ihren Eigenheiten spürbar jenseits dieses Gegensatzes positionieren. Hierfür scheint Herbert von Karajan paradigmatisch: Der mit seinem Namen verbundene Begriff eines perfektionistischen »Schönklangs« verdankt sich nicht zuletzt der Notwendigkeit, für einen offenkundig eher dem Prinzip der Partiturtreue verpflichteten Ansatz dennoch eine ästhetisch abwertende Vokabel zur Hand zu haben. Karajan wäre somit darin modernistisch, dass er das Ideal der Schönheit an den Klang anbindet (und nicht an die Melodie oder den dramatischen Gehalt), er bleibt aber zugleich merkantil orientiert, indem er den Klang eben an das Ideal einer Schönheit anbindet, deren »Vollkommenheit« immer auch als bestes Verkaufsargument herzuhalten vermag. Dieses Klangmodell aber lässt sich interessanterweise besser auf die Musik Schönbergs als auf die von Strawinsky oder Hindemith übertragen. Karajan kann zum paradigmatischen Dirigenten der neusachlichen Schule werden, obgleich das mit diesem Etikett verbundene Repertoire von ihm wenig geschätzt und folgerichtig kaum dirigiert worden ist.

Die unklare Position zwischen den Prinzipien der Partiturtreue und Partiturabweichung ist aber vor allem für die Historische Aufführungspraxis problematisch. Eine »historischrekonstruktive« Ausrichtung des Musizierens (und Dirigierens) gilt zumeist als eigenständiger dritter Modus der Interpretation, doch erscheint wenig eindeutig, an welcher Stelle der damit notwendige Anbau an die Zweizimmerwohnung vorgenommen werden muss: Es ist zum einen schlüssig gezeigt worden, dass die Aufführung Alter Musik sich zunächst im Umkreis der Neuen Sachlichkeit und als Teil der Moderne des 20. Jahrhunderts etabliert hat. Der Rückgriff auf tradierte Verzierungslehren und rhetorische Konventionen als Mittel des Affekt-Ausdrucks verbindet »historisch informierte« Interpretationen aber auch mit romantischen Paradigmen einer expressiv das Gemüt berührenden und Gefühle ausdrückenden Aufführungshaltung. Der Einbezug alter Instrumente, Spielweisen und Besetzungen betrifft zudem primär den Klang und nicht dessen Bezug auf den Notentext, der daher entweder um implizites Wissen zu ergänzen oder vor |10| expliziten Eingriffen zu schützen ist. Historischer Klang und historisch korrekte Spielweisen erscheinen dabei nicht selten als eine ebenso hypothetische wie dualistisch eindeutige Wahl zwischen divergenten Alternativen: Es gibt zum Beispiel einen Text von Christopher Hogwood, in dem dieser argumentiert, dass in den Menuett-Sätzen des 18. Jahrhunderts der Trioteil aufgrund des Fehlens explizit unterschiedlicher Tempovorgaben nicht langsamer gespielt werden sollte. Doch gibt es auch eine Stellungnahme in dieser Frage von Nikolaus Harnoncourt, der zum genau umgekehrten Schluss gelangt, weil sich das verlangsamte Tempo aus den Charakteren der einzelnen Tänze ableiten lasse und somit eine selbstverständliche Praxis war, die nicht explizit angegeben werden musste.

Die Historische Aufführungspraxis macht also alle Beschreibungen unhandlich, die aus einem Dualismus von Texttreue und Texteingriffen abgeleitet werden. Man erkennt das sehr schön daran, dass der Gegenpol zu den spezialisierten Ensembles für Alte Musik mit demselben Recht sowohl als »traditionelles Orchester« wie als »modernes Orchester« bezeichnet werden kann. Wenn aber die Moderne zugleich die Tradition ist, von der sich die Wiederentdeckung des Alten absetzen möchte, dann kann dieses Alte auch dem Geist der Moderne verpflichtet bleiben, und zwar genau dann, wenn diese Wiederentdeckung im Modus der Interpretation »antitraditionell« ist; dies ist der Begriff, mit dem Lars E. Laubhold in seiner Arbeit zur Aufnahmegeschichte von Beethovens 5. Sinfonie die Parallelen zwischen Historischer Aufführungspraxis und Neuer Sachlichkeit im Gegensatz zur Espressivo-Tradition markiert (deren eigene Verbindungen zum Expressionismus der Wiener Schule allerdings auch eine spezifische Form des Espressivo als Teil der Moderne erzeugen).

