Prolog in Russland

Stille.

Olga zog sich vorsichtig zurück, um ihren Herrn nicht weiter zu stören. Das Scheitern dieses letzten Versuches brach ihr das Herz. Bogdan Karanow, aristokratischer russischer Millionär und gerade der einsamste Mann auf der Welt, war der Verzweiflung nah. Was nutzte ihm all sein Geld, wenn er damit seiner eigenen Familie nicht helfen konnte.
Die treue Dienerin warf einen letzten Blick auf die düstere Silhouette des Mannes mit den traurig hängenden Schultern. Seine Wut und Ratlosigkeit schwebten als finstere Aura über dem altehrwürdigen Sommerpalast in der unendlichen Weite Sibiriens. Leise schloss sie die Flügeltüren hinter sich, als sie ihn mit seinem Zorn allein ließ.
Der große Russe stand am hohen Fenster und starrte hinaus in die düstere Nacht der sibirischen Taiga, düster und finster, wie sein Geist. Trostlos. Hoffnungslos.
Und doch…
Helles Mondlicht überstrahlte das weite Land. Seine Heimat lag ruhig und gelassen da, dichte, grüne Wälder, ein endloses Meer aus Lärchen, Fichten, und den wunderbaren Auenwäldern an seinem Lieblingsfluss. Die funkelnden Sterne am klaren Himmel ließen die Sorgen und Probleme der Menschen da unten auf dem kleinen Planeten kalt. Alles wirkte so friedlich, so still. Das Herz wurde ihm ein bisschen weiter, die Schönheit seiner Heimat beruhigte und erdete ihn.
Bogdan lehnte seine Stirn an die kühle Glasscheibe und seufzte leise. Der Aufruhr in seinem Innern kam langsam ein wenig zur Ruhe. Alle Wut brachte doch nichts.

Sein Zorn auf den unfähigen Psychologen verflog, als er die dumpfen Vibrationen des Helikopters wahrnahm, der vom weitläufigen Gelände des Sommerpalastes abhob. Fort, weit fort in den Westen, zurück nach Moskau. Der selbstgefällige, arrogante Mann war unbrauchbar, sein Ruf hatte nicht gehalten, was er großmäulig versprochen hatte: professionelle Hilfe. Nichts dergleichen hatte er geleistet.
Mit stummer, kaum gebändigter Wut hatte sich Bogdan Karanow angehört, was der fremde Seelenklempner über die kleinen, hilfsbedürftigen Kinder faselte. Wirr seien sie, unfähig zur Kommunikation – was ja wohl in der Familie läge – und entwicklungsgestört.
So ein dummer Idiot, darauf war er auch schon gekommen. Dafür hätte es keinen Psychologen aus dem westlichen Teil Russlands gebraucht. Das sahen alle, die mit den Kindern tagtäglich zu tun hatten. Und das Heilmittel? Wegsperren und mit Psychopharmaka ruhig stellen. Es gäbe da fantastische Einrichtungen, Heilstätten für Debile, in der Nähe von Moskau.
Im Westen.

Langsam schüttelte Bogdan den Kopf.
Nein, es musste einen anderen Weg geben.
Ein Plan musste her.
Ein neuer, vielleicht verrückter Ausweg.
Auf jeden Fall musste er die alten Pfade verlassen. Egal, was ihm die sogenannten Experten geraten hatten: es war falsch gewesen – und dumm und irrelevant.
Ein Ansatz aus einem anderen Blickwinkel musste her. Etwas, das er noch nicht versucht hatte. Zunächst einmal wollte er die Kinder in Ruhe lassen. Alles Vertrauen war verbraucht. Sie hatten Angst. Und niemand konnte ihnen erklären, dass das unnötig war. Sie waren in Sicherheit, beschützt und geliebt. Doch sie glaubten es nicht, vertrauten nicht mehr, niemandem, und das tat weh.
Er durfte nicht aufgeben, er durfte nicht verzweifeln, denn die Kinder brauchten ihn. Sie hatten niemanden mehr und brauchten seine Hilfe. Er schalt sich einen Narren, die Worte dieses Idioten ernst genommen zu haben. Es galt nach vorne zu schauen, einen Weg zu finden.
Westen…

Westen?
Da kam ihm ein Gedanke, denn seine Cousins hielten sich doch gerade weit im Westen auf. Westlicher als die USA ginge es ja schon fast nicht mehr. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Dort musste es doch jemanden geben, der ihm und vor allem den kleinen Kindern helfen konnte. All sein Reichtum musste doch zu etwas nütze sein.

