Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2021 Verlag Die Werkstatt GmbH

Siekerwall 21, D-33602 Bielefeld

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH

ISBN 978-3-7307-0548-3

INHALT

PROLOG

6. Juni 1971

AUGUST 71

Libuda und die Rasselbande

Bundesliga, 1. Spieltag +++ 14. August 1971

Zeitbombe unterm Rasen

Bundesliga, 2. Spieltag +++ 20./21. August 1971

Rios Träume

Bundesliga, 3. Spieltag +++ 28. August 1971

SEPTEMBER 71

„Mohammed war ein Prophet“

Bundesliga, 4. Spieltag +++ 31. August/1. Sept. 1971

Elf Freunde wollen wir nicht sein

Bundesliga, 5. Spieltag +++ 3./4. September 1971

Netzers Jaguar

Länderspiel gegen Mexiko +++ 8. September 1971

Lawine an Unrat

Bundesliga, 6. Spieltag +++ 11. September 1971

Seelenlose Millionenelf

Bundesliga, 7. Spieltag +++ 18. September 1971

„Sie Drecksau“

Bundesliga, 8. Spieltag +++ 24./25. September 1971

OKTOBER 71

„You’ll never walk alone“

Bundesliga, 9. Spieltag +++ 2. Oktober 1971

„Leipzig grüßt Kaiser Franz“

Länderspiel gegen Polen +++ 10. Oktober 1971

Arminias seltsamer Anwalt

Bundesliga, 10. Spieltag +++ 12./13. Oktober 1971

7:1 und eine Dose

Bundesliga, 11. Spieltag +++ 16. Oktober 1971

Europapokal der Landesmeister, Achtelfinal-Hinspiele +++ 20. Oktober 1971

An Eides statt

Bundesliga, 12. Spieltag +++ 22./23. Oktober 1971

Münchner Damenliga

Bundesliga, 13. Spieltag +++ 29./30. Oktober 1971

NOVEMBER 71

Latteks Küken

Europapokal, Achtelfinal-Rückspiele +++ 3. November 1971

Bundesliga, 14. Spieltag +++ 5./6. November 1971

„Montenegrinische Hammeldiebe“

Bundesliga, 15. Spieltag +++ 12./13. November 1971

Länderspiel gegen Polen +++ 17. November 1971

11:1 und ein Hackebeil

Bundesliga, 16. Spieltag +++ 26./27. November 1971

DEZEMBER 71

„Der Mariannenplatz war blau“

DFB-Pokal, erste Hauptrunde, Hinspiele +++ 4./5. Dezember 1971

Schalker Feuer

Bundesliga, 17. Spieltag +++ 10./11. Dezember 1971

Der gefährliche Herr Böll

DFB-Pokal, erste Hauptrunde, Rückspiele +++ 14./15. Dezember 1971

Schaffers Reisen

Freundschaftsspiel Israel gegen Borussia Mönchen gladbach +++ 21. Dezember 1971

JANUAR 72

Müller will weg. Maier auch. Breitner auch. Hoeneß auch

Bundesliga, 18. Spieltag +++ 21./22. Januar 1972

Theater um Charly

Bundesliga, 19. Spieltag +++ 29. Januar 1972

FEBRUAR 72

„Gegen den Teufel“

Bundesliga, 20. Spieltag +++ 5. Februar 1972

Bielefelder Geisterelf

Bundesliga, 21. Spieltag +++ 19. Februar 1972

Kein Rasen in Offenbach

DFB-Pokal, Achtelfinal-Rückspiele +++ 22./23. Februar 1972

„Junger Gott mit blonden Haaren“

Bundesliga, 22. Spieltag +++ 26. Februar 1972

MÄRZ 72

„Von Haus aus alle doof“

Bundesliga, 23. Spieltag +++ 4. März 1972

Des Bombers Zaubertor

Europapokal der Pokalsieger, Viertelfinal-Hinspiele +++ 8. März 1972

Bundesliga, 24. Spieltag +++ 10./11. März 1972

„Methoden wie im dunkelsten Afrika“

Bundesliga, 25. Spieltag +++ 18. März 1972

„Der beste Spieler der Welt“

Bundesliga, 26. Spieltag +++ 24./25. März 1972

Länderspiel gegen Ungarn +++ 29. März 1972

APRIL 72

Der Rasen als Schlachtfeld

DFB-Pokal, Viertelfinale +++ 1./5./12. April 1972

Europapokal der Pokalsieger, Halbfinale +++ 5./19. April 1972

„Ihr könnt uns alle mal“

Bundesliga, 27. Spieltag +++ 8. April 1972

Ein Häuschen für Breitner

Bundesliga, 28. Spieltag +++ 15. April 1972

Wunder in Wedau, Misstrauen in Bonn

Bundesliga, 29. Spieltag +++ 21./22. April 1972

Wembley

Viertelfinale der Europameisterschaft, Hinspiel +++ 29. April 1972

MAI 72

Libuda aber geht

Abschiedsspiel Uwe Seeler +++ 1. Mai 1972

Bundesliga, 30. Spieltag +++ 5./6. Mai 1972

Kick and Crash

Viertelfinale der Europameisterschaft, Rückspiel +++ 13. Mai 1972

„Jaulende Hofhunde“

Bundesliga, 31. Spieltag +++ 19./20. Mai 1972

„Diese Elf kann alle schlagen“

Länderspiel gegen die UdSSR +++ 26. Mai 1972

JUNI 72

Aktion Wasserschlag

Bundesliga, 32. Spieltag +++ 3. Juni 1972

Wahnsinn auf Schalke

DFB-Pokal, Halbfinale, Rückspiele +++ 10. Juni 1972

„Phänomen Müller“

Halbfinale der Europameisterschaft +++ 14. Juni 1972

„Traumhaft schön“

Finale der Europameisterschaft +++ 18. Juni 1972

Privater Umsturz

Bundesliga, 33. Spieltag +++ 23./24. Juni 1972

Endspiel auf dem Teppich

Bundesliga, 34. Spieltag +++ 28. Juni 1972

JULI BIS SEPTEMBER 72

Schalker Triumph, Schalker Tragik

DFB-Pokal, Finale +++ 1. Juli 1972

„Schlimmste Nacht der Bundesrepublik“

XX. Olympische Sommerspiele, 11. Tag +++ 5. September 1972

EPILOG

Stan und Rio

ANHANG

Saisonstatistik 1971/72

Daten zum Bundesligaskandal

Quellen, Literatur, Dank

Der Autor

PROLOG

Die Erde ist ein Ball, aber kein Fußball.

RICHARD KIRN, Sportjournalist

Die Welt ist zwar kein Fußball, aber im Fußball, das ist kein Geheimnis, findet sich eine ganze Menge Welt.

