Die Autorin

Julia Rogasch, geboren 1983, lebt mit ihrem Ehemann und ihren Töchtern in Hannover. Seit 2010 sorgt ihr Leben als Mama mit Job täglich für Inspirationen.
Ihr großes Glück ist die Familie, welche sie nun mit der Arbeit und der Leidenschaft fürs Schreiben vereinbaren kann, da man ihr die Chance bot, im Marketing via Homeoffice für das Autohaus ihre Kreativität auszuleben, für das sie bis 2010 Autos verkaufte. Wann immer der Familientrubel es zulässt, widmet sie sich privat dem Schreiben.

Das Buch

Greta ist am Boden zerstört als ihre gute Freundin, die 80-jährige Else, überraschend verstirbt. Doch dann erfährt sie, dass sie Elses Alleinerbin ist und beschließt ihrem öden Job in Hamburg den Rücken zu kehren und eine Auszeit auf ihrer Lieblingsinsel Sylt zu nehmen. Sie will nach einer neuen Perspektive in ihrem Leben suchen. Dabei stößt sie am Strand von Kampen auf den wunderschönen Eiswagen von Konrad und Rieke, die zufällig eine Aushilfe suchen. Greta springt sofort ein und versteht sich vor allem mit Rieke auf Anhieb, während Konrad eher abweisend reagiert. Dabei fühlt sich Greta gerade zu ihm hingezogen. Doch dem Eiswagen droht das Aus und Greta wird bald klar, dass Konrad viele Sorgen mit sich herumträgt. Schließlich setzt sie alles auf eine Karte, um den Eiswagen und ihre neue Liebe zu retten …

Von Julia Rogasch sind bei Forever erschienen:
Honigmilchtage
Mit dir am Horizont
Das Geheimnis vom Strandhaus
Der kleine Laden am Strand
Das kleine Haus in den Dünen
Das Glück zwischen den Dünen
Weihnachten im kleinen Laden am Strand
Der kleine Eiswagen am Strand

Julia Rogasch

Der kleine Eiswagen am Strand

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Mai 2021 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-612-5


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Gedicht

Meinen Herzensmenschen.
Meinen wundervollen Lesern.
All jenen, die an ihre Träume glauben.
Dir, denn mein Traum lebt durch dich.

Kapitel 1


»Einmal den Cupcake mit Vanille und Himbeerschaum für dich, liebe Else, und für Sie die Honigmilch.«

»Herzlichen Dank, Greta mein Schatz! Wie so oft versüßt du mir meinen Tag.« Voller Vorfreude breitete Else ihre Serviette sorgfältig auf ihrem Schoß aus und lächelte verzückt. Euphorisch rieb sie sich die Hände, und auch ihre Begleitung sah glücklich aus, als ich die Bestellung an den Tisch brachte.

Else war nicht nur eine liebe Freundin, sondern auch eine Stammkundin im Café an der Elbe, in dem ich arbeitete. Ihre ehrliche Freude an den kleinen Schlemmereien des Lebens, wie einem üppigen Cupcake oder einer Sahnetorte, streichelte heute meine genervte Seele. Elses zufriedener Gesichtsausdruck war wundervoll. In Wirklichkeit versüßte nicht ich ihren Tag, sondern sie mir meinen. Sie war die Person, die mir im Alltagsgrau ein Lächeln aufs Gesicht zauberte, sogar wenn es wenig zu lächeln gab. Ich sagte immer, Else sei meine Alltagsmagie. Else war nur rund einen Meter fünfundfünfzig groß und wog deutlich mehr, als sie für ihr gesundheitliches Wohlergehen auf die Waage bringen sollte. Das war jedoch nie ein Grund für sie, mit ihrer Körperfülle zu hadern. Im Gegenteil. Sie ruhte in sich und war mit ihren sechsundachtzig Jahren erstaunlich fit.

»Sterben tun wir ja alle sowieso. Aber ich kann wenigstens behaupten, bis dahin jeden Tag was Feines genossen zu haben.« Lachend zuckte sie die Schultern.

Den Spruch hörte ich nicht zum ersten Mal, musste jedoch immer wieder darüber schmunzeln.

»Else, ich hab dich besonders lieb«, sagte ich und legte meine Hand auf ihre Schulter. »Du tust mir so gut.«

»Ich wüsste auch nicht, was ich ohne meine Else täte«, pflichtete mir die Freundin bei, die heute mitgekommen war. Dankbar lächelnd rührte sie den Honig in die Milch. »Und davon, dass wir alle sterben müssen, wollen wir heute überhaupt nichts hören.« Liebevoll knuffte sie Else in die Seite.

»Genau. Red nicht immerzu vom Sterben, Else! Du wirst hier gebraucht«, schalt ich sie und klopfte ihr liebevoll auf die Schulter.

»Ach!« Else lächelte verlegen und machte eine abwertende Handbewegung. »Das sag mal meinem Neffen! Der lauert jeden Tag darauf, dass ich abkratze«, raunte sie uns zu, und ihre Begleitung hob empört die Augenbrauen.

»Else!«

»Ist doch so«, murmelte sie gespielt beleidigt. »Aber der wird Augen machen! Schade, dass ich das nicht mehr miterleben werde. Aber ich hoffe ja noch auf die Sache mit den Wolken, von denen man herunterlugt, wenn man auf dem Weg nach oben ist. Dann, das sage ich euch, Mädels, kommt meine große Stunde!« Die alte Dame rieb sich in amüsierter Vorfreude die Hände und pikste dann mit der Gabel in ihr Küchlein. »Und bis dahin schlemme ich mich zu Tode!«

Ich schüttelte lächelnd den Kopf und ging wieder hinter den Tresen, wo die Bestellung eines weiteren Kunden und mein schlecht gelaunter Chef auf mich warteten.

»Hier!« Unwirsch zeigte er zum Tisch, an dem ein Gast saß und die Karte studierte. »Der Herr geduldet sich schon zu lange!« Vorwurfsvoll schaute er mich an.

