Entdecke die Welt der Piper Fantasy:
Gewidmet all denen, die auch
ein Herz für die Schurken haben –
solange die Schurken
mit dem gewissen Etwas daherkommen.
© Piper Verlag GmbH, München 2009
Dieser Roman wurde vermittelt durch:
AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur
www.ava-international.de
Karte: Guter Punkt, München | Markus Weber
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Coverabbildung: Vadim Soltus
Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Die Albae
Nagsar und Nagsor Inàste, die Unauslöschlichen
Sinthoras, Albae-Krieger (Kometen)
Demenion, Politiker (Kometen)
Khlotòn, Politiker (Kometen)
Rashànras, Politiker (Kometen)
Yantarai, Künstlerin
Timānris, Künstlerin
Robonor, Krieger und ihr Gefährte
Timānsor, Timānris’ Vater und Künstler
Hirai, seine Gemahlin
Jiphulor, Politiker (neutral)
Helòhfor, Seelenberührer
Caphalor, Albae-Krieger (Gestirne)
Enoïla, Caphalors Gefährtin
Tarlesa, Tochter
Olíron, Sohn
Aïsolon, Freund von Caphalor (Gestirne)
Mórcass, Händler
Die Menschen
Raleeha, Sklavin bei den Albae
Kaila, Sklavenaufseherin bei Sinthoras
Wirian, Sklavin bei Sinthoras
Quanlot, Sklave
Grumson, Sklave bei Caphalor
Longin, Sklave bei Mórcass
Kuschnar, Sklave bei Mórcass
Hasban der Siebenstarke, Fürst der Windsöhne (Barbarenstamm)
Farron Lotor, Barbarenfürst der Ishmanti
Armon, Barbarenfürst der Herumiten
Vittran, Vorsteher der Barbarenvasallen
Kreaturen
Munumon, König der Fflecx
Jufula, eines seiner Liebchen
Sardaî, reinrassiger Nachtmahr
Linschibog, Fflecx
Gålran Zhadar, zwergenähnliches Wesen, magiebegabt
Dafirmas, Elb und Handlanger des Gålran Zhadar
Rambarz, Halbtroll und Handlanger des Gålran Zhadar
Karjuna, eine Obboona
Uoilik, Fürst der Jeembina
Tarrlagg, Vorsteher der Vasallen-Óarcos
Gattalind, Strategin der Riesen
Sonstiges
Óarco, Ork
Fflecx, auch Alchemikanten und Giftmischer genannt. Ein gnomenartiges Volk mit schwarzer Haut
Gålran Zhadar, zwergenähnliches Volk, magisch
Obboon, menschenähnliches Volk, auch Fleischdiebe genannt
Tandruu, ein Barbarenstamm
Botoiker, ein latent magisches Volk im Westen von Ishím Voróo
Baro, ein Raubtier von großer Seltenheit
Kimarbock, männliches Rehwild
Wuzack, durch Substanzen geschaffenes Kunstwesen der Fflecx
Jeembina, Krebs-Mensch-Mischvolk
Gramal Dunai, vernichtetes Barbarenvolk
Phaiu Su, blutsaugende Gespinstwesen
Cnutar, Symbionten, die aus drei Einheiten bestehen, die nach Belieben miteinander verschmelzen und sich trennen können
Nostàroi, höchster Feldherr der Albae
Herumiten, Jomoniker, Ishmanti, Fatarker, Barbarenvölker
Gardant, Anführer einer Gardetruppe
Phondrasôn, unterirdischer Verbannungsort
Tark Draan, Hort des Abschaums (Geborgenes Land)
Schronz, -en, Schimpfwort; Volldepp
Man sagt, sie seien grausamer als jedes andere bekannte Volk.
Man sagt, der Hass gegen die Elben, Menschen, Zwerge und alle anderen Geschöpfe rinne schwarz durch ihre Adern und zeige sich im entlarvenden Licht der Sonne in den Augen.
Man sagt, sie hätten ihr Dasein ganz dem Tod und der Kunst gewidmet.
Man sagt, sie würden schwarze Magie beherrschen.
Man sagt, sie seien unsterblich …
Vieles wurde über das Volk der Albae verkündet.
Nun lest die folgenden Geschichten und entscheidet danach selbst, was davon der Wahrheit entspricht und was nicht.
Es sind Geschichten von unsäglichem Gräuel, von unvorstellbaren Schlachten, größter Niedertracht, grandiosen Triumphen und vernichtenden Niederlagen.
Aber auch von Mut, Aufrichtigkeit und Tapferkeit.
Von Freundschaft.
Und Liebe.
Dies sind die Legenden der Albae.
Unbekannter Verfasser,
Vorwort aus den verbotenen, die Wahrheit verklärenden Büchern
Die Legenden der Albae, undatiert
Nagsor Inàste und Nagsar Inàste, das unauslöschliche Geschwisterpaar, suchten eine Bleibe für sich und ihre Auserwählten.
Sie irrten umher, waren umgeben von Wilden, von Hässlichkeit, von abscheulichen Kreaturen, die ihnen die Götter Shmoolbin, Fadhasi und Woltonn entgegenwarfen, um sie zu vernichten. Sie gaben diesem Ort den Namen Ishím Voróo – allgegenwärtige Abscheulichkeit.
Epokryphen der Schöpferin,
1. Buch, Kapitel 1, 1–7
Ishím Voróo (Jenseitiges Land), Albae-Reich Dsôn Faïmon, Strahlarm Avaris, 4370. Teil der Unendlichkeit (5198. Sonnenzyklus), Sommer
Die Vorfreude pulsierte in Sinthoras, berauschte ihn.
Alles in ihm drängte danach, den Pinsel zu ergreifen, die Borsten in die Farbe zu tauchen und die Eingebung seine Hand führen zu lassen.
Aber noch durfte er nicht beginnen.
Er machte einen hastigen Schritt zurück, weg von der Staffelei, und betrachtete die düstere Grundierung. Lückenlos und gleichmäßig überzog sie die feinporige Leinwand und war bereit. Bereit, dass er etwas Einmaliges auf ihr schuf.
Sinthoras goss sich ein Glas roten Wein ein, nippte daran und stellte ihn zur Seite. So sehr er ihn liebte und üblicherweise beim Malen davon trank, heute sagte er ihm nicht zu. Er war zu aufgeregt.
»Ausgezeichnet«, raunte er mit leuchtenden Augen und schlug die zitternden Hände fest zusammen, um nicht doch nach dem Pinsel zu langen.
Lautes Klatschen hallte durch den hohen Raum mit dem großen Fenster, durch welches das Sonnenlicht fiel; das Glas war in einem leichten Blau getönt. Lüftungsklappen ließen frische Luft herein. Entlang der Zimmerwände standen fünf Schritt hohe Regale voller verschlossener Gläser in verschiedensten Größen, gefüllt mit flüssigen und festen Ingredienzen, Pigmenten, Farben und Mischungen, die er zum Malen benötigte. Alle waren kostbar, manche extrem selten und einige unbezahlbar. Nur mithilfe einer langen Leiter, die auf Rollen hin und her geschoben werden konnte, waren die obersten Regale zu erreichen.
