Was verdankt ein von seiner Mutter »Glückskind« genannter Sohn dem Vater? Der ist in dem neuen Roman, in dem Christoph Hein alle Register seiner erzählerischen Kunst und seiner geschichtsdiagnostischen Kompetenz entfaltet, unausweichlich. Jedoch in einem alles andere als positiven Sinn: Der Sohn muss seit seiner Geburt in der entstehenden DDR im Jahr 1945 sein ganzes Dasein im Fluchtmodus vor dem kriegsverbrecherischen toten Vater zubringen: psychisch, physisch, beruflich, geographisch, in Liebesdingen.

Es gibt zahlreiche Versuche, aus dem Schatten des Vaters herauszutreten: Er nimmt einen anderen Namen an, will in Marseille Fremdenlegionär werden, reist kurz nach dem Mauerbau wieder in die DDR ein, darf dort kein Abitur machen, bringt es gleichwohl, glückliche Umstände ausnutzend – Glückskind eben –, in den späten DDR-Jahren bis zum Direktor einer Oberschule – vorübergehend.

Am Ende erkennt er: Eine Emanzipation von den Zwängen der allgemeinen und der persönlichen Geschichte ist zum Scheitern verurteilt. Durch solche Verkettung von Vergangenheit und Gegenwart wird aus dem Glückskind ein Unheilskind.

Gerade dadurch verkörpert er wie in einem Brennspiegel bis ins kleinste Detail die unterschiedlichsten Gegebenheiten Deutschlands in den politischen, gesellschaftlichen und privaten Bereichen. Ironisch-humoristisch, anrührend, ohne Sentimentalität oder Sarkasmus erzählt Christoph Hein ein beispiellos-beispielhaftes Leben in mehr als sechzig Jahren deutscher Zustände.

Christoph Hein, geboren 1944 in Heinzendorf/Schlesien, aufgewachsen in Bad Düben bei Leipzig, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Christoph Hein

Glückskind mit Vater

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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Umschlagfoto: Heinrich Woerner, Leingarten

Umschlag: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-74453-6

www.suhrkamp.de

Der hier erzählten Geschichte liegen authentische Vorkommnisse zugrunde, die Personen der Handlung sind nicht frei erfunden.

Die jungen Birken schienen miteinander zu flüstern, ihre Blätter bewegten sich lebhaft, obwohl kein Wind zu spüren war. Unter der lastenden Sommersonne des Spätnachmittags leuchtete das gebrochene Weiß der dünnen, verletzlich wirkenden Stämme aufreizend hell. Die Birken mussten jetzt drei Jahre alt sein und waren fast mannshoch, ich hatte Mühe, sie zu überblicken. Sie erinnerten mich an ein Bild in unserem Schulzimmer, an eine Landschaft, die ein russischer Maler aus dem vergangenen Jahrhundert gemalt hatte.

Vor drei Jahren wurden die Gebäude abgerissen und die drei Hektar des Ranenwäldchens mit schnell wachsenden Bäumen aufgeforstet. Ich sah sie heute zum ersten Mal. Ich war zu diesem Wald geradelt, obwohl meine Mutter es mir untersagt hatte. Trotz ihres Verbots war ich die ein oder zwei Kilometer aus der Stadt hinausgefahren, um dieses Wäldchen zu sehen, den Ranenwald, das Ranenwäldchen.

Das aufgeforstete Waldstück umschloss dicht und dunkel der alte Mischwald, groß und übermächtig, er schien den kleinen Birkenwald zu erdrücken. Ich lehnte mein Rad gegen eine Buche und ging in das Birkenwäldchen hinein. Es gab keine Wege, die Erde war von den Forstarbeiten durchgepflügt, große, riesige Erdschollen, von Traktoren und Pflügen herausgerissen, hatte ich zu überwinden und musste große Schritte machen und springen, um voranzukommen.

Ich sah Mauerreste zwischen den Bäumen, Ziegelsteinreste der quadratischen Fundamente der abgerissenen Gebäude, Betonflächen, auf denen die Baracken gestanden hatten. Ich konnte auf den verbliebenen Steinen und Betonstücken durch den Birkenwald gehen, an der Spur der Fundamente waren Größe und Lage der einst hier stehenden Gebäude zu erahnen. Der Abriss und die Aufforstung waren vor drei Jahren in großer Hast erfolgt, die Forstarbeiter hatten sich das Ausgraben und Ausstemmen der Fundamentmauern erspart, die Birken waren einfach rechts und links der Ziegelsteinreste angepflanzt worden.

Wind kam auf, die Birken bewegten sich heftiger, die dunklen Bäume des Mischwalds, der sie umgab, schwankten im aufkommenden Sturm, nun schienen sie den neuen Wald, die jungen Birken, zu schützen. Einzelne Wolken zogen über die Wipfel, schwer und regenvoll. Von ihnen verjagt, trieb eine weiße Wolkenwand dahin und entschwand. Minuten später hatte sich der Wind gelegt, die Wolken verharrten, lastend, drohend. Der dunkle Wald ragte bewegungslos und schweigend in den Himmel, und nur die kleinen Blätter der jungen Bäume des Birkenwalds flatterten und spielten ihr Spiel miteinander. Dann verharrten auch sie bewegungslos. Langsam schob sich die Sonne durch die schweren Wolken, doch immer wieder wurde sie von ihnen verdeckt, bis diese, bedrängt von den wärmenden Strahlen, sich lichteten, auflösten, dahinschwanden.

Ein Mann war aus dem Nichts erschienen und bewegte sich zwischen den Birken. Er schritt leicht und heiter, bewegte sich unbeschwert und sicher zwischen den dünnen Stämmen, als ob er durch das Wäldchen tanzte, traumhaft sicher und mit dem Gelände und dem unwegsamen Waldboden vertraut. Der Mann überragte die jungen Birken um Kopfeslänge, die Bäume schienen vor ihm zu erstarren, als schrumpften sie angesichts dieser eleganten, schneidigen Erscheinung.

Der Mann trug eine vornehme weiße Uniform, einen weißen Frack mit silbernen Schulterstücken, er wirkte wie ein Märchenprinz, als stamme er aus einer anderen Welt, einer fernen Zauberlandschaft. In der Hand hielt er eine dünne, schwarze Peitsche, wie sie Reiter benutzen und die er unaufhörlich durch die Luft gleiten ließ, als sei er allmächtig, als gehöre ihm alles um ihn herum und sei ihm untertan. Die unachtsamen, doch gleichzeitig anmutig ausgeführten Peitschenschläge rissen die Birkenblätter ab, köpften die Spitzen der kleinen Bäume, schlugen die dünnen Äste beiseite, so dass sie zu Boden fielen. Bei seinem tänzelnden Gang, jeder Schritt verriet Macht, Kultur und Geist, den gebildeten Gebieter, achtete der Mann nicht auf die Zerstörungen. Traumverloren bewegte er sich durch das Wäldchen, knickte die Bäumchen um, zerbrach sie, ohne es wahrzunehmen. Mit keinem Blick bedachte er sie, er schlenderte durch sie hindurch, drehte sich schwungvoll und elegant. Sieghaft hob er den Kopf, er lächelte, er schien glücklich zu sein.

