Cover-Bild von Laser Blue 1.0 – Fehler im System

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Dieses Werk wurde vermittelt durch LöcherLawrence Literarische Agentur (München)

Redaktion: Franz Leipold

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Freepik (user24028412, kjpargeter, upklyak); Shutterstock (vvital, Sergey Nivens, Triff)

 

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Level 1; -Hacked-

 

steht in roter Schrift – die, wie ich glaube, so aussehen soll, als hätte sie jemand mit der Hand geschrieben – unter dem Text, den ich vor gut einem halben Jahr an die Schulbehörde geschickt habe. Ich runzle die Stirn. Ich hab den blöden Text in einer halben Stunde geschrieben. Als letzten Teil meiner Abschlussprüfung für die Schule. , steht da noch. Daneben prangt ein dicker Daumen, der wohl ausdrücken soll, dass der Behörde mein Text gefallen hat. Weil meine Arbeit laut dem angehängten Schreiben wohl die beste meines Jahrgangs war, bekomme ich nicht nur eine Auszeichnung (im Anhang), sondern auch noch einen zusätzlichen Hygienegutschein (auch im Anhang). »Wer auch immer für den Anhang des Gutscheins verantwortlich war, hat meine Arbeit mit Sicherheit gelesen«, denke ich frustriert. Ich hätte mich über ein oder zwei seltene Items auf meinem Battle-Commander Account gefreut oder über ein paar Punkte für meinen Highscore, aber so weit denken die von der Schulbehörde wohl nicht.

Im Bett neben mir stöhnt mein kleiner Bruder Blast genervt auf. Er hat vormittags Unterricht, sitzt in seinem Bett, ein Kissen im Rücken, ein Tablet auf dem Schoß und einen Stöpsel im Ohr. Mit einem Plastikstäbchen kritzelt er auf dem Screen herum und ärgert sich über irgendwas. Ich bin heilfroh, dass ich mich damit nicht mehr herumquälen muss. Ich konnte meinen Abschluss schon nach fünf Jahren machen. Ich hab spät angefangen. Erst mit zwölf. Aber der Unterricht ist mir nie schwergefallen. Auch die Tests nicht. Blast hasst es. Er versucht oft, sich davor zu drücken; allerdings verweigert ihm unser Housekeepingsystem, jegliche Art von medialer Zerstreuung, bis er die zwei Stunden Schule täglich abgesessen hat. Ich sehe zu ihm rüber. Seine stachelig gegelten Haare stehen trotz seines nächtlichen hin und her Gewälzes akribisch geformt von seinem Kopf ab. Er hat die Nase kraus gezogen und kaut auf dem gelben Eingabestäbchen herum, während er angestrengt dem Unterrichtsvideo folgt. Ich schließe die E-Mail und drücke auf den kleinen Papierkorb neben der Betreffzeile. Ich glaube nicht, dass sich jemals wieder irgendjemand dafür interessieren wird, ob und mit welcher Note ich meinen Schulabschluss bestanden habe.

Da ist noch eine zweite ungelesene Nachricht in meinem Postfach. Betreff: 800.567.433. Absender: BAMBI. Ich fixiere die Nachricht mit den Augen, und sie öffnet sich. Es geschieht nichts. Der Bildschirm bleibt weiß. Blast steht auf, um sich einen Saft zu holen. Ein schrilles Klingeln ertönt plötzlich durch meinen Audiostöpsel, der auf meinem Nachttisch liegt. Mein Kumpel Bullet ruft an. Ich nehme den Videocall entgegen und stecke den AudioIn in mein Ohr.

»Laser? Hast du es schon gehört?«, fragt er mich und kratzt sich dabei am Kinn. Ich ziehe den Bildschirm etwas näher zu mir heran. Mein Screen ist an einer Vorrichtung an der Decke befestigt, die es mir durch einen beweglichen Arm ermöglicht, das Bild direkt vor mein Sichtfeld zu ziehen, selbst wenn ich im Bett liege. Der 3-D-Effekt funktioniert allerdings nur, wenn man frontal darauf schaut.

