ARTHUR C. CLARKE

 

 

 

Vergessene Zukunft

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

Widmung

Vorwort

Prolog

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www.diezukunft.de

 

 

 

Für Mark Martin und David Brin, denen ich für ihre zündenden Ideen, anregenden Gespräche und ihre Freundschaft danke.

G.B.

Vorwort

 

Es ist jetzt mehr als ein halbes Jahrhundert her, seit »Against the Fall of Night« das Licht der Welt erblickte, und doch ist mir der Augenblick der Eingebung noch klar im Gedächtnis. Wie aus dem Nichts erschien plötzlich das Eröffnungsbild vor meinem inneren Auge. Es war so anschaulich, dass ich es sofort niederschrieb, obwohl ich zu der Zeit keine Ahnung hatte, dass ich es jemals weiterentwickeln würde.

Das muss um 1936 gewesen sein, und bis Ende 1940, als ich mit meinen Kollegen von Finanzministerium und Rechnungshof aus London in die walisische Kleinstadt Colwyn Bay evakuiert wurde, hatte ich mehrere Entwürfe zu Papier gebracht. Hier vollendete ich eine 15 000 Worte umfassende Version, war aber für die nächsten fünf Jahre mit anderen Angelegenheiten beschäftigt (siehe »Glide Path«). Erst im August 1945 begann ich wieder mit der Arbeit daran: ob es geschah, bevor oder nachdem Hiroshima die Welt veränderte, kann ich heute nicht mehr sagen.

Die erste vollständige Fassung war im Januar 1946 fertig und wurde prompt John Campbell zur Veröffentlichung in »Astounding Stories« eingesandt. Er ließ sich drei Monate Zeit, das Manuskript abzulehnen. Als ich den Schluss umgeschrieben hatte, reichte ich es im Juli 1946 wieder ein. Campbell brauchte noch einmal drei Monate, um auch die zweite Version abzulehnen.

Nach dieser Erfahrung schickte ich das Manuskript meinem neuen Agenten, Scott Meredith, der es an »Startling Stories« verkaufte, wo die Geschichte im November 1948 erschien. Im September 1949 wurde sie von Gnome Press zur Buchveröffentlichung angenommen und erschien als hübsche, gebundene Ausgabe mit einem Schutzumschlag von einem vielversprechenden neuen Künstler namens Kelly Freas. (Es muss einer von Kellys frühesten Aufträgen gewesen sein; ich kann nur hoffen, dass er dafür bezahlt worden ist!).

Weil es mein Erstlingswerk war, nahm »Against the Fall of Night« immer einen besonderen Platz in meinem Herzen ein, doch war ich nie ganz zufrieden damit. Die Gelegenheit zu einer vollständigen Überarbeitung ergab sich während einer langen Seereise von England nach Australien, als ich mich mit Mike Wilson zusammentat und eine Unterwasserexpedition zum Großen Barriereriff unternahm (siehe »The Coast of Coral«). Die wesentlich umfangreichere und gründlich umgearbeitete Fassung des Romans wurde in Queensland zwischen Exkursionen zum Riff und den Perlmuschelgründen der Torres-Straße fertiggestellt. Sie wurde 1956 mit dem Titel »The City and the Stars« von Harcourt, Brace & World veröffentlicht und hat seither eine ganze Reihe von Neuauflagen erlebt.

Zu der Zeit nahm ich an, dass die neue Fassung die ursprüngliche Version gänzlich verdrängen würde, aber »Against the Fall of Night« zeigte keinerlei Neigung zu vergehen; zu meinem Verdruss zogen manche Leser sie sogar ihrer Nachfolgerin vor, und sie ist inzwischen mehrmals als Taschenbuch wieder aufgelegt worden (Pyramid Books, 1960; Jove, 1978), außerdem erschien sie in dem Band »The Lion of Comarre« and »Against the Fall of Night« (Harcourt, Brace & World; Victor Gollancz, 1970). Eines Tages möchte ich eine Umfrage veranstalten, um zu erfahren, welches die beliebtere Fassung ist; den Versuch zu entscheiden, welches die bessere ist, habe ich aufgegeben.