ROR WOLF, Schriftsteller

Du kommst auf die Welt und die ganze Welt ist beim Fußballspiel, was anderes gab’s nicht. In der Halbzeit wurde geheiratet.

WOLF WONDRATSCHEK, Schriftsteller

Fußball ist das einzige Theater ohne festgelegten Ausgang, kennt fremde Schurken und eigene Helden, Sieger und Versager, Schuld und Sühne.

HELLMUTH KARASEK, Literaturkritiker

(Alle Zitate aus den siebziger Jahren)

6. Juni 1971

Horst-Gregorio Canellas, Präsident der Offenbacher Kickers, hat an seinem 50. Geburtstag zum Gartenfest geladen, doch eine Feier plant er nicht. Besonders fröhlich wäre sie wohl auch nicht ausgefallen, denn keine 24 Stunden zuvor hat sein Verein das letzte Saisonspiel beim 1. FC Köln verloren; zwei Gegentore in den letzten elf Minuten besiegelten die 2:4-Niederlage und damit den Abstieg. Canellas ist nicht gewillt, es dabei bewenden zu lassen.

Der Importkaufmann für Südfrüchte ist ein ehrgeiziger Mann. 1964 hat er das Präsidentenamt der Kickers übernommen, einen sechsstelligen Schuldenbetrag gelöscht und versprochen, jenes Unrecht von 1963 zu tilgen, dem Verein einen Platz in der neuen Bundesliga zu verwehren. Im Stadion sieht man den Präsidenten, nervös an seiner Zigarette ziehend, an der Seite illustrer Trainer wie Rudi Gutendorf oder Zlatko Cajkovski, die er meist nach ein paar Monaten wieder feuert. Kickers Offenbach steigt zwar 1968 in die Bundesliga auf, doch Fuß fassen kann der Verein dort vorerst nicht. Zweimal geht es nach nur einem Jahr Erstklassigkeit wieder abwärts; der Gewinn des DFB-Pokals 1970 bringt nur wenig Trost. Und allmählich glaubt Canellas zu wissen, wie in der Bundesliga gespielt wird: nämlich falsch.

Zum Ende der Saison 1970/71, als sich der Abstiegskampf zuspitzt, werden ihm von Spielern und Funktionären anderer Vereine seltsame Angebote angetragen: Was es den Kickers wert sei, auswärts zu gewinnen, auf Schalke beispielsweise, oder in Köln. Mit Offenbachs Konkurrenten im Abstiegskampf, Arminia Bielefeld, so hört er, habe man schon interessante Deals abgewickelt. Canellas unterrichtet Mitte Mai mehrere DFB-Funktionäre von diesen Vorgängen, doch die zeigen wenig Neigung, den Vorwürfen nachzugehen. Und das, obwohl Gerüchte darüber schon länger existieren. Die „Bild“-Zeitung, immer an Skandalen interessiert, hat Wochen vorher als Erste von „Schiebung am Tabellenende“ geraunt, vorsichtshalber mit einem Fragezeichen dahinter.

Der DFB stellt sich taub, also wird der Vereinspräsident selbst aktiv, und die Ergebnisse der Recherchen will er am 6. Juni auf seiner Gartenparty präsentieren. Die Auswahl der Gäste garantiert, dass die Bombe nicht ungehört hochgeht: Prominente wie Bundestrainer Helmut Schön und Ligasekretär Wilfried Straub sind darunter, ebenso eine größere Anzahl Journalisten.

Vormittags ab elf Uhr trudeln die Gratulanten ein, eine gute Stunde später ruft Canellas sie zusammen und verkündet: „Meine Herren, ich muss Ihnen sagen, dass mein Verein, die Offenbacher Kickers, durch Betrug aus der Bundesliga abgestiegen ist.“ Er gibt einem Mitarbeiter den Wink, auf den Abspielknopf des Tonbandgerätes zu drücken. „Und nun, meine Herren, hören Sie mal.“ Die Herren hören undeutliche Stimmen einiger Telefonmitschnitte. Es geht um zwei entscheidende Partien des vorangegangenen letzten Spieltags, 1. FC Köln gegen Kickers Offenbach und Hertha BSC gegen Arminia Bielefeld. Am einen Ende der Leitung spricht Canellas, am anderen Ende vernimmt man prominente Bundesligaspieler.

Unverkennbar die Stimme des Kölner Nationaltorhüters Manfred Manglitz, bekannt als Großmaul „Cassius“; Bundestrainer Schön erkennt den Tonfall sofort. Manglitz verlangt für einen Offenbacher Sieg in Köln 100.000 Mark, für sich und fünf Mitspieler. Doch er weiß nicht so recht, wen er in seiner Mannschaft noch einweihen soll. Jupp Kapellmann jedenfalls nicht: „Der ist 20 Jahre, und ich habe nicht gerne in so ’ner Sache so grüne Jungs, die quatschen mir zu viel, verstehen Sie das?“ Den Ersatztorhüter Soskic, der gegen Offenbach eingesetzt wird, auch eher nicht: „Das ist ein Jugoslawe, Sie kennen die Jugoslawen …“ Und den Mannschaftskapitän Wolfgang Overath schon gar nicht: „Der wurde böse.“

Eindeutige Angebote hört man in einem anderen Telefonat von den Hertha-Spielern Bernd Patzke und Tasso Wild, die den Offenbacher Präsidenten offenbar im Bieterwettstreit mit Arminia Bielefeld sehen. Sieg oder Niederlage gegen die Bielefelder, das ist für sie eine Frage des höheren Gebots. „Ich habe einen duften Vorschlag“, sagt Wild. „Weil es Offenbach ist und ohne Kuhhandel hin und her: 140, und die Sache ist für Sie in Ordnung.“ Allerdings wolle man das Geld vorher sehen, also müsse jemand mit einer Tasche voller Banknoten anreisen. „Dann stellt der sich mit irgendeinem Verbindungsmann von mir auf die Stehränge oder sonst w ohin. Ist das Spiel gewonnen, wechselt die Tasche den Mann.“ „Ja“, antwortet Canellas auf dem Band. Und Wild: „In der Tasche ist Geld – und geht leer zurück. Ist das fair?“

Als das Band abgelaufen ist, verlässt Helmut Schön entsetzt das Gartenfest, und die Journalisten eilen an die Telefone. Die meisten sind überzeugt, dass die ganze Wahrheit noch weitaus schlimmer sein wird und der DFB eine rechtzeitige Aufklärung verschlafen hat. Im ARD-Fernsehen empört sich einige Tage später Kommentator Dieter Gütt in Richtung Fußballbund: „Hinter der beflissenen Absicht, die Korruption in den eigenen Reihen auszutreten, verbirgt sich ein Chimborasso an Unfähigkeit, Kriminalität, Geldgier und Anmaßung. Eingeweihte sagen heute: Die Bestechungen liefen schon seit Jahren. Erst jetzt habe sich durch die Selbstenthüllung des Offenbacher Vereinsfürsten die Schleuse geöffnet.“ Gütt wütet: „Auch das Fernsehen wird sich überlegen müssen, ob es solchen kriminellen Unsinn, der sich Fußball nennt, noch weiterhin übertragen soll.“

