Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Karte von Andurion
  7. VOM STURM ERWECKT
  8. Lorena
  9. Tero
  10. Tinnek
  11. Lorena
  12. Tero
  13. Lorena
  14. Tinnek
  15. Tero
  16. Lorena
  17. Vela
  18. Tinnek
  19. Lorena
  20. Vela
  21. Tero
  22. Lorena
  23. Vela
  24. Tero
  25. Ryell
  26. Lorena
  27. Ryell
  28. ZU STAUB ZERFALLEN
  29. Ignatia
  30. Ryell
  31. Vela
  32. Lorena
  33. Ryell
  34. Lorena
  35. Ignatia
  36. Ryell
  37. Vela
  38. Ignatia
  39. Tero
  40. Ryell
  41. Vela
  42. Lorena
  43. Ryell
  44. Vela
  45. Lorena
  46. Vela
  47. Tero
  48. Ignatia
  49. Vela
  50. Lorena
  51. AUS FLAMMEN GEBOREN
  52. Lorena
  53. Ignatia
  54. Ryell
  55. Tero
  56. Vela
  57. Lorena
  58. Ignatia
  59. Tero
  60. Lorena
  61. Vela
  62. Tero
  63. Lorena
  64. Josch
  65. Tero
  66. Ignatia
  67. Vela
  68. Ryell
  69. Lorena
  70. Josch
  71. Ignatia
  72. Vela
  73. Tero
  74. Lorena
  75. Ignatia
  76. Josch
  77. Lorena
  78. Tero
  79. Lorena
  80. Ignatia
  81. Josch
  82. Lorena
  83. VON WELLEN GETRAGEN
  84. Zehn Jahre später Nura
  85. Ignatia
  86. Lorena
  87. Josch
  88. Nura
  89. Josch
  90. Vela
  91. Nura
  92. Ignatia
  93. Ryell
  94. Josch
  95. Nura
  96. Lorena
  97. Vela
  98. Josch
  99. Nura
  100. Ryell
  101. Josch
  102. Lorena
  103. Nura
  104. Ryell
  105. Ignatia
  106. Lorena
  107. Ryell
  108. Nura
  109. Josch
  110. Vela
  111. Nura
  112. Josch
  113. ZUM LEBEN ERWACHT
  114. Pleck
  115. Lorena
  116. Nura
  117. Tero
  118. Ryell
  119. Lorena
  120. Tero
  121. Pleck
  122. Nura
  123. Tero
  124. Ryell
  125. Nura
  126. Pleck
  127. Lorena
  128. Tero
  129. Pleck
  130. Nura
  131. Josch
  132. Pleck
  133. Tero
  134. Nura
  135. Ryell
  136. Tero
  137. Nura
  138. Pleck
  139. Tero
  140. Josch
  141. Lorena
  142. Nura
  143. Pleck
  144. Josch
  145. Ryell

Über das Buch

Die Zeit der Kriege in Andurion ist vorbei. Um den Frieden zu wahren, leben die Völker der vier Elemente seit Tausenden von Jahren getrennt voneinander.

Doch eine alte Prophezeiung kündigt großes Unheil an, welches über Andurion hereinbrechen wird. Nur ein Held, der alle Elemente in sich vereint, kann die Welt noch retten …

Lorena vom Volk des Wassers wird als Botschafterin ins Land des Luftvolks geschickt, um einem Hilferuf nachzukommen. Sturmwinde haben das Reich der Luft in Schutt und Asche gelegt, und eine rätselhafte Seuche rafft die Menschen dahin. Gemeinsam mit den Botschaftern der anderen Völker will Lorena das Reich der Luft retten. Noch ahnt niemand, dass dies alles der Beginn einer viel größeren zerstörerischen Gefahr ist. Eine dunkle Macht will das Land Andurion an sich reißen. Vor Lorena und ihren Gefährten liegen dunkle Jahre voller beschwerlicher Reisen und gefährlicher Abenteuer. Werden die zerstrittenen Völker tatsächlich vereint gegen das Böse kämpfen?

Über die Autorin

Carina Zacharias wurde 1993 in Aachen geboren. Sie erzählt und schreibt Geschichten seit ihrer frühesten Kindheit, und Autorin zu werden war schon immer ihr größter Traum. Mit einem Studium der Landschaftsökologie orientierte sie sich allerdings in Richtung ihrer zweiten großen Leidenschaft, dem Umweltschutz.

CARINA ZACHARIAS

—— THE ——
LOST
PROPHECY

DAS REICH DER ELEMENTE

beHEARTBEAT

VOM STURM
ERWECKT

Lorena

Erst nachdem sie von der Felsküste aus ein ganzes Stück in Richtung des offenen Ozeans geschwommen war, tauchte Lorena unter. Das gebrochene Sonnenlicht malte unstete Muster auf den weißen Sandboden unter ihr, und die Stille unter der Wasseroberfläche umfing sie wie eine lang ersehnte Umarmung. Ohne Hast schwamm Lorena dem Korallenriff entgegen, die Hektik der Festtagsvorbereitungen mit jedem Schwimmzug weiter hinter sich lassend. Routiniert bewegte sie Arme und Beine, sog tief das kühle Meereswasser durch die Kiemen an ihrem Hals. Ihr Kleid aus leichtem hellblauem Stoff behinderte sie nicht bei ihren Schwimmbewegungen, war es doch genau für diesen Zweck geschneidert worden. Heute Abend jedoch würde sie eine elegantere Garderobe anziehen müssen. Doch das war erst heute Abend.

Das Korallenriff, welches die Westküste von Andurion säumte, schützte die Behausungen des Wasservolks vor Brandung und Sturm und hatte der Hauptstadt ihren Namen gegeben: Wellenbruch. Nun war Lorena jedoch heilfroh, dem geschäftigen Treiben Wellenbruchs entkommen zu sein und für einen kurzen Moment in die Ruhe des Korallenriffs flüchten zu können.

Schon immer hatte das Riff eine geradezu magische Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Sie wurde seiner Schönheit und Vielfalt niemals müde, und auch heute erfüllte sie der Anblick der bunten Korallen und Fische mit einer tiefen Ruhe und Zufriedenheit. Sie spürte förmlich, wie der Stress und die Anspannung der vergangenen Stunden von ihr abfielen.

Leise lächelnd glitt Lorena über Weich- und Steinkorallen hinweg, mit ihren vielen Fingern, Verästelungen und Buckeln, bewegte sich so wenig wie möglich, um die bunten Fische nicht zu verscheuchen, die geschäftig hin und her schwammen oder sie neugierig begleiteten: Papageien-, Falter- und Anemonenfische und viele mehr, in allen Farben und Mustern. Auch einem Riffhai begegnete Lorena, der sie jedoch nicht weiter beachtete auf seinem lautlosen Beutezug.

Selten hatte Lorena das Riff so für sich gehabt. Keine Menschenseele war zu sehen. Das war keineswegs verwunderlich, waren doch alle vollauf damit beschäftigt, die abendlichen Festlichkeiten zur Feier des Gründungstages von Wellenbruch vorzubereiten. Aber während die meisten gemütlich zu Hause im Kreise der Familie feiern würden, musste Lorena im Saal des Rates zugegen sein, denn sie war die persönliche Assistentin von Marcella, der Botschafterin.