Die Suche nach einem Titel dauerte beinahe so lang wie die Niederschrift. Ich fand ihn schließlich in einem Gedicht von A. E. Housman, das mich auch zu der Kurzgeschichte »Transience« inspirierte:

 

Was soll ich tun oder schreiben

Gegen das Herabsinken der Nacht?

 

Auch der Name meines Helden, Alvin, bereitete mir viel Kopfschmerzen, und ich kann mich nicht erinnern, wann oder warum ich mich für ihn entschieden habe. Es war mir nicht klar, dass er, zumindest für amerikanische Leser, eine gewisse humoristische Note hatte, weil er an eine wohlbekannte Comic-Heft-Figur erinnerte. Viele Jahre später bekam der Name jedoch zwei für mich besonders wichtige Assoziationen. Das Tiefseetauchboot »Alvin« brachte Ballard und seine Gefährten zum Wrack der »Titanic«, als es 1986 am Meeresgrund entdeckt wurde. Die Tragödie dieses Schiffsunterganges hat mich mein Leben lang verfolgt, obwohl sie sich fünf Jahre vor meiner Geburt ereignet hat. Sie liegt der ersten Geschichte zugrunde, die ich je verfasst habe, ein glücklicherweise längst verschollenes Epos mit dem Titel »Eisberge des Weltraums«. Ich verarbeitete sie auch im Roman »Imperial Earth« (1975), und sie ist Gegenstand eines Buches, das mich jetzt bereits seit mehreren Jahren beschäftigt.

Vielleicht noch seltsamer ist, dass der Name des Tauchbootes »Alvin« von dem seines Chefkonstrukteurs Allyn C. Vine abgeleitet ist. Und Vine war einer der Autoren des berühmten Artikels in der Zeitschrift »Science« (151 682–683, 1966), der die Konstruktion des Raumaufzuges vorschlug – der Gegenstand meines Romans »The Fountains of Paradise« (1979) wurde. Also hatte der Name Alvin mehr Macht, als ich mir Ende der 30er Jahre hatte träumen lassen, und ich bin glücklich über die Wahl.

Als der Vorschlag gemacht wurde, Gregory Benford solle eine Fortsetzung der Geschichte schreiben, war ich von der Idee sofort angetan, weil ich Gregs schriftstellerische Arbeit – besonders seinen bemerkenswerten Roman »Great Sky River« – seit langem bewundert hatte. Überdies hatte ich ihn kurz zuvor im Hauptquartier der NASA kennengelernt; als Professor für Astrophysik an der University of California in Irvine gehört er zum technischen Beraterstab der NASA.

Ich habe seine Fortsetzung jetzt mit großem Vergnügen gelesen, denn sie war für mich – wie sie es für Sie sein wird – eine Entdeckungsreise. Ich hatte keine Ahnung, wie er die Themen und Charaktere entwickeln würde, die ich vor so langer Zeit aufgegeben hatte. Besonders interessant ist es zu sehen, wie einige der Begriffe dieser ein halbes Jahrhundert alten Geschichte heute im Vordergrund moderner Wissenschaft stehen: Besonders gut gefällt mir die »Schwarze Sonne«, die eine offensichtliche Beschreibung der heute äußerst populären Schwarzen Löcher ist.

Mehr will ich über Gregs Version – oder meine eigene – nicht sagen. Ich überlasse es Ihnen, sich beider zu erfreuen.

Zuvor aber noch eine Bemerkung. Während wir uns über die Fortsetzung von »Against the Fall of Night« einigten, kam es zu dem merkwürdigen Zufall, dass der ausgezeichnete australische SF-Schriftsteller Damien Broderick (»The Dreaming Dragons«) sich mit der Frage an mich wandte, ob er eine Fortsetzung zu »The City and the Stars« schreiben könne! Angesichts des gerade mit Greg besprochenen Projekts lehnte ich mit Bedauern ab – aber vielleicht im nächsten Jahrzehnt …

 

Arthur C. Clarke

Colombo, Sri Lanka

29. Mai 1989

Prolog

 

Nicht ein einziges Mal seit Generationen veränderte sich die Stimme der Stadt, wie sie sich jetzt verändert hatte. Sie hatte nie versagt über die Zeitalter hinweg, Tag und Nacht. Für ungezählte Menschen war sie der erste und der letzte Ton gewesen, den sie gehört hatten. Sie war ein Teil der Stadt: Wenn sie verstummte, würde die Stadt tot sein, und der Wüstensand würde die breiten Straßen von Diaspar verwehen.