Der DFB reagiert: Er verklagt den renommierten Journalisten wegen übler Nachrede und verlangt den Widerruf seines „publizistischen Amoklaufs“ (unterliegt später jedoch vor dem Landgericht München in fünf von sechs Klagepunkten). Dunkel droht der Fußballbund damit, die Zusammenarbeit mit der ARD aufzukündigen. Es ist wie so oft: Zunächst wird alles vehement geleugnet und werden die Überbringer der schlechten Nachrichten gegeißelt. In diesem Fall fällt vor allem Canellas die Rolle als dubioser Nestbeschmutzer zu. Ihm schwant schon nach wenigen Tagen, wie die Sache gedreht werden soll: „Nicht die Sünder haben gesündigt, sondern ich, der Präsident des OFC, der die Dinge ans Licht gebracht hat.“

Canellas gräbt weiter und findet neue Indizien. Nach und nach wird das erstaunliche Ausmaß des Skandals bekannt. Die Aufklärungsarbeit liefert in den folgenden Monaten den Blues zum glamourösen Geschehen auf dem Rasen.

***

Der bundesdeutsche Fußball produziert seine bis dahin größte Krise just in dem Moment, da er sich spielerisch in grandiose Höhen aufschwingt. Denn ein historischer Zufall hat es arrangiert, dass die erste echte Profigeneration zugleich auch die talentierteste und die selbstbewussteste ist. Diese Generation ebenso junger wie forscher Individualisten hat das Image des biederen Herberger-Fußballs gründlich entstaubt und revolutioniert. Vorbei die Zeit, da sich solide Handwerker wie Werder Bremen oder Eintracht Braunschweig die Deutsche Meisterschaft ermauern konnten. Protagonisten wie Franz Beckenbauer oder Günter Netzer schaffen auf dem Platz eine neue Spielästhetik, in der manche Intellektuelle den Geist von Freiheit und Rebellion verkörpert sehen, der seit Mitte der sechziger Jahre die Bundesrepublik durchweht. Die alte Garde der Funktionäre und Trainer, die noch im Nationalsozialismus sozialisiert wurde und sich oft entsprechend gibt, scheint zum Ewiggestrigen verbannt. Ein Buch über Netzer, das 1971 erscheint, heißt „Rebell am Ball“, eines über Beckenbauer zur gleichen Zeit „Gentleman am Ball“. Auf den Fußballplätzen und jenseits davon wachsen Träume von einer leichteren, zwangloseren, schöneren Zukunft.

Der Publizist Norbert Seitz findet dies alles symbolträchtig aufgeführt im Dribbling des Reinhard Libuda, mit dem der „Stan“ im Länderspiel gegen Schottland seinen Siegtreffer einleitet und die Nationalelf zur WM-Endrunde 1970 befördert: „Jener magische Slalomlauf wurde zum symbolischen Startsignal des euphorischen Aufbruchs in Bonn wie der Himmelsstürmerei in Mexiko im Jahr darauf. Eine neue Ära hub an, Deutschland sehnte sich nach Abenteuern, verdrängte Utopien wurden wach. Reformvisionen und Ballästhetik bezauberten langsam die Gemüter in einer bis dahin konservativen und defensiven Republik. ‚Mehr Demokratie wagen‘ verhieß spielerischen Offensivfußball.“ Seitz formuliert das im Jahr 1987 in seinem Buch „Bananenrepublik und Gurkentruppe“, wohl wehmütig rückblickend, denn zu diesem Zeitpunkt geht die Kohl’sche Kanzlerschaft in ihr fünftes Jahr und in eine schier unendliche Zukunft. Da sucht man Trost in schwärmerischer Nostalgie. 1971, man erinnert sich, ist die Regierung Willy Brandt gerade erst seit zwei Jahren im Amt und beginnt damit, das muffig-konservative Milieu der Adenauer-Ära mit seinen autoritären Strukturen und seiner bigotten Moral gründlich zu durchlüften.

Getragen, geschoben und kritisch begleitet wird die Brandt-Regierung von einem Mix aus rebellischer Jugend, liberalem Bürgertum und selbstbewussten Gewerkschaften. Vielen von ihnen geht die sozialliberale Reformpolitik nicht weit genug und zu zögerlich an die Ursachen von Krieg und sozialer Ungleichheit. Vor allem in den großen Städten der Bundesrepublik entsteht eine kulturelle und politische Subkultur, die herrschende Normen ignoriert und neue Wege der Selbstverwirklichung sucht. Im Dschungel allzu radikaler Utopien keimen die ersten Versuche, Bürgerwillen außerhalb von Parteien und Parlamenten in eigenen Initiativen zu organisieren.

Die virulenten politischen Debatten erfassen sogar die Nationalspieler. Bundestrainer Helmut Schön berichtet vom Länderspiel gegen Dänemark, Juni 1971: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Nationalmannschaft hatte es im Mannschaftsbus eine Art politischer Diskussion gegeben.“ Die Themen seien „quer durch den politischen Garten“ gegangen, „und natürlich konnte man sich nicht einigen“. Paul Breitner und Berti Vogts bilden die Antipoden in den Debatten, streiten sich beispielsweise heftig um die Einführung der Todesstrafe, die seinerzeit der hochrangige CSU-Politiker Richard Jaeger fordert und sich damit den Spitznamen „Kopf-ab-Jaeger“ verdient.

Zwar ist auch in der Bundesliga der Saison 1971/72 erstaunlich oft von „Mannschaftsrevolte“ oder „aufbegehrenden Spielern“ die Rede. Doch zu behaupten, der Geist der 68er habe nun den Fußball erfasst, wäre weit übertrieben, sieht man von Paul Breitner ab, der irgendwann mal unter einem Poster von Mao posiert. Bei seinen Bayern-Kollegen ist er allerdings hauptsächlich von CSU-Fans umgeben. Wenn die aufmucken, dann als Hedonisten, nicht als Revoluzzer. Selbst der angebliche „Rebell Netzer“ gibt im Nachhinein ehrlicherweise zu: „Vieles war nur Pose.“ Beziehungsweise: „Ich hatte keine Ideen von Rebellion.“ Und auch ein kluger Kopf wie Wolfgang Weber, Nationalspieler und Vizeweltmeister, der nebenbei Sport studiert, weiß in der Rückschau zu berichten: „An der Sporthochschule schlugen die Protestwellen nicht so hoch. Die Uni war nicht apolitisch, aber Politik spielte schon eine untergeordnete Rolle. Ich war Fußballer, mit Revolutionen hatte ich nichts am Hut.“ Die Vorstandsetagen der großen Vereine sind ohnehin traditionell konservativ gestimmt. „Bulle“ Weber, der mit der SPD sympathisiert, ist damit schon „für die ein Enfant terrible, ohne dass mir das jemand offen gesagt hätte“.