Unvermittelt hielt er inne und schaute mit einem schmerzlichen und bedauernden Blick zurück. Langsam trat er einen Schritt beiseite, atmete tief und vernehmlich auf, seine Peitsche fuhr mit einem raschen, fast unsichtbar schnellen Schlag durch die Bäumchen. Es war nur ein einziger Schlag, und im gleichen Moment waren sechs Birken gefällt und lagen ihm zu Füßen, lagen vor seinen glänzenden, makellosen Stiefeln. Er wandte sich ab, schritt lächelnd dahin und davon. Bevor er die Bühne seines überraschenden Auftritts verließ, schaute er selbstzufrieden zurück und verschwand so plötzlich, wie er erschienen war.

Die Birken verharrten bewegungslos, die Spur der Zerstörung, die der tänzelnde Mann im weißen Frack hinterlassen hatte, zog sich durch das kleine Ranenwäldchen und ließ die Reste der alten Fundamente aufleuchten.

Am Abend hatte ich Fieber und bekam Schüttelfrost. Mutter machte mir kalte Wadenwickel und steckte mich ins Bett.

Boggosch öffnete die Beifahrertür und stellte den Beutel mit den Einkäufen auf dem Sitzpolster ab, dann ging er um den Wagen herum und setzte sich hinter das Lenkrad. Er musste den Motor dreimal starten, bevor dieser mit einem bedrohlich klingenden Knirschen ansprang. Als er behutsam aus der Parklücke fuhr, klopfte ein Mann, der, eine Bierflasche in der Hand, vor der Dönerbude stand, mit den Knöcheln gegen die Autoscheibe. Boggosch stoppte und drehte das Fensterglas herunter.

Sie sollt’n auf ’n neues Auto sparen, Herr Direktor. Ihre Kiste machts nicht mehr lange.

Danke für den Hinweis, Thomas, ich werde darüber nachdenken. Und Sie sollten nicht so viel trinken. Es ist noch nicht einmal Mittag. Haben Sie keine Arbeit?

Freigestellt. Wieder einmal.

Was war mit der Umschulung?

Könn’ Sie vergessen. Wurde nach vier Wochen ersatzlos eingestellt. Allet heiße Luft.

Ein Auto hinter ihm hupte zweimal.

Ich muss weiter, Thomas. Ich drück Ihnen die Daumen, aber lassen Sie das Trinken.

Mach ich. Versproch’n. Schönen Tach noch, Herr Direktor.

Der Mann mit der Bierflasche wandte sich an den kleinen Türken im Verkaufswagen.

Mein oller Schuldirektor, sagte er und wies mit dem Daumen auf den wegfahrenden Wagen, verstehste, Ali. Der war in Ordnung. Guter Mann, auch wenn er ein Pauker war.

Der Türke nickte und hielt ihm lächelnd eine Bierflasche hin: Noch ein Pils, Thomas?

Gib her. Diese dünne Plörre schadet keinem. Reich schon rüber.

Als Boggosch an Lindners Blumenladen vorbeifuhr, drosselte er die Geschwindigkeit, er wollte einen kurzen Blick auf die vor dem Geschäft aufgestellten Töpfe werfen, auf das wöchentliche Angebot, das Lindner regelmäßig auswechselte. Sekunden später fuhr eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben rasant um die Kurve und nahm ihm die Vorfahrt. Boggosch hatte wenig Mühe, seinen langsam fahrenden Wagen zu bremsen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden, doch er war heftig erschrocken und musste tief durchatmen.

Das war knapp, rief ihm Lindner zu, der hinter dem Drahtzaun der Gärtnerei Pflanzenkübel aus einem Container nahm und auf einen Wagen stellte. Er unterbrach seine Arbeit und ging aus dem Vorgarten heraus zum Auto.

Haben Sie gesehen, wer das war? Das war Cornelius, sagte er zu Boggosch. Er hatte eine Hand auf die heruntergelassene Fensterscheibe gelegt, nickte bedeutsam und steckte den Kopf in den Wagen. Verschwörerisch raunte er: Sie sollten ihn anzeigen, Herr Boggosch. Ich bin kein Freund von solchen Anzeigen, aber Cornelius treibt es zu weit. Das ist nicht das erste Mal, dass er so verrückt durch die Stadt rast. Mit seinem dicken Auto glaubt er, er sei was Besseres. Irgendwann passiert noch einmal was. Zeigen Sie ihn an, Sie können mich als Zeugen benennen, ich hab es gesehen.

Danke, sagte Boggosch, aber es ist ja nichts passiert, gottlob. Und dieser Herr Cornelius, der ist mir keine Anzeige wert, Herr Lindner. Ich will nichts mit ihm zu tun haben. Ich will mir an ihm nicht die Finger schmutzig machen.

Ja, da haben Sie auch recht. Ist schon ein Früchtchen, der Cornelius. War der nicht mal Lehrer? Früher, in der anderen Zeit.

In der anderen Zeit, ja. Das haben Sie schön gesagt. Das trifft es. In der anderen Zeit, das will ich mir merken. Alles Gute für Sie.

Wollen Sie nicht Ihrer Frau einen Blumenstrauß mitnehmen. Vor einer Stunde war der Transporter da. Sie wissen ja, dienstags gibt es frische Ware. Taufrisch, beste Qualität.

Danke. Ich melde mich.

Und fahren Sie vorsichtig. Immer auf der Hut sein. Schönen Tag noch.

Er klopfte zum Abschied zweimal auf den Türrahmen und ging zu seiner Arbeit zurück.

Als Boggosch daheim ankam und die Einkäufe in der Küche in die Speisekammer und den Kühlschrank räumte, kam seine Frau, auf eine Krücke gestützt, langsam aus dem Wohnzimmer und stellte sich in die offene Küchentür.

Hast du alles bekommen?

Ja, Marianne, alles. Nur keinen Ahornsirup. Der kommt erst am Freitag.

Die Frau fasste nach dem Türrahmen. Sie atmete schwer, die wenigen Schritte bis zur Küchentür hatten sie angestrengt.

Und gab es im Städtchen etwas? Etwas Interessantes? Hast du jemanden gesprochen?

Nein, Marianne, nur das Übliche.

Der Kurier hat vorhin angerufen. Man wollte dich sprechen.

Welcher Kurier? Wer schickt denn heute noch einen Kurier?

Das Lokalblatt, Konstantin. Deine Zeitung, die du jeden Tag studierst. Eine Redakteurin rief an, war wohl ein sehr junges Mädchen, eine ganz hohe Stimme, sie piepste am Telefon. Sie will vorbeischauen, um dich etwas zu fragen. Ich habe ihr gesagt, sie kann um drei kommen. Ist dir das recht?

Und warum kommt sie? Was wollen die von mir?

Das hat sie nicht gesagt. Ist drei Uhr für dich in Ordnung?

Jaja. Geh ins Wohnzimmer und setz dich. Ich habe Leinöl gekauft. Ich dachte, Kartoffeln mit Leinöl, das könnte dir schmecken. Das habt ihr doch bei euch zu Hause immer gegessen.