Selbst hier, achthundert Meter über dem Erdboden, lockte die plötzliche Stille Convar auf den Balkon hinaus. Tief unter ihm waren die Rollsteige zwischen den großen Gebäuden noch immer in Bewegung, aber nun beförderten sie stumme Menschenmengen. Etwas hatte die trägen Bewohner der Stadt aus ihren Wohnungen gelockt: Zu Tausenden glitten sie langsam zwischen den Kliffs aus farbigem Metall dahin. Und dann sah Convar, dass all diese Myriaden von Gesichtern himmelwärts gewandt waren.

Einen Augenblick lang beschlich Furcht seine Seele – Furcht, dass nach all diesen Zeitaltern die Invasoren wieder zur Erde gekommen seien. Dann starrte auch er zum Himmel hinauf, bezaubert von einem Wunder, das wiederzusehen er nie gehofft hatte. Viele Minuten blickte er hinauf, bevor er ging, seinen kleinen Sohn zu holen.

Das Kind Alvin ängstigte sich zuerst. Die ragenden Türme der Stadt, die kleinen Punkte der Menschen tief unter ihm – diese Dinge waren Teil seiner Welt, aber die Erscheinung am Himmel war jenseits seiner Erfahrungen. Sie war größer als irgendeines der Häuser der Stadt, und ihr Weiß war so blendend, dass es in den Augen schmerzte. Obwohl sie fest und keine Sinnestäuschung zu sein schien, veränderte der rastlose Wind ihre Umrisse, während Alvin  sie beobachtete.

Alvin wusste, dass der Himmel früher einmal von seltsamen Dingen belebt gewesen war. Aus dem Weltraum waren die großen Schiffe mit unbekannten Schätzen gekommen, die sie auf dem Flughafen von Diaspar ausgeladen hatten. Aber das war vor einer halben Milliarde Jahren gewesen: Schon vor dem Beginn der Geschichte war der Flughafen vom Treibsand begraben.

Convars Stimme klang bekümmert, als er zu sprechen begann.

»Schau sie dir gut an, Alvin«, sagte er. »Es mag die Letzte sein, die man auf Erden zu Gesicht bekommt. Ich habe in meinem Leben außer dieser nur eine gesehen, und in alter Zeit soll der Himmel voll von ihnen gewesen sein.«

Stumm beobachteten sie, und mit ihnen die Tausende auf den Straßen und in den Turmhäusern von Diaspar, bis sich die letzte Wolke aufgelöst hatte, ausgesogen von der heißen, ausgedörrten Luft der Wüste.

1

 

Das Gefängnis von Diaspar

 

Die Lektion war beendet. Das schläfrige Flüstern des Hypnons ging unvermittelt eine Tonlage höher und verstummte mit einem dreimal wiederholten Befehlston. Dann verschwamm die Maschine vor seinen Augen und schien sich aufzulösen. Aber Alvin starrte weiter ins Leere, ohne sie oder etwas anderes zu sehen, immer noch auf der Rückkehr durch die Zeitalter in die Realität seiner Gegenwart.

Jeserac wartete; als er sprach, war seine Stimme besorgt und ein wenig unsicher.

»Das sind die ältesten Aufzeichnungen der Welt, Alvin – die einzigen, die unsere Erde zeigen, wie sie war, bevor die Eindringlinge kamen. Nur sehr wenige Menschen haben diese Aufzeichnungen gesehen.«

Langsam wandte sich der Junge seinem Lehrer zu. Etwas in seinem Blick bereitete dem alten Mann Sorgen, und wieder bedauerte Jeserac seine Handlungsweise. Er begann schnell zu sprechen, als versuche er, sein eigenes Gewissen zu beruhigen.