Lorena seufzte innerlich bei dem Gedanken und wollte sich gerade auf den Rückweg machen, um nicht zu spät zu kommen, als ihr auffiel, dass sie doch nicht so allein war, wie sie vermutet hatte. Ein Stück weit entfernt und mehrere Meter über ihr schwamm ein junger Mann auf der Stelle, umgeben von einem ganzen Schwarm Molchlinge. Letztere waren es, die Lorena stutzen und genauer hinsehen ließen, denn die scheuen Tiere kamen Menschen sonst niemals so nahe.

Ihr Aussehen erinnerte an Frösche, sie hatten jedoch viel längere Arme und Beine und konnten sich an Land sogar aufrecht gehend fortbewegen. Die Tiere waren etwa unterarmgroß und konnten bei Gefahr eine Art Halskrause aufstellen, mit der sie Angreifer zu erschrecken versuchten. Genau das passierte jetzt, als Lorena ihnen versehentlich zu nahe kam und alle auf einmal mit ein paar raschen Schwimmbewegungen und aufgestellten Halskrausen davon schossen.

Verwundert sah der Junge sich zu ihr um – und erst jetzt erkannte Lorena ihn.

»Josch!«, entfuhr es ihr, und Luftblasen stiegen aus ihrem Mund.

Josch lächelte und hob grüßend die Hand. Er war der persönliche Assistent des männlichen Botschafters Waris, und so kamen sie nicht umhin, sich regelmäßig bei ihren Aufgaben in den Ratsgrotten zu begegnen. Nichtsdestotrotz kannte Lorena Josch nur flüchtig, da sie kaum je mehr als ein paar höfliche Worte miteinander wechselten. Sie mochte den freundlichen und hilfsbereiten Jungen und hatte sich schon oft dabei ertappt, ihn aus der Ferne zu beobachten oder zu überlegen, auf welche Weise sie ihn in ein längeres Gespräch verwickeln könnte, um ihn besser kennenzulernen.

Sehr erfolgreich war sie dabei nicht gewesen. Ihre wohl längste Unterhaltung war nur zustande gekommen, weil sie vor ein paar Monaten über den Saum ihres Kleides stolperte, als sie auf ihn zugehen und ihn ansprechen wollte. Den Fenari sei Dank hatte er ihr den Rücken zugekehrt und den Fall selbst nicht gesehen. Doch er hatte darauf bestanden, sie zum Krankenzimmer zu bringen und auf dem Weg dahin zu stützen, damit sie ihren schmerzenden Fußknöchel nicht zu sehr belastete. Bei der Erinnerung daran schoss Lorena noch heute das Blut in den Kopf.

»Hi Lorena«, sagte Josch nun. Auch aus seinem Mund stiegen Luftblasen.

Lorena deutete nach oben, und Josch nickte zustimmend. Gemeinsam schwammen sie auf die Wasseroberfläche zu und streckten prustend die Köpfe an die Luft. Es war zwar unter Umständen möglich, sich unter Wasser mit einfachen Worten zu verständigen, doch wenn man ehrlich war, so funktionierten ihre Stimmbänder und Ohren an der Luft einfach besser.

»Hi Josch«, sagte Lorena nun. »Tut mir leid, ich wollte nicht stören …«

Doch Josch, der wassertretend neben ihr schwamm, winkte ab. Sein für das Wasservolk so typisches schwarzes Haar klebte ihm am Kopf. Marcella hatte Lorena gegenüber erst letztens bemerkt, dass es einen Schnitt vertragen könnte, doch Lorena mochte, wie es unter Wasser hin und her wogte oder ihm in die Stirn fiel, wenn es trocken war. Auch Marcellas Beschreibung »pummelig« fand sie übertrieben. Es konnte ja nicht jeder so penibel auf eine fettarme Ernährung achten wie die Botschafterin! Und außerdem hatte Josch das sympathischste Lächeln, das sie je an einem Menschen gesehen hatte.

»Kein Problem. Diese Molchlinge sind nun mal verdammt scheu. Ich habe sie mit toten Fliegen gefüttert, um sie anzulocken. Aber ihre Angst war dann wohl größer als ihr Hunger.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Äh«, machte Lorena. »Darf ich fragen, warum?«

Josch lächelte verlegen, antwortete aber geradeheraus: »Ich finde sie faszinierend. Ist dir schon mal aufgefallen, dass sie die einzigen Froschähnlichen sind, die in Salzwasser überleben? Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass ihre Haut sich von der anderer Frösche und Kröten unterscheidet.«

»Nein, das ist mir noch nicht aufgefallen«, gab Lorena zu. Insgeheim glaubte sie, dass das vermutlich noch nie jemandem außer Josch aufgefallen war.

Der redete schon weiter: »Ich glaube, sie sind viel intelligenter als es den Anschein macht. Die Art, wie sie einen angucken, als würden sie einen verstehen …«

Lorena lachte unwillkürlich auf und hielt schon im nächsten Moment erschrocken inne. Sie hatte Josch nicht verspotten wollen. Doch er schien es ihr nicht übel zu nehmen. Er strich sich nur die nassen Haare aus der Stirn und lachte leise über seine eigenen Worte. »Ja, ich weiß. Albern, nicht wahr?«

»Nein, nein«, beeilte Lorena sich zu sagen. Doch mehr fiel ihr nicht ein, und um keine peinliche Stille entstehen zu lassen, fügte sie hinzu: »Ich sollte wohl bald zurückschwimmen. Marcella wird Hilfe mit ihrem Abendkleid und der Frisur brauchen.«

Josch erwiderte scherzend: »Das lässt sich von Waris zwar nicht sagen, aber er wird mich sicher auch erwarten. Aber … da ich dich schon treffe … Ich wollte dir noch etwas geben.« Mit plötzlicher Verlegenheit griff er in die Tasche seiner Hose und als er die Hand über die Wasseroberfläche hob, konnte Lorena nur überrascht den Mund aufsperren. Auf seiner Handfläche lag eine geschlossene Herzmuschel. Es war die wohl häufigste Muschelart, und man fand sie zuhauf am Meeresboden und entlang der Strände. Wenn jedoch ein Junge des Wasservolks einem Mädchen eine Herzmuschel schenkte, so konnte dies nur eines bedeuten.

»Du willst mit mir ausgehen?«

Die Frage schien Josch erst recht zu verunsichern. »Natürlich nur, wenn du möchtest.«

»Ja, gerne«, beeilte sich Lorena zu sagen und nahm die Muschel entgegen. Erst jetzt fiel ihr das Silberkettchen auf, welches daran befestigt war.

»Du hast einen Kettenanhänger daraus gemacht«, stellte sie fest.

»Ja. Aber du musst ihn nicht tragen, wenn du nicht willst.«

»Doch! Natürlich will ich, das ist eine schöne Idee.« Lorena lächelte.

Josch schien erleichtert, er wich ihrem Blick jedoch aus, als er sagte: »Also, ich habe mir überlegt, dass wir später bestimmt nicht mehr gebraucht werden, wenn das Fest erst mal in vollem Gange ist. Wir könnten uns etwas vom Buffet stibitzen und ein ruhiges Eckchen in den Grotten oder draußen auf den Felsen suchen, um zu zweit zu essen.«

Lorenas Lächeln vertiefte sich. »Das klingt toll.«

»Wirklich? Oh, gut. Wunderbar, dann ist das ja geklärt.« Josch nickte geschäftsmäßig. »Ich muss dann jetzt auch wirklich los.«

Lorena fand Joschs Verlegenheit so niedlich, dass sie beinahe vergaß, selbst verlegen zu sein. Sie hätte allerdings gar nicht aufhören können zu lächeln, selbst wenn sie es gewollt hätte. »Alles klar. Dann bis heute Abend.«

»Bis heute Abend.« Schon war Josch untergetaucht.