Mit einem winzigen Funken Hoffnung setzte er sich an seinen Computer und surfte durch die bunt glitzernde Medienwelt des westlichen Amerika. Der Funke loderte heller, als er auf einen Namen stieß. Und flammte hoch auf, als er das Bild zu dem Namen sah.
Blond. Sie war blond, jung und hinreißend schön. Bogdans Puls ging hoch, keuchend holte er tief Luft und ließ seine Fingerspitzen über das Antlitz der jungen Frau auf seinem Monitor streichen, zart und fast schon ehrfürchtig.
Wow, sollte eine junge Blondine aus Amerika die Antwort auf all seine Probleme sein? Nun, damit fingen die Probleme doch erst an, Amerika war weit, weit im Westen…

Zufrieden, in seine Gedanken versunken, begann er den Anfang einer langen Reise zu planen. Er ahnte nichts von dem todbringenden Schatten, der ihn und seine Liebsten beobachtete, aus der silbrigen Mondnacht heraus.

Schatten.

Wie verzaubert lag der Sommerpalast im schimmernden Licht des runden Mondes. Nur wenige große Sterne leuchteten am wolkenlosen Firmament der samtdunklen Nacht über den weiten Nadelwäldern Russlands. Der Vollmond schickte die kleinen Sterne schlafen, so sagte man.
Schweigend, tief in die Stille der Schatten gehüllt, verborgen unter den mächtigen Bäumen rund um den Park, und doch dicht bei dem Sommer-Palast, stand ein Krieger und beobachtete gelassen den Abflug des Helikopters. Langsam wischte er seinen Dolch sauber. Kein Blut sollte die lederne Scheide an seinem Gürtel beflecken. Er verschwand in der Tiefe des Waldes, das schwere Bündel hinter ihm zog eine breite, rot triefende Spur durch die feine Nadelstreu. Ein zynisches Lächeln verwischte in der Dunkelheit des Waldes. Spione sollten vorsichtiger sein, solange der Schatten wachte.

Die Eisprinzessin in der Glitzerwelt

Eis.

Strahlende Lichter füllten den Saal, überall glitzerte und glänzte es, eine oberflächlich perfekte Welt. Leises Stimmengewirr und gedämpftes Gelächter. Haute Couture und Juwelen aller Art. Prestige und Macht, darum drehte sich diese kleine, elitäre Welt.
Klassische Walzertakte füllten gerade die große Halle des Hilton Hotels, und überdeckten die gemurmelten Gespräche. Hunderte der Reichen und Schönen saßen fröhlich zusammen und feierten ein karitatives Event. Eine Wohltätigkeitsgala, bei der Millionen gespendet und gesammelt wurden. Keiner wollte zurückstehen, jeder den Nächsten übertrumpfen. Weder bei der großzügigen Geldausgabe noch beim Repräsentieren dessen, was man besaß und wer man war. Oberflächlichkeiten wechselten mit Häme und Genugtuung. Hier war niemand frei von Eitelkeit, falschem Stolz und Arroganz.

Die goldblonde Schönheit saß gelassen, ruhig und mit ausdruckslosem Gesicht am Tisch ihrer Familie, kühl und reserviert. Inmitten der Wohltätigkeitsgala der Familie Mallory, zu der nur die oberste Crème der High Society geladen worden war, gab sie das perfekte Bild der Tochter. Unbeeindruckt perlte all der Glanz, all der Luxus an ihr ab und konnte die öde Langeweile in ihrem Inneren nicht vertreiben. Es war so anstrengend, die Fassade aufrecht zu erhalten und so zu tun, als gehöre man dazu.
Pamela jedoch hatte kein Interesse an den Dingen, die um sie herum vor sich gingen. Das hier war vielmehr die Show ihrer Mutter. Die brauchte das: die ganz große Bühne, die Medienpräsenz, der Mittelpunkt… nur, dass diese Zeiten vorbei waren.