»Du weißt, dass wir nie über die alten Zeiten sprechen, und ich zeigte dir diese Aufzeichnung nur, weil du so begierig warst, sie zu sehen. Lass dich von ihnen nicht in Aufregung versetzen: Solange wir glücklich sind, spielt es doch keine Rolle, wie viel dieser Welt uns zur Verfügung steht. Die Leute, die du gesehen hast, hatten mehr Raum, aber sie waren weniger zufrieden als wir.«

Alvin fragte sich, ob das der Wahrheit entsprach. Er dachte wieder an die Wüste, die Diaspar umgab wie das Meer eine Insel, und wie von selbst kehrten seine Gedanken zurück zu der Welt, die die Erde einmal gewesen war. In seiner Vorstellung sah er die endlosen, blauen Wasserflächen, größer als das Land, deren Wellen sich an goldenen Stränden brachen. Noch immer dröhnte ihm das Donnern der Brecher in den Ohren, das seit tausend Millionen Jahren verstummt war. Und er erinnerte sich an die Wälder und Grasfluren, und an die seltsamen Tiere, die früher einmal die Welt mit dem Menschen geteilt hatten.

Dies alles war verschwunden. Von den Ozeanen zeugten nur noch die endlosen grauweißen Salzwüsten, die Leichentücher der Erde. Salz und Sand von Pol zu Pol, und nur die Lichter von Diaspar brannten in der Wildnis, die sie eines Tages überwältigen musste. Und dies war nicht alles, was der Mensch verloren hatte, denn über der öden Verlassenheit schienen noch die vergessenen Sterne.

»Ich ging einmal zum Turm von Loranne«, sagte Alvin schließlich. »Dort wohnt niemand mehr, und ich konnte über die Wüste hinausblicken. Es war dunkel, und der Erdboden war nicht zu sehen, aber der Himmel war voll von Lichtern. Ich beobachtete sie lange, aber sie bewegten sich nicht. Das waren die Sterne, nicht wahr?«

Jeserac war bestürzt. Wie Alvin zum Turm von Loranne gekommen war, bedurfte einer Nachforschung. Die Neugier und die Interessen des Jungen wurden – gefährlich.

»Ja, das waren die Sterne«, antwortete er. »Und?«

»In den alten Zeiten besuchten wir sie, nicht wahr?«

Eine lange Pause. Dann nickte Jeserac. »Ja.«

»Warum hörten wir damit auf? Wer waren die Eindringlinge?«

Jeserac stand auf. Seine Antwort war wie das Echo aller Lehrer, die auf Erden gelebt und sich vorwitziger Fragen entzogen hatten.

»Das ist genug für heute, Alvin. Später, wenn du älter bist, werde ich dir mehr erzählen – aber nicht jetzt. Es würde dich nur verwirren. Du weißt schon viel zu viel.«

Alvin stellte die Frage nie wieder: Später brauchte er es nicht mehr zu tun, denn die Antwort war klar. Und in Diaspar gab es so viel Ablenkung und Zeitvertreib, dass er diese seltsame Sehnsucht, die er allein zu empfinden schien, monatelang vergessen konnte.

Diaspar war eine Welt in sich. Hier hatte die Menschheit all ihre Schätze zusammengetragen, alles, was aus den Ruinen der Vergangenheit gerettet worden war. Alle längst untergegangenen Städte hatten Diaspar etwas gegeben: Schon vor der Ankunft der Eindringlinge war ihr Name auf all den Welten bekannt gewesen, die der Menschheit verlorengegangen waren.

Nicht nur der Reichtum, auch alle Kunstfertigkeit und Kenntnisse des Goldenen Zeitalters waren in den Bau von Diaspar eingegangen. Als die Glanzzeit zu Ende gegangen war, hatten weitblickende und geniale Männer die Stadt umgeformt und ihr die Maschinen gegeben, die sie unsterblich machten. Was immer in Vergessenheit geraten mochte, Diaspar würde überleben und die Abkömmlinge der Menschheit sicher auf dem Strom der Zeit weitertragen.

Vielleicht waren sie ebenso zufrieden wie ihre fernen Vorfahren, die in und mit der Natur gelebt hatten, und auf ihre Weise mochten viele von ihnen glücklich sein, denn sie kannten nichts anderes als ihre Stadt. Sie verbrachten ihr langes Leben inmitten einer künstlichen Welt, deren Schönheit in ihren Augen unübertroffen war, denn die Arbeit von Millionen Jahrhunderten war auf die Vervollkommnung und den Ruhm Diaspars verwendet worden.