Als Zusammenfassung dieser bewusst zugespitzten Begriffsverwirrung lässt sich festhalten: Die musikwissenschaftliche Interpretationsforschung ist einerseits qualitativ zu wenig differenziert, weil sich scheinbar klare dualistische Kategorien nicht immer konsequent durchhalten lassen. Sie reagiert darauf mit einer andererseits manchmal schon zu großen quantitativen Differenzierung: Durch softwaregestützte Messmethoden wird vor allem die Tempogestaltung für jeden Moment einer Interpretation äußerst genau bestimmt, sodass derzeit grafische Darstellungswege und statistische Prinzipien die Interpretationsanalyse dominieren. Auf diese Weise wird es möglich, aus dem Vergleich zumeist sehr vieler Aufnahmen konkrete historische Tendenzen und grundlegende Gestaltungsmöglichkeiten abzuleiten. Die Beschreibung des individuellen Klangs einer bestimmten Interpretation tritt demgegenüber jedoch manchmal etwas in den Hintergrund. Das knapp gehaltene Porträt einer Persönlichkeit stellt also eine für die Methoden der Interpretationsforschung ungünstige Aufgabe dar: Weder die quantitative Objektivierung durch empirische Daten noch der Rückzug auf generalistische Grundkategorien scheinen besonders sinnvoll zu sein. Dieses Problem wird in den 250 Porträts durch zwei Strategien angepackt: Erstens werden die Schlagworte des Espressivo und der Neuen Sachlichkeit von Endurteilen zu Anfangsprämissen; man findet die beiden Begriffe zwar immer wieder aufgerufen, doch ist in jedem Fall klar, dass damit das entscheidende individuelle Merkmal des Porträtierten noch nicht formuliert sein kann. Zweitens kann die an empirischen Messungen gewonnene Sensibilität für Details einer Interpretation von dieser technologischen Basis auch wieder abgelöst werden: Es dürfte unzweifelhaft sein, dass viele der exakt gemessenen Beobachtungen auch als Bestätigung oder Kontrolle einer im Höreindruck erkennbaren Tendenz der Interpretation verstanden werden können (teilweise sogar wohl im Sinne einer »self-fulfilling prophecy«), sodass eine Beschreibung, die nicht der auf die Kommastelle genauen Klangausmessung verpflichtet sein will, sich auch weiterhin auf dieses Hörurteil verlassen darf.

|11| Eine solche Beschreibung stützt sich primär auf drei Kategorien, deren erste der zugrunde gelegte Text bleibt: Modifikationen der Instrumentation und andere Retuschen markieren oft erstaunlich genau die ästhetische Positionierung, die eine Interpretation innerhalb der gegebenen Möglichkeiten ihrer eigenen Gegenwart einnimmt (bis hin zur Rückkehr einstmals verbreiteter Retuschen bei Christian Thielemann oder Daniel Barenboim). Die zweite Kategorie ist die zugrunde gelegte »Theorie der Klangmittel«: Zusätzliche Verzierungen oder der Verzicht auf ein durchgängiges Vibrato markieren in diesem Fall eher die Position, die eine Interpretation in Bezug auf die vermutete Aufführungspraxis einer bestimmten vergangenen Epoche einnimmt. Die dritte Kategorie ist das zugrunde gelegte Tempokonzept: Kriterien hierbei sind das schnelle oder langsame Grundtempo, die Konstanz dieses Tempos für verschiedene Formsektionen und dessen agogische Handhabung in kleineren Ablaufeinheiten. Schnelle Tempi sind allerdings charakteristisch sowohl für die Frühzeit wie für die Gegenwart der Aufnahmegeschichte, während langsame Tempi sich zu allen Zeiten eher als das Merkmal einzelner Interpreten erweisen (deren individuelle »Aura« dann von einer sich auch im Tempo niederschlagenden »Erhabenheit« gespeist wird – man denke besonders an Sergiu Celibidache oder auch an die letzten Jahre von Lorin Maazel). Daher gibt es in allen Modi der Aufführung sowohl Neigungen einzelner Dirigenten zu exorbitant raschen bzw. zu auffällig langsamen Tempi, ebenso wie es anders als bei der Frage der Retuschen und der Wahl der Klangmittel einzelne Dirigenten gibt, die zur spontanen Änderung ihrer Tempopräferenzen neigen können. Der von der empirischen Forschung bevorzugte Aspekt der Tempogestaltung erscheint somit paradoxerweise oftmals sogar am wenigsten geeignet, die verschiedenen Schulen und Strategien der Aufführung klar voneinander zu trennen.

