Better Life

Ausgelöscht

Lillith Korn

Inhalt

I. Ausgelöscht

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

II. Zerstört

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Epilog

Danksagung

Über den Autor

Finleys Reisen

Die Farben der Zeit

Shadowcross

Herz oder Hirn

Für alle, die an mich geglaubt haben; besonders für Alex, die mir eine große Hilfe war.

Ausgelöscht

Prolog

Marvin, zwei Jahre zuvor, 2072


In Stockwerk 23, Zimmer 23-34 würden sie also über seine Zukunft entscheiden.

Sorgfältig hatte Marvin das Für und Wider abgewogen, sich den Pranken eines mächtigen Konzerns zu überlassen. Erst die Vorstellung, es ginge um einen guten Freund statt um sich selbst, hatte seine Gedanken geklärt und ihn zu einer Entscheidung gebracht.

Besser eine kurze Lebensspanne, erfüllend und sorgenfrei, statt eine von zermürbenden Überlebenskämpfen bestimmte, dafür zwanghaft verlängerte.

Trotz allem breitete sich ein mulmiges Gefühl in seinem Magen aus.

Marvin wandte sich nach rechts und erschrak. Sein eigenes Spiegelbild starrte ihm ausdruckslos entgegen. Der fahle Hautton ließ ihn kränklich und müde wirken. Die ersten grau schimmernden Strähnen glichen gefühlt einer übermäßig laut tickenden Uhr, die gnadenlos an die eigene Vergänglichkeit erinnerte. Entweder hatten sich erste Fältchen an den Augen gebildet oder waren seiner Wahrnehmung bisher entglitten. Wenn die Erschöpfung ihn weiterhin derart rasant zeichnete, sähe er in Kürze aus wie ein zerknittertes Blatt Papier. Trüge sozusagen die Landkarte seines beschissenen Lebens im Gesicht spazieren. Ein humorloses Lachen entwich seiner Kehle.

Ding.

»Es hat eine Verzögerung gegeben. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten. Ihr Lifecoach ist in zwei Minuten für Sie da. Möchten Sie einen Personal Healthshot, um die Wartezeit zu überbrücken?«

Er seufzte. Lieber hätte er einen Whiskey getrunken, um seine Nerven zu beruhigen. »Nein, danke«, lehnte er ab. Andererseits … »Ach, was solls. Ich nehme einen.«

»In Ordnung. Der Abruf Ihrer Gesundheitsdaten erfolgt. Zubereitung startet. Bitte wählen Sie eine Geschmacksrichtung.«

Ein Hologramm mit einer überfordernd langen Liste öffnete sich eine Armlänge entfernt und Marvin entschied sich für die erstbeste Sorte, die ihm ins Auge fiel.

»Schokolade.«

»Gern.«

Es klickte, ehe sich ein zuvor unsichtbares Fach gegenüber dem Spiegel öffnete. Skeptisch entnahm er das für ihn persönlich abgestimmte Vitamin- und Nährstoffgetränk, nippte und nickte anerkennend, obwohl es niemand sah.

Unglaublich, was für die Mitarbeiter dieses Unternehmens als normal gelten musste. Möglicherweise auch bald für ihn. Eins stand außer Frage: Ein Dasein als Attendee würde vieles ermöglichen.

Schlagartig schossen ihm Bilder in den Kopf. Charlie auf dem Dach, in seine Arme und eine Decke gehüllt, während die kühle Luft einer klaren Nacht zu ihnen durchzudringen versuchte und kläglich scheiterte.

Bilder der einen Sache, die kein Programm, kein Mensch und vermutlich auch kein Wunder je ermöglichen könnte.

Marvin schluckte schwer. Nichts könnte sie ersetzen, niemals. Seine Beine schienen plötzlich aus Gummi zu bestehen.

»Sitzgelegenheit«, bat er.

In seinem Wohnviertel, einem der typischen Slums Berlins, existierte nichts, das diesem Luxus nahekam. Marvin besaß Mitleid erregend wenig und doch mehr, als dem Großteil der Slummer, wie man sie nannte, üblicherweise zur Verfügung stand.

»Gern«, antwortete die freundliche Computerstimme und im selben Moment schob sich eine Bank aus der Fahrstuhlwand. Nachdem Marvin sich gesetzt hatte, durchflutete ihn eine Welle der Enttäuschung. In seiner Vorstellung wischte Luxus Sorgen weg. Nicht alle, nicht immer und nicht vollständig, aber zumindest schmerzlindernd hatte er es sich vorgestellt – und wäre es nur für den Bruchteil einer Sekunde gewesen. Doch Marvin fühlte nichts. Nichts abseits der gewohnten Leere, die hin und wieder einen Teil der darunter liegenden Trümmer offenbarte.

Bin ich zu ungeduldig? Vielleicht muss ich mir die mögliche Zukunft genauer ausmalen. Daran denken, wie ich jeden Morgen Runden in meinem privaten Pool schwimme, wie mich danach ein üppiges Frühstück erwartet. Oder abends ein frisch duftendes Bett, das nicht quietscht wie Oma Gretas alte Knochen. Wie andere sich um mich kümmern und ich mich nicht einmal schlecht fühlen muss, weil sie fair entlohnt werden. Wie all die Vorzüge mich einhüllen, beschützen, mir eine gerechtere, bessere Welt suggerieren und mich Charlie endlich vergessen lassen …

Die freundliche Stimme drängte sich in seine Gedanken: »Ihr Lifecoach erwartet Sie jetzt. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Bitte gehen Sie durch den Scanner.«

Beinahe hätte er aufgelacht. Was für eine lächerliche Aufforderung – als hätte er tatsächlich eine Wahl. Sobald die Türen sich öffneten, jagten Terahertzstrahlen durch seinen Körper und überprüften ihn auf Waffen und verbotene Implantattechnik, ob er wollte oder nicht.