»Ich habe alles im Griff«, erwiderte ich knapp und ging zu dem Gast. Innerlich verfluchte ich meinen Chef, der mir entweder zu nah kam oder mich herablassend behandelte. Dafür, schnell selbst die Bestellung des Kunden aufzunehmen, war er sich zu schade. Außerdem gefiel es ihm nicht, wenn ich zu lange mit Gästen quatschte.

Ich betrachtete Else und ihre Freundin weiter aus der Ferne und wünschte mir, irgendwann auch einmal so zufrieden mit mir selbst zu sein, wie sie es war. Else war eine Seele von Mensch. Ihre Familie stellte sie als schrullige Alte dar, die nicht mehr ganz bei Sinnen war. Das sah ich anders. Im Gegenteil. Ich war der festen Überzeugung, dass Else vielen Menschen deutlich überlegen war, was denjenigen dann so unheimlich erschien, dass sie sich sicherheitshalber einredeten, sie habe nicht mehr alle beisammen.

Ich bewunderte Else, seit ich sie kannte. Kennengelernt hatte ich sie über ihren Neffen, der seit einigen Jahren mein Freund war. Bei einer Familienfeier, bei der ich Thies’ Familie zum ersten Mal traf, war sie mir sofort aufgefallen. Während die gesamte Sippe eher spießig und verklemmt daherkam, machte sie keinen Hehl daraus, dass sie sich vom Rest der Verwandtschaft meines Freundes deutlich abhob. Während alle steif in feinem Zwirn an ihren Tischen saßen, tanzte Else bis spät in die Nacht wie ein Brummkreisel und war dem ein oder anderen Prosecco nicht abgeneigt. Ihr Kleidungsstil war erwähnenswert. Else zelebrierte es, Kleider in allen erdenklichen Regenbogenfarben zu tragen. Sie wirkte schon bei unserem Kennenlernen wie ein Paradiesvogel inmitten der dunkelblau-beige gekleideten Hamburger Society, und ich liebte sie vom ersten Moment an dafür.

»Liebes, heute Abend lassen wir es krachen. Was meinst du? Ich bin Else.« Das waren die ersten Worte, die sie zu mir sagte. Und noch bevor ich antworten konnte, hatte sie mich schon am Arm gezogen und auf dem leeren Stuhl neben sich platziert.

Wir hatten dann über Gott und die Welt geplaudert, bis Thies es bemerkte und es ihm schlagartig missfiel, dass ich lachend mit seiner Tante am Tisch saß. Schmunzelnd hatte sie mir hinter vorgehaltener Hand gesagt, dass sie in Wirklichkeit gar nicht zu dieser Familie gehörte, nur auf dem Papier. Ich habe nie nachgefragt, was sie damit meinte, konnte mir aber auch kaum vorstellen, dass sie und die Familie rund um Thies ein und dieselben Vorfahren hatten. Sie erzählte mir von ihrer Vorliebe für Süßspeisen jeglicher Art, und wir hatten noch an dem Abend beschlossen, dass sie mich im Café besuchen würde. Und das tat sie. Seit nunmehr drei Jahren kam sie jeden Montag- und jeden Freitagmorgen ins Café, und ich freute mich immer darüber. Häufig brachte sie Freundinnen mit, wie auch heute.


Als Else sich an diesem Freitag verabschiedete, hatte ich gerade so viel zu tun, dass ich ihr nur von Weitem winken konnte.

»Bis Montag, meine Liebe! Ich freue mich auf dich!«, rief ich.

»Lass es krachen, mein Schatz«, antwortete Else und verließ in ihrem fliederfarbenen Kostüm und Hut das Café. Ich schaute ihr hinterher und lächelte. Eine Dame, die ich gerade bediente, konnte sich ebenfalls ein Grinsen nicht verkneifen. Else war bei unseren Kunden schon bekannt wie ein bunter Hund. Die meisten anderen Gäste im Café liebten sie.

Ganz im Gegenteil zu meinem Verlobten Thies. Thies, der immer darauf bedacht war, sich korrekt zu verhalten und der mit akribischer Sorgfalt seinem Job als Finanzchef eines Krankenhauses nachging, konnte mit der lebenslustigen, spontanen Art seiner Tante, die nie ein Blatt vor den Mund nahm und ihr Herz auf der Zunge trug, nichts anfangen. Else machte sich einen Spaß daraus und ließ keine Gelegenheit aus, speziell diese Eigenschaften voll auszuleben, wenn Thies in ihrer Nähe war.

»Eine bemerkenswerte Person. Sagen Sie, wie alt ist denn die Dame mittlerweile? Sie muss doch schon über achtzig sein?«, erkundigte sich eine weitere Stammkundin, die etwas entfernt von dem Tisch saß, an dem Else und ihrer Freundin gewesen waren, als ich ihr gerade einen Kaffee servierte. Ich nickte.

»Sie wird am Montag siebenundachtzig. Ich will ihr eine Sahnetorte backen. Das ist ihr Lieblingskuchen und inzwischen fast schon eine Tradition. Ich will sie diesmal mit einer ganz besonderen Kreation überraschen. Wenn sie Montag wieder hier ist, wird sie sich freuen.«

Kapitel 2


Mit einer Hand am Gepäckträger balancierte ich auf meinem Fahrrad stolz die Sahnetorte für Else, die ich am Sonntag für sie gebacken hatte. Ich war selbst überwältigt, wie viel Spaß es gemacht hatte, den Teig und dann die köstliche Sahnecreme zu zaubern und die Torte so aufwendig zu verzieren, dass Else dahinschmelzen würde. Ich war dabei wie im Flow und in meinem Element. Ich freute mich, Else davon zu erzählen, dass mich das begeistert hatte und dass ich mir vorgenommen hatte, von nun an wieder viel öfter zu backen. Ich hatte die Torte extra mit einem Hauch Honig und Vanille zubereitet. Else schwärmte so oft von ebendiesen Zutaten, und ich hoffte, meine Torte würde ihr gefallen.