Die Beschreibung des individuellen Klangs stößt trotz dieser umfassenden Liste immer wieder zu jenem Punkt vor, an dem zwei Aufführungen sich mit denselben Grundkategorien versehen lassen, auch im Tempo ganz ähnlich sein können und dennoch einen deutlich unterschiedlichen Eindruck hinterlassen. Es erscheint illusorisch zu glauben, dass ein wirklich vollständiges Porträt eines Interpreten ohne die Thematisierung auch dieser Ebene zu erreichen ist, und es erscheint ebenso illusorisch, hier noch mit demselben Anspruch des rein objektiven Zusammentragens von analytischen Daten und historischen Fakten operieren zu können. Damit aber gerät mindestens dieser Teil der Beschreibung vom Spielfeld der Musikwissenschaft auch wieder auf das der Musikkritik.

III.

Über Dirigenten kann man nicht besonders gut schreiben. Der Unterschied zwischen dem informierten Experten und dem interessierten Publikum bleibt daher einerseits von zentraler Bedeutung für eine »seriöse« Rezensionskultur und scheint doch im Zeitalter der Online-Bewertungen auch immer mehr zu verschwinden. Somit gilt für das Schreiben über Musik und insbesondere für das Beschreiben eines individuellen Klangeindrucks: Je weniger man einen Feind besiegen kann, desto besser muss man ihn kennen. Dieser Feind sind nun aus Sicht der Musikwissenschaft die vielen Klischees und Manierismen einer allzu »subjektiven« Musikkritik. Es wäre aber verfehlt, lediglich die altbekannte und (anders als die Musikkritik selbst) substanzlose Herabwürdigung dieses anspruchsvollen Tagesgeschäfts hier weiter zu betreiben. Allerdings ist auch nicht zu leugnen, dass nach der Lektüre unzähliger Bücher und Rezensionen über einzelne Dirigenten der Eindruck sich verfestigen kann, dass zumindest die am stärksten klischeehaften Mittel, die bei der Metamorphose von Musik in Manuskripte auftreten, sich ebenso klar benennen wie relativ einfach zumindest etwas entschärfen lassen. Daher wird für die weitere Diskussion |12| dieser Klischees das vermutlich zwar verwerfliche, aber in der Sache sehr nützliche Mittel gewählt, aus einigen der Vorgängerwerke zum selben Thema besonders misslungene Satzkonstrukte anonym zu zitieren (die ernsthaft ausgesprochene Einladung, den fürchterlichsten Satz auch dieses Buches zu finden, ist damit natürlich verbunden).