Sinthoras strich erhobenen Hauptes um die Staffelei, Ungeduld und Tatendrang trieben ihn an. Das weite, dunkelrote Gewand mit den schwarzen und weißen Stickereien darauf bewegte sich fließend, gleich der Oberfläche eines Sees. Hier und da waren Farbflecken darauf zu sehen, manche älter, manche frisch. Zeugen seines Schaffens.
Er hatte die langen blonden Haare zu einem Zopf gebunden, damit sie nicht aus Versehen in Berührung mit der Farbe auf der Palette oder dem Bild kamen. Das betonte sein schlankes, hübsches Gesicht zusätzlich; die Ohrmuscheln liefen spitz zu und zeigten, dass seine Schönheit nicht menschlicher Natur war.
Sinthoras trat an das Fenster und öffnete die Flügel. Das vergehende Sonnenlicht fiel herein, auf die Staffelei und auf ihn, und seine Augen färbten sich auf der Stelle schwarz und wurden zu dunklen Löchern. Tief atmete er die hereinströmende Luft ein.
Samusin erweist mir seine Gunst, dachte er und spürte den belebenden Ostwind auf seinem Gesicht. Die leichte Böe trug den Geruch von frischen Blüten mit sich; einzelne weiße Blätter wirbelten in den Raum und ließen sich auf dem dunklen Steinboden nieder.
Es pochte gegen die Eingangstür. »Der Gott der Winde ist mit Euch«, hörte er die Stimme eines Albs gleich darauf sagen. »Er sandte seinen belebenden Ostwind, um Euer Einfühlungsvermögen zu stärken.«
Sinthoras wandte sich um und verneigte sich vor dem rothaarigen Alb, der auf der Türschwelle stand; ein schwarzbrauner Mantel verbarg seine Kleidung. »Ich danke Euch, dass Ihr meine Malerei mit dem Eurigen Talent unterstützt, Helòhfor. Erst Ihr werdet es zu einer Besonderheit machen.«
Helòhfor trat in den Raum, zwei Sklaven in schlichten, grauen Kleidern folgten ihm. Dem Körperbau nach waren es Menschen; der Alb hatte ihre hässlichen, groben Züge, die man kaum Gesicht nennen durfte, mit einem Schleier versehen. Niemand, der Anstand besaß, ließ die Sklaven unbedeckt in der Stadt herumlaufen.
Einer der beiden nahm Helòhfor den Mantel ab, sodass sein schwarzes Seidengewand mit den dunkelroten Ziersäumen zum Vorschein kam. Der andere trug einen großen Koffer und stellte ihn auf ein Zeichen von Sinthoras neben einem Sessel ab. Dann sandte Helòhfor die Sklaven hinaus und setzte sich. Aufmerksam betrachtete er seinen Gastgeber, die Arme locker auf die Lehnen gelegt. »Ihr seid Euch sicher, dass Ihr das wollt, Sinthoras?«
»Unbedingt«, kam es ohne zu zögern über seine Lippen. »Ich bin begierig zu erfahren, was geschieht, wenn ich meinen Schaffensdrang mit der Wirkung der Töne eines Seelenberührers verbinde.«
»Nun, das vermag selbst ich nicht vorherzusagen. Ein jeder Alb empfindet sie anders.« Helòhfor richtete die schwarzen Augen auf Sinthoras, den er mit Blicken prüfte. »Ihr könnt in Trance verfallen und steif wie ein Stock dastehen. Ihr könnt von dem Wunsch beseelt werden, durch das Fenster zu springen und in die Tiefe stürzen zu wollen. Oder Ihr werdet nach Blut lechzen.« Der Seelenberührer sah zur Leinwand. »Dass Ihr in diesem Zustand ein Bild vollendet, ist eine Möglichkeit von vielen.«
»Tut es, Helòhfor!«, drängte Sinthoras in einer Mischung aus Bitten, Befehl und Verlangen. Er war sich der Unhöflichkeit bewusst, konnte sich aber nicht dagegen wehren. Er wollte unbedingt ein Werk schaffen, das die Bilder der anderen Maler in Avaris ausstach. Alle sollten sehen, dass er nicht nur ein ausgezeichneter Krieger, sondern ein unvergleichlicher Künstler war. »Tut es«, fügte er sanfter hinzu und eilte zur Leinwand.
Eine einzige Farbe würde die Leinwand berühren, nur eine einzige! Doch gerade sie würde sein Schaffen vollkommen machen. Vollkommen und unnachahmlich. Behutsam entfernte er den Verschluss und sah das Dunkelgelb aufleuchten. Sinthoras schauderte, ergriff einen dicken Pinsel und blickte erwartungsvoll und ungeduldig zugleich zum Seelenberührer.
Helòhfor hatte den Koffer geöffnet und sein Instrument herausgenommen. Der Korpus war aus einem Rückgrat gefertigt worden, die Wirbel mit Silberelementen aneinandergefügt. Ventile saßen darauf, über dünne Drähte teilweise miteinander verbunden. Verschiedene Bohrungen waren in die Knochenstücke getrieben worden. Der Alb nahm weitere Teile heraus, metallische, gläserne, knöcherne, und steckte sie unter leisem Murmeln in Bohrungen; schließlich goss Helòhfor eine bräunliche Flüssigkeit in ein bauchiges Gefäß und schraubte es an das Ende des Wirbelkorpus.
Auch wenn Sinthoras jeden Handgriff des Seelenberührers verfolgte, entging ihm nicht, wie genau die Teile des Instruments ineinandergriffen. Ohne eine lange Unterweisung durch einen Meister vermochte kein Alb und schon gar kein anderes Wesen darauf zu spielen. Die Flüssigkeit, so sagte man, sei die Essenz aus dem Gehirnwasser vieler Toter, in dem all deren Träume und Gedanken steckten. Durch die Schwingung der Töne entfalteten sie ihre Macht und wirkten auf den Verstand des Zuhörers ein.
»Empfangt die treibende Macht der Toten und des Todes selbst, Sinthoras. Samusin schütze Eure Seele«, raunte er und setzte die Lippen an das Mundstück. Sanft legten sich seine Fingerkuppen auf die Klappen.
Helòhfor blies sachte hinein, und ein schriller Ton schwoll an. Die Flüssigkeit brodelte zaghaft, dann immer heftiger, als würde sie gekocht. Dampf stieg auf, den Sinthoras in den gläsernen Elementen wirbeln sah. Durch Helòhfors Spiel schienen gleich mehrere Luftströme auf einmal in das Instrument gezogen zu werden und hohe, unpassende Töne gleichzeitig zu erschaffen.
Sinthoras’ Härchen auf den Armen und im Nacken richteten sich auf, und ein gleißender Schmerz stach ihn hinter den Augen, blendete ihn. Keuchend hielt er den Qualen stand. Plötzlich veränderten sich die Laute und wurden zu einer wundersamen Melodie.
Energie jagte durch seinen Körper, ausgesandt von seinem Kopf, und er sah seinen Finger von blauem Licht umfangen. Der Ostwind streichelte seine Züge und hauchte ihm die Inspiration ein, die er benötigte.
Sinthoras sah sich selbst zu, wie er den Pinsel in das Gefäß tunkte, die Borsten sich vollsaugen ließ und die Hand dorthin führte, wo es passend erschien. Das Göttliche lenkte ihn, seine Seele und den Ostwind zu den überirdischen Klängen.