Automatisch wanderten meine Gedanken zu meinem Traum, einem eigenen kleinen Café oder etwas Ähnlichem, am allerliebsten auf meiner Lieblingsinsel Sylt, in dem ich mich nach Herzenslust mit feinem Gebäck und anderen Spezialitäten austoben konnte. Überhaupt malte ich mir oft aus, wie es wäre, zurück nach Sylt zu gehen. Ich träumte davon, seit ich damals meine Ausbildung dort gemacht hatte und erst mal wieder nach Hamburg gezogen war. Ich lächelte beim Gedanken an meine Herzensinsel.

Nachdenklich bog ich in die Straße ein, die direkt an der Elbe entlangführte. Hier lag das Café, in dem ich viele Jahre gerne gearbeitet hatte. Es entsprach aber längst nicht dem, was ich mir eigentlich immer gewünscht hatte.

Montags war Else immer eine der ersten Gäste, und ich wollte sichergehen, dass die Torte bereitstand, wenn sie eintreffen würde. Ich war deshalb schon ein wenig früher gestartet. Ich hatte ihr außerdem einen kleinen Strauß Maiglöckchen gekauft, die sie so sehr liebte.

Im Café angekommen, stellte ich den Strauß gleich in eine Vase und die Torte auf den Tisch an Elses Lieblingsplatz. Es war der Platz mit Blick auf die Elbe. Hier saß sie am liebsten und schaute aufs Wasser. Das war auch mein Lieblingsplatz im Café, und manchmal, wenn ich Feierabend hatte und mein Chef nicht da war, saß ich noch ein paar Minuten hier und schaute auf den glitzernden Fluss, die untergehende Sonne und die Spaziergänger. Zu jeder Jahreszeit hatte dieser Platz etwas Besonderes zu bieten. Oft sagten Else und ich, dass er einem das Gefühl vermittelte, man wäre am Meer. Schloss man die Augen und lauschte dem leisen Plätschern des Wassers, kam es einem fast vor wie an der See. Wir träumten uns an unseren Herzensort Sylt und schwelgten in Erinnerungen an unsere gemeinsame Lieblingsinsel.

Mein Chef war schon da. Obwohl ich lange Zeit glücklich gewesen war mit meinem Job, hatte sich dieser Typ mittlerweile zu einem klaren Minuspunkt entwickelt. Seit seine Frau ihn vor einigen Wochen verlassen hatte, ließ er keine Gelegenheit aus, mich mit anzüglichen Bemerkungen zu verunsichern. Im Geiste solidarisierte ich mich mit seiner Ex und konnte verstehen, dass sie mit langen Sätzen das Weite gesucht hatte. Normalerweise gelang es mir, halbwegs souverän mit diesem Ekelpaket umzugehen, aber er war mein Chef, und in letzter Zeit fiel mir auch immer häufiger auf, dass er mein Missfallen an seinen Sprüchen damit quittierte, mir ungeliebte Aufgaben zuzuteilen, als wollte er mich damit gängeln und seine Macht demonstrieren. Dieser Zustand gefiel mir von Tag zu Tag weniger. Die lieben Gäste jedoch motivierten mich jeden Tag aufs Neue zu meiner Arbeit hier.

Mir war immer wichtig, dass ich finanziell unabhängig blieb. Auch wenn Thies gut verdiente, legte er seine Finanzchef-Mentalität im Privaten selten ab. Und weil ich keine Lust hatte, jeden Latte macchiato und jeden neuen Lippenstift mit ihm zu besprechen, bestand ich auf getrennte Konten und überschlug mein eigenes Gehalt. Es war nicht viel, aber genau ausreichend, dass ich meinen Teil zur Miete beisteuern und mir hier und da eine Kleinigkeit gönnen konnte.

Ich hatte eine Ausbildung in der Hotelbranche gemacht und einige Zeit auf Sylt gelebt und gearbeitet. Danach absolvierte ich auf der Insel noch eine Konditorlehre und sammelte in einem Hotel in diesem Bereich erste Erfahrungen.

Dann war ich, als ich Thies bei einem Besuch meiner Heimat Hamburg kennenlernte, am Ende meiner Ausbildung zu ihm und damit zurück in die Hansestadt gezogen. Die Insel fehlte mir sehr, weniger aber der Job im Hotel. Das war nicht das, was ich mir für meine Zukunft vorstellte. Im Hotel arbeitete ich viel hinter den Kulissen, weniger mit Menschen. Das war nie mein Wunsch.

Die Arbeit im Café gefiel mir viel besser. Hier erlebte ich so viele wunderschöne Momente mit meinen Gästen, es entstand so etwas wie Freundschaften, und ich fühlte mich lange Zeit wohl im kleinen Café an der Elbe, auch wenn es nicht Sylt war. Else liebte Sylt ebenso wie ich. Leider waren wir bisher noch nicht gemeinsam dorthin gereist. Gedanklich planten wir aber einen gemeinsamen Urlaub auf unserer Herzensinsel, damit mir Else ihre Lieblingsorte zeigen konnte und ich ihr meine.

»Kriege ich denn auch einen solchen Kuchen, wenn ich Geburtstag habe?«, raunte mein Chef mir ins Ohr und riss mich aus meinen Gedanken. Ich spürte seinen Atem in meinem Nacken. Instinktiv trat ich einen Schritt zur Seite.

In der Hoffnung, meine Bewegung sei Antwort genug, schaute ich ihm direkt in die Augen. Wütend funkelte ich ihn an.

»Es gäbe auch einige Dinge, die mir noch sehr viel besser gefallen würden.« Nun wanderte sein Blick von meinen Augen über meinen Mund bis hin zu meinem Ausschnitt.