Der schlimmste Feind eines sinnvollen Schreibens über Musik ist nun ganz eindeutig und mit großem Abstand die Adjektivhäufung. Hier ein typisches Beispiel: »Mit seinen akribisch detailpräzisen, klangsinnlich transparenten und bei allem Temperament stets kultiviert distanzierten Annäherungen an das romantische und spätromantische Repertoire hat Ozawa schon früh einen produktiven Mittelweg gefunden zwischen den Extremen einer hemmungslos pathetischen Emphase und einer sportiven Entschlackungsmanie.« So elegant dieser Satz darin ist, dass er einzelne Alliterationen über die Adjektive hinweg bildet und das formale Mittel der Doppelung der Attribute gar noch auf das Repertoire ausdehnt, so offenkundig ist doch auch, dass hier mit sehr vielen dieser Attribute insgesamt sehr wenig gesagt wird, sondern lediglich die immer besonders undankbare Einordnung eines Dirigenten in den Mainstream der Interpretation erfolgt. Eine solche Auflistung von Attributen verweist über das einzelne Beispiel darauf, dass der durch das Gehör verarbeitete Klang sich bei seiner sprachlichen Fixierung eher dem ganz subjektiven Geruchs- und Geschmackssinn zuordnet (statt wie das analysierbare Partitur-Bild dem rationalen »Gesichtssinn«). Die Folge ist, dass Sinfonien weniger wie Bücher und eher wie Duschgel beworben werden – je ungenauer das einzelne Attribut seinen Gegenstand beschreiben kann, desto stärker etabliert sich die Strategie, ein Produkt mit mehr als einem dieser Attribute zu beschreiben: Lavendel-Vanille oder Apfel-Aloe Vera als Duftrichtungen sind die wahren rhetorischen Parallelen von kristallin-transparenten oder subjektiverhabenen Interpretationen. Die Adjektivhäufungen zielen dabei zumeist nicht auf Tautologien (auch wenn im Zitat unklar bleibt, wie man sich akribische, aber im Detail total unpräzise Annäherungen an die Romantik vorzustellen hat), sondern auf latente Gegensätze (die man im Zitat zwischen klangsinnlich und transparent erspüren kann). Auf diese Weise werden zwei Dinge garantiert: Erstens heben die Attribute sich wechselseitig auf und verbleiben in jenem Ungefähren, das auch das beschriebene Produkt kennzeichnet. Zweitens schmiegt sich die Beschreibung dem subjektiven, aber womöglich ganz anders gewichtenden Eindruck der hörenden bzw. riechenden Rezipienten vorweg an. Eine besonders enervierende Strategie zur Absicherung dieser beiden Ziele ist es, Adjektive direkt kompensierend aufeinander zu beziehen: Interpretationen sind gefühlvoll, ohne sentimental zu sein, sie sind analytisch, ohne trocken zu werden, sie sind emotional, ohne die Kontrolle zu verlieren. Ein beeindruckendes Beispiel, wie dabei selbst durch schroffe Gegensätze nicht der Verdacht des Lesers geweckt, sondern seine Voreingenommenheit bestätigt wird, findet sich im folgenden kombinierten Zitat: »Levines Mozart-Auslegung, von der Karl Schuman [sic] (in Klassik-Akzente 7/86) so treffend schreibt, sie sei ›tiefsinnig und naiv verspielt, saftig und voll Grazie, ungestüm musikantisch und durchdacht‹ (man wird zustimmen müssen, dass nur ein genialer Mensch derart gegensätzliche Eigenschaften zugleich aktivieren kann) […]«

Das oberste Gebot zur Verbesserung des Schreibens über Musik lautet also, zumindest hier und da den Mut zu besitzen, ein einzelnes Adjektiv als das am besten passende Attribut auszuwählen und dort, wo mehrere Attribute aneinandergekoppelt werden, verstärkt darauf zu achten, dass diese tatsächlich einander sinnvoll ergänzende Informationen über die Interpretation enthalten. Das Risiko im Befolgen eines solchen Ratschlags ist, dass mit dem exponierten Aussagekern sofort auch der subjektive Anteil der Sprache wieder zu steigen scheint. Daher gibt es als zweites zentrales |13| Klischee des Schreibens über Musik ein Bemühen, all das in den Vordergrund zu rücken, was zugunsten einer scheinbar objektiven Berichterstattung die direkte Beschreibung des Klangs von vornherein vermeidet. Was dabei schiefgehen kann, zeigt komprimiert der folgende Satz: »Die Besonderheit der Aufnahme beruht darauf, dass Zinman, wie vor ihm Abbado, Mackerras, Rattle oder Gardiner, die Werke in der Urtextversion des Briten Jonathan Del Mar dirigierte – mit einer zuweilen an Eigenmächtigkeit grenzenden musikalischen Freiheit.« Auch zu großer Schüchternheit neigende Studenten haben in einem Seminar über das Dirigieren feststellen können, dass dieser eine Satz gleich zwei eklatante Widersprüche enthält: Wenn viele andere Dirigenten bereits dieselbe Edition verwendet haben, kann das nicht die Besonderheit der Aufnahme sein, und wenn der Dirigent mit großer Eigenmächtigkeit vorgeht, erscheint es egal, an welche Edition er sich nicht hält. Sobald also der vermeintlich sichere Boden einer objektiven Aussage über nachprüfbare Fakten eines optisch-rationalen Texts erreicht ist, fällt manchmal jegliche Kontrolle über die Angemessenheit dieser Aussage in Relation zum klanglichen Resultat fort (im vorliegenden Fall scheint das Werbeetikett der mit der neuen Edition beworbenen CD den Rezensenten dazu zu verführen, aus Unterschieden, die selbst absolute Experten nicht zwingend wahrnehmen, jene einzig berichtenswerte Begebenheit zu machen, die dann alles tatsächlich Interessante der Aufnahme verdeckt).