Dies war Alvins Welt, eine Welt, die seit undenklichen Zeiten in einen beinahe statischen Zustand sanfter Dekadenz abgesunken war. Davon aber wusste Alvin noch nichts, denn die Gegenwart war so voller Wunder, dass es leicht fiel, die Vergangenheit zu vergessen. Es gab so viel zu tun, so viel zu lernen, ehe die langen Jahrhunderte seiner Jugend verebbten.

Musik war die erste der Künste gewesen, die ihn angezogen hatte, und eine Zeitlang hatte er mit vielen Instrumenten experimentiert. Aber diese älteste aller Künste war durch ihre lange Geschichte so komplex geworden, dass es ihn tausend Jahre kosten mochte, all ihre Geheimnisse zu meistern, und am Ende verließ ihn der Ehrgeiz. Er konnte hören, er konnte verschiedene Instrumente spielen, aber er konnte nicht schöpferisch sein.

Lange Zeit erfreute er sich am Gedankenumformer. Auf seinem Bildschirm formte er endlose Muster von Formen und Farben, meistens Kopien der alten Meister. Immer häufiger ertappte er sich dabei, dass er Traumlandschaften aus der verschwundenen Welt der Frühzeit schuf, und oft gingen seine Gedanken sehnsüchtig zu den Aufzeichnungen, die Jeserac ihm gezeigt hatte. So brannte die schwelende Flamme seiner Unzufriedenheit langsam zur Bewusstseinsebene durch, obwohl er sich über die unbestimmte Ruhelosigkeit, die er oft verspürte, kaum Rechenschaft ablegte.

Aber mit den Monaten und Jahren wuchs diese Ruhelosigkeit. Hatte Alvin sich früher mit den Vergnügungen und Interessen zufrieden gegeben, die auf Diaspar beschränkt waren, so spürte er jetzt, dass sie nicht ausreichten. Sein Horizont weitete sich, und die Erkenntnis, dass er sein ganzes Leben innerhalb der Mauern der Stadt würde verbringen müssen, wurde ihm unerträglich. Gleichwohl war ihm bewusst, dass es keine Alternative gab, denn die lebensfeindlichen Wüsten bedeckten die ganze Welt.

Er hatte die Wüste nur einige Male in seinem Leben gesehen, kannte aber niemanden, der sie sonst noch gesehen hatte. Die Furcht der Menschen vor der äußeren Welt war etwas, das er nicht verstehen konnte: Für ihn barg sie keine Schrecken, nur Geheimnisse. Wenn er, wie eben jetzt, der Stadt überdrüssig war, vernahm er den leisen, doch unüberhörbaren Ruf der äußeren Welt.

Die Rollsteige waren voller Leben und Farbe, als die Bewohner der Stadt ihren Beschäftigungen nachgingen. Sie lächelten Alvin zu, als er auf den mittleren, schnellsten Rollsteig überwechselte. Manche grüßten ihn und nannten seinen Namen: Früher war es für ihn schmeichelhaft, wenn er im ganzen Viertel bekannt war, jetzt aber verschaffte es ihm kein Vergnügen.

Innerhalb von Minuten hatte der Express-Rollsteig ihn aus dem stark belebten Stadtkern hinausgetragen, und als er ihn an einer langen Terrasse aus verschiedenfarbigem Marmor verließ, gab es da nur wenige Leute. Die Rollsteige waren so sehr ein Teil seines Lebens, dass Alvin sich gar kein anderes Transportmittel vorstellen konnte. Ein Ingenieur der alten Welt wäre wohl verrückt geworden, wenn er versucht hätte, das komplizierte System der einander kreuzenden und voneinander abzweigenden Rollsteige zu verstehen, die sich mit abgestuften Geschwindigkeiten bewegten und deren innere Expressbahn hundert Meilen pro Stunde erreichte. Eines Tages mochte auch Alvin sich Gedanken darüber machen, einstweilen aber nahm er seine Umgebung so unkritisch hin wie alle anderen Bewohner von Diaspar.

Dieser Teil der Stadt war beinahe menschenleer. Obwohl die Bevölkerung von Diaspar seit Jahrtausenden fast unverändert geblieben war, hatte es sich eingebürgert, bestimmte Stadtviertel zu bevorzugen. Eines Tages würden die Gezeiten des Lebens wieder in diese Richtung strömen, aber die großen Turmhäuser standen seit hunderttausend Jahren nahezu leer.