Ja, aber das war selbstgepresstes Leinöl. So was Feines kann man nicht kaufen.

Sie löste sich vom Türrahmen und ging bedächtig die wenigen Schritte ins Wohnzimmer zurück. Boggosch griff nach dem Kochbuch und las zum wiederholten Mal das Rezept durch, um sich die einzelnen Schritte einzuprägen. Ein Leben lang hatte er sich nie um die Küche und das Mittagessen kümmern müssen und erst vor vier Jahren begonnen, für sie beide zu kochen. Diese Arbeit war ihm noch immer unvertraut und lästig, und ohne Kochbuch vergaß er die selbstverständlichsten Zutaten, doch nach ihrer Bandscheiben-Operation konnte sich seine Frau nur noch mühsam bewegen, so dass er ihr vorgeschlagen hatte, die gesamte Küchenarbeit zu übernehmen. Was immer er ihr seitdem vorsetzte, sie lobte es jedes Mal übermäßig, obgleich er sie gebeten hatte, dies zu unterlassen, er benötige keine Ermunterungen, und über seine Kochkünste mache er sich keinerlei Illusionen.

Nach dem Essen wusch er das wenige Geschirr und die beiden Töpfe ab, bevor er sich mit einem Buch in den alten Liegesessel setzte. Er las ein paar Seiten, und von dem gleichmäßigen, schweren Atmen seiner schlafenden Frau verführt, nickte er über der Lektüre ein. Der leise Stundenschlag der Pendeluhr im Flur weckte ihn, er ging in die Küche, um Kaffee zu kochen.

Als es an der Tür klingelte, schaute er auf seine Armbanduhr.

Genau drei Uhr, stellte er fest, der Kurier des Zaren ist pünktlich auf die Minute.

Er sah seine Frau an: Willst du nicht im Zimmer bleiben? Dann kannst du alles hören, was die Zeitung mir zu sagen hat, und ich muss dir nicht alles hinterher erzählen.

Sie schüttelte den Kopf und stemmte sich aus ihrem Sessel hoch: Ich setz mich für einen Moment auf den Balkon. Ich will lieber noch ein wenig die Sonne genießen, die Tage werden ja schon kürzer.

Er ging zur Wohnungstür und öffnete, ein junges Mädchen lächelte ihn an, sagte, dass sie Loretta Rösler heiße und im Auftrag des »Kuriers« ein Gespräch mit ihm führen solle. Er bat sie ins Zimmer und fragte, ob er ihr etwas anbieten könne. Sie dankte und lehnte ab, war dabei derart verlegen, dass sie ins Stottern geriet. Er bot ihr einen Platz an und fragte, um was es gehe, was sie sich von einem solchen Gespräch erhoffe, was sie sich vorstelle.

Übersprudelnd erzählte das Mädchen, sie arbeite seit vier Monaten beim Kurier, wo sie nach ihrem Studium ein einjähriges Praktikum absolviere. In drei Wochen beginne das neue Schuljahr, und das sei in diesem Sommer ein besonderes Ereignis, da nach der dreijährigen Umbauzeit die Schüler nun nicht mehr in der alten Kaserne unterrichtet würden, sondern wieder im Gymnasium, das schöner denn je geworden sei. Er, der Herr Doktor Boggosch, kenne ja das alte Gymnasium, da er dort einmal Schuldirektor war. Von der Redaktion habe sie den Auftrag erhalten, mit ihm über seine Zeit als Direktor zu reden, und nicht nur mit ihm soll über das Gymnasium gesprochen werden. Ihrem Chef, dem Herrn Köstler, war aufgefallen, dass momentan vier Schuldirektoren des Pestalozzi-Gymnasiums in der Stadt wohnten, drei ehemalige und der neue, der vor sechs Jahren ins Städtchen gezogen sei. Auf diese Besonderheit soll bei der Wiedereröffnung verwiesen werden, und Herr Köstler habe ihr diesen Auftrag gegeben. Sie werde eine ganze Seite dafür bekommen, die zum Schulbeginn erscheinen solle, genau gesagt, in der Wochenendbeilage. Sie habe bereits mit Dr. Meyer-Keller ein großes Interview geführt, der die Schule nun leite, und mit Herrn Rutzfeld, der vor Jahrzehnten sein Nachfolger war, und sie werde auch noch mit Herrn Dr. Cornelius reden. Ein großes Foto des restaurierten Gymnasiums werde über der Seite stehen, und vor dem Gymnasium, das sei ihr Vorschlag, sollten die vier Direktoren zu sehen sein, die drei im Ruhestand und der jetzige.

Boggosch hatte ihr schweigend zugehört und belustigt das aufgeregte und von ihrem Auftrag offensichtlich begeisterte Mädchen betrachtet. Nachdem sie überhastet und fast atemlos ihr Anliegen geschildert hatte, sah sie ihn erwartungsvoll an. Da er nichts sagte, fügte sie hinzu: Der Herr Köstler, unser Lokalchef, war einer Ihrer Schüler. Er hat mir von Ihnen erzählt. Sie sind eine Legende, sagte er mir. Ich soll Sie von ihm grüßen.

Ja, der Michael Köstler war mein Schüler, das ist wahr. Und noch zwei andere Herren aus Ihrer Redaktion, alles Schüler von mir. Und ich lese, was meine Schüler schreiben.

Sie sind stolz auf Ihre Schüler.

Stolz? Nein. Ich schaue mir nur an, was sie bei mir gelernt haben. Ich will sehen, was sie nicht begriffen haben, was sie immer noch falsch machen. Die Artikel meiner drei Schüler lese ich sehr genau. Mit dem Rotstift in der Hand, sozusagen. Den zweiten Konjunktiv, den sollte der Michael Köstler meiden, der verrutscht ihm regelmäßig.

Das Mädchen kicherte nervös. Da er nichts weiter sagte, fragte sie ihn direkt, ob er ihr ein längeres Interview zu seiner Zeit am Gymnasium gebe.

Nun, Fräulein Rösler, das ist alles lange her. Und es interessiert keinen mehr. Ich bin ein alter Mann, und meine Welt ist längst versunken. Das ist vorbei, mein Fräulein. Vergangenheit. Abgeschlossenes Präteritum. Das war in der anderen Zeit.

Und darum will unsere Zeitung daran erinnern. Eine ganze große Seite mit Ihnen und den anderen Direktoren. Das ist schließlich ein Teil der Geschichte dieser Stadt. Und wann gibt es das schon mal, dass vier Direktoren derselben Schule gleichzeitig in einer Stadt leben. Und es war die Zeit des großen Umbruchs. Ich denke, dazu könnten Sie viel erzählen. Das interessiert die Abonnenten vom Kurier, das ist auch die Geschichte unserer Leser.

Ich weiß nicht, ob ich es will. Ob ich mich daran erinnern möchte. Es ist lange her und es ist vorbei.

Aber die Erinnerungen überkommen einen, ob man will oder nicht. Sie sind das Leben, das man führte. Sie sind jetzt siebzig …

Neunundsechzig, korrigierte Boggosch.