Die zweite zentrale Lektion für das Schreiben über Musik lautet also, solche Fluchtversuche nicht allzu häufig oder offenkundig durchzuführen. Diese Lektion ist für Musikwissenschaftler fatal, die, werden sie gezwungen, sich über individuelle Aufnahmen zu äußern, eine geradezu panische Neigung entwickeln, erneut über alles zu reden, aber nicht über die Musik. Besonders penetrant ist hier die Formulierung »Die Kritik spricht von …«, durch die suggeriert wird, der klangliche Eindruck einer Tonaufnahme sei nicht bis heute verfügbar, sondern müsse wie im Fall anderer philologischer Fragestellungen mühsam aus Sekundärquellen rekonstruiert werden. Doch genau das ist das Problem: Die Tatsache, dass Aussagen, die über Aufnahmen getroffen werden, einerseits immer subjektiv erscheinen, aber andererseits jederzeit durch andere objektiv nachvollzogen werden können, führt dazu, dass im besten Fall diplomatische, im schlimmsten Fall einfach nur denkfaule Lösungen eines strategischen Nichtssagens dominieren.

Der für dieses Buch gewählte Weg der Beschreibung des Klangs basiert auf einem einzigen und recht einfachen rhetorischen Trick: Die Artikel kombinieren einzelne Aussagen, die in Relation zu den üblichen Rezensionsweisen noch stärker »subjektiv« erscheinen müssen, mit solchen Passagen, die in ihrer analytischen Ausrichtung schon wieder zu »objektiv« erscheinen können. Für den Aufbau und die Anlage der Artikel gilt dabei vor allem der Grundsatz, die stärker analytischen Aussagen weder ganz zu unterdrücken noch ganz dominieren zu lassen. Stattdessen ist in den Porträts hoffentlich ein Bemühen zu erkennen, bei der Suche nach neuen Metapherngebäuden für das Schreiben in der Zweizimmerwohnung zu etwas stärker individuell eingerichteten Aufenthaltsräumen zu gelangen.

IV.

Mit dem Handbuch Dirigenten wird erstmals (und zwar über den deutschsprachigen Raum hinaus) die Kombination eines »subjektiven« und eines »objektiven« Dirigentenbuchs vorgelegt. Ein »objektives« Dirigentenbuch beschränkt sich weitgehend auf die biografischen Rahmendaten, während zum Interpretationsstil maximal eine knapp gehaltene Würdigung formuliert wird (ein weitverbreitetes Beispiel ist das Interpretenlexikon von Alain Pâris). Ein »subjektives« Dirigentenbuch konzentriert sich umgekehrt auf die Beschreibung der künstlerischen Arbeit und der klanglichen Ästhetik der einzelnen Interpreten (ein Standardwerk |14| ist hier Harold C. Schonbergs The Great Conductors). Der stärker umfassende Anspruch der Dirigentenporträts in diesem Buch resultiert also zum einen daraus, dass zunächst in einem Datenkopf die biografischen Angaben zur Verfügung gestellt werden, aber auch eine Würdigung der künstlerischen Persönlichkeit formuliert wird. Zum anderen ist mit der Zahl von 250 dieser Porträts ein gegenüber früheren Kompendien deutlich vergrößerter Umfang vorgegeben. Diese Gesamtzahl ergibt sich als hoffentlich glücklicher Kompromiss zwischen der für ein kompaktes Buch sinnvollen Maximalzahl und dem Wissen darum, dass allein schon im Blick auf die gegenwärtige Tonträgerproduktion weit mehr Namen einen Einschluss verdient gehabt hätten.