Langsam glitt die feine Spitze des dicken, bauschigen Pinsels über die Leinwand und hinterließ auf der finsteren Grundierung eine dunkelgelbe, gerade Linie, die dünn und dünner wurde. Sinthoras hörte das leise reibende Geräusch, mit dem sich der Rest der Farbe auf den Untergrund übertrug.
Die Farbe glich einer Mischung aus geschmolzenem öligem Gold mit einem Hauch schwarzem Tionium; sie schimmerte metallisch, und doch steckte Leben in diesem außergewöhnlichen Dunkelgelb. Flüssig gewordene Lebendigkeit mit bedrohlicher Strahlkraft.
Die Härchen zuckten mit einer schwungvollen Bewegung nach rechts und wurden dann ruckartig zurückgezogen. Der Strich war dabei schwächer geworden und abgerissen. Unvollständig!
Aber Sinthoras wusste, was dem Werk noch fehlte.
Er sah es vollendet vor sich und hörte schon, wie sein Name dafür voller Neid, voller Anerkennung und Bewunderung von anderen ausgesprochen wurde.
Die Pinselspitze schwebte hinüber zu einem Tiegel, fuhr hinein und wurde zurückgezogen. Nur ein verschwindend geringer Rest der einmaligen Farbe haftete daran.
Zu wenig! Sinthoras’ harmonischer Zustand erhielt einen Riss, eine klaffende Wunde, aus der seine Eingebung strömte und verging. Zu wenig! Nun geriet sein Bild in Gefahr. »Raleeha!«, gellte sein Ruf zur halb geöffneten Zimmertür hinaus.
Zu seinem eigenen Erstaunen folgte seine Seele der Stimme, als schleudere er sie von sich, während sein Leib an der Staffelei verharrte.
Sein Ruf flog durch den Gang, an dessen Steinholzwänden Gemälde voll düsterer Schönheit hingen, und drang durch das kunstvoll geschnitzte Holz eines zweiflügeligen Portals, auf dem eine Schlachtenszene verewigt worden war.
Weiter sah er nicht.
Die rechte Hälfte des Portals wurde aufgestoßen. Eine hochgewachsene, junge Menschenfrau in einem engen dunkelgrauen Kleid eilte hindurch und hetzte zur Kammer, in der er seine Bilder zu malen pflegte.
Seine Seele folgte ihr, umschwirrte sie.
Nach menschlichen Maßstäben war sie unnatürlich schön, weswegen sie keinen Schleier tragen musste. Sogar Elben hätten anerkennend den Mund verzogen und eingestehen müssen, dass sie sich beinahe mit ihren Schönsten messen konnte. Doch in ihren blauen Augen standen Tränen, und die schwarzen Haare wehten wie ein Trauerschleier hinter ihr her. Um ihren Hals lag das lederne Sklavenband mit den drei filigranen Silberschnallen, das ihr die Kehle so weit abschnürte, dass sie nur mit Müh und Not Luft holen konnte. Essen und trinken durfte sie sowieso nur auf sein Geheiß.
Raleeha erreichte die halb geöffnete Tür, durch die Licht in den Gang fiel und hinter der ihr Gebieter weilte. Sie pochte dagegen und wartete, dass ihr die Erlaubnis erteilt wurde, die Kammer zu betreten. Täte sie dies ohne seine Aufforderung, so würde es ihren Tod bedeuten. Das hatte er ihr selbst eingeschärft. Raleehas Vorgängerin hatte eine solche Gedankenlosigkeit mit dem Leben bezahlt, nachdem sie ihm einen ganzen Teil der Unendlichkeit gedient hatte. Er vergab Menschen nichts.
Faszinierend fand der Alb, dass sein derzeitiger Blickwinkel ihm mehr über sie verriet: Der Tonfall seines Rufs hatte sie vor seiner Unzufriedenheit gewarnt, und das betrübte und beunruhigte sie gleichermaßen.
Die Musik in der Kammer war verstummt. Helòhfor hatte aufgehört zu spielen, da er spürte, dass etwas nicht nach dem Gefallen des Hausherrn verlief.
Etwas zog Sinthoras’ Seele durch die Tür und zwang ihn in seinen Körper zurück. Die Seelenreise war zu Ende, ohne dass er sein Werk hatte beenden können. Durch ihre Schuld!
»Komm«, befahl er Raleeha mit sanfter Stimme, um sie in Sicherheit zu wiegen. Seine Aufgebrachtheit würde er ihr nicht zeigen. Noch nicht.
Zitternd öffnete sie die Tür, senkte den Blick und trat hinein. Ansehen durfte sie ihn nicht. Nicht ohne Erlaubnis.
»Gebieter, wie kann ich Euch zu Willen sein?«
»Raleeha, ich hatte dir gesagt, dass du mich in Kenntnis setzen sollst, wenn der Vorrat an Pirogand-Gelb zur Neige geht«, sagte er milde und weidete sich an ihrer wachsenden Furcht. Ihr wurde sicherlich eiskalt. Sie hatte einen Fehler begangen, und er war zu freundlich zu ihr! Sie musste annehmen, dass ihr Schicksal nun besiegelt war.
Bebend schloss sie die Augen. »Tötet mich rasch, Gebieter«, bat sie und biss sich auf die Unterlippe, um ihr Schluchzen zu unterdrücken. »Die Ahnen der Lotor werden mich hoffentlich gnädig empfangen.«
»Das Pirogand-Gelb, Raleeha.« Sinthoras fühlte sich noch immer berauscht. Auch wenn seine Seele nicht mehr schwebte, sein Verstand tat es. Er roch Raleehas Angst wie einen süßen, betörenden Duft.
»Mein Versäumnis, Gebieter.« Sie warf sich vor ihm zu Boden. »Ich hielt den Tiegel für zu einem Drittel gefüllt. Meine Augen haben mich getäuscht, Gebieter.«
Sinthoras trat auf sie zu. Man hörte einen Alb nie, wenn er es nicht wollte, eine von vielen wunderbaren Eigenschaften. Seine schlanke, fast dürre Hand fasste ihr unters Kinn und hob ihren Kopf an. »Sieh mich an.« Zwangsläufig glitt ihr Blick über seine Gestalt. »Auf die Knie, Raleeha.« Er schob ihren Kopf weiter nach oben, sodass sie ihm ins Antlitz schauen musste; das schwarze Lederband um ihren Hals knirschte.
Raleeha hatte es die Sprache verschlagen. Er wusste: Seine Schönheit gebar in ihr Freude, welche die Angst für einen Augenblick überflügelte. Dies war mit ein Grund, weswegen sie sich in freiwillige Hörigkeit begeben hatte.
Er sah sie maßregelnd an, die gänzlich schwarzen Augen erfassten jede Kleinigkeit an ihr. Niemand besaß eine hübschere Menschensklavin als er. Sie zu töten wäre eine zu große Verschwendung. Dennoch musste sie eine Strafe erhalten, welche sie traf und sie leiden ließ. Körperlich, seelisch.
»Du weißt, dass dieses Gelb nur mit großem Aufwand und unter Gefahr zu beschaffen ist. Ich wollte heute mit dem Bild fertig werden. Dazu ließ ich Helòhfor kommen, einen Seelenberührer, um mich zu erhöhen und ein Werk zu schaffen, wie es kein anderer vermag.« Noch immer lagen seine Finger an ihrem Kinn, drückten leicht in ihr Fleisch. Seine gepflegten Nägel schmerzten gewiss ihre Haut. »Das werde ich jedoch nicht tun können. Wegen dir.«
»Meine Nachlässigkeit ist unverzeihlich, Gebieter«, sagte sie mit spröder Stimme.