Erst jetzt bemerkte Lorena, wie aufgeregt ihr das Herz in der Brust schlug. Sie gab Josch noch etwas Vorsprung, indem sie sich sorgfältig die Kette mit dem Muschelanhänger über den Kopf zog. Dabei fiel ihr auf, dass die beiden Hälften der Muschel von einem winzigen silbernen Verschluss zusammengehalten wurden.

»Es ist ein Medaillon«, murmelte sie und öffnete die beiden Hälften vorsichtig. Was sie darin fand, ließ sie erschrocken nach Luft schnappen. Eine Perle fiel ihr in die Hand, von so wunderschön schillerndem Perlmutt wie sie keine Herzmuschel der Welt hervorbringen konnte. Dies war eine waschechte Austernperle, das erkannte Lorena auf den ersten Blick. Eine solche Perle musste ein kleines Vermögen wert sein, nie im Leben hätte Josch sich das leisten können. Er musste sie gefunden haben. Und nun hatte er sie ihr geschenkt.

Sorgfältig verschloss Lorena die Perle wieder in der Muschel und ließ den zweifach kostbaren Anhänger unter ihrem Kleid verschwinden. Erst dann tauchte auch sie unter und schwamm zurück nach Wellenbruch und dem Festtagstrubel entgegen.

Nun konnte sie den abendlichen Festakt kaum mehr erwarten.

*

Entgegen Lorenas Erwartungen war Marcella nicht in ihren Gemächern mit der Auswahl ihrer Garderobe beschäftigt. Eine ganze Weile musste Lorena auf der Suche nach ihr vergeblich durch die Gänge und Höhlen der Ratsgrotten streifen. Das Platschen ihrer Schritte auf dem nassen Boden und das Geräusch unsichtbarer Tropfen hallte von den Wänden wider, welche von leuchtenden Illumi-Seesternen beklebt waren, um die Gänge zu erhellen.

Keiner der vielen labyrinthischen Gänge und Säle der Ratsgrotten war vollkommen trocken. Die tiefer und näher zur Küste gelegenen Räumlichkeiten wurden bei Hochwasser sogar vollständig geflutet. Doch genauso fühlten sich die Menschen des Wassers wohl. Nicht umsonst lebte ein Großteil ihres Volks in schwimmenden Floßhäusern, die zwischen Küste und Korallenriff verankert waren und deren Zimmer halb über und halb unter der Wasseroberfläche lagen. Wer nicht auf einem Floß lebte, der hatte sein Heim in so unmittelbarer Nähe zum Wasser erbaut, dass ihm hohe Wellen bis auf die Türschwelle schwappten.

Der Sitz des Regierungsrates jedoch lag seit der Gründung ihrer Siedlung, welche heute so festlich gefeiert werden sollte, in den feuchten Kalkgrotten von Wellenbruch. Flüsse und Bäche, welche vom Andurin abzweigten und hier ins Meer mündeten, hatten die unterirdischen Höhlen und Gänge über Jahrhunderte in die Kalksteinfelsen gegraben. Nur an wenigen Stellen war von Menschenhand nachgeholfen worden, um Durchgänge und Räume zu schaffen oder Löcher für Luft und Tageslicht zu bohren.

Doch waren die Höhlen aus der Gründungszeit nicht mehr exakt dieselben, durch die sie heute wandelten, wie Lorena wusste. Schleichend und vom menschlichen Auge unbemerkt war der Sitz ihrer Regierung in ständigem Wandel: Mal löste sich der Kalk, welcher Wände und Böden formte, im Wasser auf, mal reicherte er sich an anderer Stelle in Form von Stalaktiten und Stalagmiten wieder an. Lorena gefiel das. Es war fast, als führten die Felsen und Höhlen ein Eigenleben und duldeten die Menschen in ihrem Inneren lediglich wie ein großzügiger Gastgeber.

Lorena fand die Botschafterin schließlich in einem Klassenraum, wo sie ein paar andächtig lauschenden Kindern einen Vortrag hielt. Marcella nickte Lorena nur kurz zu, als sie im Türdurchgang erschien, und Lorena blieb an Ort und Stelle stehen, um die letzten Minuten des Unterrichts nicht zu stören. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Botschafter Unterricht in Kultur und Geschichte des Wasservolks erteilten, doch es überraschte Lorena, dass Marcella so kurz vor den Feierlichkeiten noch Muße dafür hatte. Sie hätte erwartet, dass die Botschafterin bereits voll und ganz damit beschäftigt war, ihre Garderobe zu wählen oder ein letztes Mal die Gästeliste zu studieren und die Begrüßungsworte ihrer Ansprache zu üben.

»Ihr alle habt sicher schon von den Fenari gehört, nicht wahr?«, fragte Marcella gerade.

Die Klasse antwortete mit eifrigem Nicken. Die Hand eines Jungen fuhr in die Luft, und er rief: »Ich weiß auch, wie der Wasser-Fenari heißt! Arella!«

»Die Wasser-Fenari«, korrigierte das Mädchen neben ihm hochnäsig. »Sie ist nämlich eine Frau.«

»Ila, Merrick, niemand redet ohne Aufforderung«, ermahnte Marcella streng. »Wenn ihr so viel zu dem Thema zu sagen habt, erklärt mir lieber, was die Fenari sind.«

Doch die beiden Ruhestörer wichen ihrem Blick plötzlich aus. Nur zögerlich fanden sich ein paar Kinder, die aufzeigten, um an ihrer Stelle die Frage zu beantworten. Nacheinander wurden sie von Marcella aufgerufen.

»Sie sind Gespenster«, hauchte einer.

»Sie sind Götter«, flüsterte ein anderer.

»Sie sind Superhelden«, behauptete zuletzt ein kleiner Junge im Brustton der Überzeugung. »Mit Superkräften!«

Lorena hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Lächeln zu verbergen, und auch Marcellas Mundwinkel zuckten. Doch sie quittierte jede Wortmeldung mit einem anerkennenden Nicken und antwortete: »Tatsächlich ist wohl alles davon ein bisschen richtig und nichts gänzlich falsch. Denn, um die Wahrheit zu sagen, ist es für uns Menschen schwer zu verstehen, was die Fenari wirklich sind. Wir wissen nur so viel: Als Andurion von einer höheren Macht erschaffen wurde, deren Natur selbst den Fenari unbekannt war, entstanden die vier Elemente, eins nach dem anderen, und formten die Welt, wie wir sie kennen. Zuerst die Erde, dann die Luft, dann das Wasser und zuletzt das Feuer. Und mit jedem Element, das nach Andurion gelangte, kam ein Schutzgeist, um es zu formen, es zu lenken und sicherzustellen, dass es im Einklang stand mit den anderen Elementen. Und diese Schutzgeister nennen wir Fenari. Nun, Merrick hat uns schon erzählt, dass die Fenari des Wassers, unseres Elements, Arella heißt. Das wusstet ihr sicher alle? Doch wer kann mir sagen, wie die anderen drei Fenari heißen?«

Nun wurde viel geraten, bis sich nach und nach die richtigen Antworten fanden: Rahim war der Fenari der Erde, Selena die der Luft und Rotan der des Feuers.