Es sind im Wesentlichen drei Kriterien, nach denen die Auswahl der 250 Dirigenten erfolgt ist. Erstens die diskografische Präsenz, wodurch verdiente Stützen des gegenwärtigen Musiklebens fehlen, aber viele Dirigenten erstmals eine Würdigung erhalten, die jedem CD-Sammler bekannt sind und die in ihrem Engagement jenseits der Major-Labels, des zentralen Repertoirekanons und auch der großen Musikzentren bislang in ihrer Bedeutung nicht zuletzt in solchen Kompendien sträflich unterschätzt worden sind. Es werden auch einzelne Dirigenten aus der Zeit vor Beginn der Tonaufzeichnung einbezogen, während mit Richard Strauss oder Robert Kajanus wichtige Namen aus der ersten Ära der Tonaufnahme fehlen, wenn ihre Darstellung sich zu sehr mit ihrem eigenen Komponieren oder dem Einsatz nur für einen Komponisten verbindet (wie Sibelius im Fall von Kajanus). Das zweite Kriterium ist die Bevorzugung ungewöhnlicher Biografien oder besonderer Repertoirepräferenzen gegenüber dem »soliden Kapellmeister«: Es fehlen Ferdinand Leitner oder Horst Stein, während der Einbezug von Wyn Morris oder Reginald Goodall vielleicht selbst diejenigen Leser überrascht, die mit diesen Namen etwas anfangen können. Das dritte Kriterium ist die immer auch subjektive Einschätzung für oder gegen einen Interpreten im Kontext lokaler und zeitgebundener Aufführungskulturen: So findet man keinen Artikel über Libor Pešek, aber sehr wohl über den weniger bekannten Karel Šejna, weil dieser stärker eine bestimmte Aufführungstradition tschechischer Musik zu repräsentieren scheint.

Die Auswahl der Angaben im Datenkopf wiederum versteht sich als komplementäre Ergänzung dessen, was in Agenturbiografien an Informationen gegeben wird: Es fehlen Listen von Spitzenorchestern, die der jeweilige Dirigent in der jüngeren Vergangenheit dirigiert hat, und ebenso ist der Verweis auf die sehr berechenbar aus kommerziellen (oder manchmal auch anti-kommerziellen) Gründen verliehenen Schallplattenpreise auf ein Minimum reduziert. Den zentralen Datensatz erzeugen (und dies unterscheidet sich stark von Pianisten oder Sängern) somit die festen Verbindungen der Dirigenten mit einzelnen Orchestern und Opernhäusern. Es ist allerdings an dieser Stelle auch ein Exkurs zur Recherche und zur Art der Angabe dieser Daten notwendig. Es gibt im Wesentlichen drei Probleme, die das Vorhandensein voneinander abweichender Angaben in den Biografien von Dirigenten nahezu zum Regelfall machen. Das erste Problem ist die unklare Unterscheidung zwischen dem Datum der Ernennung und dem tatsächlichen Amtsantritt bei einer bestimmten Institution bzw. die noch stärker grassierende Untugend, die vor oder nach einer Amtszeit oftmals bestehenden Vakanzjahre mit hinzuzurechnen. Es wurden hier im Regelfall einzig die realen Amtszeiten zugrunde gelegt; zudem werden missverständliche Angaben wie »er wird ernannt« nur dort eingesetzt, wo sie den Bezug eben auf das alternative Datum explizit machen sollen.

Der zweite Grund für das Kursieren unterschiedlicher Daten dürfte in der Kombination von gegensätzlichen Quellenarten begründet sein: Schwer erhältliche, aber ausführliche Biografien stehen neben zwar leicht zugänglichen, aber kaum immer zuverlässigen Online-Portalen. Die vorbildlichen Archivseiten einzelner |15| Aufführungsdatenbanken (etwa der Metropolitan Opera oder der Wiener Staatsoper), aber auch liebevolle Fan-Seiten und archivierte Zeitungsartikel können jedoch zur Aufdeckung verbreiteter falscher Daten sehr hilfreich sein. Die Hoffnung auf eine insgesamt etwas bessere Zuverlässigkeit der versammelten Angaben leitet sich daraus ab, dass diese beiden Quellenarten, wo immer es möglich gewesen ist, konsequenter als bislang miteinander vernetzt worden sind. Dennoch sind Formulierungen, in denen Daten bewusst unterdrückt scheinen, auch als Hinweis darauf zu lesen, dass die teils lange Recherche zur Eruierung einer einzelnen Angabe nicht in jedem Fall erfolgreich sein konnte. Wer immer hier aus erster Hand etwas korrigieren oder ergänzen kann, möge bitte die Herausgeber kontaktieren!