Christina O´Hara war nicht mehr die gefeierte Schönheit von vor zwanzig, dreißig Jahren. Selbst an ihr hatte der Zahn der Zeit genagt und unschöne Details hinterlassen. Auch wenn die Chirurgie nachhalf, das zu überdecken.
In endloser Reihe defilierten die älteren Herren vorbei und baten um den einen oder anderen Tanz. Oftmals nahm Pam mit unterkühltem Lächeln die Stelle ihrer Mutter ein, denn so konnte sie minutenlang dem Tisch und seiner unendlichen Langeweile entfliehen.
Dann folgte wieder ein kleiner Zwischengang des exklusiven Menüs. Der Starkoch hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, doch die Häppchen waren so winzig und edel, dass sie kaum einen hohlen Zahn füllten. Und so zart im Geschmack, dass die feinen Aromen unter dem Prickeln des teuren Champagners verschwanden. Davon konnte man doch nicht satt werden. Sehnsüchtig dachte sie an den kleinen, irischen Pub, auf den sie sich schon seit einer Woche freute. Der Termin stand – doch noch konnte sie hier nicht verschwinden.
Erneut kam ein Galan daher und forderte die kühle, schöne Frau auf, die wenigen ergatterten Kalorien direkt wieder auf der Tanzfläche zu verbraten. Endlose beschwingte Walzerdrehungen später ließ Pam sich entmutigt wieder auf ihren Stuhl fallen. Oh, der vorsichtige Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch mindestens zwei Stunden diese Show erdulden musste.

Pam hatte es so satt.
Ihr Leben war so fade, so eintönig. Nur wenig interessierte sie an dem, was sie alltäglich tat. Weder mochte sie diesen Affenzirkus voll nutzlosem Luxus noch die genauso nutzlosen, hirnlosen Menschen, die ihn bevölkerten. Ihr war langweilig in der Gegenwart von Champagner und Brillanten. Die Gespräche über Protz und Prunk ödeten sie an. Dieser Abend war einfach nur schrecklich.

Sie wünschte sich ein bisschen Aufregung, ein Abenteuer weit ab der Luxusgesellschaft. Und sie ahnte nicht, wie dicht es ihr schon auf den Fersen war. Sie blies Trübsal, während sich ihre geheimsten Wünsche schon anschickten, wahr zu werden.
Doch leider waren ihre vermeintlichen Aussichten für die nächsten Wochen nicht gerade prickelnd aufregend. Die Semesterferien gingen zu Ende und bald würde sie wieder ihr langweiliges Studium aufnehmen müssen. Jura – ausgerechnet – trocken und lernintensiv. Dabei hatte sie kein Interesse an diesem komplizierten Gesetzes-Kram.
Aber es war ein ehrenvoller Weg, – der leichteste noch dazu – den sie eingeschlagen hatte, um der Verachtung ihrer Mutter einen Riegel vorzuschieben.

Wie sie Stella beneidete, die es so früh geschafft hatte, ihren eigenen Weg zu gehen. Dank der Großeltern hatte ihre jüngere Schwester es tatsächlich geschafft, unabhängig zu werden. Dazu fehlte Pam der Wille, die Energie, der Mut. Und es waren ja auch nur noch ein paar Monate, bis sie ihre Freiheit erlangen würde.
An ihrem vierundzwanzigten Geburtstag. In neun Wochen war es soweit, dann würde sie verschwinden. Aus Denver, aus der ganzen vermaledeiten Gegend. Nie wieder eine Wohltätigkeitsveranstaltung besuchen, nie wieder das aufgesetzte leere Lächeln und die oberflächlichen Gespräche erdulden müssen. Sie straffte die Schultern. Die Zuversicht, dass es bald vorbei war, gab ihr wieder einmal einen Schub innerer Kraft. Innerlich spöttisch lächelnd wappnete sie sich für die nächste Stunde.
Stoisch, mit äußerlich gelassenem Gleichmut, saß sie hier ihre Zeit ab, repräsentierte an der Seite ihrer Mutter und ihrer Schwester Bianca die Familie O`Hara, und weilte mit ihren Gedanken dabei in einer freien, abenteuerlichen Zukunft. Sie dachte zufrieden an ihr Hobby, ihre geheime Leidenschaft, das Zeichnen, das Malen und die Comics, die sie aus ihren Werken zauberte – Mangas der amerikanischen Art.

Stechende blaue Augen lasteten schwer auf ihr, brennend wie Laser. Die feinen Härchen im Nacken stellten sich auf, bestätigten ihr wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Schon seit sie den Ballsaal betreten hatte. In dieser riesigen Halle, an deren Wänden entlang die Tische der Ehrengäste um die Tanzfläche herum verteilt waren, hatte sie eine Weile gebraucht, um den Mann zu identifizieren, dessen Blick sie drohend auf sich liegen spürte.
Es war einer der Russen um Gregory Karanow, der mit Alicia hier war. Ihre Cousine, die im Moment als Escort Girl arbeitete, wirkte lustig und entspannt, zufrieden und glücklich. Der große Mann an ihrer rechten Seite war faszinierend, herrlich maskulin, dominant, aber auch erstaunlich fürsorglich.