Es ist soweit.

Marvins Puls beschleunigte sich, als die Türen aufglitten und er einen ersten Blick in den Raum warf, dem ein schlichtes Zimmer 23-34 nicht im Ansatz gerecht wurde. Es handelte sich vielmehr um einen lichtdurchfluteten Saal, in dem sein Lifecoach beinahe verloren wirkte.

Die blonde Frau mittleren Alters lächelte ihm freundlich zu und deutete auf einen geschwungenen, weißen Wildledersessel ihr gegenüber. »Nur zu, treten Sie ein und nehmen Sie Platz, ich beiße höchstens auf Aufforderung.« Jede Geste wirkte souverän, wischte das vorige Gefühl beiseite. Plötzlich schien es Marvin, als passte die Blonde perfekt in die luxuriöse Umgebung.

Zögernd trat er ein. Wie lange hatte er sie regungslos angestarrt?

Vor dem hellen Ledersessel zögerte er abermals. Dessen Anblick katapultierte Bilder der Tierkadaver, die er täglich entsorgen musste, in sein Bewusstsein. Automatisch zog er die Schultern hoch, zwang sich hastig dazu, sie wieder zu lockern, und ließ den Blick weiter schweifen, während er sich setzte.

Im Kontrast zu den vorigen Gedanken boten Panoramafenster einen atemberaubenden Blick über die Stadt. Von hier oben wirkte Berlin trügerisch friedlich.

Er wandte sich der Better-Life-Mitarbeiterin zu, die ihn geduldig gewähren ließ. Dunkelgrüne Efeublätter rankten sich wenige Meter neben ihr an einer Blumenampel herab und schenkten dem Zimmer eine freundliche Note. Direkt hinter dem Schreibtisch, wie auf einer eigens dafür vorgesehenen Bühne, erstrahlte ein Hologramm des Firmenlogos in beeindruckender Größe und Klarheit, drumherum die üblichen glücklichen Gesichter der Werbespots.

»Bitte entschuldigen Sie nochmals die Verzögerung. Ich bin ihr persönlicher Lifecoach Ida Willmann. Nennen Sie mich gern Ida. Darf ich Sie Marvin nennen?«

Marvin nickte zaghaft.

»Wunderbar. Also: Ihren Unterlagen entnehme ich, dass Sie sich über unser Angebot informieren möchten«, stellte sie fest und entrollte mit freundlicher Miene ihr RD. Er hatte bisher keines der Rolldisplays außerhalb von den Werbeholos gesehen, denen er gewöhnlich wenig Beachtung schenkte.

Ida knickte das Gerät, sodass sie es auf dem Schreibtisch abstellen konnte, und bediente es ohne direkte Berührung mit dezenten Fingergesten.

Marvin musterte die Bewegungen fasziniert, ehe er sich den sanften Zügen ihres puppenhaften Gesichts widmete und den Blick erst abwandte, als sie den Kopf hob und ihn direkt ansah.

»Gut. Bevor wir beginnen, führe ich einen kurzen Datenabgleich zur Sicherheit durch. Sie heißen Marvin Lenzen und sind fünfundzwanzig Jahre alt, ist das richtig?«

Ein Schweißtropfen bildete sich auf seiner Stirn. Was, wenn er zu nervös wirkte oder falsche Antworten gab, die ihn als Attendee disqualifizierten? Marvins Bemühungen, vorab Insiderinformationen zum Bewerbungsprozedere und dem gewünschten Profil zu erhalten, waren ergebnislos geblieben. »Ja, das ist richtig«, antwortete er mit leichter Verspätung.

Sie bewegte den Zeigefinger, wischte vermutlich zur nächsten Frage. »Mhm. Haben Sie Kinder?«

»Nein.«

»Sehr schön. Ihr Status, bitte. Ledig, verheiratet, geschieden …?«

»Ledig.«

»Üben Sie einen Beruf aus und wenn ja, welcher Tätigkeit gehen Sie nach?«

»Ich bin bei der Stadtreinigung angestellt«, gab er zurück, erleichtert, dass er überhaupt einen Job vorweisen konnte.

»Ah, welche Abteilung?«

»Entsorgung biologischer Abbau- und Ausscheidungsprodukte.« Oder anders gesagt: Ich kratze Tierleichen und Exkremente von der Straße.

Falls er in Idas Ansehen gesunken war, ließ sie sich nichts anmerken. »Mhm. Sind Sie körperlich und geistig gesund und in guter Verfassung? Ihre Gesundheitsdaten sehen vielversprechend aus.«

»Ja, bin ich.«

»Sind Sie bereit, sich von unserem Arzt eingehend untersuchen zu lassen, um die uns vorliegenden Informationen überprüfen und bestätigen zu können?«

»Selbstverständlich.«

»Wunderbar. Dann hätten wir die trockenen Formalitäten bereits erledigt.« Zufrieden gestikulierte sie ein letztes Mal mit den Fingern, als schnippte sie, lehnte sich entspannt zurück und musterte ihn aufmerksam. »Was wissen Sie denn bisher von uns, Marvin? Und was wünschen oder erhoffen Sie sich?«

Ida nahm die Glaskaraffe vom blank polierten Schreibtisch, goss Wasser in das bereitstehende Tringefäß und schob es ihm zu.

Dankbar nippte er, doch bevor das Glas die Tischplatte wieder berührte, fühlte sich seine Kehle erneut an wie mit Sandpapier bearbeitet. Ihre Freundlichkeit änderte nichts an der Tatsache, dass sein Leben in ihren Händen lag. »Na ja, also …«

»Keine Angst. Es gibt kein Falsch oder Richtig.« Sie zwinkerte.