***

Die Seitz’sche Analogie: „‚Mehr Demokratie wagen‘ verhieß spielerischen Offensivfußball“, scheint ihrerseits recht gewagt, klingt aber einfach zu elegant, um ganz falsch zu sein. Sicher allerdings ist: Die Schönheit des Spiels, das die Akteure in der Saison 1971/72 auf dem Rasen zelebrieren, verliert im Schatten immer neuer Skandalenthüllungen erheblich an Glanz. Der grandiose 101-Tore-Sturmlauf der Bayern – 800.000 Bundesliga-Zuschauern weniger ist er, verglichen mit der Vorsaison, eine Eintrittskarte wert. Der 7:1-Triumph der Gladbacher über Inter Mailand – vom Fernsehen nicht für übertragenswert befunden. Die hoffnungsvolle Schalker Elf, die nur knapp die Meisterschaft verpasst und mit dem DFB-Pokal endlich wieder eine Trophäe nach Gelsenkirchen holt – auseinandergebrochen im Strudel aus Meineiden und Sperren. Der Triumphzug durch die Europameisterschaft, den Helmut Schön seine „Traummonate“ nennt und der heute als ein Höhepunkt deutscher Fußballkunst gefeiert wird – seltsam unterkühlt zur Kenntnis genommen. Erinnern sich Zeitgenossen an den Moment, da Hacki Wimmer mit seinem Tor zum 2:0 das Finale entscheidet? An Feiern danach? Kaum.

Das mag auch daran liegen, dass die Welt brodelt in jener Zeit. In Vietnam fallen mehr Napalmbomben als je zuvor. In Nordirland beginnt mit dem Bloody Sunday eine Eskalation der „Troubles“. Der Nahe Osten brennt. Baader, Meinhof und ihre RAF morden gegen das Morden und schießen sich vergebens ihren Fluchtweg frei. Idole der Rockkultur sterben an einer Überdosis. Die kulturelle Revolution der sechziger Jahre, die Befreiung aus spießbürgerlicher Verkrustung und die Eruption politischer Proteste, all dies erodiert und mutiert, aber es ist noch virulent. Manches wird zum Mainstream, manches radikalisiert sich. Einige Utopien tragen späte Früchte, viele verdorren, und jedem erfüllten Traum steht eine Vielzahl zerbrochener gegenüber. Das Scheitern freiheitssuchender Außenseiter gewinnt eine eigene Ästhetik, ausgedrückt in Kultfilmen wie „Easy Rider“ oder „Zabriskie Point“ sowie in den vielen Che-Guevara-Plakaten, die an den Wänden rebellischer Wohngemeinschaften hängen. Der bei Linken beliebte Western „Il grande silenzio“, dessen deutscher Titel so bescheuert ist, dass er ungenannt bleiben soll, wird von seinem italienischen Regisseur den Politikern Martin Luther King, Che Guevara und Robert Kennedy gewidmet, die nur eines verbindet: Sie wurden ihrer Überzeugung wegen ermordet. Stilecht verblutet auch der stumme Held des Films beim Finale im Schnee, gemeuchelt vom bösen Kinski.

Im Fußball sind es Borussia Mönchengladbach und Schalke 04, die in jener Zeit für die Ästhetik des Scheiterns stehen. Schalke aus eigener Schuld, Gladbach eher unbegründet. Populär werden sie als geniale Teams, denen die letzten Weihen versagt bleiben. Einer Jugend, die zu großen Teilen der westdeutschen Leistungsgesellschaft und ihrem „Establishment“ kritisch gegenübersteht, ist allzu viel Erfolg suspekt, auch im Fußball. Die beiden Gladbacher Meisterschaften 1970 und 1971 werden durch das Scheitern im Europapokal erst veredelt. Das 7:1 gegen Inter wird zum Mythos, weil es vergebens ist. Die Schalker 72er-Elf erringt Heldenstatus als ein niemals eingelöstes Versprechen. Stan Libuda wird als Künstler verehrt, dem das Attribut „tragisch“ anhaftet. Und der blonde Heros Günter Netzer, so formuliert es der Sportjournalist Ulfert Schröder, „schien auf der Suche zu sein nach einem Glück, das irgendwo in der Ferne lag und das ihn nie erreichte“.

***

Die Saison 1971/72 ist fußballhistorisch eine außerordentliche, im Guten wie im Schlechten. Dass es damals kaum so wahrgenommen wird, liegt vor allem an dem ereignisreichen gesellschaftlichen Umfeld und dem intensiven politischen Diskurs darum, der niemanden im Land kalt lässt. Dann schrumpft der Fußball doch recht schnell, vielleicht nicht zur Nebensache, aber doch auf seine eigentliche Bedeutung: mehr als ein Spiel, jedoch gewiss nicht wichtiger als Leben und Tod. Noch existieren keine Privatsender und keine DFL, die des Kommerzes wegen die Kickerei in absurde Bedeutungshöhen jazzen. Und noch gibt es keinen ARD-„Brennpunkt“, wenn beim FC Bayern ein neuer Trainer sein Amt antritt.

Es ist verlockend, die Saison 1971/72 ganz konkret im zeitlichen Kontext mit nicht-sportlichen Ereignissen und Entwicklungen zu schildern – und damit in gewisser Weise zu relativieren. Dabei zeigt sich: Eine Reihe bemerkenswerter Begebenheiten tangieren nicht einfach nur die zehn Monate dieser Saison, sondern sie entwickeln sich genau in diesem Zeitraum und kulminieren schließlich nahezu zeitgleich im Frühsommer 1972. Fußballerisch erleben wir den legendären Tanz von Helmut Schöns Künstlerensemble auf dem europäischen Parkett, ebenso den Schalker Sturmlauf gegen die sich anbahnende Dominanz des FC Bayern bis hin zum dramatischen Finale im neuen Olympiastadion. Im scharfen Kontrast dazu werden wir Zeugen immer neuer Enthüllungen, die nach und nach die Dimensionen des Bestechungsskandals offenlegen. Politisch sehen wir, wie der parlamentarische Putschversuch der Unionsfraktion gegen die sozialliberale Reformpolitik in Hinterzimmern eingefädelt wird und schließlich scheitert. Und wir betrachten eine historische und leider blutige Farce: wie die erste Generation der RAF gegen das „imperialistische Schweinesystem“ in die Schlacht zieht, die ganze Republik in Atem hält und kläglich endet. Schon die zeitliche Koinzidenz dieser Ereignisse macht aus der Saison 1971/72 ein vielschichtiges Drama, in dessen Wiedergabe es nicht nur um Fußball gehen sollte.