»Ich glaube nicht, dass wir dieses Gespräch fortsetzen sollten.« Ich spürte, wie das Blut in meinen Kopf schoss. Nervös schaute ich auf die Uhr. Es war schon 9.20 Uhr. Wo blieb nur Else? Sie war sonst nie später als um neun da, und sie wäre genau die Richtige, um mich aus dieser Situation zu befreien.

»Ganz deiner Meinung. An einem Gespräch bin ich, wenn ich ehrlich bin, auch nicht wirklich interessiert.« Noch immer stand mein Chef mir so nah, dass ich seinen aufdringlichen Duft roch.

Zu meinem Glück kam in diesem Moment die Kundin herein, die auch Freitag schon da gewesen war und sich nach Elses Alter erkundigt hatte. Sie hatte einen Blumenstrauß in der Hand.

»Nanu, wo bleibt denn Frau Bielert? Es ist gleich halb zehn! So spät ist sie doch sonst nie.« Traurig schaute sie auf den Strauß Blumen in ihrer Hand. »Würden Sie den so lange ins Wasser stellen, bis sie da ist?«, bat sie mich.

»Das ist ja lieb von Ihnen, selbstverständlich«, erwiderte ich, nahm den Strauß für Else entgegen und stellte ihn in eine Vase.

Mein Chef verzog sich wieder in die Küche, und ich atmete auf.

»Ich mache mir ehrlich gesagt auch schon Sorgen«, gab ich zu.

»Haben Sie eine Telefonnummer von ihr?« Mit besorgtem Blick schaute unsere Kundin mich an.

Ganz mechanisch nickte ich. »Ja, ich versuche mal, sie zu erreichen. Warten Sie, ich bin gleich wieder da. Nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen schon einen Kaffee servieren?«

»Rufen Sie erst mal bei ihr an. Mein Kaffee hat keine Eile.«

»In Ordnung. Ich bin sofort wieder da.« Ich verschwand kurz im Hinterzimmer, in dem meine Tasche lag. Mit Entsetzen sah ich, dass mein Handy drei Anrufe in Abwesenheit zeigte. Zwei kamen von Thies, einer von seinen Eltern. Sofort war mir klar, dass etwas passiert sein musste, und dieser Gedanke zog mir beinahe die Beine weg. Ich wusste, dass etwas mit Else nicht stimmte. In diesem Moment ging eine Nachricht von Thies ein.

Kapitel 3


Ich stand vorm Spiegel und startete einen letzten hilflosen Versuch, die tiefen Augenringe unter einer dicken Schicht Concealer zu vertuschen und mit viel Gloss auf den Lippen von meinen rot geweinten Augen abzulenken. Wieder gelang es mir kaum, die Spuren der letzten Stunden zu verwischen.

Seit Tagen sah ich Else immer wieder ins Café kommen. Sah vor mir, wie sie genießerisch mit den Augen rollte, wenn sie den ersten Bissen ihrer Lieblingstorte aß. Unsere Gespräche über feinste Gebäckwaren und ihr herzerfrischendes Lachen hallten in meinem Kopf nach. Wir hatten so viel miteinander gescherzt.

Aber jetzt war es vorbei. Wir würden nie wieder miteinander lachen. Else würde nicht mehr an ihrem Lieblingsplatz im Café sitzen und mit mir heimlich über Thies’ Familie lästern und den Raum unterhalten mit ihrer Frohnatur. Ihr Lachen, ihre unverbesserliche Art, das Leben nicht allzu ernst zu nehmen, und die Leichtigkeit, mit der sie Problemen begegnete – all das würde mir nun unendlich fehlen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es ohne sie weitergehen sollte.

Ich starrte auf die Torte, die noch immer in der Küche stand. Bisher hatte ich es nicht übers Herz gebracht, sie zu entsorgen. Sie heuchelte mir auf wundersam trügerische Weise vor, dass Else jeden Moment doch noch vorbeikommen würde. Aber Else würde nie wiederkommen. Und es war erschreckend, dass es nicht etwa ihre Familie rund um ihre Schwester war, die dies am meisten betrauerte, sondern ich. Schon die Information über Elses Tod in Form einer SMS hatte mich so sachlich erreicht, als schriebe Thies die Szenenabfolge eines Tatorts.

8.30 Uhr: Nachbarin Seilers wunderte sich, warum Else ihr heute nicht das Wochenblatt an die Tür gesteckt hatte. Seilers klopfte, rief an, wurde unruhig.

8.45 Uhr: Hausmeister öffnete mit Zweitschlüssel die Tür, fand Else mit einem leeren Weißweinglas neben sich und belgischen Pralinen auf dem Schoß im Fernsehsessel. Sie war in der Nacht verstorben.

Während mich seitdem die Bilder jede Nacht verfolgten und nur die Tatsache, dass sie es sich bis zum Tod hatte gut gehen lassen, mich tröstete, war die Familie von Thies, unmittelbar nachdem der Bestatter da gewesen war, zum Tagesgeschäft übergegangen.

Nie zuvor hatte ich mich so weit von meinem Freund entfernt gefühlt wie seit Elses Tod. Auch jetzt, wo er sich neben mich vor den Spiegel stellte, trat ich einen Schritt zur Seite.

»Nach der Trauerfeier wird es noch Kuchen geben. Meine Mutter hat Streuselkuchen bestellt. Es werden sicher nicht viele Leute kommen.« Thies rückte sein Sakko zurecht und drehte sich in alle Richtungen.

»Streuselkuchen?« Ich spuckte das Wort beinahe, so sehr widerte mich der Gedanke an, dass Thies’ Familie ausgerechnet den langweiligsten Kuchen der Welt für Elses Beerdigung gewählt hatte. Wenn es etwas gab, auf das Else Wert gelegt hatte, waren es feine Süßigkeiten gewesen.