Hoffentlich entging ihr, dass er die Finger fest zusammendrückte, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Also … Ich habe bloß ein bisschen in den Broschüren gelesen und einige der Werbespots gesehen. Wenn ich nicht völlig falsch liege, besteht die Möglichkeit, sozusagen einen Tauschhandel abzuschließen. Ich erhalte zehn Jahre lang ein glückliches und zufriedenes Leben, mit nahezu allem, was ich mir wünsche. Nach den zehn Jahren stelle ich Ihnen meinen Körper zur Verfügung und Sie löschen meine Erinnerungen.«

Ida betrachtete ihn für einen Moment nachdenklich und legte den Kopf dabei schief. »Hmm, das ist weder ganz falsch noch ganz richtig ausgedrückt. Unser Motto kennen Sie ja: Schenken Sie uns Ihren Körper und wir schenken Ihnen zehn unvergessliche Jahre. Etliche Menschen mit teilweise herzzerreißenden Geschichten wünschen sich mehr Lebensqualität. Adäquate Gesundheitsvorsorge, stabile Finanzen und vieles mehr. Der Gründer unserer Firma, Herr Grewe, hat mit seinem Herzblut und Fleiß zwar keine Wunder vollbringen können, aber die Möglichkeit geschaffen, geeigneten Attendees ein nahezu perfektes Leben für immerhin zehn volle Jahre zu bieten. Es gibt Menschen, die nicht einmal so lang leben! Jeder Anwärter ohne Ausschlusskriterien, wie beispielsweise einen von illegalen Substanzen zerstörten Körper, kann bei uns teilnehmen und erhält besondere Privilegien, unter anderem ein eigenes Heim mit Pool und Sauna, großzügige finanzielle Mittel und beste gesundheitliche Versorgung. Kurzum: eine sorgenfreie Existenz. Wir kommen für alle Kosten auf, sofern Sie weder sich noch anderen mutwilligen Schaden zufügen. Im Gegenzug verpflichten Sie sich, uns nach dieser Zeit Ihren Körper zu überlassen, den wir nach unserem Ermessen für gemeinnützige, wohltätige oder gesamtgesellschaftlich gesehen sinnvolle Einsatzgebiete verwenden dürfen. Sie werden davon aber nichts mitbekommen, denn wir haben ein einzigartiges, zu hundert Prozent schmerz- und leidfreies Verfahren zur Persönlichkeitsveränderung entwickelt.«

»Das klingt wirklich verlockend, aber was bedeutet das genau? Sterbe ich?« Sein Puls beschleunigte sich.

»Nein, keine Sorge. Das hört sich beängstigender an, als es ist. Ihr Bewusstsein wird lediglich in eine Art Stand-By geschaltet, während Ihr Körper eine komplett neue Persönlichkeit erhält. Davon spüren Sie nichts, dafür steht Better Life mit seinem guten Namen. Das heißt: Sie leben ein unbesorgtes, glückliches Leben, ehe sie so etwas wie … ruhen. Für die Testpersonen fühlte es sich wie einschlafen an. Im Prinzip können Sie es als Verwandlung sehen. Sie werden leben, als ganz neuer Mensch und das für äußert soziale Zwecke, Sie können sich nachher gern eine Liste der Einsatzgebiete unserer Mitarbeiter ansehen.«

Marvin dachte einen Moment nach. »Und … wird es wirklich nicht wehtun?«

»Das verspreche ich Ihnen hoch und heilig, Marvin. Unser Ziel ist, Menschen glücklicher zu machen, die Gesellschaft zu verbessern – unter keinen Umständen wollen oder werden wir jemandem Leid zufügen. Noch immer ist die Würde des Menschen unantastbar. Alle Auswirkungen einer Zusammenarbeit mit uns werden sich für sie positiv und bereichernd anfühlen.«

Marvin atmete tief durch, wagte es, die Muskeln ein wenig zu lockern. Ich habe nichts zu verlieren, wiederholte er stumm sein Mantra. »Wer werde ich denn sein? Erfahre ich das? Woher stammt das Bewusstsein der neuen Person? Und kann ich mir einen Arbeitsbereich wünschen?«

»In Ihrer hochqualitativen Lebenszeit, die Sie bei uns genießen, lernen wir Sie besser kennen und werden ein für Ihren Körper perfekt geeignetes Bewusstsein auswählen. Wünsche dürfen Sie selbstverständlich äußern. Wir können leider nicht garantieren, diese nach Ihrer … ich nenne es jetzt mal Deaktivierung, zu erfüllen, aber wir berücksichtigen sie.« Die Frau setzte eine bedauernde Miene auf. »Leider darf ich keine Betriebsgeheimnisse verraten, daher ist es mir nicht gestattet, die Herkunftsfrage der übernehmenden Persönlichkeiten zu beantworten, ich garantiere jedoch eine legale, staatlich geprüfte Herkunft und höchste Sicherheitsstandards. Erfahrungsgemäß ist es sinnvoll, wenn Attendees so wenig wie möglich über ihre Ablösung erfahren. Falls das Prozedere Ihnen große Sorgen oder Ängste bereiten sollte, steht Ihnen eine Auswahl der besten Psychologen Deutschlands als Unterstützung zur Verfügung.«

Obwohl Marvin die Vorstellung einer sorgenfreien Zeit gefiel und das Angebot in Anbetracht seiner Zukunftsaussichten ohne Better Life fair erschien, ließ sich das mulmige Gefühl in seinem Bauch nicht vertreiben.