Daraufhin nahm Marcella ihren Vortrag wieder auf: »Die Fenari also waren es, die unserer Welt den letzten Schliff gaben, indem sie Gebirge hoben, Flüsse lenkten, Vulkane schufen, den Wind leiteten und vieles mehr. Bald schon wurde Andurion von unzähligen Pflanzen und Tieren aller Art bevölkert. Doch die Fenari, in ihrer unendlichen Weisheit, erschufen nur eine einzige Lebensform selbst – uns Menschen.«

Mucksmäuschenstill hingen die Kinder an Marcellas Lippen, und auch Lorena bemerkte, wie diese uralte Geschichte sie einmal mehr in ihren Bann zog.

»So schuf ein jeder Fenari ein Menschenvolk, und sie alle waren so unterschiedlich wie die Elemente ihrer Schöpfer. Selenas Volk, zart und schön, liebt die Luft und kann sich von ihr tragen lassen wie die leichteste Feder. Rahims Volk, stark und zäh, liebt die Erde, kann im Dunkeln sehen und ist widerstandsfähiger und kräftiger als alle anderen Menschen. Rotans Volk, stolz und willensstark, liebt das Feuer und geht unbeschadet durch lodernde Flammen. Und wir, die wir uns vor allen anderen rühmen besonnen und gewissenhaft zu sein, lieben das Wasser und können in ihm tauchen und atmen wie die Fische.«

Lorena lächelte.

»Die Fenari«, fuhr Marcella fort, »liebten ihre Kinder sehr und nahmen sogar menschliche Gestalt an, um unter ihnen wandeln und mit ihnen leben zu können. Doch mussten sie feststellen, dass ihre Schöpfung ihnen nicht nur Freude brachte. Die Fenari sind unsterblich, und ein Menschenleben ist unfassbar kurz, verglichen mit ihrem Zeitverständnis. Sie konnten ihre Kinder nicht vor jedem Leid, erst recht nicht vor Krankheit oder dem sicheren Tod schützen, und es schmerzte sie, Zeugen unserer Vergänglichkeit zu werden. Zudem waren die Menschen nicht unfehlbar, und ihre kleinsüchtigen Kriege und Konflikte bereiteten den Fenari Kummer. Schließlich sahen die Fenari ein, dass für sie in Andurion kein Platz mehr war und verließen es für immer. Bevor sie gingen, errichteten sie jedoch einen Schutzzauber rund um Andurion, um alles Böse von außerhalb fernzuhalten.

Ungefähr zu der Zeit des Weggangs der Fenari, vor fast eintausend Jahren, trennten sich die Menschenvölker endgültig voneinander, denn ihre Unterschiede waren zu groß, um gemeinsam leben zu können, und ein jedes suchte sich seine eigene Heimat. Damals ließ sich unser Volk an der Westküste nieder, und Wellenbruch wurde gegründet. Ein Ereignis, das uns jedes Jahr wieder Anlass zum Feiern gibt.«

So gespannt die Kinder auch zugehört hatten, nun machte sich eine unterschwellige Unruhe breit, als erinnerte sie die Erwähnung des Festtages an die traditionellen Spiele und Speisen, die sie daheim erwarteten. Marcella schien das nicht zu entgehen und sie beendete den Unterricht nun mit den Worten: »Und so auch heute. Einen fröhlichen Gründungstag wünsche ich euch! Bis zum nächsten Mal!«

Schon sprangen die Kinder von dem nassen Boden auf, auf dem sie gesessen hatten, und viele helle Stimmen verabschiedeten sich hastig, aber höflich, von der Lehrerin, ehe die übermütige Horde an Lorena vorbei und den Gang hinunter stürmte.

Sobald die Kinderschar den Raum verlassen hatte, trat Lorena über die Türschwelle. »Ihr habt den spannendsten Teil ausgelassen«, bemerkte sie halb im Scherz.

Marcella, die einige Papiere auf dem Lehrerpult zusammengerafft hatte, schien tief in Gedanken versunken. »Wie? Oh, du meinst die Ernennung der Botschafter?«

»Oder Arellas Prophezeiung«, entgegnete Lorena.

Die Weissagung der Wasser-Fenari war für sie immer schon eine Quelle der Faszination gewesen. Als einzige der Fenari besaß Arella die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen. Der Überlieferung zufolge hatte sich ihr kurz vor ihrem Weggang aus Andurion ein Einblick in die Zukunft von ungewöhnlicher Klarheit eröffnet, von dem leider nur noch Bruchstücke bekannt waren. Von einer großen Gefahr war die Rede, der sich die Menschen durch eigenes Verschulden aussetzten, und die in vier Wellen über das Land kommen würde. Und von einem Helden sprach die Prophezeiung, der mithilfe der Macht aller Elemente das Land und seine Bewohner von dem Übel erlösen würde. Die Weisen des Wasservolks stritten sich bis heute über die genaue Interpretation und darüber, wann diese Geschehnisse eintreten würden, und natürlich darüber, wie der fehlende Teil der Prophezeiung gelautet haben mochte.

»Ach, das ist genug Stoff für eine andere Stunde«, sagte Marcella abwesend. Noch immer schien sie mit den Gedanken weit weg zu sein. Plötzlich sah sie von den Papieren auf und Lorena direkt an. »Magst du Kinder, Lorena?«

Die Frage überraschte Lorena, sprachen sie und die Botschafterin doch sonst nie über persönliche Dinge. Doch sie musste nicht lange überlegen. »Ja, sogar sehr«, antwortete sie ehrlich. »Es ist mein größter Wunsch einmal selbst Kinder zu haben. Mindestens drei!« Sie lächelte unwillkürlich bei diesem Geständnis, doch Marcella betrachtete sie mit einem solch nachdenklichen Blick, dass Lorena schnell wieder ernst wurde.

Vielleicht dachte die Botschafterin an Lorenas eigene Eltern, welche sehr alt gewesen waren, als das Schicksal ihnen endlich das langersehnte Kind geschenkt hatte. Lorena war erst sechzehn gewesen, als ihr Vater und ihre Mutter kurz nacheinander gestorben waren, und war gleich darauf als Botschafterassistentin in den Dienst des Rates getreten. Womöglich hatte Marcella ja recht, falls sie in dem Verlust Lorenas eigener Eltern den Ursprung ihres Wunsches nach einer großen, liebenden Familie vermutete. Lorena hatte viele wunderschöne Erinnerungen an ihre Eltern, doch waren die beiden stets in einem Alter gewesen, das eher zu Großeltern gepasst hätte, und Lorena wünschte, ihr wäre mehr Zeit mit ihnen vergönnt gewesen.