»Nein, was denn?«, frage ich ihn. Es ist nicht mal zwölf. Was soll man denn um diese Uhrzeit bitte schon so alles gehört haben? Plötzlich läuft ein Rehkitz über meinen Bildschirm. Wo kommt das denn auf einmal her? Über dem Tier schwebt ein rotes Banner auf dem steht: Kennnummer 800.567.433, Ich versuche, das Bild zu schließen, indem ich mit dem Finger über den Bildschirm wische, doch das komische Vieh mit den großen freundlichen Augen lässt sich nicht vertreiben.

»Laser?«, fragt Bullet.

»Ja, Sorry. Ich hab hier gerade so ein komisches Bild auf dem Screen. Ich kann’s irgendwie nicht wegklicken.« Ich wische und wische, doch das Reh dreht fröhlich tänzelnd weiter seine Runden.

»Das ist bestimmt bloß Spam. Warte einfach kurz. Das geht bestimmt gleich von selbst weg. Also, hör zu, Mann! Weißt du, was Liberty über deine Schwester gesagt hat?«

»Halt ja die Schnauze, Bullet«, brüllt plötzlich Liberty, Bullets Schwester, im Hintergrund. »Ich hab dir gesagt, du sollst dem kleinen Scheißer nicht von Mercurys Baby erzählen!«

»Verpiss dich aus meinem Zimmer!«, schreit Bullet zurück, leider direkt ins Mikro und somit direkt in mein Ohr. Ich zucke zusammen.

»Was für ein Baby?«, frage ich genervt. Das Rehkitz wird langsam immer größer wie ein Luftballon und verdeckt fast den ganzen Bildschirm. Ich sehe Bullet nicht mehr. Dann platzt es mit einem lauten Knall und gibt die Sicht auf meinen Videochat wieder frei.

Bullet grinst mir entgegen. Ich sehe sein Gesicht und ein paar riesige weiße Zähne, so nahe sitzt er vor dem Bildschirm.

»Der Carlo hat wohl Mercury angebumst. Sie ist schwanger. Hat sie Liberty erzählt.«

Ich bin ziemlich verwirrt über diese Nachricht und über das geplatzte Reh. Das kann eigentlich nicht sein. Also beides nicht.

Liberty kreischt erneut los, schimpft im Hintergrund, allerdings scheint sie den Raum verlassen zu haben, denn ihre Stimme ist nur noch undeutlich zu hören.

»Meine große Schwester Mercury soll schwanger sein?«, frage ich, nur um sicherzugehen, dass ich Bullet nicht falsch verstanden habe. Er redet häufig mal wirres Zeug. Und Liberty ebenso.

»Ja, Mann! Voll krass, oder? Sie weiß aber nicht genau, ob es Carlo war oder Storm. Liberty meint, sie glaubt, es hätte auch dieser eine mit der Glatze aus der Vier gewesen sein können, Mick oder so ähnlich. Keine Ahnung.«

Ich bin sprachlos. Was sollen wir denn mit einem Baby? Wo soll das denn wohnen? Wieder meldet sich Liberty. Sie kommt zurück ins Zimmer, ich höre Bullet protestieren, doch Liberty stößt ihn zur Seite, und dann erscheint ihr wütendes Gesicht vor mir auf dem Bildschirm.

»Laser, wenn du das eurer Mutter erzählst, dann bringe ich dich um!«, zetert sie. »Mercury hat mir das im Vertrauen erzählt, und dieser dumme Affe hier kann wieder mal seine Schnauze nicht halten. Wenn du das weitererzählst, dann schwör ich, erzähl ich allen, dass du heimlich mit meinem Bruder bumst!« Bullet protestiert wütend und zerrt an Libertys Armen, doch sie lässt sich nicht von seinem Bildschirm wegziehen. Bullet und Liberty bilden ein merkwürdig aussehendes, schreiendes Knäuel, und ich lege irgendwann einfach auf.