»Okay ... Wie lange habe ich Zeit für meine Entscheidung und wann erfahre ich, ob ich überhaupt geeignet bin?«

Ida öffnete eine Schreibtischschublade und zog ein weiteres, wesentlich kleineres RD heraus. »Das geht ganz schnell. Sollten Sie eine Kooperation in Betracht ziehen, leite ich Sie gern direkt an unseren Arzt weiter, der eine letzte Überprüfung durchführt. Im Anschluss erfahren Sie sofort, ob Sie ein Attendee werden können. Danach müssen Sie sich innerhalb einer Woche entscheiden, bevor unser Angebot verfällt. Sie sollten noch wissen, dass wir zu einem zweiten Angebot nicht verpflichtet sind. Was denken Sie, Marvin? Möchten Sie die Eignung direkt testen lassen, sodass Sie danach in Ruhe eine Entscheidung treffen können? Die Voruntersuchung verpflichtet Sie selbstverständlich zu nichts.«

Zum wiederholten Mal zögerte Marvin.

Was, wenn Charlie doch auftaucht? Zum Beispiel kurz vor meiner Deaktivierung? Dann müssten wir uns trennen, weil ich mich verpflichtet habe … Der Vertrag lässt sich bestimmt nicht stornieren. Aber realistisch gesehen: Sie ist schon über zwei Jahre spurlos verschwunden. Die Chancen, sie je wiederzusehen, sind verschwindend gering. Und vielleicht gibt es ja Optionen für einen Schicksalsfall wie den, den ich mir mit Charlie erhoffe.

»Ich würde die Eignung gern testen lassen«, antwortete er so hastig, als fürchtete er sich selbst vor einem Rückzieher.

Ida strahlte förmlich. »Das freut mich, Marvin, Sie werden es nicht bereuen. Folgen Sie mir bitte zu den Untersuchungsräumen. Sobald das Ergebnis vorliegt, setze ich den Vertrag zur Vorabansicht auf und stelle Ihnen noch einmal alle Informationen zum Nachlesen bereit. Sollten Sie sich sofort entscheiden, erhalten Sie direkt im Anschluss an die Untersuchung Ihren BLI-Chip, der bei Bedarf den Attendee-Status bestätigt, Ihre Gesundheit überwacht und der Sie auf Wunsch mit unserem Kundenservice verbindet und über etliche praktische Tools und optionale Plugins verfügt.«

Ida stand auf und schwebte beinahe zum Fahrstuhl, offenbar beschwingt von ihren eigenen Worten. »Auf Wunsch verlassen Sie schon heute unser Institut als glücklicherer und besserer Mensch und ziehen in Ihr neues, vollständig eingerichtetes Zuhause, Marvin! Einfach so! Ich würde das auch tun, allerdings dürfen Mitarbeiter nicht teilnehmen. Meine ganz private Meinung, die Sie natürlich ignorieren dürfen: Ergreifen Sie die einmalige Chance!«

Die letzten beiden Sätze sagte sie leise, als wäre es ungeheuerlich, eine eigene Meinung zu besitzen.

Fröhlich winkte sie ihn hinter sich her. »Kommen Sie. Sie werden es nicht bereuen.«

Plötzlich fühlte sich Marvin wie aus einer Erstarrung befreit. Sie hatte recht. Warum sollte er das Angebot ausschlagen? Die Skepsis wich Vorfreude und Marvin folgte ihr in den Fahrstuhl. Quälend langsam schlossen sich die Türen, während sein neues Leben in seiner Vorstellung ungeduldig mit den Hufen scharrte.

»Scan erfolgreich. Bitte bestätigen Sie Ihre Identität«, verlangte die Fahrstuhlstimme.

»Ida Willmann, Erstberatung.«

»Identität bestätigt. Wohin möchten Sie?«

»Sicherheitszone Drei B, Probanden, Untersuchungsbereich.«

»Probanden?«

Ruckartig kehrte die Skepsis zurück, doch Ida verhielt sich normal und antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken. »Keine Angst, wir haben bloß die ursprünglichen Bezeichnungen der Bereiche beibehalten, als wir das hier übernommen haben. Zum einen hätte eine Namensänderung bei einem Gebäude dieser Größe für Verwirrung gesorgt, zum anderen spart es Arbeitszeit, das System nicht umprogrammieren zu müssen.«

Marvin spürte, wie die Aufwärtsbewegung des Fahrstuhls seinen Körper nach unten drückte, und ärgerte sich über seine ängstliche Reaktion.

Ding.

»Bitte gehen Sie durch den Scanner.«

Wieder diese schwachsinnige Aufforderung. Die ist wahrscheinlich aus dem vorigen Jahrhundert und ebenfalls nicht gelöscht worden.

Er fühlte sich wie ein trotteliger Hund, während er hinter Ida durch die sterilen Gänge eilte, die an ein Krankenhaus erinnerten. Metallisch glänzende Wände, leicht desinfizierbar. Marvin entdeckte keinerlei Textilien oder Dekorationen, die die Atmosphäre hätten auflockern können. Schier endlose und verzweigte Gänge, in denen jeder Schritt ein emotionsloses Echo verursachte, bildeten einen starken Kontrast zu Idas Beratungsraum. Das kühle Licht der Neonstrahler an der Decke trieb das beklemmende Gefühl, das seinen Rücken sekündlich bedrohlicher hinaufkroch, auf die Spitze.

Fröstelnd schlang Marvin die Arme um sich. Ida Willmann wirkte unbeschwert wie zuvor, während sein Gefühl sich zu einem Schrei formte. Zu einer Warnung.

Nicht durchdrehen. Alle Optionen stehen mir offen. Und gibt es ein beschisseneres Leben als in den Slums?

Im Vorbeigehen las er einige der Schilder neben den Türen.

Probanden-Testraum 45. MEMORY EXTINCTION D-F.