***

Kurz nach dem Ende der Saison verbinden sich Sport und politisches Zeitgeschehen auf besonders tragische Weise. Die Olympischen Sommerspiele in München haben begonnen, man schreibt ihren elften Tag. Im Morgengrauen stürmen palästinensische Terroristen das olympische Dorf, nehmen israelische Sportler als Geiseln. Elf der Israelis werden sterben.

Am Abend dieses fürchterlichen Unglückstages soll im Olympiastadion die DFB-Olympiaauswahl gegen Ungarn spielen, mit Uli Hoeneß und Ottmar Hitzfeld im Sturm. Eine Viertelstunde vor Anpfiff wird die Begegnung abgesagt. 80.000 Zuschauer machen sich still und erschüttert auf den Rückweg.

AUGUST 71

Sie sind Gauner, ganz schlimme Gauner! Diese Typen gehören eigentlich dorthin, wo Fußball als Bewegungstherapie verordnet wird: ins Gefängnis.

Die „Bild“ am 7. Juni 1971 über die Akteure des Bundesligaskandals

Canellas versucht nachzuweisen, was alle wissen, was aber bislang niemand beweisen konnte. Die Bundesrepublik ist voll von sattsam Bekanntem, doch Unbeweisbarem.

„Der Spiegel“, ebenfalls im Juni 1971 über den Skandal

Wer heute von gegnerischen Fußballklubs Tore kaufen kann, zahlt vielleicht auch für Botschaftertelegramme.

Die „Süddeutsche Zeitung“ am 7. August 1971 über Versuche konservativer Medien, durch Veröffentlichung interner Dokumente die Ostpolitik der Brandt-Regierung zu diskreditieren

Libuda und die Rasselbande

Bundesliga, 1. Spieltag +++ 14. August 1971

Bei schwülwarmem, mancherorts regnerischem Spätsommerwetter wird die neunte Saison der Fußball-Bundesliga angepfiffen. Der Zuschauerzuspruch ist eher mäßig, 26.890 sind es im Schnitt des ersten Spieltags, rund 4.000 weniger als ein Jahr zuvor.

Auch das Hannoveraner Niedersachsenstadion ist nicht ausverkauft, 26.500 sind gekommen, um die Partie gegen Schalke 04 zu sehen. Sie können in der 37. Minute zufrieden applaudieren, als ihre 96er mit 1:0 in Führung gehen. Die Begegnung bleibt vorerst ausgeglichen, besonders aufregend ist sie nicht. Das ändert sich spektakulär – die zweite Halbzeit erlebt die Geburt einer neuen Traumelf. Aber die kommt nicht aus Hannover.

Erst ist es der 21-jährige Klaus Fischer, der kurz nach der Pause ausgleichen kann. Das wird noch als Zufallstreffer hingenommen. Doch von nun an spielen die Schalker immer stärker. Libuda befreit sich von seinen Gegenspielern, im Mittelfeld dominieren seine Kollegen Lütkebohmert und Scheer. Und so passiert, was die „Süddeutsche Zeitung“ einen „Triumph jugendlicher Frische“ nennt: „Die blutjunge Schalker Elf nimmt den Gegner förmlich auseinander“ („Kicker“) beziehungsweise „hat die Hannoveraner regelrecht vorgeführt“ und am Ende „einen geradezu sensationellen 5:1-Sieg“ erzielt, wie die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“, die man im Ruhrgebiet nur „WAZ“ nennt, mit lokalpatriotischem Stolz meldet. Erst Sobieray und dann noch dreimal Fischer schießen die Knappen nicht nur zum Kantersieg, sondern gleich an die Tabellenspitze. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesliga, dass die Schalker ganz oben stehen.

***

Es ist noch nicht lange her, da galt der einst so erfolgreiche FC Schalke 04 als Dauerabstiegskandidat der neugegründeten Bundesliga. Als der umtriebige Günter Siebert 1967 zum Vereinspräsidenten gewählt wird, dümpelt die Mannschaft am Tabellenende herum und steht vor einem gewaltigen Schuldenberg. Aus der Not heraus bastelt man an einem Team mit jungen Talenten wie Aki Lütkebohmert, Klaus Scheer, Jürgen Sobieray, Rolf Rüssmann oder Klaus Fischer. Zur Saison 1971/72 komplettiert Siebert seine Rasselbande mit den auch anderswo heiß umworbenen Zwillingen Erwin und Helmut Kremers, die bisher für Kickers Offenbach spielten. Sie sind 22 Jahre alt, als sie auf Schalke ankommen. Torhüter Norbert Nigbur und Abwehrrecke Klaus „Tanne“ Fichtel sind nur wenig älter, zählen aber schon zum Schalker Urgestein. Der einzige echte Oldie ist der 31-jährige Heinz van Haaren, der als Leitwolf im Mittelfeld steht.

Günter Siebert hat seine Wunschelf zusammengebastelt, mit einer Reihe hoffnungsvoller Jugendnationalspieler. Ihr Aushängeschild aber heißt Reinhard Libuda. Den Dribbelkünstler hat er schon 1968 von Borussia Dortmund zurückgeholt, wo Libuda kreuzunglücklich war. Er fühlt sich nun einmal als Königsblauer.

Der Bergmannssohn ist in Haverkamp aufgewachsen, einem wenig ansehnlichen Arbeitervorort von Gelsenkirchen im Schatten der Zeche Unser Fritz. Ringsum Äcker, Weiden und viel Platz zum Fußballspielen. Die Klischeekulisse für ein Aufsteigermärchen im Ruhrgebiet.