Der Typ, der Pam anstarrte, war anders.
Wilder.
Nicht zivilisiert.
Da brodelte etwas unter der Oberfläche.
Sein Blick war beides zugleich, eisig vor Wut und stechend heiß, unter dunklen, zusammengezogenen buschigen Brauen. Der dichte, schwarze Vollbart mit den charmanten grauen Strähnen verdeckte den Ausdruck seines Mundes und machte ihn noch rätselhafter. Die langen Haare waren lockig und umrahmten etwas wild sein verwegenes Gesicht. Pam verzog einen Mundwinkel, aber so, dass ihre Mutter es nicht bemerkte.

Himmel, was dachte sie denn da. Der Mann saß gute zwanzig Meter von ihr entfernt, in einen teuren Anzug gehüllt, benahm sich zivilisiert und sie unterstellte ihm Wildheit und Düsternis?

Okay, okay, keine Schauerromane mehr vor dem Einschlafen. Wenn sie sich schon einbildete, er sei gefährlich, sollte sie auf jeden Fall Abstand wahren. Sie war nicht so draufgängerisch, wie ihre kleine Schwester.
Energisch wandte sie den Blick ab und konzentrierte sich darauf, die vorbildliche Tochter zu sein. Gedanken an einen Russen zu verschwenden würde ihr keine Pluspunkte bei ihrer Mutter einbringen. Im Jetzt und Hier durfte sie nicht sie selbst sein. Also sperrte sie ihre Wünsche tief in ihrem Herzen weg, verschloss sich und gab kühl lächelnd ein paar Kommentare zu oberflächlichen Gespräch ab, das Bianca und Mum führten.

Der Abend indes plätscherte belanglos dahin, und sie musste auf ihre langjährige Erfahrung, Konzentration und Geduld zurückgreifen, um nicht wütend zu werden. Sie hasste es von Tag zu Tag mehr, zu solchen Ereignissen geschleppt zu werden. Die Zeit war viel zu schade dafür. Noch ein Würdenträger, der sie lächelnd zu einem kurzen Tanz aufforderte. Ein paar Drehungen später saß sie wieder an ihrem Tisch. Sekunden später konnte sie sich schon nicht mehr an seine Worte, an sein Geschwätz erinnern. Nichtigkeiten füllten den Abend.

Sie fühlte nichts.
Nichts außer Langeweile, eisiger Kälte und einer gewissen Genervtheit.

Keine Freude über die Musik. Oder das luxuriöse Essen. Oder über das eisblaue Kleid, das sie heute trug. Der Chiffon voller Straß glitzerte um sie herum und fühlte sich luftig leicht an in der Schwüle der Sommernacht. Oder Freude über die Gegenwart ihrer nur ein Jahr älteren Schwester, die sie seit einer Weile nicht mehr gesehen hatte. Sie beide sahen sich so ähnlich, dass sie früher als Zwillinge durchgegangen waren, verständlich, das kam in ihrer Familie schließlich gehäuft vor. Bianca war noch ein kleines Bisschen heller, eine wahre Platinblonde, die Augen noch ein wenig mehr grün als blau. Und sie bekam sogar noch schneller einen Sonnenbrand.
Pamela seufzte. Bianca hatte sich gut gemacht in der Zeit in Kalifornien. Es lief toll dort an der Kinderklinik, in der sie arbeitete, sie wirkte glücklich und entspannt. Und Bianca gelang es, den Abend mit fröhlichem Small Talk zu füllen, in den sie immer ihre Mutter mit einband. Lauter kleine Geschichten über die kleinen Patienten, denen sie helfen konnte.
Aber das war auch das Mindeste, was sie tun konnte. In Pams Augen eine Art Bezahlung für die vielen Abende, die sie mit ihrer Mutter allein in der Öffentlichkeit verbracht hatte.
Ja, sie gönnte ihrer großen Schwester die Erfolge und das Glück, weit weg von Denver. Nur leider bedeutete das, dass sie die gehäufte Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf sich lasten fühlte. Sie musste an allen Terminen teilnehmen, die diese ihr aufhalste, anstatt es auf ihre drei Töchter zu verteilen.