Ein Raum zur Deaktivierung von Attendees? Unwillkürlich schlang Marvin die Arme fester um sich.

Ihm fehlte die Zeit, länger darüber nachzudenken. Ihr Weg führte rechts um die Ecke und Ida blieb vor dem ersten Raum auf der linken Seite stehen.

Untersuchung J-L, las Marvin.

Ida hielt ihr Handgelenk an die Tür, um sie zu öffnen, und ein beengter Warteraum, bestückt mit zwei gepolsterten Stühlen und einer Displaywand eröffnete sich vor ihm.

»Da sind wir, Marvin. Nehmen Sie doch kurz Platz, bis Doktor Brand sie aufruft. Neben dem Stuhl ist das Serviceholo fürs Display. Wir sehen uns anschließend wieder.«

Zwinkernd drehte sich sein Lifecoach um und eilte geschäftig davon. Das Klackern der Absätze verhallte, bis bloß noch Stille in Marvins Ohren dröhnte und seinen Schädel schmerzhaft zusammenpresste.

Erschöpft massierte er sich die Schläfen und versuchte, die endlos auftauchenden Fragen zurückzuhalten. Die Vorstellung, wie ein anderes Bewusstsein mit seinem Körper herumlief, drohte, seinen Schädel zum Platzen zu bringen. Mit aller Macht verjagte er sie.

Denk an die gute Zeit, die du haben wirst. Was wäre eine Existenz wert, in der sich alles nur ums Überleben dreht?

Gedankenverloren strich er über das Tattoo an seinem Bein: eine liegende Acht, das Symbol für Unendlichkeit. Charlie hatte es sich gemeinsam mit ihm stechen lassen, als …

»Herr Lenzen?«

Marvin fuhr hoch. Vor ihm ragte der Doktor auf, umrahmt von zwei dunkel uniformierten Männern mit emotionslosen Gesichtern. Sicherheitspersonal? Wahrscheinlich ein Standardprozedere.

»Äh, ja«, stotterte Marvin. »Der bin ich.« Verunsichert streckte er dem Arzt die Hand entgegen, der sie ignorierte und sich kommentarlos umdrehte. Kein Lächeln. Kein Hallo. Nur ein tiefes: »Kommen Sie mit.«

Marvin folgte dem stramm voranmarschierenden Mann gehorsam. Unter den strengen Blicken des Wachpersonals betrat er einen beengten Raum neben dem Wand ausfüllenden Display. Seine Brust schnürte sich zusammen, als das Schloss hinter ihm beim Einrasten ein metallisches Knacken von sich gab.

Stell dich nicht so an wegen einer dämlichen Untersuchung.

Aufmerksam musterte er die Umgebung. Links von ihm stand der grauhaarige Arzt vor einem Tisch mit Instrumenten und brummte etwas Unverständliches in seinen Vollbart. Die Uniformierten positionierten sich stumm in gegenüberliegenden Zimmerecken. Es bedurfte auch keiner Worte – die unausgesprochene Warnung wabernde drohend in der Luft.

Bemüht schluckte Marvin gegen die Trockenheit seiner Kehle an.

Die metallene Liege vor ihm rief Bilder einer Leichenhalle hervor, mündete jedoch am Fußende in eine gläserne Röhre. Von der Decke erstreckten sich scharfkantige Arme mit verschiedensten Werkzeugen in seine Richtung. Einige erkannte er: Laserskalpelle, Sensoren, Tupfer, Nahtmaterial … Aha. Ein digitales, fernsteuerbares Operationsset. So sahen die also aus.

Verwundert registrierte Marvin seine nüchternen Gedanken. Gerade noch wie betäubt, überrollte ihn ruckartig eine Welle der Übelkeit. Er bemühte sich, sein spärliches Mittagessen bei sich zu behalten.

Erschöpft lehnte er sich auf die Liege, wollte sich darauf sinken lassen, da packte ihn der Arzt am Arm und zog ihn energisch zurück auf die Beine. »Ich wäre Ihnen zutiefst verbunden, wenn Sie meine äußerst simplen Anweisungen befolgen würden und aufhören, unnötig meine Zeit zu verschwenden. Immer dasselbe, verdammte Slumkids.«

Die forsche, unverschämte Art dieses Mediziners überrumpelte Marvin, sodass er der Forderung roboterhaft nachkam. Dr. Brand griff erneut grob zu, diesmal Marvins Handgelenk, und scannte ihn mit einem winzigen Gerät, das er wie einen Ring um den Finger gelegt hatte. Genauso unverhofft ließ er los. Marvins Arm fiel herunter wie die Gliedmaße einer Marionette. Mit finsterem Blick las der unterkühlte Mann die Informationen ab, die der Ring in die Luft projizierte.

»Jetzt auf die Liege setzen«, forderte er.

Hilflos setzte sich Marvin, betete, es möge bald vorbei sein. Nachdem der Arzt ein Sensorarmband an Marvins Handgelenk festgezurrt hatte, wischte er murrend Daten in ein RD, zumindest vermutete Marvin das.

»Unzuverlässiges Dreckspersonal«, fluchte der Kerl ungeniert. »Macht mans nicht selbst, ist es scheiße!«

Ida hatte sich geirrt – im Augenblick bereute Marvin seine Entscheidung. Aber es gab kein Zurück, jedenfalls nicht, ohne die Demütigung zu steigern.

Einfach durchhalten, gleich ist es vorbei.

Schroff drückte der Arzt gegen Marvins Brust. Marvin ließ es geschehen und legte sich auf den Rücken, bevor der Arzt noch unfreundlicher wurde – falls das möglich war.