Lorena nahm den Stapel grünlicher Algenpapiere vom Lehrerpult und wandte sich zum Gehen. »Wir sollten Euch besser zurechtmachen, Botschafterin. Man wird erwarten, dass Ihr als eine der ersten im Ballsaal erscheint, um die anderen Gäste zu empfangen.«

Lorenas Worte schienen Marcella aus ihren Gedanken zu reißen, woraus auch immer diese bestanden haben mochten. Stumm folgte sie Lorena durch die Tunnel der Ratsgrotten, und diese konnte nicht umhin, sich über das untypische Verhalten der Botschafterin zu wundern. Normalerweise hätte es Marcella sein müssen, die Lorena zur Eile antrieb. Lorena war zwar keinesfalls langsam oder faul, doch es war die Gewohnheit der Botschafterin, ihre Assistentin fortwährend mit Aufgaben und Erledigungen in Atem zu halten.

Lorena störte sich keineswegs daran. Nicht nur, weil sie gern viel zu tun hatte, sondern vielleicht auch, weil sie wusste, wie sehr Marcella selbst von morgens bis abends mit den Pflichten ihrer Stellung beschäftigt war. Diese waren hauptsächlich repräsentativer Art, doch dafür nicht weniger wichtig. Marcella hatte bei Sitzungen des Rates anwesend zu sein, bei unzähligen öffentlichen Veranstaltungen und Zeremonien entlang der gesamten Westküste, studierte zusammen mit Waris die alten Schriften, führte Protokoll über das Geschehen der heutigen Zeit für zukünftige Generationen und gab außerdem noch Unterricht in Kultur und Geschichte. Von alters her war es den Botschaftern untersagt, eine Ehe einzugehen oder Kinder zu bekommen, um all ihre Zeit und Energie auf die Verpflichtungen ihres Amtes verwenden zu können.

Schon oft hatte Lorena sich gefragt, ob Marcella dieses Opfer je bereute, obwohl die anscheinend unfehlbare Botschafterin ihr vor dem heutigen Tag noch nie Anlass zu diesen Überlegungen gegeben hatte. Nun betrachtete Lorena ihre Vorgesetzte aus dem Augenwinkel, während diese freundlich ein paar Angestellte des Rates grüßte, die ihnen in den Gängen entgegenkamen.

Marcella war unbestreitbar schön, mit ihrer schlanken, hohen Gestalt, den geschmeidigen schwarzen Haaren und blitzenden grünen Augen in einem Gesicht, das Lorena ohne Zögern als makellos bezeichnen würde. Zudem war Lorena voller Bewunderung für die Würde und Anmut, welche in jeder Bewegung der Botschafterin lagen. Schon oft hatte sie sich dies als Vorbild genommen – und vergaß doch immer wieder die Schultern zurückzunehmen oder den Rücken gerade zu halten. Marcella war achtunddreißig Jahre alt gewesen, als Lorena vor drei Jahren den Dienst als ihre persönliche Assistentin angetreten hatte. Doch trotz des Altersunterschieds von mehr als zwanzig Jahren war Lorena stolz darauf, dass mit der Zeit eine Art Vertrautheit zwischen ihnen entstanden war. Zwar sprachen sie nie über Persönliches, doch war es ihnen zur Gewohnheit geworden, in der Abgeschiedenheit von Marcellas Gemächern beinahe wie zwei Freundinnen zu scherzen und zu plaudern.

Ihr Gang durch die Ratsgrotten führte sie nahe an dem großen Saal vorbei, in dem normalerweise der Rat tagte, der jedoch heute Abend als Ballsaal dienen würde und aus dem bereits Musik erklang. Die ersten Instrumente wurden für die abendliche Darbietung gestimmt. Die Töne ließen Marcella aufhorchen, und ein Ruck ging durch ihren Körper.

»Nun aber schnell!«, bestimmte sie und das Wasser spritzte ihr bis zu den Knien, als sie Lorena mit ein paar raschen Schritten überholte und ein deutlich schnelleres Tempo auf dem Weg zu ihren Gemächern anschlug.

Lorena lächelte leise in sich hinein, während sie sich beeilte, mit Marcella Schritt zu halten. Zumindest schien die Botschafterin wieder ganz die Alte zu sein.

*

Der Muschelanhänger hüpfte auf Lorenas Brust, so schnell eilte sie mit gerafftem Kleid durch die leeren Gänge der Ratsgrotten. Ihr Atem ging hörbar in der menschenleeren Stille, die nur langsam von den Geräuschen der Festgesellschaft vertrieben wurde, als Lorena sich dem Ballsaal näherte. Sie zwang sich dazu, langsamer zu gehen, um nicht völlig zerzaust und errötet einzutreffen, womit sie die gesamte Arbeit der letzten Stunde zunichtegemacht hätte.

Lorena hatte ihre schönsten Seeschneckenohrringe angelegt, die Haare mit geschnitzten Fischgräten hochgesteckt und sogar die Augen mit Tintenfischtinte umrandet. Fast ärgerte es sie, wie geschickt Marcella den Grund für ihre Ungeduld erraten hatte, als Lorena über der Hochsteckfrisur der Botschafterin in Hektik verfallen war.

»Du möchtest wohl noch genug Zeit haben, dich selbst herzurichten, nicht wahr?«, hatte sie gefragt und Lorena im Spiegel einen schelmischen Blick zugeworfen. »Gibt es dafür einen speziellen Grund? Vielleicht einen gewissen Jemand?«

Lorena war prompt rot wie ein Hummer geworden, und als Marcella gleichzeitig amüsiert und nachsichtig aufgelacht hatte, war die Jüngere sich aus irgendeinem Grund sicher gewesen, dass die Botschafterin genau wusste, an wen sie dachte.

»Keine Sorge«, hatte Marcella ihr gleich darauf versichert, »niemand erwartet von dir, mit mir zusammen einzutreffen. Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst, und komm nach, sobald du fertig bist.« Und zwinkernd hatte sie hinzugefügt: »Zufällig habe ich das Kleid bereits gesehen, das die Haushofmeisterin dir besorgt hat. Glaub mir, es wird dir gefallen.«

Das war eine Untertreibung so tief wie der Ozean, wie sich herausstellte, als Lorena schließlich ihre bescheidene Kammer betrat. Auf dem Bett lag das schönste Kleid, das sie je gesehen hatte. Grünblau schimmernd, bodenlang mit einem seitlichen Beinschlitz und rückenfrei schmiegte es sich so passgenau an ihren Körper, als sei es eigens für sie geschneidert worden.

Lorena hatte sich selten so hübsch gefühlt wie jetzt. Und doch schlug ihr das Herz vor Nervosität bis zum Hals, als sie den Ballsaal betrat.

Die meisten Gäste schienen bereits eingetroffen zu sein, und die große Höhle war von Musik und den ausgelassenen Stimmen der Feiernden erfüllt. Der Boden war knöcheltief mit Wasser bedeckt, auf dessen Oberfläche sich das Licht unzähliger blau und orange leuchtender Illumi-Seesterne spiegelte. Auffliegende Tropfen begleiteten jeden Schritt der über die Tanzfläche wirbelnden Paare. Muscheltrompeten und Walbartgeigen klangen gleichzeitig feierlich und beschwingt. Auf der anderen Seite des Saals war das Buffet bereits eröffnet, und eine lange Schlange hatte sich gebildet, um von Kaviar, Austern, Tintenfischringen und Fischbraten zu kosten. Doch inmitten all des Trubels interessierte sich Lorena nur für einen. Sie spürte Joschs Blick auf sich wie eine Berührung, und als sie sich umwandte, fanden ihre Augen sich trotz des Gewimmels quer durch den Saal.