Verzeihung. Da müssen Sie einen Schatz von Erinnerungen besitzen.

Was für einen Schatz? Verlassen Sie sich nicht auf die Erinnerungen alter Männer. Mit unseren Erinnerungen versuchen wir ein missglücktes Leben zu korrigieren, nur darum erinnern wir uns. Es sind die Erinnerungen, mit denen wir uns gegen Ende des Lebens beruhigen. Es sind diese fatalen Erinnerungen, die es uns schließlich erlauben, Frieden mit uns selbst zu schließen. Schauen Sie sich die Memoirenbände an, die Jahr für Jahr erscheinen. Das sind alles prächtige Figuren. Wundervolle, aufrichtige, tapfere Charaktere. Unerschrocken, selbstlos, die Gerechtigkeit in Person. Kerle, die man gern als Zeitgenossen gehabt hätte. Das Problem ist, es waren meine Zeitgenossen, und sie waren nicht angenehm. Und glauben Sie nicht, ich will Ihnen nun einreden, dass meine Erinnerungen genauer sind, wahrhafter, glaubwürdiger. Nein, verehrtes Fräulein, auch ich würde Ihnen erzählen, was mir ins Bild passt, das ich von mir habe oder das ich anderen von mir vorgaukeln will. Ich würde selbstverständlich alles verschweigen, was mich an mir stört. Und dazu müsste ich mich nicht sonderlich anstrengen. Das Störende, das, was mir an mir nicht gefällt, ich müsste es nicht einmal verschweigen, das ist gar nicht nötig. Das habe ich längst vergessen, und zwar sehr gründlich. Kümmern Sie sich nicht um die Erinnerungen alter Leute, berichten Sie, was Sie sehen, was wirklich passiert. Und schreiben Sie es auf, wie Sie es gesehen haben. Schreiben Sie nicht, was man Ihnen einreden will, und auch nicht das, was Ihre Redaktion vielleicht gerne von Ihnen haben möchte.

Er sah sie fast triumphierend an, zufrieden, weil er das Mädchen, diese kleine Redaktionsmaus, offensichtlich sprachlos gemacht hatte.

Nun, brauchen Sie jetzt etwas zu trinken? Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?

Danke, nein. – Das wäre ein guter Anfang, Herr Doktor Boggosch.

Was meinen Sie? Was für ein Anfang?

Für meine Seite. Für das Gespräch mit Ihnen. Wir fangen mit dem an, was Sie eben sagten, und dann legen Sie los.

Ich dachte, ich hätte Sie erschreckt.

Also sind Sie einverstanden? Sie geben mir das Interview?

Nein, nein, so rasch wickeln Sie mich nicht ein, Fräulein Rösler. Wie viel Zeit habe ich? Bis wann muss ich mich entscheiden?

Wenn wir uns in der nächsten Woche für ein paar Stunden zusammensetzen könnten …

Schön, dann habe ich also sieben Tage, um über Ihre Frage nachzudenken. Rufen Sie mich in der nächsten Woche an, dann kann ich Ihnen sagen, ob ich Ihnen Rede und Antwort stehe. Ob ich die alten Feldsteine noch einmal umdrehe, um zu schauen, was darunter ist.

Danke, Doktor Boggosch. Vielen Dank. Ich rufe Sie nächsten Dienstag an. Neun Uhr, ist das in Ordnung?

Er nickte. Sie standen auf und er reichte ihr die Hand.

Aber ich habe Ihnen nichts zugesagt. Seien Sie nicht allzu sehr enttäuscht, wenn ich Ihnen absage.

Ich bin zuversichtlich. Und jetzt bin ich auch sicher, dass Sie was zu sagen haben. Ich freue mich auf unser Gespräch.

Das ist nicht gewiss, das steht noch in den Sternen, mein schönes Fräulein. Aber eins kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Ein Foto vom Gymnasium, das gehört auf diese Seite, da stimme ich Ihnen zu. Aber dass da vier Direktoren davorstehen, nein, das sehe ich nicht. Dazu werden Sie mich nicht überreden können.

Wieso nicht? Es geht doch um diese vier Direktoren, das wird auch irgendwie der Titel der Seite sein. Warum wollen Sie sich nicht fotografieren lassen?

Was habe ich mit diesem Herrn Doktor Meyer-Keller zu schaffen? Ich kenne den neuen Direktor kaum, wir hatten wenig miteinander zu tun. Warum sollte ich mich mit ihm fotografieren lassen?

Weil er der neue Direktor ist. Er ist einer Ihrer Nachfolger.

Das ist kein hinreichender Grund. Und diese anderen beiden Herren, Rutzfeld und Cornelius, die kenne ich nur allzu gut und werde mich daher nicht mit ihnen zusammen hinstellen. Verstehen Sie jetzt?

Auch nicht für ein Foto? Das würde nur eine Minute dauern.

Nicht einmal für eine Sekunde. Die Welt ist groß genug, dass wir uns alle in ihr irren können, aber unser Leben ist nicht so lang, dass wir alles vergessen könnten. Die Erinnerungen, Fräulein Rösler, die Erinnerungen erlauben es nicht. Das sollten Sie berücksichtigen. Sie müssen Ihren Artikel nicht mit dem Bild einer großen Lüge schmücken. Richtig ist, ich hatte mit diesen beiden Herren zu tun, mit Rutzfeld und Cornelius, durchaus. Sie waren Direktoren meines Gymnasiums, sie waren es nach mir und sie waren es vor mir, wie Sie vielleicht wissen. Aber das ist die einzige Gemeinsamkeit, an die ich mich erinnern könnte. Und das ist für ein Foto zu wenig. Vergessen Sie dieses Foto, dazu werden Sie mich niemals überreden können.

Er lächelte sie an: Sind Sie nun von mir enttäuscht?

Nein. Eher im Gegenteil. Ich hoffe jetzt umso mehr, dass Sie mir nächste Woche nicht absagen. Ich möchte die Wahrheit hören.

Die Wahrheit? Nun, die werden Sie auch von mir nicht bekommen. Lediglich meine Wahrheit. Und in ein paar Tagen sage ich Ihnen, ob wir darüber sprechen. Bis dahin werde ich zu tun haben.

Sie wollen alte Feldsteine umwälzen?

Ja. Leben Sie wohl, Fräulein Rösler.

Sehen wir uns in der Stadt? An diesem Wochenende, Herr Doktor?

Boggosch sah sie überrascht an: Was meinen Sie? Wo sollten wir uns sehen?

Es ist das erste Septemberwochenende. Der jährliche Jahrmarkt, das große Ereignis. Ich werde zum ersten Mal dabei sein, aber Sie werden es gewiss häufig erlebt haben.

Ach ja, Ihre Zeitung schreibt ja schon seit Wochen darüber. Dann wünsche ich Ihnen ein paar schöne Stunden auf dem Rummel. Ich glaube nicht, dass ich mir das antun werde. Das ist etwas für die jungen Leute.

Er blieb gedankenverloren an der Tür stehen, als das Mädchen gegangen war. Sein Blick fiel auf den Spiegel neben dem Eingang, und er betrachtete sich mit zusammengekniffenen Augen.