»Kopf da rauf.« Dr. Brand deutete auf ein halbmondförmiges Kopfteil. Marvin rechnete mit einer Nackenstarre, als er der Aufforderung nachkam, doch die Konstruktion erwies sich als unerwartet bequem und perfekt passend. Der Arzt trat einen Schritt zurück. Mechanisches Surren flutete den Raum, während die Röhre sich gnadenlos über die Liege schob und Marvin in ein gläsernes Gefängnis sperrte. Ein Zischen ließ Marvin zusammenzucken.

Sekunden später verbreitete sich ein chemischer Geruch, beißend wie Lösungsmittel. Jeder Atemzug linderte die Panik, bis sie gänzlich verschwand. Wohliger, schützender Nebel umhüllte ihn und zog jede Sorge, jeden Zweifel mit seinen nebligen Schlieren mit sich. Endlich. Stetig tiefer sank er in die Liege. Noch während der Arzt ein Stakkato an Fragen auf ihn losließ, vergaß Marvin selbige wieder, hörte sich jedoch antworten. Zusammenhangslose Fetzen versuchten, in seinen Verstand zu dringen.

Haben Sie homosexuelle Neigungen?

Wann haben Sie zum ersten Mal sexuelle Interessen verspürt?

Fühlten Sie sich in Ihrer Kindheit geliebt und akzeptiert?

Nein?

Wieso nicht?

Irgendetwas riss den Nebel fort.

»Die Ergebnisse sind zufriedenstellend«, erklärte Doktor Brand und ließ die Liege aus der Röhre fahren. Wie viel Zeit war vergangen? »Arm ausstrecken.«

Schmerz schoss kurz, aber heftig durch sein Handgelenk, ehe er sich wieder verzog und einem gummiartigen Gefühl Platz machte. Metallisches Klirren drang in Marvins Ohren, ließ ihn vermuten, dass ein Objekt in einer sterilen Schale gelandet war. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er den Schmerz im Handgelenk mit dem Geräusch verknüpfte. Sein Chip. Hatte der Typ ihn entfernt? Wieso? Sicherlich Einbildung.

Als Nächstes spürte Marvin einen dumpfen Druck, dem ein angebrannter Geruch folgte. Routiniert setzte der Arzt einen neuen Chip ein und verschloss die Wunde. Nach dem nächsten Stich, diesmal in der Armbeuge, verzog sich der restliche Dunst, der seinen Geist umgeben hatte. Irritiert starrte er auf sein Handgelenk. Ein Pflaster verdeckte die Implantatstelle.

»Die freundlichen Herren geleiten Sie hinaus.«

Zutiefst verwirrt ließ er sich vom Personal zurück in den Gänge-Irrgarten führen.

Bestimmt hatte alles seine Richtigkeit, bloß trieb das Unterbewusstsein ein gemeines Spiel mit ihm.

Willenlos ließ er sich dirigieren. Er nahm wahr, dass sie einen Raum passierten, in dem offenbar eine Holowerbung diskutiert wurde. Das Einzige, das er von dieser registrierte, war das Meer. Das beruhigende Rauschen sanfter Wellen. Lag ein salziger Geruch in der Luft oder bildete er sich das ein? Marvin spürte feinen Sand zwischen den Zehen. Ein seliges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, ehe er sich besann und zu konzentrieren versuchte.

Kein Strand. Kein Meer. Kein Wellenrauschen.

Nur zwei grimmige Gestalten, die ihn den Gang entlangtrieben, als sei er Schlachtvieh, und kein Wort mit ihm wechselten.

Unnötig grob schubsten sie ihn schließlich in den Fahrstuhl und stiegen ebenfalls ein.

Ding.

Die ihm inzwischen bekannte Computerstimme meldete sich zu Wort.

»Scannung erfolgreich. Identität bestätigt. Memory Extinction J bis L, Sicherheitszone Drei A.«

Was?

Memory Extinction?

Geschäftig surrte es. Die Uniformierten regten sich nicht.

»Ich glaube, hier liegt ein Fehler vor«, erklärte Marvin mit schwerer Zunge. »Ich sollte nach der Untersuchung zu meinem Lifecoach, Ida.«

»Negativ«, entgegnete der Fahrstuhl freundlich und schwieg anschließend quälend lange Sekunden.

Die Abwärtsbewegung stoppte und die Türen glitten zur Seite.

Ding.

»Vorbereitung und Durchführung, J bis L, Sicherheitszone Drei A. Bitte gehen Sie durch den Scanner. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

Was sollte das?

Bestimmt klärt sich das gleich, dachte er und setzte gezwungenermaßen einen Fuß vor den anderen, eingekesselt zwischen den Uniformierten. Hatten sie überhaupt die Etage gewechselt? Falls ja, schien sich der wahnwitzige Irrgarten aus Gängen hier zu wiederholen.

Mit aufmerksamen Blicken und steigendem Unbehagen suchte er die Umgebung nach einem Fluchtweg ab. Vorsichtshalber.

Keine Chance.

Schritte näherten sich, kurz bevor sie die nächste Abzweigung erreichten. Als sie um die Ecke bogen, erkannte Marvin zwei Männer in weißen Kitteln, die in seine Richtung eilten. Ein Funke Hoffnung keimte auf. Der linke Weißkittel, ein dunkelhaariger, verzog die Lippen, bis sie ein unangenehm hämisches Grinsen in dessen Gesicht bildeten und das kurze Aufflackern von Hoffnung im Keim erstickten.

Die Welt um Marvin drehte sich. Oder er schwankte. Es machte keinen Unterschied. Die Uniformierten zogen ihn unbarmherzig weiter, bis sie vor den Arzthelfern oder was immer diese Typen waren, zum Stehen kamen.

»Marvin Lenzen?«, nuschelte der Grinser und warf einen fragenden Blick zu einem der Securitys, der zur Bestätigung nickte, sich umdrehte und gefolgt von seinem Kollegen davon schlenderte.