Irritiert ziehe ich den Stöpsel aus meinem Ohr. Das ist wirklich sehr seltsam. Die Mädchen werden nicht einfach so schwanger. Und schon gar nicht Mercury. Ich überlege, ob meine Schwester und ich versehentlich unser Essen vertauscht haben. Nicht, dass ich ihre ganzen Hormone gegessen habe und mir am Ende noch Brüste wachsen. Vorsichtig betaste ich meinen Oberkörper. Noch ist alles in Ordnung. Unsicher darüber, was ich von der ganzen Sache halten soll, gehe ich raus ins Wohnzimmer. Ich steure geradewegs auf das Sofa zu und lasse mich mit gerunzelter Stirn darauf fallen. Wenn Mercury ein Kind bekommt, muss sie ausziehen. Dann hätten wir ein Zimmer zu viel. Das überfordert mich. Müssen wir dann auch umziehen?

Mama kommt aus dem Bad. Sie trägt rosafarbene Gummihandschuhe, hat einen Sprühkittel aufgelegt und hält eine Flasche Putzmittel in der Hand. Ich beobachte sie aus dem Augenwinkel, wie sie am Sofa vorbei auf den Bildschirm zusteuert, der die ganze Wand auf der Stirnseite unseres Wohnzimmers einnimmt. Zwischen ihren Fingern quillt der grüne Qualm einer hervor. Sie hält die Putzmittelflasche vor die schwarze Fläche, die sofort, kaum hat die Kamera Mamas Interaktion erfasst, hell aufleuchtet und das -Logo anzeigt.

»Putzmittel ist leer«, ruft sie und zieht an ihrem , einem durchsichtigen Glasröhrchen, in dem grellgrüne Rauchschwaden wabern und seltsame Muster bilden.

Auf dem Bildschirm erscheint ein Eingabefenster.

»Habe ich dich richtig verstanden?«, fragt in einwandfreiem Hochdeutsch. Eine nette, gesichtslose Computerstimme, stets bemüht, dir alle Fragen zu beantworten und dir behilflich zu sein, wann immer sie kann. »Reinigungsmittel aufgebraucht.«

»Ja«, ruft meine Mutter. Sie hört auf, mit der Flasche zu winken, dreht sich zu mir um und legt das erloschene Glasröhrchen auf den Wohnzimmertisch. Der Rauch riecht süß und sauer zugleich. Definitiv fruchtig, wenn auch nicht ganz klar ist, wonach genau.

erscheint im Eingabefenster. Mama beginnt, sich den aufgesprühten Kittel von den Klamotten abzupulen.

»Warst du heute schon in der «, fragt sie und knüllt die dünne Silikonhaut zwischen den Händen zusammen. Sie wirft den abgelegten Kittel in die Spüle. Die ekligen Glibberfetzen werden immer mit den Essensresten entsorgt.

»Nein.«

»Und dein Bruder? Wo ist der überhaupt?«

»Er wollte sich einen Saft holen. Keine Ahnung.« Mein Bruder ist nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich ist er zu Koschwitz rüber.

»Sieh zu, dass du reingehst. Am Ende kriegen wir wieder die Glotze gesperrt, weil ihr zwei faulen Säcke es nicht auf die Reihe bringt, einmal am Tag in diese dämliche Kabine zu steigen. Und danach gehst du hoch zur Omma und schaust, ob sie das mit den neuen Essenspaketen verstanden hat.«

»Wieso muss ich immer nach der alten Schachtel gucken? Wird es nicht langsam Zeit, sie für ein Heim anzumelden? Warum darf die eigentlich immer noch alleine wohnen? Die nimmt doch den jungen Leuten den Wohnraum weg.« Ich quäle mich genervt vom Sofa hoch und schnappe mir die leere Putzmittelflasche.

»Red nicht so ein dummes Zeug!«, herrscht meine Mutter mich an, und wieder fliegt ihre Hand in die Höhe. »Die Omma bleibt, wo sie ist. Und jetzt: Sieh zu, dass du Land gewinnst.« Damit beendet sie die Diskussion, angelt nach ihrem -Päckchen und befiehlt auf Kanal 25 zu schalten, auf dem gerade der Vorspann zum Zwölf Uhr Mittagsmagazin zu sehen ist. Zwei aufgebrezelte Blondinen sitzen auf knallpinkfarbenen Plüschsesseln, zwischen ihnen ein Kerl, der mit strahlend weißen Zähnen und glänzend schwarzer Gelfrisur in die Kamera grinst.