Der Herr Schuldirektor Boggosch, murmelte er leise, während er sein Abbild misstrauisch prüfte, nun, das war einmal.

Er war nicht unzufrieden mit seinem Aussehen, für sein Alter war er schlank und die Figur ausreichend elastisch. Ein, zwei Kilo mehr könnten ihm nicht schaden, aber er hatte nur noch wenig Appetit. Die gelbgrauen Flecken auf den Wangen und an den Schläfen hatten sich vergrößert, und es waren weitere Falten um den Mund und die Augen hinzugekommen. Die Risse in seinem Gesicht, wie der kleine Sohn seiner Nachbarin bemerkt hatte.

Er ging zur Balkontür, um nach seiner Frau zu schauen. Sie hielt mit geschlossenen Augen ihr Gesicht in die Sonne. Er holte aus dem Wohnzimmer eine Wolldecke, um sie ihr umzulegen, und währenddessen erzählte er ihr, weshalb die junge Redakteurin ihn aufgesucht habe.

Eine Legende, sagte er auflachend, man hat dem Mädchen erzählt, ich sei eine Legende.

Das ist die Wahrheit, Konstantin. Du warst sehr geschätzt, in der ganzen Stadt, und das hat sich auch nicht verändert. Und fast hätten sie dich zum Ehrenbürger gemacht. Ich meine auch, dass du eine Legende bist.

Ach, Marianne, ich erinnere mich an ganz andere Geschichten. Ich war auch unerwünscht, mehr als unerwünscht. Das werde ich auch nicht vergessen. Es gab Zeiten, da hat man es sich zweimal überlegt, ob man mich grüßt.

Willst du mit der jungen Frau sprechen? Wirst du ihr das Interview geben?

Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Wozu die alten Gespenster wecken? Uns geht es doch gut, Marianne. Soll ich das aufs Spiel setzen? Und mit dem Mädchen sprechen und verschweigen, was Ärger bringen könnte, nein, dazu bin ich nicht bereit. Diese alten Geschichten, davon will doch keiner mehr etwas wissen, sie haben alle mit sich zu tun. Erinnerungen stören. Ich denke, ich sollte es dabei bewenden lassen.

Aber du auf einer ganzen Seite im Kurier, das würde mir gefallen. Ich würde mir zehn Exemplare besorgen und sie an alle Freunde schicken.

Auf dieser Zeitungsseite wäre ich nicht allein, Marianne. Mit vier Direktoren wollen sie sprechen. Und am liebsten wäre ihnen noch ein Bild von uns, ein Treffen dieser vier. Ich soll mich zusammen mit Cornelius und Rutzfeld und diesem neuen Direktor hinstellen, damit sie ein Foto machen können. Nein, je länger ich darüber nachdenke, es verbietet sich. Ich will mit denen nichts zu tun haben.

Du wirst es schon richtig machen, Konstantin.

Willst du noch hier draußen sitzen bleiben?

Ein wenig. Solange mir warm ist. Es ist so schön hier draußen, der Blick über die Havel, das Wasser, der Wald, mein Gott, wie schön wir es haben. Ach, weißt du, diesmal freue ich mich richtig auf die Kur. Da unten im Harz ist es immer ein paar Grad wärmer als bei uns. Bei uns ist in einem Monat die Balkonzeit vorbei, dann kann ich das Zimmer nicht mehr verlassen, aber in der Kurklinik kann man sogar alle Mahlzeiten, vom Frühstück bis zum Abendbrot, auf der Terrasse einnehmen. Na, du kennst es ja. Und es bleibt dabei, du holst mich ab und kommst ein paar Tage eher?

Natürlich. Wie jedes Jahr, Marianne.

Er ging in sein Arbeitszimmer, setzte sich in seinen Schreibtischsessel, drehte sich in ihm und betrachtete die drei Wandregale. Über den Büchern, in der obersten Reihe, standen die Ordner, sauber beschriftet, in denen jene Schulunterlagen abgeheftet waren, die ihm seinerzeit bedeutsam schienen. Was würde man nach seinem Tod mit diesen alten Ordnern anfangen? Vermutlich kommt alles in eine Mülltonne, ohne dass irgendjemand einen dieser Aktendeckel aufschlägt, deren Inhalt einmal wichtig und vertraulich oder gar streng vertraulich war. Dann könnten sich Schulkinder die Akten aus dem Müll holen und die einmal so geheimen Unterlagen lesen. Aber vermutlich werden nicht einmal gelangweilte Kinder sich dies antun. Ebenso gut könnte er heute schon diese Zettelsammlung entsorgen, um Platz zu schaffen. Warum sollte jemand diese alten Akten öffnen?

Er warf einen letzten Blick auf die grauen Ordner, dann stieß er sich mit den Füßen ab und rollte in seinem Sessel zu dem kleinen Intarsientisch neben dem Fenster, auf dem das Schachbrett stand. Schon den dritten Tag grübelte er über die dort aufgestellte Partie nach, ohne eine der Figuren zu berühren oder gar zu führen. Es war eine Schachaufgabe, die er der Wochenbeilage seiner Zeitung entnommen hatte, dem Kurier, und er hoffte, sie zu lösen, bevor ihm in der nächsten Samstagausgabe der entscheidende und vermutlich sehr überraschende Zug mitgeteilt wird, für den er bislang offenbar blind war.

Als er in die Küche ging, um sich einen Tee zu machen, sah er für Momente durch das Küchenfenster zu seiner Frau, die ihren Stuhl an die Brüstung des Balkons gerückt hatte, um die letzten Strahlen der hinter dem Haus verschwindenden Sonne zu genießen.

Ach mein Mädchen, mein schönes Mädchen, murmelte er tonlos, was ist nur aus uns geworden? Und was wird noch kommen?

Er wartete, bis das Wasser im Elektrokessel aufhörte zu brodeln, dann goss er es in die kleine Kanne. Bevor er in sein Zimmer zurückging, öffnete er die Tür zum Balkon, fasste nach ihrer Hand und fragte, ob ihr nicht kalt sei.

Ich komme gleich, erwiderte sie.