Mum beugte sich zu ihr herüber, der Atem, scharf vom Alkohol, streifte ihre Nase und sie unterdrückte ein Würgen.
„Der schicke Typ da drüben an dem russischen Tisch, der hat ein Auge auf dich geworfen… geh doch mal mit ihm tanzen…“
Unfein schnaubte Pamela. Zum einen, um den Dunst fort zu pusten, zum anderen, nein, tanzen stand hier nicht zur Debatte, nicht mit dem Alpha-Tier da drüben. Sie stand trotzdem auf, entschuldigte sich, sie wolle sich die Nase pudern… wohlweißlich nahm sie ihre Handtasche mit, auch wenn sie unförmig groß zu dem zarten Abendkleidchen wirkte.

An Stellas Tisch vorbeikommend, konnte sie einen neidvollen Blick nicht unterdrücken. Ihre kleine Schwester sah großartig aus, in einem prachtvollen Abendkleid, das von CC zu eben dem Zweck kreiert worden war: schick aussehen und reiche Frauen animieren, selbst so eines haben zu wollen. Heute, auf der Spendengala, würde bald eine Modenschau folgen, bei der auf verschiedene Kleider geboten werden konnte – für einen guten Zweck.
Die Familie Mallory als Veranstalter hatte für höchste Qualität und Wow-Effekte gesorgt, den ganzen Abend schon. Versteigerungen von Luxusgütern, um notleidenden Kindern zu helfen...
Stella jedenfalls, die sah klasse aus, zusammen mit dem reichen sexy Mann neben ihr. Insgeheim musste sie lächeln, denn sie wusste, auf welche Art ihr Schwesterchen sich das Studium verdiente. Neid auf die Freiheit der Berufswahl kam hoch. Neid auf den verdammt heißen Lover an diesem Tisch.

Aber alles zu seiner Zeit… eine kleine Weile noch musste sie das Spiel mitspielen.

Geduld.

War leider nicht ihre Stärke.

Den Blick des besagten, finsteren Russen spürte sie im Nacken, aber es war ihr egal. Sie verschwand um eine Ecke, lief in den Gang hinunter, an den Toiletten vorbei und weiter, bis sie einen Hinterausgang fand.
Hinaus in die schwüle Wärme der Nacht und erst mal eine Kippe anstecken. Nur wenn sie arg unter Stress stand, griff sie zur Zigarette, denn sie lieferte oft genug einen plausiblen Grund, eine kurze Auszeit zu nehmen. Der Rauch schmeckte ein wenig eklig, aber das nahm sie gerne in Kauf. Im Grunde brauchte sie nicht das Nikotin, sondern den kleinen glimmenden Stängel in der Hand, um für kurze Momente zu entkommen.
Tief und hastig inhalierte sie den Rauch, ihre Mutter würde ihr nur allzu schnell auf den Fersen sein. Ein paar wenige Sterne standen am Himmel, strahlend hell genug, um gegen das Lichtermeer Denvers anzukommen.
Sie seufzte, gab sich wildromantischen Träumen hin. Sie wünschte sich weit hinaus aus der Stadt auf die Ranch ihrer Cousine, jetzt ein Pferd nehmen und davonreiten in die Nacht. Fort von all dem hier und den Pflichten, die ihr auferlegt waren. Hinaus in die Freiheit, um das Licht aller Sterne sehen zu können, die Milchstraße, die Weite des Himmels. Tief durchatmen können in der Frische einer kühleren Nacht. Mit jedem Monat mehr hier in der schwülheißen Stadt fühlte sie sich eingeengter. Bedrückt. Die vielen Menschen nahmen ihr die Luft zum Atmen. Ihre Geduld war ziemlich am Ende.

Und mit ihrer Selbstbeherrschung war es eh fast vorbei, seit sie ihren Ex-Verlobten Steve mit seiner neuen Flamme auf der Tanzfläche gesehen hatte. Himmel, die Wut und Enttäuschung ließen wohl nie ganz nach, es war doch schon ein ganzes Jahr her, dass sie sich getrennt hatten.
Nun, es stimmte wohl. Die erste große Liebe als Verrat zu akzeptieren war wohl am Schwersten. Die folgenden, wenn es denn je welche geben sollte, waren sicherlich einfacher zu verkraften. Sie hatte ihr Herz einem jungen Mann geöffnet, der es herausgerissen und mit Füßen getreten hatte. Nie hätte sie geglaubt, dass Liebe so wehtun konnte.
Pam seufzte schwermütig.
Die Kippe war alle.
Sie sollte wieder hinein gehen, und den Abend tapfer zu Ende ertragen. Aber das konnte sie nicht. Plötzlich erschien es ihr unglaublich schwer, sich noch einmal unter das hohle, reiche, oberflächliche Volk zu mischen.