Ich würde für Else noch einmal mein Bestes geben und für die Trauerfeier ihre Lieblingstorte backen. Zwei Dinge waren es, die mich antrieben: Else brauchte Sahnetorte vom Feinsten bei ihrer Trauerfeier, und es musste viel Kuchen sein. Ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht, wie von Thies angenommen, nur wenige Leute waren, die zur Beerdigung kommen würden. Er unterschätzte, wie vielen Menschen seine Tante am Herzen gelegen hatte.

Und als ich mich nach einem Blick auf die Torte mit einem zufriedenen Lächeln ans Fenster stellte, klarte mit einem Mal der Himmel auf, und die Sonne strahlte direkt in mein Gesicht. Es war, als sände mir Else ein Zeichen, und mir wurde warm ums Herz.


»Was bleibt, sind die schillernden Spuren, die du in unserem Leben hinterlässt.«

Mit diesem Satz schloss der Pastor seine Andacht, und ich hatte fast alle meine Taschentücher aufgebraucht.

»Lass es krachen«, flüsterte ich. Ich erntete empörte Blicke von Thies’ Mutter, die ich jedoch an mir abprallen ließ.

Als ich hier in der kalten Kapelle zwischen Thies und seiner Familie saß, hatte ich nicht nur Abschied genommen von Else, sondern auch von meinem bisherigen Leben.

Mit der Kaltherzigkeit, mit der mein Freund und die dazugehörige Schwiegerfamilie in spe der Zeremonie unberührt beiwohnten, konnte ich mich keinen Tag länger identifizieren. Meine Entscheidung stand fest: Ich würde mich von Thies trennen. Das schmerzte mich, wie ich ernüchternd feststellte, deutlich weniger als der Tod meiner geliebten Else. Eine Person, die so nüchtern und emotionslos dem Tod eines Menschen gegenüberstand, hatte mich nicht verdient. Während unserer Beziehung hatte er Elses und meine Freundschaft ja miterlebt und wusste, wie viel sie mir bedeutete.

Auch wenn er selbst Else nie gemocht hatte, hätte er, spätestens als er sah, wie sehr mich die Nachricht von ihrem Tod aus der Bahn warf, den Anstand besitzen müssen, wenigstens für mich da zu sein.

Der Tod von Else hatte auch unsere Beziehung beendet. Ich bereute nur, dass ich meiner Freundin diese Entscheidung nicht mehr persönlich mitteilen konnte.

In diesem Moment hoffte ich nichts mehr, als dass Elses Vorstellung von der Wolke, von der aus sie uns weiter zuschauen würde, wahr war und sie mir von dort aus mit emporgereckter Faust gratulierte.

Völlig in Gedanken vertieft, bekam ich kaum mit, dass die Trauergesellschaft die Kapelle verließ. Zu meinem Erstaunen trat der Pastor auf mich zu.

»Greta Thorleben?«

»Ja?«

»Frau Bielert bat darum, dass Sie gemeinsam mit mir ihre Asche zu dem Baum bringen, den sie sich ausgesucht hat, um dort die Urne beizusetzen. Die Trauergemeinde wird ein paar Schritte hinter uns gehen.«

»Ich?« Irritiert starrte ich den Pastor an.

»Else hat mir anvertraut, Sie habe ihre Gründe und Sie würden diese auch kennen.« Der Pastor lugte über seine Brille, und ich verstand.

»Danke«, sagte ich nur und trat neben den Mann.

Mir ging es besser, hier an der Seite des Pastors, weit entfernt von Thies und seiner Familie, in Richtung des Friedwaldes zu gehen. Der Himmel war bis auf eine einzige Wolke blau und die Luft mild. Es war ein Wetter, wie es Else gemocht hatte. An diesen Tagen hatte ich das Fenster neben ihrem Lieblingsplatz im Café weit geöffnet, und sie hatte sich jedes Mal besonders gefreut, weil sie dann mitten im Café und dennoch wie auf einer Terrasse saß. Gedankenverloren lächelte ich und zuckte erschrocken zusammen, als der Pastor mich darauf hinwies, dass wir an dem Baum angekommen waren, an dem die Urne beigesetzt werden sollte. In dem Moment, in dem Elses Urne in den Boden eingelassen wurde und ich meinen Strauß Maiglöckchen darauf fallen ließ, schien mein Herz einen Augenblick auszusetzen, und die Endgültigkeit dieses Abschieds übermannte mich. Mich schüttelte ein Weinkrampf, und eine Freundin von Else trat zu mir und versuchte, mich zu beruhigen. Als Thies noch nicht einmal in diesem Moment auf die Idee kam, mich in den Arm zu nehmen und zu trösten, bestätigte dies erst recht die Entscheidung meines Herzens, dass ich so nicht weiterleben wollte. Während er regungslos neben seiner ebenso gefühlskalten Mutter, immerhin Elses Schwester, zu warten schien, dass die Zeremonie endlich ein Ende fand, trennte ich mich innerlich endgültig von ihm.


Den Rest des Tages erlebte ich wie durch Watte. Einzig die Gesichter der doch zahlreich bei der Trauerfeier erschienenen Gäste blieben mir lange im Gedächtnis. So oft hörte ich an diesem Tag, dass die Kuchen ganz bestimmt Else selbst ausgesucht habe, so passend seien sie. Stolz klopfte ich mir innerlich auf die Schulter und aß ein Stück für meine geliebte Else mit. Ich hatte schon länger nicht mehr so viele Torten gebacken, und es hatte sich wunderbar angefühlt. Ich machte mir Vorwürfe, dass Else nicht mehr in den Genuss dieser Kuchen gekommen war. Ich hätte viel eher meiner Leidenschaft wieder nachgehen sollen. Manchmal hatte Else mich überreden können, für uns eine Torte zu kreieren, aber das war selten der Fall gewesen. Einzig die Torte zu ihrem Geburtstag war zu einem Ritual geworden.