Die Marmorterrasse führte zu einer Wand mit hell beleuchteten Tunnelöffnungen. Alvin entschied sich, ohne zu zögern, für die erstbeste und ging hinein. Sogleich erfasste ihn das peristaltische Feld und beförderte ihn weiter, während er sich bequem zurücklehnte und seine Umgebung betrachtete.

Er konnte kaum glauben, dass er sich in einem Tunnel befand. Der Illusionsmalerei, die ganz Diaspar zu ihrer Leinwand gemacht hatte, war hier ein wahres Meisterstück gelungen, und Alvin hatte das Gefühl, unter freiem Himmel dahinzugleiten. Um ihn her glänzten die Türme der Stadt im Sonnenschein. Es war nicht die Stadt, wie er sie kannte, sondern das Diaspar eines viel früheren Zeitalters. Obwohl die meisten der großen Gebäude vertraut schienen, gab es feine Unterschiede, die das Interesse an der Wiedergabe weckten. Alvin hätte gern länger verweilt, aber er hatte nie eine Möglichkeit gefunden, verzögernd auf das peristaltische Feld einzuwirken und seine Reise durch den Tunnel zu verlangsamen.

Allzu früh wurde er in einer großen, elliptischen Halle, die ringsum von Fenstern umgeben war, sanft niedergesetzt. Die Fenster gewährten verlockende Ausblicke in köstlich grüne Gärten, wo Blumen und Sträucher in voller Blütenpracht prangten. Es gab noch Gärten in Diaspar, aber diese waren der Phantasie des Künstlers entsprungen. Sicherlich gab es in der heutigen Welt keine solchen Blumen mehr.

Alvin trat durch eines der Fenster, und die Illusion zerstob. Er sah sich in einem röhrenförmigen Korridor, der steil aufwärts führte. Ein Rollsteig unter seinen Füßen setzte sich langsam in Bewegung, um ihn seinem Ziel näher zu bringen. Er ging ein paar Schritte, bis der Rollsteig eine Geschwindigkeit erreicht hatte, die jede weitere Anstrengung überflüssig machte.

Der Korridor führte weiter aufwärts und beschrieb dabei eine Krümmung, die ihn nach ungefähr hundert Metern seine Richtung um neunzig Grad verändern ließ. Aber das wusste nur die Logik; für die Sinne hatte es den Anschein, als führe der Rollsteig durch einen völlig geraden und ebenen Korridor. Die Tatsache, dass er in Wirklichkeit einen vertikalen Schacht hinaufgetragen wurde, der Hunderte von Metern tief war, verschaffte Alvin kein Gefühl von Unsicherheit, denn ein Versagen des polarisierenden Feldes war undenkbar.

Bald neigte sich der Korridor wieder und ging in die Waagerechte über. Die Bewegung des Rollsteiges verlangsamte sich kaum merklich, bis er am Ende eines langen Spiegelsaales zum Stillstand kam. Alvin wusste, dass er jetzt im obersten Geschoss des Turmes von Loranne angekommen war.

Er verweilte ein wenig im Spiegelsaal, der eine große Faszination ausübte. In ganz Diaspar gab es, soweit Alvin wusste, nicht seinesgleichen. Der Künstler hatte die Spiegel beweglich angeordnet, und nur wenige von ihnen spiegelten die Szene, wie sie wirklich war – und selbst die veränderten ständig ihre Position. Die übrigen reflektierten zweifellos etwas, aber es war verwirrend, sich selbst zwischen immerfort wechselnder, imaginärer Umgebung gehen zu sehen. Alvin fragte sich, was er tun würde, wenn in dieser Spiegelwelt ein anderer auf ihn zukäme, aber die Situation blieb ihm erspart.

Fünf Minuten später war er in einem kleinen, leeren Raum, durch den ein warmer Luftzug ging. Er gehörte zum Belüftungssystem des Turmes, und der Luftstrom entwich durch eine Serie breiter Öffnungen in der Außenwand des Gebäudes. Durch sie konnte man einen Blick auf die Welt außerhalb von Diaspar werfen.