Wut mischte sich mit Marvins Ratlosigkeit. Hielten die Typen ihn für einen Ping-Pong-Ball?

»Sie wissen offensichtlich, wer ich bin. Dann dürfte Ihnen klar sein, dass hier ein Fehler vorliegt, ich …«

»Das klären wir gleich. Folgen Sie uns«, unterbrach ihn der andere Weißkittel, ebenfalls dunkelhaarig, doch weitaus stämmiger.

Marvin sah nicht ein, sich den Mund verbieten zu lassen. Mit jeder Minute fühlte er sich wacher und er hatte es satt, herumgeschubst zu werden. »Ich erwarte zu erfahren, was hier läuft und wohin Sie mich bringen.« Kaum ausgesprochen, bemerkte er, wie hilflos seine Worte klangen. Bedeutungslose aneinandergereihte Buchstaben.

»Ja, ja. Ganz kurz Geduld noch. Je schneller Sie kooperieren, desto schneller folgt die Erklärung.«

Beide Männer setzten sich in Bewegung, genau wie die Wachmänner kesselten sie ihn in einer Selbstverständlichkeit ein, als täten sie selten etwas anderes.

Trockenheit war kein annähernd passender Ausdruck für die Wüste in Marvins Kehle. Nicht einmal mehr das Zittern seiner Finger konnte er verbergen. »Wo ist mein Lifecoach? Sie heißt Ida, ich muss sie dringend sprechen«, krächzte Marvin. Die letzten Worte mündeten in einen Hustenanfall.

Der Korpulentere hinter ihm lachte und klopfte zweimal so fest auf Marvins Rücken, dass es ihm erst recht die Luft aus der Lunge drückte. »Wer muss Ida denn nicht dringend sprechen! Spaß. Dauert nicht lange, dann geht’s los.«

Resigniert gab Marvin auf und fügte sich.

Vor einem Raum mit der Aufschrift MEMORY EXTINCTION J-L blieben sie stehen.

Der Dünne entriegelte das Schloss mit einer geübten Handbewegung und deutete in den leeren weißen Raum.

»Nach Ihnen!«, gab er gut gelaunt von sich, vollführte eine übertrieben sarkastische Verbeugung und deutete in das gähnende Nichts.

Marvin blieb unschlüssig stehen, was den Korpulenteren dazu bewegte, etwas aus seiner Tasche zu ziehen, das Marvin mit Verzögerung identifizierte. Einen Nanoteaser, dieselbe Waffe, die Polizisten stets mit sich führten und selbst einen Bären lahmlegten, falls es nötig war. »Muss ich nachhelfen?«, drohte der Typ.

Sich zu wehren erschien Marvin so sinnvoll, wie ein tollwütiges Tier streicheln zu wollen, das bereits nach ihm schnappte. Widerwillig und mit hämmerndem Herzen setzte Marvin einen Fuß in den Raum. Bevor er darüber nachdenken konnte, freiwillig den anderen nachzuziehen, rammte sich eine Faust in seinen Rücken. Er taumelte vorwärts; hinter ihm das Unheil verkündende Einrasten des Schlosses.

Unerwartet schnell fand er das Gleichgewicht wieder, wirbelte herum und trommelte gegen die Tür. »Hey! Was soll denn das, sind Sie verrückt?«

Fieberhaft betasteten seine Finger das seelenlose Material und fanden nichts als erbarmungslose Kälte.

Marvin nahm Anlauf, rammte mit aller Kraft die Schulter gegen die Tür. Nicht das winzigste Ruckeln.

Was hatten sie mit ihm vor?

Das Weiß um ihn herum strahlte sekündlich greller, vernichtete unbarmherzig den kümmerlichen Rest Zuversicht.

Die verhasste mechanische Sprechweise schien ihm charakterloser als zuvor, während die Hitze des weißen Leuchtens zu schmerzen begann.

»Proband 1274. Scan erfolgreich. Eignung bestätigt. Löschung starten.«

»Sofort anhalten! Stopp! Lassen Sie mich sofort raus! Stooooopp!«

»Negativ. Löschung eingeleitet. Verbleibende Dauer: drei Minuten und dreizehn Sekunden.«

Marvin trommelte gegen die Tür.

»Bitte nicht! Bitte! Ich tue alles, was Sie wollen, aber hören Sie damit auf!«

Sein Unterbewusstsein hatte verzweifelt versucht, ihn rechtzeitig zu warnen!

Selbst schuld, selbst schuld, selbst schuld.

Unweigerlich würde er die Konsequenzen seiner eigenen Ignoranz zu spüren bekommen. Wie hatte er so dumm sein können, auf derartig überzogene Versprechungen hereinzufallen. Schon dafür verdiente er die Strafe. Verdiente das grelle Licht, dessen Hitze jede einzelne Pore versengte. Den stetig wachsenden Druck, der seinen Schädel unaufhaltsam zerquetschte. Die Haut, die sich langsam von den Knochen löste. Den Zug, der durch ihn hindurchfuhr und ihn mit Leichtigkeit entzweiriss.

Dumpf nahm er sein Selbst wahr, das sich in Partikel aufzulösen schien. Die Schmerzen ebbten ab, machten Platz für ein barmherziges Nichts, das sich ihm einladend entgegenstreckte.

Flüsternd wiederholte Marvin ein Mantra, betete, dass es sich wie ein Wunder manifestierte und ihn am Leben erhielt.

»Mein Name ist Marvin Lenzen, mein Name ist Marvin Lenzen, mein Name ist …«

Was hatte er eben sagen wollen? Wo war er überhaupt? Und welches Arschloch hatte seinen Kopf durch einen Fleischwolf gedreht?