»Hallo Berlin! Hallo Welt!«, begrüßt er begeistert die Zuschauer. Kurz zwinkert er seinen beiden Kolleginnen zu, dann schaut er wieder in die Kamera. »Es ist zwölf Uhr, und ihr seht das Mittagsmagazin auf Kanal 25.«

»Gute Wahl«, lacht die Blondine rechts.

»Ja, tatsächlich. Wir haben heute Mittag einige heiße News für euch im Gepäck. Passt auf, dass es euch zu Hause auf dem Sofa nicht heiß wird, denn wir starten mit Michael King. Ja, genau Michael King.« Hinter dem Kerl mit der akribisch geformten Haartolle, die majestätisch auf seinem Kopf prangt, erscheint ein Foto von Michael King. Meinem Michael King. Mein Herz fängt an zu klopfen.

»Was stehst du denn da immer noch rum?«, fragt meine Mutter, ohne mich anzusehen. Sie zieht an ihrem Diesmal ist der Rauch rot.

»Der Gute hat schon lange nichts mehr von sich hören lassen«, behauptet die Blondine rechts und schaut über ihre Schulter. Michael sieht alt aus. Er trägt einen ungepflegten Dreitagebart, und seine Augen blicken mir müde entgegen.

»Schade eigentlich«, kichert Blondine links.

»Bisweilen mussten wir uns mit etlichen Wiederholungen seiner Missionen begnügen, aber jetzt scheint es, als hätte er einen Vertrag mit dem Fantasy-Channel unterschrieben und sich und seinen Gamer für zwei Jahre nach Kanada verkauft. Das klingt nach spannenden neuen Abenteuern. Und Leute: Dieser Kerl«, der Tollenträger zieht die Luft zwischen den Zähnen ein und wedelt mit der Hand vor seiner Brust herum, »dieser Kerl in Lederhosen, mit Vollbart und Streitaxt? Da kriege sogar schweißnasse Hände.«

Jetzt kichern beide Blondinen.

Meine Mutter dreht schwungvoll den Kopf. Sie bläht die Nasenlöcher auf und spitzt die Lippen.

»Ja, ja. Ich geh ja schon«, knurre ich, hebe abwehrend die Hände und stampfe aus dem Zimmer. Wenigstens eine gute Nachricht an diesem Morgen: ein neues Abenteuer mit Michael King in Kanada. Ich habe es so satt, mir immer wieder die alte Afrika-Kampagne anzusehen, die jeden Tag auf dem Action-Channel wiederholt wird. Ich habe diese Spiele so oft gesehen, ich hätte sie vermutlich besser gezockt als Ullrich Breitstein, dieser arrogante Scheißtyp, der King durch seine erste Sahara-Kampagne gesteuert hat. Die ganze Mission hat viel länger gedauert als geplant, und Michael konnte dank diesem dämlichen Schnösel kaum sein volles Potenzial entfalten. Glücklicherweise hat Breitstein seinen Account aufgegeben und ihn an einen anderen Typen verkauft. Einen Ami. Der macht sich besser. Die letzte Kampagne dieser Reihe war wahnsinnig spannend. Jeder hat es sich angeschaut. Wirklich jeder. Sogar meine Mutter. Und die hat normalerweise nicht viel für den Action-Channel übrig. Sie sagt, King habe schöne Wangenknochen. So ein Schwachsinn. Was gibt es denn an ein paar Wangenknochen schön zu finden? Kings Wangenknochen interessieren doch kein Schwein. In der Sahara bei über vierzig Grad sind es wirklich andere Dinge, auf die es ankommt. Wenn dich die feindlichen Truppen unter Beschuss nehmen, dich und deine Männer einfach überrennen, dann gibt es nur noch eines, das dir hilft, zu überleben: ein guter Gamer.