Es wäre vielleicht zu viel gesagt, wenn man behauptete, Diaspar sei mit Bedacht so erbaut worden, dass seine Bewohner von der Außenwelt nichts sehen konnten. Gleichwohl war es seltsam, dass man, soweit Alvin bekannt war, von keiner anderen Stelle der Stadt die Wüste sah. Die äußeren Turmhäuser von Diaspar bildeten einen Wall um die Stadt, kehrten der feindlichen Außenwelt den Rücken, und Alvin dachte wieder an den seltsamen Widerwillen der Leute, sich mit Worten oder auch nur in Gedanken mit etwas zu beschäftigen, was außerhalb ihres kleinen Universums lag.

Viele hundert Meter unter ihm lag die Wüste im letzten Licht des scheidenden Tages. Die beinahe horizontal einfallenden Sonnenstrahlen malten ein Muster von Licht und Schatten auf die Ostwand des kleinen Raumes, und Alvins Schatten ragte mächtig hinter ihm. Er beschirmte die Augen gegen die Glut und spähte hinab auf das Land, auf dem seit ferner Vergangenheit kein Mensch gegangen war.

Es gab wenig zu sehen: nur die langen Schatten der Sanddünen, und, weit im Westen, einen niedrigen Höhenzug felsiger Hügel, hinter denen die Sonne unterging. Es war seltsam, sich vorzustellen, dass unter all den ungezählten Menschen nur er dieses Panorama gesehen hatte.

Es gab keine Dämmerung: Kaum war die Sonne untergegangen, da zog die Nacht wie ein Wind über die Wüste und streute die Sterne aus. Hoch im Süden leuchtete ein seltsames Sternbild, das Alvin früher schon aufgefallen war – ein vollkommener Kreis von sechs Sternen verschiedener Färbung, mit einem einzigen weißen Riesen in der Mitte. Nur wenige andere Sterne strahlten mit solcher Helligkeit, denn die gewaltigen Sonnen, die in der Pracht ihrer Jugend so heftig gebrannt hatten, glommen nun ihrem Untergang entgegen.

Lange kniete Alvin an der Öffnung und beobachtete die im Westen versinkenden Sterne. Hier, in der schimmernden Dunkelheit, hoch über der Stadt, schien sein Geist mit übernormaler Klarheit zu arbeiten. Noch immer gab es riesige Lücken in seinem Wissen, aber allmählich begann sich das Rätsel von Diaspar zu lösen.

Die menschliche Rasse hatte sich verändert – und er nicht. Die Neugierde und der Wissensdurst, die ihn vom Rest seines Volkes absonderten, mussten früher einmal allen Menschen eigen gewesen sein. In ferner Vergangenheit, vor Millionen Jahren, musste etwas geschehen sein, was die Menschheit verändert hatte. Diese unerklärten Hinweise auf die Eindringlinge – lag die Antwort dort?

Es war Zeit, dass er sich auf den Heimweg machte. Als er aufstand, kam ihm plötzlich ein Gedanke in den Sinn, der neuartig war. Die Entlüftungsöffnung war beinahe horizontal und vielleicht drei Meter lang. Er war immer der Meinung gewesen, sie rage am anderen Ende aus der Wand des Turmes hinaus, aber das war eine reine Annahme. Es gab auch andere Möglichkeiten, wie ihm jetzt klar wurde. Tatsächlich war es mehr als wahrscheinlich, dass unter der äußeren Öffnung eine Art Sims verlief, sei es aus Sicherheitsgründen oder um mögliche Wartungsarbeiten zu erleichtern. Es war jedoch zu spät, um jetzt weitere Nachforschungen anzustellen, aber morgen wollte er wiederkommen …

Er bedauerte, dass er Jeserac würde belügen müssen. Aber wenn der alte Mann seine Überspanntheiten missbilligte, war es nur rücksichtsvoll, die Wahrheit zu verbergen. Außerdem hätte Alvin selbst nicht sagen können, was er zu entdecken hoffte. Er wusste recht gut, dass er, wenn es ihm irgendwie gelänge, Diaspar zu verlassen, bald würde zurückkehren müssen. Aber die schuljungenhafte Erregung eines möglichen Abenteuers trug ihre Rechtfertigung in sich.

Es war nicht schwierig, sich durch die Öffnung zu arbeiten, obwohl er es noch vor einem Jahr nicht so leicht bewerkstelligt hätte.