Thies wich ich während der Beerdigung aus, was mir gut gelang, da etliche Freunde von Else, viele davon Gäste des Cafés, gekommen waren, die mit mir über meine wunderbare Freundin sprachen. Es tat mir gut, dass sie ebenso liebevolle Worte für sie fanden wie ich und wir unsere Erinnerungen an sie miteinander teilen konnten.

Kapitel 4


In den folgenden Tagen geschah etwas, womit ich niemals gerechnet hätte. Else gelang es, sogar nach ihrem Tod noch für Wunder in meinem Leben zu sorgen.

Thies hatte beinahe gleichgültig darauf reagiert, als ich ihm sagte, dass ich mich von ihm trennen wollte.

Im Café hatte ich mir für einige Tage Urlaub genommen und war zu meinen Eltern gezogen. Meinem Chef hatte das zwar nicht gefallen, aber das war mir egal. Nachdem auch er auf Elses Tod so kaltschnäuzig reagiert hatte, dass mir schlecht wurde, war mir dieser Schritt leichtgefallen. Else war eine seiner besten Kundinnen gewesen. Wenn es schon nicht die emotionale Bindung zu ihr war, hätte er wenigstens Dankbarkeit für all die Jahre zeigen können, in denen sie stets ihre zwei Tassen Kaffee und den Kuchen des Tages nebst weiteren Teilchen genossen hatte. Nicht selten hatte sie noch eine ihrer Freundinnen mitgebracht, die dann wiederum weitere Freundinnen in ihr neues Lieblingscafé an der Elbe ausführte. Sie hatte so für stetigen Umsatz gesorgt.

Seine Reaktion auf Elses Tod war jedoch nur ein bedauerndes »Schade. Dabei wartete eine solch wundervolle Geburtstagstorte auf sie. Die wird ja schließlich auch nicht ganz billig gewesen sein«. Ich hatte ihn noch nicht einmal darauf hingewiesen, dass ich diese Torte selbst gebacken hatte und ihren Wert niemals in Geld aufwiegen würde. Diese Diskussion fühlte sich so pietätlos an, dass mein Chef Glück hatte, dass ich so gut erzogen war und ihm besagte Torte nicht postwendend mit Schwung ins Gesicht drückte für diesen blöden Spruch.

Ich hatte seit Elses Tod und meiner recht unaufgeregten Trennung von Thies viel darüber nachgedacht, wie mein Leben in Hamburg weitergehen könnte. Dafür hatte ich mich eine Zeit lang ins Haus meiner Eltern im Hamburger Umland zurückgezogen. Hier in einem Vorort der Großstadt fühlte ich mich geborgen. Hier waren die Menschen warmherzig und ihr Wort ehrlich. Im Nachhinein war dies vielleicht genau das, was ich auch an Else geliebt hatte. Sie hätte hierhin gepasst.

Ich war zu dem Entschluss gekommen, dass ich meine Zukunft woanders sah als in Hamburg.

Ich schaute vom kleinen Balkon meines Zimmers aus in den Himmel und es kam mir vor, als wäre dort eine Lücke, durch die ich Else sehen und lachen hören konnte. Ihre so raue Stimme, die von einem lebendigen Leben erzählte, hallte in meinem Kopf nach. Vieles, was wir gemeinsam erlebt hatten, zog an meinem inneren Auge vorbei, als wäre es gestern passiert. Als wäre der Tag, an dem sie wieder mit ihrem schillernden Aussehen aus stets bunten Kleidern und ausgefallenen Hüten durch die Tür des Cafés eintreten würde, zum Greifen nah.

»Else, was täte ich dafür geben, nur noch ein einziges Mal mit dir zu reden, dir einmal noch alles zu sagen, was du hoffentlich auch so immer gewusst hast. Du bist mein großes Vorbild, meine Liebe, und wirst für immer bei mir sein. Ganz tief in meinem Herzen.« Tränen bildeten sich in meinen Augen, als ich diese Worte leise sagte. Ich spürte eine Wärme, als säße Else neben mir und striche mir mit ihrer so vertrauten Geste sanft über die Wange. Ich tupfte mir die Tränen fort.

»Greta?« Die Stimme meiner Mutter klang herauf.

»Ja?« Ich rappelte mich aus dem Liegestuhl hoch und trat ins Zimmer.

Am Fuße der Treppe stand meine Mutter und deutete in den Hausflur. Vor der Tür stand ein Herr von der Post, mit einem Umschlag in der Hand.

»Guten Tag, ein Brief vom Nachlassgericht für Sie«, begrüßte mich der freundliche Mann.

»Für mich?« Irritiert lief ich die Stufen hinunter und nahm das Schreiben in die Hand.

Nach meiner Trennung von Thies ließ ich die Post erst mal an die Adresse meiner Eltern nachsenden.

»Du musst bitte noch etwas unterschreiben«, erklärte meine Mutter und deutete zur Haustür.

Ich unterschrieb und nahm dankend den Brief entgegen.

»Was will denn das Nachlassgericht von dir?« Die Stimme meiner Mutter klang überrascht.

Mit zittrigen Fingern öffnete ich den Umschlag, und zum Vorschein kam eine Einladung zur Testamentsverkündung.

Als ich die Überschrift las, fühlte es sich an, als verschwämmen die Buchstaben zu einem flirrenden Film tanzender kleiner Punkte. Mir kam es vor, als hätte ich mit einem Mal mehrere Gläser Schnaps im Blut, die mir den Kopf und jeden klaren Gedanken vernebelten.

»Testamentsverkündung Frau Else Bielert«, las ich flüsternd vor und spürte, wie meine Mutter mir sanft die Hand auf den Rücken legte und mich Richtung Sofa im Wohnzimmer schob.

Ich setzte mich, dankbar, dass ich meine wackeligen Beine von der Aufgabe befreien konnte, mich zu tragen.

»Greta, mein Schatz, was heißt das für dich?« Der Blick meiner Mutter war fragend. War das womöglich die große Stunde, von der Else kurz vor ihrem Tod gesprochen hatte und in der sie Thies’ Reaktion von ihrer Wolke aus beobachten wollte?