In der Nacht lag er lange wach und grübelte. Er dachte an die junge Frau von der Zeitung und dass er ihr gesagt hatte, er wolle ein paar Steine umdrehen, doch dies hatte er keineswegs vor. Er wollte nichts umwälzen, wollte die Würmer nicht sehen, die dabei ans Tageslicht kommen. Die Aufregungen und der Ärger jener Jahre lagen lange zurück, er hatte alles vergessen, wollte sich nicht erinnern und war nur von dieser jungen, unerfahrenen Praktikantin wieder darauf gestoßen worden, von einem Mädchen, das nichts vom Leben wusste, nichts von quälenden Erinnerungen, von fatalen, aber unvermeidbaren Entscheidungen, die zu treffen man bei aller Lebenserfahrung genötigt war, das nicht die Spur einer Ahnung davon besaß, in welche Verlegenheiten man trotz aller Vorsicht und Umsicht geraten konnte. Man kommt nicht durch diese Welt ohne Schuld und Scham, aber das konnte und wollte er diesem kleinen Mädchen nicht erklären, das würde es früh genug in seinem Leben selbst erfahren. Auch sie wird irgendwann vor einer Entscheidung stehen, die so oder so nicht richtig ist, wo man sich immer nur falsch entscheiden kann und es dennoch tun muss. Boggosch ärgerte sich nun über diesen Besuch, der ihm den Nachtschlaf raubte, und er war entschlossen, dem Mädchen vom Kurier abzusagen. Er wollte nicht in der Zeitung stehen, wollte dort nicht irgendeinen Unsinn über sich lesen müssen, auf den ihn dann die ganze Stadt ansprechen würde, weil die Leute an das gedruckte Wort glaubten, weil sie meinten, in der Zeitung stehe die reine Wahrheit. Er starrte auf die vom Mond erhellte Zimmerdecke und dachte daran, was er am nächsten Tag kochen sollte.

Wie jeden Morgen stand er vor seiner Frau auf und ging, nachdem er die Morgentoilette beendet und sich rasiert hatte, in die Küche, um für sich einen Kaffee und für seine Frau Tee aufzubrühen und danach einen Apfel für den Joghurt zu reiben. Er deckte den kleinen Tisch in der Küche mit dem Frühstücksgeschirr, ging ins Schlafzimmer, um seiner Frau den Morgenmantel zu geben und ihr zu sagen, dass das Frühstück bereitstehe. Dann verließ er die Wohnung, stieg die zwei Treppen zur Eingangstür hinunter und nahm die Zeitung aus dem Briefkasten, den Kurier. In der Küche blätterte er in der Zeitung und wartete auf seine Frau.

Als er ihr den Tee eingoss, fragte sie nach seinen Plänen für den Tag und erinnerte ihn daran, sich bei Doktor Stremmler einen Termin geben zu lassen.

Ich rufe ihn gleich an, erwiderte er, oder ich geh bei ihm vorbei. Ich muss ohnehin noch ein paar reife Tomaten einkaufen, Tomaten für eine Sauce. Ich will uns Spaghetti machen, bist du einverstanden?

Ja, das hatten wir schon lange nicht mehr. Und bitte Doktor Stremmler, ein neues Rezept für mich auszustellen. Sag ihm, ich brauche alle drei Medikamente, sie gehen alle zu Ende. Und ich brauche sie für einen ganzen Monat, weil ich ja zur Kur fahre.

Natürlich. Ich werde ihm sagen, seine kleinen Pillen sind inzwischen deine Grundnahrungsmittel geworden. Die darf er dir nicht verweigern.

Hast du deine Zeitung schon gelesen?

Unser Bürgermeister ist wieder mit einem Foto drin. Den Tag, an dem man Otto einmal nicht in unserem Blatt sieht, kann man rot anstreichen.

Er tut halt viel. Muss überall hin, um zu gratulieren und sich sehen zu lassen. Das ist nun mal sein Amt. – Haben sie etwas über das Gymnasium geschrieben?

Nein, nichts.

Werden sie mit dem Umbau rechtzeitig fertig?

Aber Marianne, du kannst Fragen stellen. Woher soll ich denn das wissen? Was habe ich mit der Schule zu tun?

Und du, hast du es dir überlegt? Willst du mit dem Mädchen reden?

Ich glaube nicht. Wozu soll man alte Gespenster wecken. – Möchtest du einen Orangensaft?

Ich gieße mir selber ein, danke, du musst nicht alles tun. Wenn du schon aufstehen willst, so geh ruhig. Um den Abwasch bauchst du dich nicht zu kümmern, das schaff ich. Ich will ja nicht verrosten.

Boggosch erhob sich und ging ins Bad, dann zog er ein Jackett an, holte sich einen Stoffbeutel aus der Speisekammer, nickte seiner Frau zu und verließ die Wohnung.

Die Sprechstundenhilfe von Stremmler bot ihm an, sich ins Wartezimmer zu setzen. Zwei Patienten hätten überraschend abgesagt, und der Doktor hätte Zeit, Boggosch müsse nur ein paar Minuten warten.

Als er das Arztzimmer betrat, erhob sich Stremmler, kam ihm entgegen und begrüßte ihn herzlich. Er ließ ihn Platz nehmen und erkundigte sich, wie es seiner Frau gehe. Boggosch bat ihn um Medikamente für sie, der Arzt nickte zustimmend und tippte das Gewünschte in seinen Computer ein.

Und bei Ihnen?, fragte der Arzt, wieder der Rücken?

Boggosch nickte: Der Rücken, ja. Und die Beine. Das ist alles abgenutzt und verbraucht. Sie sollten nachschauen, die defekten Teile auswechseln und mir ein paar Ihrer fabelhaften Ersatzteile einschrauben.

Der Arzt lachte. Dann sprachen sie über die Kommunalwahl und das Überhandnehmen der Supermärkte in ihrer Stadt, und der Arzt schimpfte über die Unvernunft seiner Patienten.

Die Leute kaufen das billigste Zeug, stopfen es in sich rein und wundern sich, dass sie krank werden. Aber es gibt kaum etwas Frisches. Ich habe zum Glück zwei Landwirte unter meinen Patienten, die versorgen mich mit richtigen Eiern und gutem Gemüse. Kaufen kann man das in der Stadt nicht. Ich hoffe, Sie haben auch solche Lieferanten. Ein paar ehemalige Schüler vielleicht, die aufs Dorf gezogen sind?

Boggosch schüttelte den Kopf und wartete darauf, dass der Arzt mit der Untersuchung begann. Er wusste, er müsse sich vor ihm entkleiden, und dies war ihm wie immer unangenehm. Er war ein alter Mann, und Stremmler war vor Jahrzehnten sein Schüler gewesen. Sich vor einem jungen oder doch sehr viel jüngeren Mann auszuziehen, den er einst unterrichtet, den er gelobt und getadelt hatte, verstörte ihn. Als Stremmler schließlich mit einer Handbewegung auf die Liege wies, um mit der Untersuchung zu beginnen, wandte er sich von dem Arzt ab und begann seine Kleidungsstücke abzulegen. Nur noch mit einer Unterhose bekleidet, saß er auf dem äußersten Rand der Liege. Stremmler bat ihn, sich hinzustellen, fuhr mit der Hand über sein Rückgrat und klopfte mit dem Fingerknöchel den Lendenbereich ab. Er bat ihn, sich bäuchlings auf die Liege zu legen, und verschränkte seine Arme in die des Patienten.

Atmen Sie tief durch. Und jetzt entspannen Sie sich. Locker, ganz locker, sagte Doktor Stremmler.

Er riss plötzlich seine Arme hoch, Boggosch verspürte einen winzigen, schmerzhaften Schlag auf einem seiner Rückenwirbel und stöhnte laut auf. Der Arzt tastete mit den Fingern nochmals den Lendenbereich ab und sagte zufrieden: Sie können sich anziehen. Bleiben Sie noch eine halbe Stunde im Wartezimmer sitzen, bevor Sie sich auf den Heimweg machen. Das war zwar nur ein winziger Eingriff, aber etwas Ruhe tut gut. Und vermeiden Sie in den nächsten Wochen allzu heftige Anstrengungen. Bitte keine Meisterschaften, Doktor Boggosch, sportiv ist nicht mehr angesagt.