Es war nicht geheuchelt, was sie von sich gab. Er wusste, dass sie sich elend fühlte, als eine Verräterin an der Kunst ihres Herrn. Er gewährte ihr einen kurzen Blick an ihm vorbei auf das Bild.
Sie schauderte. »Welch überirdische Kunst – und durch mein Versäumnis unvollendet!« Sie würgte Speichel herab, um ihre Kehle zu befeuchten, während sie eine weitere Träne vergoss. Tränen der Schande, nicht der Angst.
»Raleeha, ich war stets zufrieden mit dir und deinen Diensten«, sagte er ehrlich enttäuscht. »Ich hatte keine Sklavin vor dir, die meine Bedürfnisse derart zu befriedigen wusste wie du. Aus diesem Grund«, die schmalen Finger gaben sie frei, »wirst du leben.«
»Herr«, rief sie vor fassungsloser Freude und sank vor ihm auf die Knie, küsste den Saum seines Gewandes und die Stiefelspitzen. »Niemals mehr werde ich unachtsam sein!«
Er berührte sie an der Schulter, und sie sah dankbar zu ihm auf. Dann erschrak sie, als sie in seiner rechten Hand einen dünnen Dolch erkannte. Ihr Schrecken gefiel ihm.
»Du sagtest, deine Augen hätten dich getäuscht?«
»Ja, Gebieter.«
»Dann werde ich nur sie bestrafen, denn der Rest deines Leibes, Raleeha, ist unschuldig und wird mir weiterhin gute Dienste leisten.« Mit der linken Hand hielt er ihren Schopf fest. Blitzschnell stach die Rechte zweimal nach unten und zerstörte die Augäpfel, ehe sie zu blinzeln vermochte.
Die junge Frau schrie auf, aber sie rührte sich nicht in seinem Griff und nahm die Bestrafung hin. Klare Flüssigkeit und Blut rannen ihre Wangen hinab, folgten den Bahnen der Tränen.
Sinthoras atmete tief ein und fühlte einen Hauch Genugtuung. Er ließ die vollen schwarzen Haare los und wischte seinen Dolch daran ab, ehe er ihn verstaute. »Ich erwarte, dass du dich sehr bald sicher und schnell durch mein Haus bewegst, so als könntest du sehen«, sprach er und löste die mittlere Schnalle des Halsbandes. »Geh zu Kaila und lass dich behandeln. Für heute bleibst du von weiteren Diensten verschont. Erkennst du meine Güte?«
»Ja, Gebieter«, weinte sie und presste die Hände vor die zerschnittenen Augen.
»Beweise mir, dass du sie trotz deines Fehlers verdient hast. Hinaus!«
Die junge Frau erhob sich, tastete unsicher um sich und stöhnte dabei vor Schmerzen. Sie brauchte lange, bis sie den Ausgang gefunden hatte.
»Wäre es meine Sklavin gewesen«, hörte er Helòhfors Stimme in seinem Rücken, »wäre sie Fressen für meine Nachtmahre gewesen.«
Sinthoras drehte sich zu ihm um. Der Seelenberührer hatte sein Instrument bereits auseinandergebaut und verpackt, den Koffer geschlossen. Er stand neben dem Sessel.
»Wäre sie eine herkömmliche Sklavin, hätte sie ihr Leben verwirkt und nicht einmal als Mahl für meinen Nachtmahr dienen dürfen«, erwiderte der Alb. »Aber sie ist eine Lotor und mir dazu hörig. Ihr Leid erquickt mich mehr als ihr Tod.«
»Ihr denkt, sie wird Euch diese Tat vergeben?«
»Sie denkt, sie sei selbst schuld daran«, verbesserte Sinthoras ihn lächelnd. »Ich habe ihr vergeben.« Dann lachte er böse. »Ich muss sie nicht verstehen, Helòhfor. Sie soll mir nur dienen.«
Der Seelenberührer entgegnete nichts und rief seine Sklaven. »Und ich muss Euch nicht verstehen, Sinthoras. Ihr sollt mich nur bezahlen. Schickt das Gold in mein Haus.«
»Das tue ich. Meinen Dank für Eure Dienste, und lasst Euch sagen, dass sie außergewöhnlich sind. Eine herausragende Erfahrung, die ich beim nächsten Bild wiederholen möchte.« Er wandte sich von ihm ab, durchschritt den Raum und hielt auf eine andere Tür zu. »Nun verzeiht. Ich muss mir neue Farbe besorgen.«
Raleeha stolperte den Gang hinab zu den Quartieren der Sklaven, um sich Linderung verschaffen zu lassen. Die Schmerzen schienen durch die Augen in ihr Hirn zu sickern, ihre Beine wurden schwächer.
»Kaila?«, schrie sie gequält, als sie das Portal hinter sich gelassen hatte. »Kaila?«
»Ja, Raleeha?«, hörte sie die Aufseherin sagen und gleich danach erschrocken die Luft einziehen. Sie war ebenso ein Mensch wie sie, nur um einiges älter. »Meine Güte! Bei den Infamen!«
»Der Gebieter war gnädig zu mir. Ich hätte den Tod verdient«, erwiderte sie sogleich, um seine Tat zu verteidigen. Dann spürte sie, dass sie am Arm gepackt und geführt wurde. »Er schickt mich zu dir, um mich verarzten zu lassen.« Kaila drängte sie rasch zu einer Bank, als die Beine unter ihr nachgaben.
»Die Albae kennen keine Gnade, Raleeha. Schon gar nicht Sinthoras. Alles, was sie tun und lassen, geschieht aus Niedertracht.« Es raschelte, Glas klirrte, dann gluckerte es. »Ich packe mit Culinsaft getränkte Wattebäusche auf deine Augen. Das wird eine Infektion verhindern. Gib acht, es brennt.«
Als der ätzende Saft die Wunden berührte, schrie Raleeha hinaus, was an Schmerzen und Gefühlen in ihr tobte. Kaila wickelte ihr eine Binde um den Kopf und vor die Augen, um die Wattebäusche zu fixieren.
Trotz der Schmerzen war Raleeha froh, noch am Leben zu sein. So dürfte sie weiterhin ihrem Gebieter dienen, dem sie freiwillig gefolgt war, nachdem sie ihn nahe ihrem Heimatdorf beim Malen gesehen und beobachtet hatte. Das Kunstwerk, das er auf der Leinwand geschaffen hatte, hatte sie auf magische Weise angezogen und nicht mehr losgelassen. Die gleiche Wirkung hatte seine Anmut auf sie.
»Was hast du angerichtet?«, fragte Kaila.
»Ich habe sein Bild ruiniert. Er hatte nicht genügend Farbe.« Sie dachte an die Staffelei, an das Herrliche, was sie hatte sehen dürfen. Ihr Gebieter besaß eine sehr lebendige Art zu malen, sein Temperament ging gelegentlich mit ihm durch. Manches Mal fluchte oder lachte er dabei, mal warf er mit der Farbpalette, wenn ihm sein Werk nicht gefiel oder ihm etwas nicht so gelang, wie er es wollte. Mehr als einmal hatte er Bilder zerstört, an denen er lange gearbeitet hatte.