Der schmächtige Reinhard ist ständig draußen zum Pöhlen, aber er boxt auch gerne im Verein oder turnt an Geräten. So trainiert er sich jene Körperbeherrschung an, die ihm sein trickreiches Flügelspiel ermöglicht. Schon mit elf Jahren, so sagt die Legende, gelingt ihm der Stanley-Matthew-Trick, der ihm auch den Spitznamen Stan einbringt. „Das war das Erste, was mir aufgefallen war, als ich ihn 1955 kennenlernte“, erzählt sein alter Kumpel Karl-Heinz Bechmann. „Das Antäuschen und rechts Vorbeigehen, das war sein Ding.“ Wie sein großes Vorbild aus England bevorzugt auch der junge Reinhard bald den rechten Flügel. Mit 14 Jahren, so heißt es, ist ihm bereits klar, dass er Profi werden will. Mit 18 unterschreibt er bei Schalke, entdeckt hat ihn dessen Jugendtrainer Fritz Thelen. Der ist ein Schwager des großen Ernst Kuzorra und wagt dennoch zu sagen: „Ein größeres Talent als Libuda hat Schalke nicht gesehen.“

Ein anderer Verein als das nahe Schalke wäre für Libuda nicht infrage gekommen, denn er bleibt seiner Herkunft verbunden. Er „distanzierte sich“, schreibt sein Biograf Norbert Kozicki, „durch seine private Lebensplanung von den Verhältnissen im Fußballgeschäft und damit auch von der Mehrheit seiner Mannschaftskameraden, die sich zu Professionals entwickelten. Möppel Libuda suchte nicht den Dialog, um Konflikte im Verein und in der Mannschaft zu erörtern. Nach dem Training fuhr er immer in seinen Haverkamp. Dort fand er seine Freunde, Verständnis und menschliche Wärme. In seiner Welt im Arbeiterdorf Haverkamp fand er das, was ihm beim FC Schalke 04 nur wenige geben konnten.“

Als er dann nach Dortmund geht, so sein Kumpel Bechmann, „war das für ihn Ausland“. Er hat im Sommer 1965 dort angeheuert, notgedrungen, nachdem Schalke 04 sportlich abgestiegen ist. Als seine Königsblauen dann doch drinbleiben, weil der DFB die Bundesliga um zwei Vereine aufstockt, ärgert sich Libuda steinkohlenschwarz. Er spielt in der Roten Erde, aber er fühlt sich weiterhin im vertrauten Haverkamp zu Hause, trotz seiner neuen Dortmunder Wohnung. Später wird er zurückblicken: „Als Profi habe ich mich auch nach großen Spielen lieber zurückgezogen, bin lieber zum Skat in meine Stammkneipe statt zu großen Siegesfeiern gegangen.“

Zum Feiern gibt es Grund genug beim BVB, beispielsweise 1966 den ersten Europapokalsieg eines deutschen Vereins. Drei Jahre hält es Libuda dort aus, geplagt von Heimweh, einem ungeliebten Wehrdienst, Depressionen und Eifersucht um seine Frau Gisela, die er schon seit seiner Schulzeit kennt. Öffentliche Auftritte, beispielsweise im ZDF-„Sportstudio“, sind ihm ein Gräuel; die „Süddeutsche Zeitung“ erlebt ihn dabei so: „Libuda nuschelt herzergreifend Stummelsätze in die eigene Schüchternheit hinein.“ Seine Leistungen auf dem Platz werden schlechter. Als Schalkes Präsident Siebert im Sommer 1968 den Dortmundern 125.000 Mark für Stans Rückkehr auf den Tisch zählt, greifen sie erleichtert zu. Niemand aber ist glücklicher als Libuda.

Mit seiner kleinen Familie bezieht er eine Wohnung in der Wittekindstraße, nahe dem Gelsenkirchener Stadtpark. Keine Zechensiedlung, aber alles andere als eine Villengegend. Auf dem Rasen hinter dem Mehrfamilienhaus lässt er Pudel Cherry und den zweijährigen Sohn Matthias-Claudius hinter dem Ball herflitzen. Der Vereinszeitung „Kreisel“ verrät er, dass er sich für schnelle Autos interessiere, nicht aber für Hausarbeit. Und auch nicht für Politik. Sein Hobby sei seine Familie: „Zu Hause fühle ich mich am wohlsten.“ Zuweilen engagiert ihn der örtliche Handel für Werbezwecke, dann heißt es beispielsweise: „Großer Stan-Libuda-Tag bei Foto Hamer“. Libuda lächelt tapfer in die Kameras, aber wohl fühlt er sich nicht dabei.

Auf Schalke stabilisiert er sich sportlich, man feiert ihn, auch weil er, wie eine WDR-Sendung vermutet, „die Träume des Arbeiterpublikums von sozialem Aufstieg und gesellschaftlicher Anerkennung“ verkörpere. Bundestrainer Helmut Schön holt ihn wieder in die Nationalelf, seine Notizen aber verraten auch Skepsis: „Reinhard Libuda ein Sonderfall: man nannte ihn nicht umsonst ‚Stan‘. Konnte mit glänzenden Körpertäuschungen den Gegner fabelhaft narren. Ließ sich aber als etwas labiler Typ leicht von anderen Dingen beeinflussen und aus dem Gleichgewicht bringen. Brachte über Wochen nie die gleichen Leistungen.“

Libudas Dribbelkünste ebnen der DFB-Elf den Weg zur WM in Mexiko, als er im letzten Qualifikationsspiel seine schottischen Gegenspieler auf dem rechten Flügel schwindelig spielt. In Mexiko zeigt er gegen Bulgarien eine grandiose Partie, die Presse singt Hymnen auf ihn. Doch wirklich konstant spielt er nicht, weder in der Nationalelf noch im Verein. Mal sei er Weltklasse, mal Kreisklasse, heißt es über ihn. Und immer wieder wird in der Presse seine sensible Psyche thematisiert, der „Kicker“ befragt sogar Ehefrau Gisela dazu. Sie antwortet: „Er ist oft sehr mit sich selbst beschäftigt. Reinhard ist vielen Stimmungen unterworfen.“ Etwas raubeiniger urteilt Rudi Gutendorf, auf Schalke zwei Spielzeiten lang Libudas Übungsleiter: „Er braucht keinen Trainer, sondern einen Seelendoktor.“

Libudas Stimmungslagen schwanken zwischen wortkarger Menschenscheu, zurückhaltender Melancholie und aufbrausendem Jähzorn. Sein Gesicht spiegelt die widersprüchlichen Stimmungslagen: die traurigen Augen, der scheue Blick, die freundlichen Grübchen. Ivica Horvat, Schalkes neuer Trainer, scheint als kommunikativer Typ der Richtige, um den Stan zu stabilisieren. „Nur wer Vertrauen spürt als Mensch, dem kannst du Vertrauen schenken als Spieler“, ist sein Leitspruch. Als Libuda beim Einüben von Spielzügen versagt, entscheidet sein Trainer: „Gebt Stan einfach den Ball in den Fuß, der macht den Rest.“ Davon träumt man auf Schalke: Dass Libuda am Ball bleibt und für den ruhmreichen S04 wieder alles möglich macht.

***

Eine Randnotiz in den Zeitungen, am Wochenende des ersten Spieltags: Der Leverkusener Turner Hermann Höpfner, Mitglied der deutschen Mannschaft für die nahenden Olympischen Spiele in München, hat sich bei einem Lehrgang die Kopfhaare komplett abscheren lassen. Er will damit gegen einen Beschluss des Internationalen Turnerbundes protestieren. Denn der hat festgelegt, künftig bei Europameisterschaften Turnern mit allzu langen Haaren Punkte abzuziehen. Aus ästhetischen Gründen, wie es heißt.