Gut, dass Sie es sagen. Dann werde ich wohl den Marathonlauf absagen müssen, erwiderte Boggosch lächelnd.

Die Rezepte für Ihre Frau bekommen Sie an der Anmeldung. Alles Gute für Sie. Und ich will Sie hier so schnell nicht wieder sehen.

Im Wartezimmer nahm er sich zwei Zeitschriften und las uninteressiert in ihnen. Nach einem Blick auf die Uhr erhob er sich, grüßte die junge Frau am Tresen und ging in das benachbarte Einkaufscenter, um Gemüse und Joghurt einzukaufen.

Daheim stellte er den Einkaufsbeutel in der Küche ab und ging zu seiner Frau ins Wohnzimmer.

Alles in Ordnung, sagte er, heute Abend soll ich völlig schmerzfrei sein, hat mir Stremmler versprochen. Und was er sagt, ist ja bisher immer eingetroffen. Das Rezept für dich habe ich auch bekommen. Ich habe es in der Apotheke abgegeben, sie werden es heute Abend haben und wollen es uns dann vorbeibringen. Und hier hast du die Post. Schau sie bitte durch, wahrscheinlich ist alles zum Wegwerfen.

Er ging in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten. Durch die offene Küchentür fragte er seine Frau, ob ihr gebratener Speck in der Tomatensauce recht wäre.

Du hast einen Brief vom Finanzamt, erwiderte sie.

Den kannst du gleich wegwerfen. Vor einem halben Jahr haben sie mir geschrieben, dass ich fünfundvierzig Cent nachzubezahlen habe. Das Porto war teurer. Ich werde erst antworten, wenn es lohnt, eine Marke auf den Brief zu kleben.

Ein paar Minuten später rief sie seinen Namen.

Was gibt es denn, Marianne?

Der Brief vom Finanzamt, der ist von der Steuerfahndung.

Boggosch lachte auf: Was habe ich mit der Steuerfahndung zu tun? Meine Pension ist ausreichend, aber nicht genug, um noch etwas zu hinterziehen?

Es ist die Kirchensteuerfahndung, Konstantin. Seit wann bist du denn in der Kirche?

So ein Unsinn. Gib mir mal den Brief, das kann nur eine Verwechslung sein. Ich gehörte nie einer Kirche an.

Er nahm ihr den Brief aus der Hand und lachte auf: Na, sieh nur, der Brief ist gar nicht für mich. Hier steht es doch: Konstantin Müller. Müller, das ist der Schurke, nach dem sie fahnden. Ein gläubiges Schäfchen, das seinen geistlichen Hirten nicht bezahlen will. Den Brief kannst du wegwerfen, den muss ich nicht beantworten.

Lies ihn bitte, Konstantin. Lies ihn dir einmal richtig durch. Sie schreiben, sie haben nach einem auf den Namen Konstantin Müller Getauften gesucht und sind nach Jahrzehnten auf dich gestoßen. Und das Geburtsdatum ist der vierzehnte Mai 1945. Das ist dein Geburtstag. Der Vater heißt Gerhard Müller, und hier, siehst du, hier wird noch ein Bruder von diesem Konstantin Müller genannt, ein Gunthard.

Boggosch nahm seiner Frau den Brief aus der Hand und setzte sich. Beunruhigt las er das Schreiben Wort für Wort, während seine Frau ihm ununterbrochen Fragen stellte.

Hattest du mir nicht erzählt, dass dein Bruder Gunthard heißt? Ich habe ihn ja nie gesehen und du hast nie von ihm gesprochen, aber du hast einen Bruder. Und er heißt Gunthard, nicht wahr? Und wieso kennen sie dein Geburtsdatum? Was hast du mit diesem Müller zu tun? Wie kommen sie vom Finanzamt darauf?

Ich verstehe das nicht, sagte Boggosch erschöpft und ließ den Brief sinken, ich weiß nicht, wieso sie darauf kommen, ich sei ihr gesuchter Müller. Seit ich denken kann, heiße ich Boggosch. Der Computer bei denen muss alles durcheinandergebracht haben, es kann gar nicht anders sein. Mach dir keine Sorgen, Marianne, das wird sich alles aufklären. Ich gehörte nie einer Kirche an, also ist das Ganze ohnehin unsinnig. Aber vielleicht muss ich den Brief doch beantworten. Oder ich rufe dort einmal an.

Ja, tu das. Ruf gleich an, dann ist das aus der Welt.

Ich mach es später. Ich habe zu tun. In zwanzig Minuten habe ich unser Essen fertig.

Beim Mittagessen sprach seine Frau noch immer von dem Brief und rätselte über die vielen Merkwürdigkeiten. Sie beklagte, dass Konstantin ihr so wenig von seiner Kindheit erzählt habe. Sie habe seine Eltern nicht mehr kennenlernen können, da beide bereits tot gewesen seien, als sie sich kennenlernten, aber sie habe auch nie seinen Bruder gesehen und wisse eigentlich gar nichts von seiner Familie.

Mein Gott, Marianne, wir haben ein halbes Leben miteinander verbracht, mehr als fünfundzwanzig Jahre. Was willst du denn noch wissen? Du weißt doch alles von mir. Du weißt besser über mich Bescheid als ich selbst. Und die Familie, nun, andere wären glücklich, wenn sie mit dem Ehepartner nicht auch noch die ganze Mischpoche mit heiraten müssten.

Du willst nicht über dich reden. Du warst immer der große Schweiger. Und jedes Wort hast du auf die Goldwaage gelegt, aber auch jedes. Wenn ich mich mal vertan habe, hast du mich immer sofort korrigiert. Ein Lehrer, wie er im Buche steht. Nur über dich selbst kein Wort, nichts über deine Gefühle, dein Befinden. Selbst deine Familiengeschichte hast du mir nur häppchenweise erzählt, und eigentlich weiß ich nichts von ihr.

Plötzlich legte sie Gabel und Löffel auf dem Teller ab und sah ihn an.

Alles auf die Goldwaage, ja, das machst du, sagte sie, und da fällt mir doch auf, was du vorhin gesagt hast. Seit du denken kannst, hast du gesagt, seit du denken kannst, heißt du Boggosch. Daran habe ich mich vorhin schon gestoßen. Seit du denken kannst? Wieso hast du nicht gesagt, seit du lebst? Oder seit der Geburt? Warum hast du diese merkwürdige Formulierung gebraucht? Du hast etwas mit diesem Müller zu tun, den sie suchen.