Raleeha fand alles, was er auf Holz, Pergament oder Leinwand malte, geradezu vollkommen. Sie hob die Reste der vernichteten Werke auf und hütete sie wie einen Schatz in ihrer kleinen Kammer.
»Wegen einer fehlenden Farbe sticht er dir die Augen aus?« Kaila spuckte aus. »Und du hasst ihn nicht dafür?«
»Nein. Wie könnte ich? Es war meine Schuld.« Ihr wurde schlagartig bewusst, wie grausam seine Strafe für sie wirklich war: Sie würde sein wunderschönes, selig machendes Antlitz nie mehr betrachten können!
Todunglücklich schluchzte Raleeha auf.
Ishím Voróo (Jenseitiges Land), siebenundzwanzig Meilen östlich des Albae-Reichs Dsôn Faïmon, auf der Höhe der Spitze des Strahlarms Shiimāl, 4370. Teil der Unendlichkeit (5198. Sonnenzyklus), Sommer
»Caphalor!«
Der schwarzhaarige Alb drehte den Kopf nach links und blickte zur Krone der Schwarzbuche hinauf, deren dunkelgraue Blätter sich sachte im Abendwind wiegten. Dort irgendwo verbarg sich Aïsolon, ein guter Freund, der ihn hatte begleiten wollen. Caphalor hielt den Bogen in der Linken; die Rechte lag locker auf dem Gürtelköcher, in dem die langen Jagdpfeile steckten.
»Schweig!«, gab er gedämpft zurück. »Ich sehe es selbst.«
Gemeint war die tiefe Spur, die das junge Barotier im Waldboden hinterlassen hatte. Sie verfolgten die Kreatur seit dem Aufgang des Taggestirns, und sie machte es den beiden Albae nicht leicht. Immer wieder suchte das Baro Schutz in dem Hain, in dem es dank seiner Fellfarbe kaum auffiel. Eine so auffällige Spur im Erdreich würden jedoch selbst die tumbsten Menschen finden. Die andauernde Hatz hatte es wohl unaufmerksam werden lassen – oder legte es den Jägern eine Fährte, um sie in die Falle zu locken?
Blätter raschelten, dann sprang Aïsolon mit einem Satz neben Caphalor zu Boden. Er führte ebenfalls einen Bogen mit sich. »Es ist mein erstes Baro«, sagte er freudig. »Ich bin gespannt, wie lange wir brauchen, bis es sich ergibt.«
»Es ist ein Jungtier. Ein Schuss müsste ausreichen.« Caphalor zog einen Pfeil, dessen Ende mit einer münzgroßen, flachen Eisenscheibe versehen war. Ein Treffer gegen den Schädel an der passenden Stelle, und das Baro würde bewusstlos zusammenbrechen.
Aïsolon tat es ihm nach. »Nun, sie sind immer noch so groß wie ein Óarco und nicht minder schwer. Barozähne sollen selbst Tioniumpanzerungen durchschlagen.«
»Angst, Aïsolon?«, spöttelte Caphalor in freundschaftlichem Ton und legte den Pfeil locker auf die Sehne.
»Nein. Gefahrenbewusst, würde ich es nennen«, gab der Freund zurück. »Meine Unsterblichkeit muss nicht unbedingt heute enden, zwischen den Fängen eines Baros.«
»Man merkt, dass du noch jung bist. Die Älteren von uns würden versuchen, das Biest mit bloßen Händen zu fangen.« Caphalor lachte leise und pirschte voran.
Seite an Seite ging es durch den lichten Wald, der sich für die Bogenjagd ausgezeichnet eignete – vorausgesetzt, ihr Ziel zeigte sich endlich.
Caphalor hatte gemeinsam mit Aïsolon ursprünglich die Spur eines Kimarbocks aufgenommen, aber das Baro war ihnen zuvorgekommen und hatte den Bock gefressen. Das letzte Baro hatte er vor siebenunddreißig Teilen der Unendlichkeit gesehen; die Jagdgesellschaft, die sich damals zusammengefunden hatte, war riesig gewesen. Heute jedoch waren sie lediglich zwei Jäger. Gute Aussichten, dass er es wäre, der den entscheidenden Schuss setzte.
»Denk daran: lebend!«, mahnte er Aïsolon, denn er wollte es fangen und seiner Tochter mitbringen. Sie besaß außerordentliche Fertigkeiten, wenn es darum ging, niederen Kreaturen ihren Willen aufzuzwingen. Sie würde sich sehr über sein Geschenk freuen – im Gegensatz zu ihrer Mutter. Doch zuerst sollten sie das Baro stellen, bevor er sich über Enoïlas Ansichten und ihre Beschimpfungen Gedanken machte.
»Links«, sagte er und deutete mit der Pfeilspitze auf eine regelrechte Insel aus dichtem Unterholz. »Wirf etwas hinein, um es herauszutreiben.«
Aïsolon sah sich um, entdeckte einen passenden Ast, hob ihn auf und schleuderte ihn in das Buschwerk.
Ein wütendes Brüllen war zu hören. Es raschelte, und dann brach das Baro aus seinem Versteck. Beinahe drei Schritt groß, auf zwei Beinen gehend und mit graubrauner, schuppiger Haut versehen, richtete es sich fünfzig Schritt vor den beiden Albae auf. Es glich tatsächlich einem Óarco, nur dass es einen viel kräftigeren, längeren Unterkiefer besaß, in dem schiefe, aber spitze Zähne saßen. Aus seinen kleinen, tief liegenden Augen funkelte es die Jäger an. Angst sah anders aus. Die Klauen mit den sieben Fingern und langen Nägeln öffneten sich kampfbereit. Ein Hieb damit kam gewiss einer Attacke mit sieben Messern gleich.
»Woha«, machte Aïsolon und spannte den Bogen. »Imposant.«
Caphalor riss die Waffe hoch, zog die Sehne zurück und schoss noch vor seinem Freund. Das stumpfe Geschoss sirrte in gerader Linie auf sein Ziel zu, aber das Baro drosch dagegen und ließ es zersplittern. Das Gleiche tat es mit Aïsolons Pfeil, und dann rannte es auf die Albae zu. Die Lust, gejagt zu werden, schien ihm vergangen zu sein. Jetzt wurde es selbst zum Jäger.
»Das willst du deiner Tochter mitbringen?«, entfuhr es Aïsolon fassungslos. Rasch zog er einen zweiten Pfeil.
Caphalor war wieder schneller, und dieses Mal traf die Metallscheibe den Punkt über der Nasenwurzel.
Das Baro knickte leicht ein, schüttelte benommen den Kopf und machte zwei Ausfallschritte, um sich abzufangen, dann spurtete es weiter. Laub und Dreck flogen hinter ihm hoch in die Luft, die mächtigen Schritte donnerten gegen den weichen Boden. Aïsolons Pfeil traf den hornplattengepanzerten Arm, den das Tier nun zum Schutz vor den Schädel hielt. Es brüllte auf und schrie sein Verlangen zu töten durch den Hain.
Caphalor warf den Bogen fort und hob einen Prügel auf. Der Wind trug ihm die Ausdünstungen des Baros zu. Herb und stechend, jung und stark drang der Duft in seine Nase: Offenbar wollte es sich vor den beiden Angreifern beweisen.