Lorena hatte Josch schon zuvor bei feierlichen Anlässen im Anzug gesehen, doch noch nie zuvor war ihr aufgefallen, wie gut er darin aussah. Lächelnd sahen sie sich an und fanden den Blick des anderen stets wieder, wenn ihr Augenkontakt durch andere umherschlendernde Gäste unterbrochen wurde. Doch noch ehe sie einen Schritt aufeinander zu tun konnten, wurde Lorena abgelenkt.

»Ah, Lorena Seestern!«

Die freundliche Stimme gehörte zu Novis Narwal. Der graubärtige Ratsvorsitzende mit den intelligenten grünen Augen war vom Wasservolk bereits das dritte Mal in Folge in sein Amt gewählt worden. Lorena mochte ihn, auch wenn Gespräche mit ihm oft etwas Unbeholfenes hatten. Mit der ihm eigenen Ehrlichkeit hatte Lorena ihn einmal offen sagen hören, wie froh er war, dass die Botschafter für ihn die »Smalltalk-Jobs« erledigten.

»Guten Abend, Herr Narwal«, sagte Lorena lächelnd.

»Ich hoffe, du amüsierst dich heute Abend?«

»Ja, ganz prächtig, Herr Narwal«, bestätigte Lorena artig. »Danke sehr.«

Der ältere Mann nickte unschlüssig und schien nach einer Ausrede zu suchen, sich wieder von Lorena verabschieden zu können, als die Stimmung im Saal plötzlich kippte.

Zuerst war es nur ein lauteres Plätschern von murmelnden Stimmen, dann gab es erste erschrockene Aufschreie, die Musik kam ins Stolpern und verstummte schließlich ganz. Lorena hob den Kopf und brauchte nur den Blicken der Menge zu folgen, um den Grund für den allgemeinen Aufruhr zu erfahren.

Am Kopfende der großen Höhle, dort, wo normalerweise die Stühle der obersten Ratsherren standen, hatte sich eine weitere Lichtquelle zu den zahlreichen Illumi-Seesternen gesellt.

»Was zum …«, hörte Lorena Novis Narwal neben sich murmeln.

Das Siegel der vier Elemente, alt wie Wellenbruch selbst und seit jeher hoch an der Wand über alle Geschehnisse innerhalb des Ratsaales wachend, leuchtete. Doch nicht gänzlich. Nur eines der vier Symbole auf der behauenen Steinplatte war auf unerklärliche Weise auf einmal von hellem, weißen Licht erfüllt.

Das Symbol der Luft.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Lorena mit dünner Stimme.

Der Ratsvorsitzende nahm den Blick nicht von dem Siegel, und das unheimliche Licht glänzte in seinen Augen, als er antwortete: »Es kann nur eines bedeuten.« Er wandte den Kopf und sah Lorena an. »Es ist ein Hilferuf.«

Tero

In seiner Hast stieß Tero immer wieder mit dem Kopf an die Decke des schmalen Tunnels oder rutschte an den allzu steilen Stellen samt Steinen und Dreck mehrere Meter zurück in die Tiefe.

»Stollenbruch und Grubenbrand!«, fluchte er ärgerlich, während er sich mühsam weiter nach oben kämpfte.

Der Tunnel war gerade breit und hoch genug, so dass er sich darin kriechend fortbewegen konnte, und jeder fußlahme Maulwurf hätte ihn wohl überholen können. Doch die Erinnerung an seine Entdeckung trieb ihn immer weiter zur Eile an.

Als er endlich auf einen der größeren Haupttunnel traf, rappelte Tero sich augenblicklich auf und lief weiter. Er musste seine Eltern finden. Vielleicht würden sie wissen, was zu tun war. Es dauerte eine ganze Weile, bis er von seinem Außenposten die belebteren Gänge des Erdvolks erreicht hatte, und als er schließlich in der Höhle seiner Familie eintraf, war er völlig außer Atem.

»Vater?«, rief er, kaum dass er durch die schwere Holztür getreten war. »Mutter?«

»Tero, Tero, spielst du mit uns Mahlwurm-Fangen?«

Wie eigentlich immer, wenn er in die Wohnhöhle seiner Familie kam, hingen augenblicklich drei kleine Geschwister an seinen Beinen.

»Nein, jetzt nicht, Line. Lass schon los, Pepp!« So gerne Tero sich auch Zeit für seine kleinen Geschwister nahm, jetzt hatte er dafür keine Geduld. »Später, ja? Habt ihr Mama und Papa gesehen?«

Ehe einer von ihnen antworten konnte, trat seine Mutter auch schon aus dem Durchgang zum Nebenraum. »Tero.« Sie hatte den Kochlöffel noch in der Hand und eine Schürze umgebunden, doch ihr Gesicht sah besorgt aus. »Du bist früh zurück. Ist etwas passiert?«

Erst jetzt wurde Tero bewusst, dass er in seiner Aufregung völlig das Zeitgefühl verloren haben musste.

»Ja«, sagte er nun, während Line und Pepp lachend davon liefen, um alleine zu spielen, gefolgt von der kleinen Mompi, die noch zu wacklig auf den Beinen war, um bei dem Tempo der beiden Älteren mithalten zu können.

Die Augen seiner Mutter leuchteten hoffnungsvoll auf. »Eine Erzader?«

Tero schüttelte den Kopf, und das Leuchten verschwand, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. Tero konnte es seiner Mutter nicht verdenken. Seit Wochen schon suchten sein Vater, seine drei älteren Brüder und er selbst nach der von Herrn Schiefer heiß ersehnten Erzlagerstätte. Bisher waren ihre Bemühungen jedoch vergeblich, und so blieb auch die bitter nötige Zahlung bislang aus. Schlimmer noch, mit jedem verstreichenden Tag stieg die Wahrscheinlichkeit, dass jemand anderes an ganz anderer Stelle das gewünschte Erz fand und die Belohnung einstrich.

Tero, sein Vater und seine Brüder waren sogenannte Vorgräber. Sie waren es, die die ersten schmalen Pioniertunnel gruben, wenn das Erdvolk neue Gebiete erkunden oder seine unterirdische Siedlung erweitern wollte. Selbst in den besten Zeiten, wenn sie feste Aufträge von zuverlässigen Kunden oder gar dem Königshaus selbst bekamen, war es eine undankbare, harte Arbeit. Doch schon seit Langem ließen feste Aufträge auf sich warten und die für die reichen Auftraggeber günstigeren freien Ausschreibungen brachten ihnen zwar viele Tage Arbeit, doch nur selten guten Lohn ein.

»Ich habe etwas anderes gefunden«, sagte Tero schnell.

Sofort flammte die Hoffnung im Gesicht seiner Mutter wieder auf. »Gold? Edelsteine?«

Tero schüttelte den Kopf und wünschte sich, sie würde ihn endlich ausreden lassen. »Nein, ich weiß nicht, was es war, aber ich bin sicher, es hat irgendetwas zu bedeuten.«

In diesem Moment wurde er abermals unterbrochen, als hinter ihm die Tür aufflog und vier stämmige Männer in verdreckter Arbeitskleidung mit schweren Schritten hereinstapften. Seine Brüder und sein Vater machten solch grimmige Gesichter, dass nicht schwer zu erraten war, was auch sie früher als gewöhnlich nach Hause hatte kommen lassen.