***

Reinhard Libuda dagegen hat es in den vergangenen zwei Jahren wachsen lassen: vom konventionellen Streichholzmaß auf eine ohrenverdeckende Länge. Und an den Backen reichen die Koteletten fast bis zum Kinn. In der Bundesliga gibt es keine Punktabzüge dafür. Libudas neues Outfit wirkt noch milde im Vergleich zu den Mähnen, die einige seiner Mitspieler vorzeigen, allen voran die Kremers-Zwillinge, Aki Lütkebohmert und Teenie-Schwarm Norbert Nigbur. Dessen Haarpracht findet sogar der als liberal bekannte Bundestrainer Schön problematisch: Er könne keinen Torhüter brauchen, dem „die Mütze nicht mehr passt“. Nigbur lässt sich das Haupthaar gehorsam stutzen. Ein paar Zentimeter.

Auf den Mannschaftsfotos jener Saison zählen die Schalker jedenfalls eindeutig zu den wildesten Hardrockern, zusammen mit ihren Nachbarn vom BVB. Weitgehend ohrfrei noch die biederen Stuttgarter und die Bremer mit ihrem gestrengen Trainer „Zapf“ Gebhardt. Denn der glaubt: „Zu lange Haare stören beim Köpfen. Außerdem hören Spieler dann schlecht.“ Auch Wilhelm Neudecker, autoritärer Präsident des FC Bayern, hat erst ein Jahr zuvor dekretiert: „Nacken und Gesicht eines deutschen Fußballers müssen frei bleiben!“ Doch in dieser Frage muss er kapitulieren; auch in München sind Kurzhaarschnitte inzwischen spießige Vergangenheit.

Damit liegen die Kicker im Trend. Mit dem üppigen Haarwuchs haben antiautoritär gestimmte Jugendliche Mitte der sechziger Jahre für verständnisloses Kopfschütteln bei ihren Eltern gesorgt, inzwischen ist die einst rebellische Attitüde zur Modeerscheinung geworden. Doch noch immer verweist sie darauf, dass sich binnen kurzer Zeit vieles verändert hat.

Was vom gesellschaftlichen Umbruch bei vielen Fußballern ankommt, manifestiert sich neben den langen Haaren äußerlich noch in schnellen Autos, engen Hosen und einer großen Klappe. Anders gesagt: Man pflegt einen gesunden Willen zur Individualität sowie einen etwas großmäuligen Hedonismus. Letzteres mag auch damit zusammenhängen, dass die Spieler zur ersten deutschen Fußballergeneration zählen, die am Geldsegen des Profitums ordentlich teilhaben kann. Zumindest die Spitzenspieler verdienen gut und dürfen ihr Gehalt durch Werbung aufbessern. Einer der Ersten ist 1966 Franz Beckenbauer, der für 12.000 Mark Tütensuppen löffelt; „Kraft in den Teller, Knorr auf den Tisch.“ Vor der Saison 1971/72 hat der Kaiser erfolgreich um eine Erhöhung seiner Apanage gepokert: „Ich bin mit dem FC Bayern nicht verheiratet. Wenn ich höre, was andere Spieler verdienen, werde ich ja fast mit einem Butterbrot abgespeist.“

Wie dick die Butter auf sein neues Brot geschmiert wird und ob womöglich noch eine Scheibe Wurst obendrauf liegt, wird nicht bekannt. Monatsgagen von bis zu 30.000 Mark, die inzwischen in Spanien von Spitzenspielern verdient werden, gibt es in der Bundesliga noch nicht, auch wenn unter der Hand zuweilen Bargeld fließt, das in keiner Statistik auftaucht. Aki Lütkebohmert jedenfalls muss auf Schalke mit einem Grundgehalt von 1.200 Mark anfangen. Das ist nach dem offiziellen Lizenzspielerstatut sogar schon die oberste Grenze und entspricht ungefähr dem bundesrepublikanischen Durchschnittseinkommen. Bei einem wie Beckenbauer dürfte es deutlich mehr sein, doch allenfalls die Hälfte von dem, was er in Spanien kassieren könnte. Immerhin sind vor einiger Zeit die offiziellen Mindestgehälter der Profis angehoben worden: von 250 auf 400 Mark.

Zeitbombe unterm Rasen

Bundesliga, 2. Spieltag +++ 20./21. August 1971

Eine Niederlage und ein Unentschieden haben die „Kicker“-Experten den Youngstern von Schalke 04 für die ersten beiden Spiele prophezeit. Es werden zwei Siege. Beim 2:0 über den MSV Duisburg vor 30.000 euphorischen Zuschauern in der Glückauf-Kampfbahn spielt Stan Libuda groß auf. Dass die Mannschaft nun mit Erwin Kremers endlich einen starken Linksaußen besitzt, entlastet auch den Stan auf dem rechten Flügel. Zwei Sololäufe in der 40. und der 89. Minute schließt Libuda jeweils mit Traumtoren ab, der „Kicker“ verleiht ihm die Bestnote „1“. Beim 2:0 schnappt sich Libuda den Ball an der eigenen Strafraumgrenze, treibt ihn „wie die Windsbraut“ („WAZ“) über das gesamte Spielfeld, lässt ein, zwei Duisburger aussteigen, umspielt den Torhüter und schiebt das Leder ins leere Tor. Der Treffer wird in der ARD-„Sportschau“ zum „Tor des Monats“ gekürt.

Auch am zweiten Spieltag bleibt Schalke 04 also Tabellenführer, und in Gelsenkirchen wachsen die Träume von einer großen Zukunft. Präsident Günter Siebert bekennt nach dem Spiel, er wolle spätestens „in der nächsten Spielzeit eine Mannschaft stehen haben, die Meister werden kann“. Auch für die laufende Saison mag er „eine freudige Überraschung“ nicht ausschließen. Hermann Kerl, Vorsitzender des Schalker Verwaltungsrates, tönt sogar: „Die Tabellenführung geben wir nicht mehr her!“ Die Schalker Bosse lieben starke Sprüche.

***

Libuda ist erst der sechste Schütze eines „Tores des Monats“, denn diese Abstimmung hat die ARD-„Sportschau“ im März 1971 neu eingeführt. Die Zuschauer müssen ihre Wahl per Postkarte einsenden. Auch sonst regiert das analoge Zeitalter. Die „Sportschau“ ist kurz – von 17:45 bis 18:30 Uhr, wobei bestenfalls eine halbe Stunde Fußball geboten wird. Meist sieht der Zuschauer nur Ausschnitte aus drei Spielen, mehr erlaubt der DFB nicht. Zudem ist der technische Weg beschwerlich: Vom Stadion werden die belichteten Filme per Motorrad nach Köln in die Filmkopieranstalt des WDR gebracht. Dort wählt ein Redakteur am Schneidetisch die Szenen aus, die gezeigt werden sollen; der Rest des Filmmaterials wandert in den Reißwolf. Aus naheliegenden Gründen beginnt die Berichterstattung recht oft mit einem Heimspiel des 1. FC Köln.