»Bist du von Sinnen?« Aïsolon zog sich langsam zurück und schoss einen Pfeil nach dem anderen gegen das Baro, das bei jedem Treffer wütend aufgrollte. »Wir werden es töten müssen!«
»Nein.« Caphalor stellte sich vor einen Baum, legte den Hüftköcher ab, entledigte sich seines Mantels und erwartete den Angriff. Er verließ sich auf seine Schnelligkeit, seine Wendigkeit im Kampf. Üblicherweise gebrauchte er lange, schmale Dolche, doch gegen dieses Wesen half nur rohe, unelegante Gewalt, wenn er es lebendig zu seiner Tochter bringen wollte.
Elf Schritt.
Aïsolon zog einen Pfeil mit einer geschliffenen Spitze. »Für den Notfall«, sagte er knapp.
Caphalor ersparte sich die Antwort. Das Baro stand vor ihm und warf sich mit ausgestreckten Armen gegen ihn, das Maul brüllend und zum Biss geöffnet. Heiß schlug ihm der stinkende Atem entgegen, in dem noch eine Spur des verschlungenen Kimarbocks haftete.
Der Alb drückte sich ab. Senkrecht sprang er nach oben und zog die Beine an; seine freie Hand hielt sich an einem tieferen Ast fest. Er spürte die Erschütterung, die durch den Baum fuhr, als das Baro aus vollem Lauf gegen den Stamm prallte; Blätter schwebten an ihm vorbei nach unten. Er sah hinab.
Blaues Blut rann in einem breiten Strom aus der mehrfach gebrochenen Nase, und an dem abwesenden Ausdruck in den Augen erkannte der Alb, dass es die Orientierung verloren hatte. Auch sein Geruch hatte sich gewandelt. Aus der kraftvollen Wut war Furcht geworden.
Und Furcht nutzte allein den Albae.
Caphalor ließ los und sprang auf die torkelnde Kreatur, die trotz des massiven Aufpralls nicht fallen wollte. Im Sturz holte er zu einem beidhändigen Schlag mit dem Holzprügel aus, und als seine Sohlen die Schultern des Baros berührten, drosch er zu.
Der dicke Prügel brach, das Baro heulte ängstlich auf und sank auf die Knie, die Arme fielen kraftlos herab.
Caphalor hüpfte hinter das Wesen und verpasste ihm dabei einen Stoß mit den Absätzen, damit es nach vorn kippte. Es landete auf dem weichen, schwarzen Laub.
Dort gab es blubbernde Laute von sich, sackte schließlich zur Seite, drehte sich dabei und versuchte, ihm mit dem rechten Fuß einen Tritt zu verpassen.
Da flog ein großer Schatten heran, prallte gegen Caphalors Brust und warf ihn mehrere Schritte nach hinten. Er fing den Schwung mit einer Rolle ab und kam auf die Füße, zückte seine Dolche und hielt sich angriffsbereit.
Ein dritter Alb war erschienen! Er saß auf einem Nachtmahr, mit dem er Caphalor beiseitegestoßen hatte, und stach mit einem überlangen Speer auf das Baro ein. Die schmale Klinge fuhr dem Tier durch den Hals. Der Alb stellte sich im Sattel auf und drückte den Schaft mit seinem ganzen Gewicht nach unten, sodass dieser tief in das Fleisch und bis in den Boden darunter drang. Sodann rutschte der Fremde daran herab und landete anmutig neben dem sterbenden Baro.
»Ho!«, rief Caphalor zornig. »Was machst du mit meiner Beute?« Er eilte zu dem blonden Alb, der soeben ein filigranes Messer zückte und der Kreatur die Seite aufschlitzte, einen tiefen Stich in die breite Wunde folgen ließ und eine langhalsige Phiole einführte, um die austretende goldgelbe Flüssigkeit darin aufzufangen.
»Deine Beute? Es sah für mich danach aus, als würdest du mit dem Baro um dein Leben kämpfen«, entgegnete der Alb über die Schulter.
»Ich wollte es lebend«, sagte Caphalor wütend. »Der Fang wäre mir gelungen.« Er kam neben seinem Widersacher zum Stehen. »Doch dann tauchtest du auf.« Er wusste, was vor sich ging. Die Milz der Baros war gefüllt mit einer unglaublich kostbaren Substanz, dem Pirogand-Gelb. Schon deswegen hatte man vor siebenunddreißig Teilen der Unendlichkeit die Jagd auf das andere Baro veranstaltet.
»Ich denke, dass ich dir das Leben gerettet habe«, erwiderte der Alb und füllte ungerührt die Phiole. »Es wollte nach dir treten. Ohne meinen Nachtmahr hätten dich die Zehenklauen getroffen. Also sei dankbar, mein Freund, und zieh deiner Wege.«
Caphalor betrachtete die Zeichen auf der schwarzen, kunstvoll verzierten Rüstung aus gehärtetem Leder: ein Krieger, unverheiratet, mehrfach ausgezeichnet für seine Tapferkeit und die siegreichen Gefechte für die Unauslöschlichen, wie die Tioniumplättchen verrieten. Dass der Alb die teure Rüstung abseits eines Schlachtfeldes trug, zeigte Caphalor, wie viel Wert er auf seine Titel und seinen Stand legte. Er selbst wäre niemals darauf gekommen, sich derart herauszuputzen.
»Dein Freund bin ich sicherlich nicht«, sprach er. »Du trägst die Schuld daran, dass ich jemandem, den ich sehr liebe, sein Geschenk nicht bringen kann, obwohl ich es versprach.«
Der letzte Tropfen Pirogand-Gelb rann in die Phiole, die von dem Alb aus dem Leib des toten Baros gezogen wurde. Es schmatzte leise, als der Schnitt sich schloss. Er wischte sich das blaue Blut mit einer Handvoll Blätter ab, verschloss das Gefäß und stand auf.
»Ich kenne dich«, sagte er. »Du bist Caphalor.«
»Sind wir uns vorher schon einmal begegnet?«
»Du hast mich nicht beachtet. Wir trafen uns beim Empfang der Tapfersten. Du gehörtest zu denen, die von Nagsor Inàste gesegnet wurden, in der Halle des Triumphs, im Beinturm.« Er nickte ihm zu. »Es ehrt mich, dass ich einen solch herausragenden Krieger vor einem Baro retten durfte.« Seine Stimme war voller Spott, die Miene verriet, dass er es nicht ernst meinte. Es schwang sogar Verachtung darin mit. Herablassung. Neid?
Caphalor fühlte, dass sein Zorn nicht eben geringer wurde. Er hatte es mit einem anmaßenden, aufstrebenden Kämpfer zu tun, einem von denen, die alles taten, um in der Gunst der Unauslöschlichen zu steigen. »Das Baro hätte mich nicht erwischt. Mein Freund Aïsolon wachte über mich. Da er nicht geschossen hat, war ich nicht in Gefahr. Höchstens durch deine fragwürdigen Reitkünste.«
»Nichts für ungut. Dass ich dein ›Geschenk‹ getötet habe, bedauere ich. Lass den Leichnam aushöhlen und stecke ein paar Gnomsklaven hinein, die ihn zum Leben bringen. Es wird sicherlich nicht auffallen.« Nicht einmal ansatzweise zerknirscht, hob er die Phiole mit der schimmernden Substanz. »Gehab dich wohl. Ich möchte ein Bild zu Ende bringen.«
Caphalors rechte Hand zuckte in die Höhe. Dabei drehte er den Dolch und schlug mit dem Knauf gegen das dünnwandige Glas.