Die Vorstellung, am Ende der Öffnung in einen tausend Meter tiefen Abgrund zu blicken, schreckte Alvin nicht im Mindesten, denn der Mensch hatte seine Furcht vor großen Höhen längst verloren.

Und tatsächlich konnte es sich nur um einen Sprung von einem Meter auf eine breite Terrasse handeln, die sich rechts und links über die Breite des Turmhauses erstreckte.

Das Blut pochte dumpf in seinen Schläfen, als Alvin durch die Öffnung hinauskroch.

Vor ihm lag die ganze Weite der Wüste, nicht mehr von einem schmalen Rechteck aus Stein eingerahmt.

Über ihm reckte sich die Fassade des Turmes ein gutes Stück in den Himmel. Die benachbarten Gebäude erhoben sich im Norden und Süden wie eine Schlachtreihe von Titanen. Alvin bemerkte mit Interesse, dass der Turm von Loranne nicht der einzige war, der Entlüftungsöffnungen zur Wüste hin hatte. Er stand eine Weile und nahm die gewaltige Landschaft in sich auf; dann begann er das Gesims zu untersuchen, auf dem er stand.

Es war ungefähr sieben Meter breit und endete ohne ein Geländer in der freien Luft über dem Abgrund. Alvin blickte furchtlos über den Rand in die Tiefe und schätzte, dass die Wüste mindestens eine Meile unter ihm war. In dieser Richtung gab es keine Hoffnung.

Bei weitem interessanter war der Umstand, dass von einem Ende des Simses eine Treppe abwärtsführte, anscheinend zu einem weiteren Sims, der einige hundert Meter unter ihm verlief.

Die Stufen waren in die Fassade des Gebäudes gehauen, und Alvin überlegte, ob sie wohl ganz hinunterführen würden. Das war eine erregende Möglichkeit: In seiner Begeisterung übersah er die körperlichen Implikationen eines Abstiegs von tausendfünfhundert Metern.

Aber die Treppe war kaum vierzig Meter lang, dann endete sie jählings an einem mächtigen Steinblock, der den Weiterweg versperrte. Ein Überklettern oder Umgehen war ausgeschlossen: Der Abstieg war vorsätzlich blockiert worden.

Entmutigt näherte sich Alvin dem Hindernis. Er hatte nur an den Abstieg gedacht, nicht an die Schwierigkeit des Rückwegs, das hieß, eine eineinhalb Kilometer hohe Treppe zu ersteigen. Nun war er verwirrt und ärgerlich, dass er so weit gekommen war, nur um schließlich doch zu scheitern.

Er erreichte den Block und sah erst jetzt die in den Stein gehauene Botschaft. Die Schriftzeichen waren archaisch, doch er konnte sie ohne besondere Mühe entziffern. Dreimal las er die einfache Inschrift: Dann setzte er sich auf die steinernen Stufen und blickte hinaus über das unerreichbare Land unter ihm.

 

ES GIBT EINEN BESSEREN WEG. RICHTE DEM VERWAHRER DER AUFZEICHNUNGEN MEINE GRÜSSE AUS.

ALAINE VON LYNDAR

2

 

Der Beginn der Suche

 

Rorden, der Verwahrer der Aufzeichnungen, ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, als sein Besucher sich anmeldete. Als der Junge den Raum betrat, hatte er bereits seinen Namen in den Datenspeicher eingegeben, und drei Sekunden später hatte er Alvins persönliche Daten vor sich.

Jeserac zufolge waren die Pflichten des Verwahrers der Aufzeichnungen etwas unklar. Nun, Alvin hatte einen Archivverwalter inmitten eines riesigen Ablagesystems erwartet. Er hatte auch – und ohne irgendeinen Grund – erwartet, einen Mann anzutreffen, der mindestens so alt wie Jeserac war. Stattdessen fand er einen Mann mittleren Alters in einem Raum, der vielleicht ein Dutzend große Maschinen enthielt. Rorden saß hinter einem mit Papieren nicht gerade überladenen Schreibtisch und begrüßte seinen Besucher etwas geistesabwesend, denn er war gerade damit beschäftigt, Alvins Daten zu studieren.

»Alaine von Lyndar?«, sagte er. »Nein, von dem habe ich nie gehört. Aber wir werden bald herausfinden, wer er war.«