Der dritte Grund, der leider auch noch erwähnt werden muss, ist der unangenehm hohe Einfluss, den die Jahre des Faschismus auf die Biografie einer exorbitanten Zahl der hier versammelten Dirigenten ausgeübt haben: So finden sich unter den 250 Porträtierten ein Auschwitz-Überlebender und ein Auschwitz-Leugner, vor allem aber viele Lebenswege, die in der Grauzone zwischen persönlicher Schuld und schicksalhaften Zeitumständen anzusiedeln sind. Dirigenten bleiben als öffentliche Personen jedoch die Angelegenheit von Spezialisten, sodass selbst rezente Biografien die Tendenz aufweisen können, dass der Autor, der sich in jahrelanger Arbeit einem einzelnen Dirigenten widmet, eher in Sympathie zugunsten seines Favoriten argumentieren wird, auch eher an der Musik als an der Politik interessiert sein dürfte und (vorsichtig formuliert) nicht unbedingt ein überzeugter Anhänger von allen Ideen der Aufklärung sein muss. Die am leichtesten verfügbaren Informationen erzeugt daher bis heute oftmals das altbewährte Mittel der Anschwärzung: Wer wissen will, was André Cluytens im Vichy-Regime gemacht hat, muss nur eine Biografie über Charles Munch zur Hand nehmen, wer einen Hinweis darauf sucht, dass Hans Swarowsky trotz seiner Kontakte wohl auch zu Widerstandskreisen in Krakau ein Orchester von zwangsweise rekrutierten Musikern dirigiert hat, findet ihn zuverlässig in der Biografie über Joseph Keilberth. Es wurde daher die pragmatische Grundlinie gewählt, in keiner der Biografien solche faktischen Angaben zu unterschlagen, aber auch keines der Porträts auf die politische Seite zu reduzieren. Die Einspielungen eines dem Faschismus zugeneigten Dirigenten gehören zusammen mit den Einspielungen eines Emigranten derselben Geschichte der musikalischen Interpretation an und besitzen dasselbe Recht, weder ganz ohne ihren Kontext noch einzig aus ihrem Kontext heraus gehört zu werden.

Die im Datenanhang der einzelnen Artikel zur Verfügung gestellten Angaben schließlich umfassen (als individueller Zuschnitt für jeden Dirigenten) die Kategorien »Tonträger«, »Bildmedien«, »Kompositionen«, »Bearbeitungen«, »Editionen«, »Schriften«, »Literatur« und »Webpräsenz«. Zentral für jedes Dirigentenbuch ist offenkundig der Umgang mit der Kategorie der Tonträger, die wie ein Ausstellungskatalog oder eine Werkausgabe das bleibende Vermächtnis für diesen künstlerischen Beruf darstellen. Die Angabe vollständiger Diskografien ist nicht möglich, da diese in vielen Fällen den Umfang eines eigenen Buches annehmen. Der Verzicht auf eine Auswahldiskografie erscheint genauso inakzeptabel, weshalb als Kompromiss jene Aussagekräftigkeit angestrebt wurde, die aus der Begrenzung auf zumeist fünf bis fünfzehn ausgewählte Tonträger entsteht. Die Auswahl begründet sich dabei auch aus der Erhältlichkeit, vor allem aber aus der Erstellung eines möglichst vielfältigen Ausschnitts, der frühe und späte Einspielungen, die Arbeit mit verschiedenen Orchestern und Labels sowie Werke unterschiedlicher Gattungen und Epochen repräsentieren soll. Zugleich versteht die Auswahl sich ausdrücklich auch als Trennung des besser Gelungenen vom eher weniger Gelungenen. Eine solche bewusste Selektivität soll dem Leser reizvolle Lektürewege ermöglichen: Der Abgleich mit der eigenen Favoritenliste für den |16| Experten ist ebenso intendiert wie der erste Einstieg für den Novizen, der einmal etwas von einem bestimmten Dirigenten hören möchte. Die Bevorzugung einer repräsentativen Auswahl von Einzelaufnahmen verbindet sich dabei mit dem Bewusstsein, dass in Zeiten immer schneller auf den Markt geworfener und ebenso schnell wieder vergriffener Editionen, die zudem in Konkurrenz zu legalen und nicht ganz so legalen Online-Angeboten stehen, nur ein Verweis auf das originale Aufnahmedatum (und oft zudem die originale oder die am längsten verbreitete statt der aktuellen Kopplung) Zuverlässigkeit besitzt.