Die Reflexe des Albs waren schnell, und er wich der Attacke aus – genau in die zweite hinein. Das zerbrechliche Gefäß barst, das Pirogand-Gelb spritzte umher und verteilte sich auf dem Waldboden.
»Wie schade«, sagte Caphalor falsch lächelnd und verstaute seine Dolche. »Es wäre sicherlich ein einmaliges, unerreichbar schönes Bild geworden.«
Beschmutzt stand der Alb vor ihm, den Hals der Phiole in der Hand haltend. Gelbe Tropfen rannen über die dunkle Rüstung. Feine schwarze Linien erschienen in seinem Gesicht, als würde es gleich vor Wut bersten. »Das werde ich dir nicht vergessen«, schwor er düster und warf die Überreste der Phiole vor Caphalors Füße.
»Ebenso wenig, wie ich deine Tat vergessen werde«, gab Caphalor zurück. Er rechnete fast mit einem Angriff. Die Schwärze in den Augen seines Gegenübers verströmte Unberechenbarkeit, Tücke. Neben ihm erschien Aïsolon, eine Hand auf den Griff seines Kurzschwerts gelegt.
Der Alb ging zu seinem Nachtmahr, der mit den langen Reißzähnen Fleischbrocken aus dem Leichnam des Baros herauslöste. Geschickt trennte er dabei Fleisch und Hornplättchen. Sein Herr schwang sich in den Sattel. In forschem Trab ritt er durch den Hain, weg von den beiden Albae. Um die Hufe wirbelten helle Blitze auf.
»Du weißt nicht, wer das war, oder?« Aïsolon nahm die Hand vom Schwertknauf und machte sich daran, die Bogen und Köcher aufzuheben.
»Nein. Hätte ich es wissen müssen?«
»Sein Name ist Sinthoras. Er ist einer der ehrgeizigsten Krieger der Unauslöschlichen, der ebenso herausragend wie eingebildet ist.« Aïsolon gab Caphalor seinen Bogen und den Köcher. »Er gehört zu denen, die sich selbst Kometen nennen. Sie würden lieber heute als morgen mit der Ausbreitung von Dsôn Faïmon beginnen, um noch mehr Vasallen zu besitzen, mit denen man gegen die Elben marschieren könnte. Sinthoras sucht wie besessen nach Mitstreitern für seine Sache.« Er sah dorthin, wo der Nachtmahr und sein Reiter verschwunden waren. »Ich denke, er hat auf einem der Schlachtfelder einen Teil seines Verstandes gelassen. Trotz all seiner Siege hat er den Segen der Herrscher noch nicht erhalten.«
Deswegen der Neid auf mich. Caphalor schwieg und sah auf den Kadaver des angefressenen Baros und die gelben Flecken auf dem schwarzen Laub. »Dass wir noch eines finden, ist sehr unwahrscheinlich«, sagte er leise. »Meine Tochter wird untröstlich sein.«
Aïsolon nickte. »Aber wir bringen ihr dafür eine sehr gute Geschichte mit.«
Caphalor betrachtete die scharfen Fußklauen des toten Wesens. »Hätte er mich erwischt, Aïsolon?« Er bückte sich und schnitt sich zwei Krallen als Trophäe ab, brach die stärksten Fangzähne aus dem Gebiss und steckte sie ein. Ein kleiner Trost für seine Tochter.
Der Alb dachte einen Augenblick nach. »Habe ich geschossen oder nicht?«
»Du hieltest den Bogen nicht in den Händen«, erwiderte er mit einem wissenden Lächeln. »Selbst wenn du es gewollt hättest, wäre ein Schuss unmöglich gewesen.«
Aïsolons Gesicht wurde schmaler. »Du hast es bemerkt?« Er seufzte. »Ich dachte, ich sei mit meinem Schwert wirkungsvoller. Und nein: Das Baro hätte dich verfehlt. Du schuldest diesem Sinthoras gar nichts.«
»Das hatte ich gehofft. Nichts wäre mir unangenehmer gewesen.« Caphalor hängte die Bogensehne aus und schulterte die Waffe. »Kehren wir zurück und erzählen, was uns geschehen ist.«
Aïsolon musste lachen. »Ich wette, dass Enoïla sehr froh darüber sein wird, dass es uns nicht gelungen ist, das Baro lebendig zu fangen. Deine Tochter hätte es niemals gezähmt.«
»Hätte sie«, gab Caphalor überzeugt zurück. »Sie ist ein einmaliges Mädchen.« Sie machten sich auf den Weg. »War er auch schon bei dir?«, fragte er nach einer Weile.
Aïsolon ließ den Blick schweifen und atmete tief ein. »Wen meinst du?«
»Du weißt genau, wen ich meine.«
Aïsolon wischte einen Spritzer Baroblut von seinem Handschuh. »Ich mag unsere Ausflüge nach Ishím Voróo. Es ist zwar gefährlich, aber es gibt mir immer wieder das Gefühl, ein Abenteuer zu erleben. Und das heute war ein großes Abenteuer.«
»Demnach war Sinthoras bei dir. Er hat versucht, dich auf die Seite der Kometen zu ziehen.«
»Ja.«
»Warum sagst du es dann nicht?«
»Weil ich Gespräche dieser Art nicht mag. Nicht über Politik. Ich meide sie, wenn ich kann.« Aïsolon sah seinem Freund ins Gesicht. »Doch da du davon angefangen hast: Ich zähle wie du zu den Gestirnen. Und ich teile deine Meinung, dass wir unseren Staat mit stärkeren Maßnahmen gegen Angreifer von außen schützen müssen. Das bedeutet in meinen Augen nicht, dass wir unser Reich vergrößern sollten. Damit gäbe es nur mehr zu verteidigen. Auf die Vasallen und Sklaven können wir uns dabei nicht verlassen.«
Caphalor legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Weise Gedanken für jemanden, der keine Politik mag.«
»Doch es werden immer weniger, die so denken«, fügte Aïsolon hinzu. »Die Stimmung spielt Kriegern wie Sinthoras in die Hände. Je mehr Nachrichten über sich neu formierende Königreiche uns erreichen, desto schneller steigen die Bedenken, die Strategie der Verteidigung fortzuführen.«
Caphalor wurde nachdenklich. »Mag sein, dass Sinthoras teilweise recht hat. Vielleicht ist es unsere eigene Schuld, wenn die Erwähnung unseres Namens oder der Anblick eines Albs nicht mehr ausreicht, um Gegner in die Flucht zu schlagen. Haben wir unseren Schrecken verloren?«
Aïsolon schwieg.
Es dämmerte schon, als sie sich der Grenze zu Dsôn Faïmon und dem Strahlarm Shiimāl näherten, in dem die beiden lebten. Sie verließen den Wald aus Schwarzbuchen und schritten über den zwei Meilen langen, gerodeten Streifen, der sie bis zum Wassergraben führte.