Ein Taxi fuhr langsam auf der Hauptstraße vorbei, auf der Suche nach Fahrgästen und sie hastete, einem unvernünftigen Impuls folgend, hinterher. Der Fahrer wunderte sich vielleicht, aber er fuhr sie ohne weitere Fragen zu einer der kleineren Bars in der Innenstadt, die sie so mochte. Hierher kam ihre Mutter nicht, viel zu düster, zu Irisch und voll des einfachen Volkes. Sie verließ das Taxi, hinterließ einen glücklichen Fahrer, der sich um 100 $ reicher sah.

Stille.

Auf dem Fest, da sie so schmählich verlassen hatte, nahm das Schicksal seinen Lauf. Das Abenteuer begann, es war der jungen Frau dicht auf den Fersen.

Bogdan sah die Frau, die er sehnlichst begehrte, aus dem Ballsaal verschwinden und jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an, sprungbereit, ihr zu folgen. Der Abend wandelte sich zum Besseren. Nun sah er seine Chance kommen, sich ihr zu nähern.

Seit sie erschienen war, hatte sein Fokus auf der zierlichen, zarten Frau gelegen. Perfekt. Die Fotos aus dem Internet hatten ihn nur unzureichend auf den Anblick in der Realität vorbereitet. Sie war schön, elegant und kühl. Es traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Sie turnte ihn an, intensive Gefühle rauschten durch seinen Körper, kochten in seinem Blut und trieben seinen Puls in unerwartete Höhen. Sein ganzer Körper vibrierte voller Energie und Spannung, und er musste die Zähne zusammenbeißen, um halbwegs gelassen zu wirken.
Er beobachtete jeden ihrer Schritte und sah den Moment, als sie ihn erkannte – als den Stalker, der er war. Ja, erst seit heute Abend, aber er fühlte sich fast wie ein Verbrecher, so intensiv lastete sein Fokus auf ihr. Hellblaue, strahlende Augen bohrten sich in seinen finsteren, starren Blick und er sah den leichten Schrecken, den sie sofort zu verbergen versuchte. Bogdan nahm sich ein wenig zurück. Wandte leicht den Blick ab, um sie für den Moment in Ruhe zu lassen. Mit langsamen, tiefen Atemzügen versuchte er sich zu beruhigen. Er hatte doch Zeit.

Gregory, sein älterer Cousin und Patriarch der Familie, redete auf Russisch auf ihn ein und forderte seine Aufmerksamkeit. Andere Gäste am Tisch plauderten gelassen auf Amerikanisch – schnell und teilweise für den Russen unverständlich. Und so verfinsterte sich sein Blick immer mehr, je öfter er aus der Betrachtung seiner Beute herausgeholt wurde.

Nach einer Weile entspannte er sich ein wenig. Die blonde Schönheit eilte zwar immer wieder fort, um auf der Tanzfläche elegante Kreise zu drehen. An ihrer Seite jedoch waren wechselnde Partner, gutaussehend und reich, doch alle älter und keiner schien einen Anspruch auf sie erheben zu können. Es gab keinen Mann an ihrer Seite. Niemand, der sie erobert hatte. Das Internet hatte Recht, sie als „alleinstehend“ zu bezeichnen. Und so gestattete er sich, ein wenig befreit durch zu atmen. Die Kälte, die ihr Lächeln ausstrahlte, die abweisende Haltung, ja – er konnte verstehen, dass sie allein war.
Sie ließ niemanden an sich heran.
Der Spitzname „Eisprinzessin“ passte zu ihr. Warum nur hatte er das Gefühl, dass es unter ihrer unterkühlten, gelassenen Oberfläche genauso brodelte, wie in ihm? Wie ein unsichtbarer Faden fühlte er eine Verbindung zur schönen Amerikanerin, intensiv und fremdartig. Seine Neugier, sein Jagdtrieb waren geweckt.
Kaum hatte sie den Ballsaal verlassen, sprang er von seinem Stuhl auf, eine gemurmelte Entschuldigung auf den Lippen. Voller Vorfreude machte er sich sofort auf den Weg, ihr in Richtung Damentoiletten zu folgen. Egal, dass sein Cousin ihn ermahnte, höflich und zivilisiert zu bleiben. Sein Lächeln wurde tiefer und ehrlicher, verdeckt vom dichten Bart. Er fühlte sich gerade alles andere als zivilisiert.