Mit dem Müller habe ich nichts zu tun. Nichts, nichts, nichts! Meinen Vater habe ich nicht kennengelernt, und meine Mutter heißt Boggosch. Mehr ist dazu nicht zu sagen, und das weißt du alles längst. Dieser Brief ist ein Irrtum vom Amt, das wird sich klären lassen. Was soll das, Marianne? Was kümmern dich plötzlich diese alten Familiengeschichten? Mich haben sie nie interessiert. Ich bin mit vierzehn Jahren von daheim abgehauen, das weißt du. Die Mutter ist tot, den Vater gab es nie und mit dem Bruder habe ich keinerlei Verbindung. Wir haben uns als Kinder recht gut verstanden, später gar nicht mehr, und dabei ist es geblieben. Ich habe keine Ahnung, was er treibt, ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Und mit der Kirche, um das auch noch einmal zu sagen, hatte ich nie etwas zu tun. Bist du nun zufrieden?

Schweigend aßen sie zu Ende. Seine Frau fragte nichts und sagte nichts, die Zurechtweisung ihres Mannes hatte sie gekränkt und sie wollte, dass er ihre Verstimmung spürte.

Ich rufe an, sagte er schließlich, bevor er vom Tisch aufstand, ich rufe beim Finanzamt an und kläre das.

Eine Stunde später kam er mit einer Kaffeetasse ins Wohnzimmer, in dem seine Frau saß. Er setzte sich zu ihr und rührte bedächtig und ohne aufzusehen in der Tasse.

Ich habe mit dem Finanzamt gesprochen, sagte er schließlich, es ist alles in Ordnung. Ich muss keine Kirchensteuern zahlen. Man hat mich nur gebeten, ihnen eine schriftliche Erklärung zuzuschicken, das ist alles.

Und die Verwechslung? Die Namensverwechslung, wie haben sie das erklärt?

Gar nicht, sie haben nichts dazu gesagt, erwiderte er.

Merkwürdig. Wolltest du denn nicht wissen, wieso sie dir einen Brief für Herrn Müller schicken?

Ich habe gar nicht danach gefragt.

Seine Frau sah ihn überrascht an. Ich glaube, ich beginne zu verstehen, sagte sie sehr ruhig, du musstest gar nicht fragen, nicht wahr? Weil du es längst weißt, warum sie dir geschrieben haben. Gerhard Müller, das war dein Vater. Ich bin zwar halb gelähmt, aber nicht blöd. Auch wenn du mir kaum etwas von dir erzählt hast, auch wenn du nicht darüber sprechen willst, mit niemandem und selbst nicht mit mir, ein paar Sachen konnte ich mir zusammenreimen. Ich weiß nicht alles, aber mehr, als du glaubst. Du solltest mich nicht für dumm verkaufen.

Er schaute für einen Moment auf, stellte dann seine Tasse ab und betrachtete seine Hände. Er war fast siebenundzwanzig Jahre mit Marianne zusammen, er hatte sie vier Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau kennengelernt und geheiratet und begriff in diesem Moment, dass all diese Jahre nicht ausgereicht hatten, um sie zu verstehen. Seine geliebte Frau konnte ihn noch immer zutiefst überraschen.

Ja, sagte er schließlich, ich musste den Finanzmenschen nicht danach fragen. Dieser Müller, das war wohl mein Vater. Ich weiß nicht, ob ich getauft wurde, darüber hat meine Mutter nie ein Wort verloren, aber im Register des Standesamtes wurde ich im Mai oder Anfang Juni eingetragen, damals, 1945. Und, du hast recht, ich wurde auf den Namen Müller eingetragen. Konstantin Müller, das war mein Geburtsname. Aber bevor der Familienname mir wichtig wurde, bevor er mir etwas bedeutete, hieß ich Boggosch. Mein Vater, ich sollte wohl besser sagen, der Kindsvater, war tot, wir hatten nichts mit ihm zu tun, und meine Mutter nahm ihren Mädchennamen wieder an. Und auch wir, mein Bruder und ich, bekamen ihren neuen oder vielmehr ihren alten Namen. Seit 1948 hießen wir Boggosch. Und dass ich einmal, als Säugling, Müller hieß, das hatte ich vergessen. Wirklich, Marianne, heiliges Ehrenwort.

Vergessen, Konstantin?

Ja. Oder von mir aus auch verdrängt, wie es heute heißt. Ich habe diesen Müller nie kennengelernt, und er hat mich auch nie gesehen. In meinem ganzen Leben gab es ihn nicht.

Und deine Mutter konnte ihre Kinder so einfach umbenennen? Ein Eintrag im Register eines Standesamts, das ist eigentlich für alle Ewigkeiten festgezurrt. Wie konnte sie das ändern?

Das war kurz nach dem Krieg. Die Nachkriegszeit, da ging so einiges drunter und drüber, und da waren Dinge möglich, die heute undenkbar sind. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, aber wir hießen plötzlich Boggosch. Mutter hat wenig darüber erzählt, sie wollte uns nichts dazu sagen, und wir haben sie nicht gedrängt. Ich war ein Kind und konnte gerade mal sprechen, was interessierte mich da der Familienname. Und mein Bruder Gunthard, er ist zwei Jahre älter, er hat, wenn ich mich recht erinnere, auch nie darüber gesprochen. Dieser unbekannte Vater war kein Thema in der Familie, nicht für meine Mutter, was vielleicht seltsam ist, und für uns Kinder schon gar nicht.

Ja, das ist seltsam, Konstantin. Warum hat deine Mutter das gemacht? Ihr Mann stirbt, und sie setzt Himmel und Hölle in Bewegung, denn das musste sie tun, um seinen Namen loszuwerden und ihren Mädchennamen wiederzubekommen. Und sie schafft es sogar, dass ihre Kinder diesen Namen erhalten. Warum machte sie das? Dein Vater ist schließlich im Krieg gefallen. Für die Hinterbliebenen waren die Kinder die lebendige, die wichtigste Hinterlassenschaft der toten Soldaten. Sie waren die Erinnerung an den Toten, sie waren das Einzige, was ihnen von ihm geblieben war. Und deine Mutter löscht seinen Namen aus. Warum? Weißt du es? Verstehst du es? Ich kann es nicht begreifen. Wieso tilgt sie den Namen ihres Mannes? Warum sollten seine Kinder nicht mehr seinen Namen tragen?

Ich weiß es nicht. Das sind uralte Geschichten, sagte Boggosch, und sie hat nicht darüber gesprochen. Die Verwandten meines Vaters wohnten irgendwo in München und im Schwarzwald, wir hatten zu ihnen keinerlei Kontakt, ich weiß nicht einmal, ob es da irgendeine Tante oder einen Onkel gibt. Es lohnt nicht, darüber nachzudenken.

Du willst nicht darüber sprechen. Wie immer. Und ich glaube dir nicht. Ich glaube dir nicht, dass du nichts darüber weißt. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Müller. Du verschweigst mir etwas. Was ist daran so schlimm, dass du es mir jahrzehntelang verheimlichst? Ein Familiengeheimnis? Hatte deine Mutter einen Liebhaber und war froh, dass ihr Mann nicht aus dem Krieg zurückkam? Das hat es alles gegeben und ist kein Grund, mich anzulügen. Denn das tust du. Du belügst mich. Es gibt etwas, was du mir verschweigst. Etwas, vor dem du davonrennst. Vor dem du ein Leben lang auf der Flucht bist.