Der Wassergraben war in Wirklichkeit ein fünfzig Schritt breiter, schnell fließender Strom, in dessen Mitte in dichten Abständen künstliche Inseln angelegt worden waren. Sie waren mit kleinen, hoch gerüsteten Festungen versehen, für die es wenig Besatzung brauchte, um die Katapulte in Gang zu setzen, wenn es zu einem Angriff kam. Die einzigen Verbindungen bildeten Zugbrücken, die im hochgefahrenen Zustand weit hinauf in den Himmel stachen. Die schwersten, durch die Kraft des Wassers betriebenen Katapulte der Bollwerke konnten bis über die Mitte der gerodeten Streifen feuern. Falls sich irgendwelche Bestien, Barbaren oder andere Feinde überhaupt in die Nähe der Grenzen wagten.
Die Albae erreichten den Brückenkopf.
Aïsolon gab mit einem Rufhorn das Signal. Ratternd senkte sich die Zugbrücke für sie herab.
»Hüte dich vor Sinthoras«, sagte er unvermittelt.
Caphalor sah seinen Freund an. »Wieso sagst du das?«
»Du hast von den Unauslöschlichen bekommen, wonach er sich sehnt, und ihm nun einen Grund gegeben, dich zu hassen. Zudem verkörperst du alles, was er verabscheut und was er ablehnt. Er weiß, dass viele andere Krieger zu dir aufschauen und dir folgen, egal, was du vorhast. Da du nicht auf seiner Seite stehst, sieht er dich seit dem heutigen Moment der Unendlichkeit als deinen Feind.«
»Das ist eine sehr düstere Einschätzung, Aïsolon.«
»Ich sagte dir, dass er mich aufgesucht hat, um mich zu überzeugen. Als ich ihn wegschickte, versprach er mir, dass ich in einem gemeinsamen Gefecht auf einem Schlachtfeld nicht auf seine Hilfe zählen dürfte. Und er deutete etwas von verirrten Pfeilen an.«
Caphalor wollte etwas darauf erwidern, da legte sich die Zugbrücke quietschend und rumpelnd auf die eisernen Uferbefestigungen. Die zahlreichen dicken Kettenstränge klirrten laut, als sie durch die Ösen ratterten. Eine Unterhaltung war unmöglich.
Nachdem die ohrenpeinigenden Geräusche verklungen waren, deutete Aïsolon auf die Festung. »Sei gewarnt«, wiederholte er und ging los. »Mehr kann ich dir nicht ans Herz legen.«
Caphalor verstand, dass sein Freund nicht weiter darüber sprechen wollte. »Er sollte sich vor mir hüten. Immerhin hat er mir die Überraschung für meine Tochter verdorben!«, versuchte er zu scherzen. Doch in seinem Innern erkannte er plötzlich eine viel stärkere Bedrohung für Dsôn Faïmon, als jedes noch so kriegerische Nachbarreich darstellen könnte: innere Zerrissenheit. Kometen gegen Gestirne – die Ausbreitung gegen das Verharren.
Die Unauslöschlichen müssten bald ein Machtwort sprechen, um den schwelenden Konflikt zu ersticken.
Die Unauslöschlichen beteten zur Schöpferin, auf dass sie ihnen ein Zeichen gebe.
Und die Schöpferin weinte, als sie sah, was ihren Kindern angetan wurde. Dort, wo die schwarzen Tränen gleich flammenden Sternen niedergingen, entstanden gesegnete Krater.
Die Herrscher der Albae erkannten die Zeichen und gründeten in dem ersten, den sie fanden, Dsôn Faïmon. So ward sie geborgen: die Urstätte unserer Art.
Epokryphen der Schöpferin,
1. Buch, Kapitel 1, 8–11
Ishím Voróo (Jenseitiges Land), Albae-Reich Dsôn Faïmon, Dsôn 4370. Teil der Unendlichkeit (5198. Sonnenzyklus), Sommer
Sinthoras hob den Türklopfer aus schwerem Granit und ließ ihn gegen das Steinholz fallen. Ein einzelner, dunkler Laut erklang.
Er machte fünf langsame Schritte rückwärts, um Demenions üppiges Haus, das aus Schwarzholz errichtet worden war, eingehend zu betrachten. Die Umbauarbeiten an der Fassade waren abgeschlossen: verschachtelte Schnitzereien, kleine Ziersäulen an den Fronten, polierte Silberplatten, welche die Blicke der Vorbeigehenden auf sich zogen.
Neid nagte an ihm.
Demenion gönnte sich in jedem Teil der Unendlichkeit eine neue Außengestaltung seines sechseckigen Domizils, das im Süden des belebten Tåm-Platzes stand. Eine ausgezeichnete Lage!
Die Skulpturen hatte er gemeinsam mit bedeutenden Künstlern aus Dsôn angefertigt, sodass kein anderer mit ähnlich atemberaubenden Figuren aus bronziertem Tionium und Silber protzen konnte.
In vier Schritt Höhe prangte die opulente Schlachtenszene an der Front, in dessen Mittelpunkt Demenion stand. Zu seinen Füßen lagen vernichtete Óarcos, Trolle und Barbaren. Während ihre Körper aus Metall bestanden, hatte man die originalen Gesichter der Getöteten eingepasst und mit Lack haltbar gemacht. Eine sehr aufwendige Prozedur, die äußerste Präzision der Künstler im Umgang mit dem ebenso verletzlichen wie verderblichen Fleisch und dem Lack erforderte. Wenige wagten sich an diese Herausforderung, denn die Haut durfte ihre Farbe weder verlieren noch runzlig werden, noch im Licht der Sonne austrocknen oder gar schimmeln. Das hätte zwar einen faszinierenden Effekt des unaufhaltbaren Verfalls gegeben, was aber bei Bildnissen dieser Art nicht erwünscht war.
Sinthoras betrachtete die Toten genauer. Schrecken, Qual und Schmerzen lagen auf ihren Zügen. Und auch dort, wo ihnen Wunden zugefügt worden waren und man nun offene Stellen, Brüche und Innereien sah, wurden aus der Bronze wieder Fleisch und Knochen. Spektakulär, ohne Zweifel. Und übertrieben, angeberisch.
Doch wer im Sternenauge lebte, noch dazu am Tåm-Platz, musste zeigen, was er hatte. Hier bekamen nur Helden, einflussreiche Albae und die besten Künstler einen Platz zum Leben. Und dieser Platz kostete ein Vermögen. Die teuren, vielstöckigen Gebäude wurden manchmal so schnell ge- und wieder verkauft, dass man von seinem neuen Nachbarn noch gar nichts gesehen hatte, als er schon wieder auszog und einem vermögenderen Alb wich.
Es gab genügend, die ihre sämtlichen Ersparnisse und Reichtümer aufbrauchten, um mithalten zu können, und letztlich doch wieder in einen der Strahlarme ziehen mussten, wo ihnen der Spott sicher war.
Sinthoras’ Mund wurde zu einem dünnen Strich. Er würde schon bald eines der Häuser in Dsôn besitzen, musste dazugehören. Er hatte sich einen dreieckigen, in sich gedrehten Turm ausgesucht, ebenfalls am Tåm-Platz. Ein wunderschönes, verspieltes Bauwerk, gefertigt aus Sigurdazienholz; die Wände waren mit Intarsien versehen, die bei Nacht heller als die Zeichen und Runen der umliegenden Häuser leuchteten. Es gebührte ihm. Der Aufstieg würde schon bald geschehen, das Versprechen von höchster Stelle trug er in der Tasche. Dann würde der Neid über Demenion hereinbrechen.