Ich wusste, dass Else in einer wirtschaftlich mehr als gut gestellten Lage war und dass die Familie von Thies nur darauf lauerte, irgendwann das Erbe ihrer ungeliebten Tante anzutreten. Das war eine nie ausgesprochene, aber unterschwellig dennoch stets präsente Wahrheit.

Lächelnd hob ich die Schultern. »Auf jeden Fall nichts Schlechtes«, stellte ich fassungslos fest. Ein ungläubiges Grinsen breitete sich auf dem Gesicht meiner Mutter aus.

Sie ließ sich gegen die Sofalehne sacken, und atmete hörbar aus. »Ich glaub, ich brauch einen Schnaps«, stellte sie nüchtern fest, und in diesem Moment kam mein Vater ins Wohnzimmer.

»Hab ich hier noch vor dem Mittagessen das Wort Schnaps gehört?«, fragte er amüsiert, und meine Mutter winkte ab.

Ich lächelte schief, und als mein Vater mich sah, bekam er einen Schreck. Meine verschmierte Wimperntusche verriet, dass ich vollkommen neben der Spur war.

»Gretchen! Was ist denn mit dir passiert? Hast du geweint?«

»Keine Sorge, Papa. Es ist nichts Schlimmes«, beruhigte ich ihn. »Ich denke, es ist trotz der traurigen Umstände eher etwas Erfreuliches.«

»Gibt es noch bessere Nachrichten, als dass du diesem Thies den Laufpass gegeben hast?« Der Gesichtsausdruck meines Vaters erhellte sich.

»Werner!« Meine Mutter zog böse die Augenbrauen zusammen und schüttelte empört den Kopf. Wir wussten um seine Antipathie gegenüber meinem Freund. Da ging er mit Else absolut konform. Meine Mutter war die Meisterin der Diplomatie und hielt sich stets aus derlei Diskussionen heraus. Sie hatte allerdings auch nie ganz verbergen können, dass Thies nicht unbedingt der Mann war, den sie sich für mich gewünscht hatte. Nie hätte sie so was jedoch ausgesprochen und mir da hineingeredet.

»Wie ihr wisst, bin ich ja nicht nur, weil ich Abstand von Thies brauche, hierher zu euch gekommen. In der Tat mache ich mir gerade Gedanken, ob alles so weitergehen sollte, wie es bisher lief in meinem Leben. Eigentlich habe ich auch bereits den Entschluss gefasst, dass sich dringend etwas ändern muss.«

»Das klingt vielversprechend«, stellte mein Vater unverzagt fest, nahm sich eine Tasse Kaffee aus der Kanne vom Frühstück und setzte sich zu uns.

»Der Tod von Else hat vieles in mir ausgelöst. Und er wird vielleicht die Weichen in meinem Leben ganz neu stellen«, begann ich.

»Das kann man wohl so sagen«, murmelte meine Mutter.

»Schon bevor mich dieser Brief erreicht hat.« Ich warf meiner Mutter einen vielsagenden Blick zu und deutete auf den Tisch, wo der Brief lag.

Verwirrt legte mein Vater die Stirn in Falten und blickte auf das Schreiben. »Darf ich?«, fragte er, ehe er ihn in die Hand nahm.

Ich nickte. »Gerne.«

Mein Vater setzte die Lesebrille auf. Nach wenigen Sekunden wechselte sein Gesichtsausdruck von irritiert zu ungläubig. »Aber«, stammelte er, »was bedeutet das?«

Zögerlich hob ich die Schultern. »Genau weiß ich es auch nicht. Aber ich vermute, es ist eine gute Nachricht für mich.«

»Unfassbar!« Mein Vater schüttelte staunend den Kopf.

Ich nickte und war in diesem Moment sehr dankbar und wahnsinnig stolz auf Else. Aber gleichzeitig war ich auch unendlich traurig. Alles Geld der Welt hätte ich hergegeben, wenn ich Else noch einmal fest in den Arm nehmen und mit ihr ein Stück Sahnetorte hätte verputzen können. Wenn ich ein einziges Mal noch lächelnd über ihren Anblick hätte staunen dürfen, wenn sie das Café betrat und alle Köpfe sich nach ihr umdrehten.

Ich seufzte. »Ich vermisse Else sehr«, sagte ich, und meine Mutter legte den Arm um mich. »Es fehlt mir so, mit ihr zu reden, zu lachen. Ihr aufmunterndes Lächeln, ihre lieben Augen.« Matt ließ ich die Schultern hängen. Meine Eltern und ich hatten oft darüber gesprochen, dass Else für mich wie die Oma war, die ich nie hatte. Meine eigenen Großeltern waren auf beiden Seiten verstorben, als ich noch klein war.

»Das, was sie dir hinterlassen hat, und damit meine ich nicht das.« Sie deutete auf den Brief. »Das wirst du für immer und ewig im Herzen tragen. Das kann dir niemand nehmen. Kein dummer Spruch von Thies’ Familie und auch nicht Elses Tod.« Meine Mutter klopfte sich in Höhe des Herzens auf die Brust.

Dankbar nickte ich. »Ja, da hast du recht.«

Und obwohl ich mich freute auf alles, was jetzt kam, hatte ich auch Angst. Angst vor der Begegnung mit Thies, die mir nach diesen neuen Entwicklungen garantiert noch bevorstand, und den Überlegungen, wie ich was ändern wollte in meinem Leben.

»Und nun?« Meine Mutter wirkte nervös. Fahrig hob sie die Schultern, und auch mein Vater sah mich an, als hätte ich sofort den Masterplan zur Hand, was nun zu tun war.

»Hier steht, dass das Nachlassgericht das Testament verkündet. Ein Termin ist mit aufgeführt. Vielleicht sollte ich Robert anrufen? Ich bin mir sicher, er weiß, welche Schritte nun zu gehen sind.« Meine Mutter stimmte murmelnd zu.