»Ossim Basalt«, knurrte sein Vater und pfefferte seinen Spaten unsanft in eine Ecke, »ist heute Mittag im Westen auf Eisenerz gestoßen.«

Seine Mutter antwortete nicht, doch der Kummer vertiefte die Falten um ihren Mund.

»Maulwurfsdreck«, fluchte Teros Bruder Keck, während er sich die klobigen, erdverklebten Stiefel abstreifte. »Ich war mir so sicher, dass wir im Osten fündig werden würden. Hatte es im Gefühl.«

»Ach, du und dein Gefühl«, brummte Domme, der Älteste. Dex schnaubte nur.

»Hört mal alle her«, rief Tero und redete so schnell wie möglich weiter, um nicht erneut unterbrochen zu werden: »Ich bin auf etwas gestoßen. Ich habe den tiefen Tunnel weitergegraben, wie abgesprochen, doch auf einmal nahm ich eine Lichtquelle wahr, durch die Erde. Sie kam von Nordosten und von weiter unten, und ich habe die Richtung des Tunnels grob abgeändert, um darauf zugraben zu können …«

Dieses Geständnis brachte ihm sofort missbilligende Blicke ein, doch glücklicherweise hatten sein Vater und seine Brüder bereits an dem groben Esstisch Platz genommen und die Backen voll mit dem Brot, das seine Mutter aus der Küche gebracht hatte, sodass ihm niemand ins Wort fallen konnte.

»Es war eine Art leuchtender Stein«, erzählte Tero weiter.

»Ein Leuchtedelstein«, schmatzte Dex abfällig zwischen zwei Bissen. Leuchtedelsteine wurden nur selten und vereinzelt in den Tiefen der Erdschichten gefunden und waren vor einigen Jahren sehr in Mode gewesen. Dieser Trend war jedoch schnell wieder abgeebbt, denn für die Erdmenschen, die auch in völliger Dunkelheit sehen konnten, waren sie als Lichtquelle überflüssig, stellten sich sogar eher als störend heraus, wenn man sie beispielsweise im Schlafzimmer liegen ließ. Eine Zeit lang hatte man versucht, sie als Schmuckstücke zu vermarkten, doch sie hatten sich als unfassbar spröde herausgestellt, sodass es unmöglich war, sie vernünftig zu bearbeiten. Heute waren Leuchtedelsteine geradezu wertlos.

Doch Tero widersprach: »Ich erkenne einen Leuchtedelstein, wenn ich ihn sehe. Es war eine Marmorplatte, eindeutig von Menschenhand bearbeitet, in die vier Symbole gemeißelt waren. Allesamt irgendwelche Schnörkel und Wirbel. Und einer davon leuchtete!«

Sein Vater furchte die Stirn und schluckte einen halb zerkauten Kanten Brot herunter. »Hast du sie mitgebracht? Diese Platte?«

»Nein. Selbst wenn ich es geschafft hätte, sie zu tragen, wäre der Tunnel zu schmal gewesen. Wir müssen ihn auf der gesamten Länge verbreitern, um die Platte bergen zu können.«

»Von was für einer Länge sprechen wir hier? Und von was für einer Verbreiterung?«

»Die gesamte Länge des tiefen Tunnels, den ich für die Suche nach dem Erz gegraben habe, und ich schätze, dass man seinen Durchmesser um das Anderthalbfache erweitern müsste.«

Sein Vater grunzte nur, und während sich Keck und Dex um das letzte Stück Mahlwurmschinken stritten, sagte Domme: »Ausgeschlossen. Das würde Tage dauern, selbst wenn wir alle zusammen daran arbeiten. Und wir wissen noch nicht einmal, ob dieses Ding überhaupt etwas wert ist.«

Tero war fassungslos. »Aber wir können es doch nicht einfach dort liegen lassen! Habt ihr jemals zuvor von leuchtendem Marmor gehört? Und die Steinmetzarbeiten waren meisterhaft, ich frage mich …«

»Tero, die Sache ist erledigt«, fuhr sein Vater dazwischen. »Herr Quarz lässt nach Steinsalzvorkommen suchen. Gleich morgen werden wir damit beginnen und in Richtung Süden graben.«

In dem Moment scheuchte seine Mutter, die plärrende Mompi auf dem Arm, Line und Pepp in den Raum, welche augenblicklich kreischend und lachend damit begannen, um den Tisch zu jagen. Tero hörte seine Mutter noch rufen: »Setzt euch hin, es gibt Abendessen!«, doch da hatte er sich bereits abgewandt und ging durch die dunklen Gänge ihrer Wohnung zu seinem und Kecks Zimmer, die Wut mühsam hinunterschluckend. Habt ihr denn keinen Funken Neugierde in euch?, hätte er seine Familie gefragt, wenn er die Antwort nicht schon gekannt hätte. Nein, hatten sie nicht. Da passierte einmal etwas Außergewöhnliches, einmal etwas, dass ihn, Tero, aus der ewigen Durchschnittlichkeit und Öde seines Daseins riss, und niemand interessierte sich dafür. Es war zum Verzweifeln.

»Das Siegel der vier Elemente.«

Tero fuhr heftig zusammen und lachte schon im nächsten Moment über sich selbst. »Onna. Ich habe dich gar nicht bemerkt.«

Seine alte und gebrechliche Großmutter war mittlerweile völlig erblindet, doch Tero zweifelte nicht daran, dass sie bereits an seinen Schritten, spätestens jedoch an seiner Stimme genau erkannt hatte, wen sie vor sich hatte. Er hockte sich vor den Schaukelstuhl, in dem die gebeugte Alte saß, und sagte: »Es gibt Abendessen. Soll ich dich rübertragen?«

Doch Onna winkte ab. »Deine Mutter hat mir Bescheid gesagt, aber ich habe keinen Hunger. Erzähl mir lieber von dem Siegel, das du gefunden hast.«

So sehr ihre Augen sie mittlerweile im Stich gelassen hatten, so zuverlässig waren doch ihre Ohren. Tero hätte sich denken können, dass Onna jedes ihrer Worte gehört hatte. Doch hatte er nie von einem »Siegel« gesprochen. Der alten Onna, seit jeher ein wandelndes Buch wahrer und erfundener Geschichten und Märchen aus lang vergangenen Zeiten, fiel es mit zunehmendem Alter immer schwerer, Realität und Fiktion auseinanderzuhalten.

Aber immerhin war sie die Einzige, die sich für seinen Fund interessierte, dachte Tero resigniert.

»Ach Onna, ich weiß ja selbst nicht, was es ist. Und vermutlich werden wir es auch nie erfahren.«

»Also für mich«, sagte die alte Frau mit dünner Stimme, während ihre blinden Augen an ihm vorbeisahen, »klang es ganz nach dem Siegel der vier Elemente. Vier Stück gibt es von ihnen, eines für jedes der vier Völker, und sie wurden vor langer, langer Zeit erschaffen. Dass es nun leuchtet, kann nur eines bedeuten: Eines der Völker ist in Gefahr und bittet die anderen drei um Beistand.«

Tero lächelte verunsichert. »Aber Onna, das ist doch nur eine Geschichte.«

Auch seine Großmutter lächelte. »Eine Geschichte, ja. Doch was heißt hier nur

Tero runzelte verunsichert die Stirn. Was, wenn etwas Wahres an den Worten seiner Großmutter war? Sie war immer so stolz darauf gewesen, die alten Weisheiten und Erzählungen ihrer eigenen Großmutter an ihre Enkel weitergeben zu können. Wie viele davon waren ernst zu nehmen und wie viele reine Kindermärchen? Es waren vier Symbole auf der Platte gewesen …

»Eines weiß ich genau«, fuhr die alte Frau fort. »Wenn eines der anderen Völker in Schwierigkeiten steckt, dann werden wir das vielleicht auch bald tun. Und davon sollte der König erfahren.«

»Der König!«, entfuhr es Tero.