Die Tabellen werden zunächst per Hand gesteckt, dann abgefilmt, und die Moderatoren – darunter Dieter Adler, Ernst Huberty, Hans-Joachim Rauschenbach und Werner Zimmer – sitzen ziemlich steif hinter einem Schreibtisch. Nüchternheit ist Reporterpflicht, emotionale Ausbrüche auch bei Direktübertragungen verpönt. Immerhin gibt’s 1971 bereits Farbe in der Sportschau. Für die Senderechte kassieren die Bundesligisten gemeinsam rund drei Millionen Mark von ARD und ZDF. Die Summe wird brüderlich durch 18 geteilt, der Tabellenplatz spielt keine Rolle , an die Bayern wird kein Pfennig mehr ausgeschüttet als an Rot-Weiß Oberhausen.

***

Fortuna Düsseldorf steht mit einem Bein noch in der guten alten Fußballzeit. Der Traditionsverein hat eine lange Durststrecke in der Zweitklassigkeit hinter sich, mit einigen vergeblichen Aufstiegsversuchen. Zur Saison 1970/71 schließlich fahndet man per Zeitungsanzeige nach einem Retter: „Renommierter Regionalligaverein sucht fähigen Trainer“. Unter den Bewerbern entscheidet man sich für Heinz Lucas, auch wenn der gerade dabei ist, mit Darmstadt 98 aus der Regionalliga Süd abzusteigen. Doch der Neue bewährt sich, bringt der Mannschaft bei, zielstrebiger und schneller zu spielen. In der Aufstiegsrunde überwindet man unter anderem den 1. FC Nürnberg und den FC St. Pauli und schafft (gemeinsam mit dem VfL Bochum) den Eintritt in die Bundesliga.

Dort hält man sich mit finanziellen Abenteuern zurück: Die Spieler, darunter die späteren Nationalkicker Dieter Herzog und Reiner Geye, bleiben weiterhin Halbprofis, gehen also nach dem Training noch einer „regulären“ Beschäftigung nach. Und als Fußballer verdienen sie alle das gleiche Gehalt – Fortuna zahlt einen Einheitslohn. Und zwar denselben wie in der Regionalligasaison zuvor. „Fußball ist ein Mannschaftsspiel“, begründet Trainer Lucas die in der Bundesliga einmalige Maßnahme. „Da ist ein Mann so wichtig wie der andere.“ Auch das Verhältnis zwischen Trainer und Spieler definiert der 51-Jährige erstaunlich: „Die Kriegsgeneration war es gewohnt, dass der Trainer sich des Kasernenhoftons bediente. Heute sind die Spieler anders zu behandeln.“

Schlecht fährt man damit nicht: Zwar geht der Auftakt bei den Bayern 1:3 verloren, eine erwartete Niederlage – schmerzhaft nur für Verteidiger Heiner Baltes, der von seinem Gegenspieler Gerd Müller nach hartem Zweikampf in den Oberschenkel gebissen wird. Doch am zweiten Spieltag gewinnt Fortuna vor 25.000 Zuschauern am Flinger Broich mit 2:0 gegen Hannover 96 und zeigt ein Potenzial für höhere Ziele. (In dieser Saison belegt der Aufsteiger am Ende Tabellenplatz 13 und in den folgenden beiden Spielzeiten jeweils Platz drei.)

***

Unter den Rasen der Bundesligastadien ticken Zeitbomben, und nicht wenige Spieler wissen, dass die Schockwellen von Canellas’ Gartenparty auch sie erreichen können.

Inzwischen hat der Kickers-Präsident vor dem DFB-Kontrollausschuss ausgesagt, wie es so zuging bei den Deals. Vor allem die Übergabe von 100.000 Mark an Manfred Manglitz war problematisch, weil der Kölner Keeper das Geld schon vor dem Spiel – und der versprochenen Niederlage – gegen Offenbach haben wollte. Für eine neutrale Zwischenlagerung verfiel man auf die kuriose Idee, einen Tresor mit zwei Schlössern zu suchen. Als man keinen fand, diente Manglitz’ Lebensgefährtin als neutrale Zone.

Über was Canellas noch so plaudert: Oberhausens Präsident Maaßen sei unmittelbar vor einem Spiel zu ihm gekommen und habe im beiderseitigen Interesse eine Punkteteilung angeboten. Oder: Herthas Präsident Holst habe 100.000 Mark ausgelobt, falls Canellas die Transferliste so „arrangiere“, dass die Kremers-Zwillinge auf jeden Fall nach Berlin kämen. Und: Ein Abgesandter von Schalke 04, Schatzmeister Heinz Aldenhoven, habe für die Zwillinge 100.000 Mark geboten, plus einen Offenbacher Sieg im bevorstehenden Spiel gegen Schalke. Laut Canellas habe Aldenhoven zugesichert, „dass wenigstens einige Spieler von Schalke so spielen würden, dass wir gewännen“. Von diesem Angebot, so Canellas, habe er umgehend dem DFB berichtet.

Justiz und DFB sehen sich genötigt, nun regelrechte Ermittlungen aufzunehmen; bei den Fußballern liegt die Angelegenheit beim Vorsitzenden des Kontrollausschusses, Hans Kindermann. Allerdings müht sich der DFB, die Sache klein zu halten, und lässt verlauten: „Es gibt keine Affäre Bundesliga, es gibt nur eine Affäre in der Bundesliga.“ Rudolf Gramlich, Vorsitzender des DFB-Bundesligaausschusses, verspricht: „Das mit dem Canellas biege ich schon gerade. In ein paar Wochen spricht kein Mensch mehr über den Fall.“ Gramlich war im Mai von Canellas gebeten worden, den letzten Spieltag der Saison auszusetzen, weil einige Spiele vorab verschoben seien. Der DFB-Mann hatte abgelehnt.

Die beschuldigten Sünder wiederum geben sich phantasievoll. Manglitz behauptet, er sei nur zum Schein auf die unlauteren Angebote eingegangen, und kündigt Beweise an, „die den Canellas-Vorwurf wie eine Seifenblase platzen lassen werden“. Und: „Der kann was erleben.“ Die Herthaner Patzke und Wild haben sich die Erklärung ausgedacht, sie hätten Canellas nur veräppeln wollen. Oberhausens Präsident Peter Maaßen spricht von „ausgemachten Gemeinheiten“ und kündigt eine Klage an: „wegen Rufmord“. Und der Schalker Vorstand will ebenfalls gegen Canellas klagen, falls der sich nicht für seine Vorwürfe entschuldige.