Robert war mein bester Freund. Er war Rechtsanwalt und mit derlei Themen sicher vertraut.

Anstatt meines Freundes erreichte ich jedoch nur seine Mailbox. Ich stellte sie zur allgemeinen Erheiterung auf »laut«. Während mein Vater kopfschüttelnd so tat, als amüsierte er sich über die Ansage, konnte meine Mutter sich ein verzücktes Grinsen nicht verkneifen. Robert hatte mit Abstand die erotischste Stimme, die man sich vorstellen konnte. Seine Einladung, das Anliegen auf das Band zu sprechen, klang, als arbeitete er beim Escort Service. Ich war mir sicher, dass mehr als die Hälfte seiner Anrufer nach dieser Ansage erst einmal vergaß, weshalb sie eigentlich angerufen hatte. Bis es ihnen dann wieder einfiel, war längst der Piepton erklungen, der das Ende bedeutete.

Im Reibeisenton bat Robert mich, ihm doch einen »klitzekleinen Hinweis darauf« zu geben, womit er mir »mit Sicherheit ganz bestimmt weiterhelfen konnte«, garniert mit einem hörbaren Lächeln auf den Lippen. So tief und charmant, wie seine Stimme klang, hätte er bei irgendeiner Dating-Hotline womöglich mehr verdienen können als in jedem anderen Beruf. Seriöser war jedoch sein Job als Rechtsanwalt, wie er stets betonte. Aber die Stimme bliebe ihm ja hoffentlich erhalten, und im Alter spräche nichts gegen eine kleine Nebenbeschäftigung. Die Anrufer würden dann schließlich nie herausfinden, dass sich hinter dieser Stimme ein runzeliger, in die Jahre gekommener Beau verstecke, mit dem es im Alter allenfalls sein Hund ausgehalten hatte, sagte er dann manchmal.

»Robert, ich brauche mal deinen Rat. Melde dich doch, wenn’s passt. Lieb dich!« Mein Vater rollte mit den Augen, und meine Mutter lächelte verträumt.

»Den Robert, den mag ich ja wirklich gern«, stellte sie fest.

»Und ich erst.« Ich bedachte meinen Vater mit einem vielsagenden Blick, als er diese Worte mit gespielt tiefer Stimme sagte, mit der er Robert nachahmte.

Mein Vater mochte Robert eigentlich. Sie nahmen einander regelmäßig gegenseitig ein wenig auf den Arm, was aber nicht böse gemeint war. Es war eher wie ein liebgewonnenes Ritual unter alten Bekannten. Scherzhaft sagte mein Vater manchmal, dass er sich mit seinen kleinen Sticheleien dafür rächte, dass Robert nicht der Mann an meiner Seite sein wollte, was mein Vater begrüßt hätte. Er war damals schwer enttäuscht, als er davon erfuhr, dass der junge, extrem gut aussehende Jurist in spe, der mit seinen ein Meter fünfundneunzig deutlich größer als ich war und sich perfekt als Beschützer eignete, schwul war. Dankbar war er jedoch dafür, dass Robert zu jeder Zeit der beste Freund war, den ich mir hätte wünschen können. Und er lenkte ein, dass das auf lange Sicht wahrscheinlich viel wertvoller sein könnte.

Robert war nie um einen frechen Spruch verlegen, und mein Vater hatte manchmal ganz schön damit zu tun, seinen schlagfertigen Äußerungen etwas entgegenzusetzen.

Ich wusste, dass er bis heute für ein paar Tage in Berlin war, wo er beruflich zu tun hatte. Dann ging er tagsüber nicht an sein Telefon. Er würde sich sicher abends bei mir melden.

»Vielleicht koche ich uns erst mal dein Lieblingsessen, und dann sehen wir weiter.« Meine Mutter hatte schon immer auch an das leibliche Wohl gedacht, wenn es darum ging, die Seele zu beruhigen.

Sie kochte Nudeln mit ihrer legendären Bolognese-Soße, und zum Nachtisch gab es frische Erdbeeren aus dem Garten mit Eis.


Nach dem Essen trat ich auf die Terrasse, wo der Strandkorb stand, den ich meinen Eltern zur Silberhochzeit geschenkt hatte. Meine Mutter folgte mir. Wir setzten uns nebeneinander hinein, während mein Vater uns einen Kaffee zubereitete und in der Küche klar Schiff machte.

»Wie geht es mit Thies und dir weiter?« Meine Mutter sah mich mit ernstem Blick an.

»Es ist vorbei. In den letzten Tagen habe ich mich unendlich weit von ihm entfernt. Elses Tod hat ihn überhaupt nicht berührt. Ich wusste ja, dass Else ihm nie am Herzen lag. Im Gegenteil, er hat sie gehasst. Ich hätte mir aber gewünscht, dass er mich einfach mal in den Arm nimmt und tröstet. Er wusste doch, was seine Tante mir bedeutet hat. Abgesehen davon bin ich schockiert davon, wie die Familie mit dem Tod von Else umgeht. Ein so unfassbares Desinteresse. Widerlich. Else hatte recht. Thies, seine Sippe und ich passen einfach nicht zueinander. Ohne ihn wird mir auch der Neustart gelingen. Davon bin ich überzeugt.«

Liebevoll strich meine Mutter mir über den Arm.

»Ich bin mir sicher, dass alles im Leben einen Sinn hat, mein Schatz. Durch deine Beziehung zu Thies hast du Else kennengelernt, die so viel Farbe in dein Leben gebracht hat. Ich glaube daran, dass sich das am Ende alles zu einem Bild zusammenfügt, auf dem du glücklich strahlend zu sehen bist. Versuch darauf zu vertrauen«, tröstete sie mich, und ich nickte dankbar. »Ich freue mich jetzt schon auf dieses Bild.«