»Es ist doch nach wie vor seine Gewohnheit, die Bittsteller des gemeinen Volks anzuhören?«

»Einmal pro Umlauf des großen Mondes«, sagte Tero lahm. »Doch man braucht eine vorherige Anmeldung, um vorgelassen zu werden.«

»Dann«, entgegnete Onna, keineswegs unfreundlich, »frage ich mich, was du hier noch zu suchen hast.«

Einen Moment lang sah Tero seine Großmutter noch verdutzt an. Dann stand er auf und ging ohne ein Wort der Erklärung an seiner lärmenden Familie vorbei zur Türe hinaus.

Tinnek

Das Dröhnen der Signalhörner riss Tinnek unsanft aus seinem morgendlichen Schlummer. Widerwillig schlug er die Augen auf und brauchte einen Moment, um sich darüber klar zu werden, wo er sich befand. Eine Bewegung neben ihm half seiner Erinnerung auf die Sprünge.

»Was hat das zu bedeuten, mein Prinz?«, murmelte Minna schläfrig und schmiegte sich an ihn. Sie war nackt unter den Laken, und ihre weiche Haut lag warm an der seinen.

»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete er barsch. Er schätzte es nicht, um seinen Schlaf gebracht zu werden. Ärgerlich schob er sie beiseite und stieg, ebenfalls nackt, aus dem Bett, um seine Kleidung zusammenzusuchen.

Minna stützte sich auf einen Arm und sah ihm dabei zu. Sie war achtzehn, ein Jahr jünger als er, und noch jungfräulich gewesen, als er sie zu seiner Geliebten genommen und dieses Zimmer für sie eingerichtet hatte. Sie war unbestreitbar schön mit ihrer makellosen dunklen Haut und der ungezähmten Haarmähne, und ihre unterwürfige Art machte es einfach, ihre Liaison geheim zu halten. Doch in letzter Zeit begann sie, ihn zu langweilen.

»Geht Ihr etwa schon?«, fragte sie nun.

»Wonach sieht es denn aus? Hilf mir lieber meinen Gürtel zu suchen, anstatt dumme Fragen zu stellen.«

Gehorsam stieg sie aus dem Bett und half ihm dabei, sein schwarzrotes Gewand anzulegen. Fast bereute Tinnek es, sie dazu aufgefordert zu haben, als das Licht der Morgensonne auf ihre prallen kleinen Brüste fiel und er Lust bekam, dort weiterzumachen, wo sie gestern Nacht aufgehört hatten. Doch er beherrschte sich. Oben auf den Zinnen wurden noch immer unablässig die Hörner geblasen, und der Tumult vieler aufgeregter Schritte und Stimmen war bis in das kleine Zimmer hörbar. Minnas einfältige Frage brannte auch Tinnek auf der Seele: Was mochte das zu bedeuten haben?

»Ich erwarte, dich heute Abend wieder hier anzutreffen«, sagte er zu dem Mädchen, sobald er fertig angekleidet war, und wollte sich abwenden, doch Minna hielt ihn am Ärmel zurück.

»Mein Prinz«, sagte sie flehentlich, »ich hatte gehofft, mit euch über etwas Wichtiges sprechen zu können.«

Tinnek schnaubte. Was könnte sie schon zu sagen haben, was für ihn von Wichtigkeit war? »Das kann warten. Ich …«

»Ich bin schwanger.« Die Worte waren aus ihr herausgeplatzt wie Lava bei einem Vulkanausbruch, und ihre großen dunklen Augen sahen ihn erwartungsvoll an, suchten sein Gesicht nach einer Reaktion ab. »Mein Prinz«, flüsterte sie, »freut ihr euch denn gar nicht? Ich weiß es schon seit ein paar Tagen. Vielleicht wird es ein Junge – ein Thronfolger.«

Ein Thronfolger? Dieses einfältige Ding erwartete ernsthaft, dass er sie heiraten würde? Tinnek unterdrückte ein Stöhnen. Das war lästig, äußerst lästig. Er würde veranlassen müssen, dass man Minna von Glutfort fortschickte und sie anderswo unterbrachte, am besten weit weg von Kantrasrast. Er würde für sie und das Kind sorgen lassen, zumindest für die erste Zeit, er war ja kein Unmensch. Doch wenn möglich sollte das alles rasch und von der Öffentlichkeit unbemerkt vonstattengehen.

So sanft wie möglich löste Tinnek Minnas Griff von seinem Ärmel und rang sich ein Lächeln ab. »Aber natürlich freue ich mich. Und nun entschuldige mich.«

Er warf keinen Blick zurück, während er den Riegel beiseite schob, auf den Flur trat und die Tür hinter sich zu fallen ließ.

In diesem hinteren und abgelegenen Teil der großen Burg waren die Flure aus schwarzem Vulkangestein menschenleer, doch der Lärm des allgemeinen Aufruhrs drang bis hierher. Tinnek nahm sich einen Moment Zeit, an eine der Fensteröffnungen zu treten und über die umgebenden Ländereien hinweg zu schauen. Das Dröhnen der Hörner hatte die Menschen von Kantrasrast aus ihren Häusern und auf die Straßen getrieben. Von seinem hohen Aussichtspunkt konnte Tinnek sogar über die Stadt und die schwarze Erde des Feuerlandes mit seinen vielen schwelenden Geysiren und Vulkankratern hinweg sehen. Im krassen Gegensatz dazu leuchteten die grünen Felder, auf welchen die Bauern dank der fruchtbaren Vulkanasche so erfolgreich Ackerbau betrieben.

Erneut ertönten die Hörner oben auf den Zinnen und ihr tiefer, lauter Ton war bis in die Magengrube spürbar. Tinnek riss sich von dem Ausblick los und gelangte mit schnellen Schritten in einen belebteren Teil der Burg, wo die Gänge von aufgeregten und ängstlichen Menschen nur so wimmelten. Nur wenige erinnerten sich in dem Trubel daran, sich vor ihrem Prinzen mit der nötigen Ehrerbietung zu verneigen, und die Flammen der Fackeln entlang der schwarzen Wände tanzten im unruhigen Luftzug vieler hin und her eilender Körper.

»Du!« Tinnek packte kurzerhand einen kleinen Jungen in der orangeroten Kleidung der Küchengehilfen am Kragen. »Was ist los?«

»D-d-der König ruft zum Turnier, mein Herr«, stammelte der Junge überrumpelt.

»Zum Turnier?« Tinnek wusste natürlich von der Vorliebe seines Vaters für Kämpfe und Turniere, doch es war völlig abwegig, dass er deswegen ohne jegliche Vorbereitung ganz Glutfort aus den Betten holen sollte. »Was für ein Blödsinn. Wenn du nichts Gescheites zu sagen hast, solltest du lieber gleich schweigen.«