Irgendetwas kitzelte seine Wange. Überrascht hielt er inne, als er Feuchtigkeit ertastete.

»Igitt!« Angeekelt wischte er die Hand an der Hose ab. Seltsam. Er konnte sich nicht erinnern, sie angezogen zu haben. Geschweige denn, sie zu besitzen. Benommen stand er auf, drehte sich um die eigene Achse. Der Schock grub sich in seine Knochen, überrollte ihn mit der bitteren Erkenntnis.

Er besaß nicht den Hauch einer Ahnung, wo oder wer er überhaupt war ...

Ein Stich fuhr durch seine Schläfen, füllte ihn mit etwas Unbekanntem aus. Etwas Mächtigem, das ihn dazu zwang, die Lider zu schließen.

»Pre-Check starten. Proband, bitte identifizieren Sie sich.«

Der Mann stand auf, starrte abwesend geradeaus. »Proband 1274, Gruppe A.«

»Identifikationsschritt zwei. Bitte bestätigen Sie den Ihnen zugewiesenen Namen, um die Prüfung abzuschließen und das Programm zu beenden.«

»Paul Bornemann.«

»Vorgang erfolgreich abgeschlossen. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

Kapitel Eins

Zoe. Vier Jahre zuvor, 2068


»Sind Sie bereit, die Welt zu verändern?«

Zoe runzelte die Stirn und wandte den Blick vom Display ab. Leicht verwirrt betrachtete sie den geschmackvoll gekleideten Mann Mitte vierzig, der sich ohne anzuklopfen Zutritt zu ihrem Büro verschafft hatte.

Natalie ..., knurrte sie gedanklich. Wann würde ihre Freundin und Kollegin lernen, den Summer zu deaktivieren, bevor sie ihren Platz verließ? Und warum verließ sie ihn zuverlässig in Momenten wie diesem, in dem Zoe einen derartig riesigen Bissen Zuckergebäck in sich hineingestopft hatte, als gelangte sie maximal wöchentlich an Nahrung? Hastig spülte sie die klebrige Masse mit einem Schluck Wasser hinunter.

»Sie sind doch die Neuroinformatikerin? Dr. Zoe Fink?«, hakte der Mittvierziger nach, lächelte und deutete auf den klapprigen Stuhl gegenüber von Zoes Schreibtisch. »Darf ich?«

Der höchstens fünfzehn Quadratmeter große Raum mit der elektronischen Pinnwand – Marke voriges Jahrhundert – bildete einen absurden Kontrast zu seiner wohlhabenden Erscheinung.

Zoe wischte die Krümel ihres verspäteten Mittagessens vom Tisch. Dann reichte sie ihm die Hand und lächelte zurück.

»Bitte.« Sie machte eine einladende Geste Richtung Stuhl. »Und ja, ich bin Neuroinformatikerin. Ob ich die bin, die Sie suchen ... Das finden wir bestimmt gleich raus. Mit wem habe ich denn die Ehre und worum gehts?«

Der Mann setzte sich, Zoe tat es ihm gleich und unterdrückte ein Seufzen.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie überrumpelt habe«, sagte er. »Ich heiße Carlos Grewe und bin der Chef einer aufstrebenden Organisation namens Better Life. Haben Sie schon von uns gehört?«

Das klang verdammt nach einem Verkaufsgespräch.

Zoe schüttelte den Kopf. »Nein, bisher nicht.«

Sie erlaubte sich, ihn eingehender zu betrachten. Er schien selbstbewusst, jedoch nicht arrogant. Eventuell ein bisschen schnöselig, andererseits charismatisch.

Doch Charisma hin oder her: Sollte der Typ ein Verkaufsgespräch führen wollen, würde sie ihn bitter enttäuschen müssen. Bei ihr gab es nichts zu holen, das hätte selbst ein Blinder erkannt. Spätestens, wenn er sich auf dem knarrenden Stuhl niedergelassen hätte wie ihr ungebetener Gast, der allerdings keinerlei Unbehagen zeigte.

»Nun.« Carlos Grewe pickte geistesabwesend einen Krümel von seinem Ärmel. Höchstwahrscheinlich einen Imaginären, denn seine Kleidung war tadellos. »Ich bin seit einiger Zeit auf der Suche nach einem Neuroinformatiker mit den passenden Referenzen für eine Studie. Da bin ich unweigerlich auf Sie gestoßen. Ihre Forschungstätigkeiten an dieser Universität, beziehungsweise Ihre Publikation bezüglich des menschlichen Gehirns, der Erinnerungen und der Persönlichkeit, haben mich beeindruckt. Nicht zuletzt das Ergebnis, dass sich nahezu die gesamte Persönlichkeit eines Menschen mit den richtigen technischen Mitteln verändern ließe, hat mich zu Ihnen geführt. Erstaunlich, was Sie da geleistet haben.«

Verlegen räusperte sie sich, kratzte ein wenig der ohnehin vollkommen zerstörten Silberbeschichtung vom Schreibtisch. »Danke, das ehrt mich. Und was kann ich für Sie tun?«

»Viel. Hoffe ich jedenfalls. Mal ganz von vorn: Wir von Better Life haben es uns zum Ziel gemacht, die Welt zu verbessern. Ich weiß, das klingt im ersten Moment pathetisch. Es ist aber keineswegs unmöglich oder überzogen. Jährlich kommen mindestens fünfhundert Soldaten traumatisiert von Auslandseinsätzen zurück, rund zwanzig Prozent unserer hiesigen Polizisten leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Genau hier setzen wir an: Mithilfe Ihrer Forschung möchten wir Möglichkeiten entwickeln, diese Erlebnisse aus den Gedächtnissen der Probanden zu entfernen, um die Lebensqualität der traumatisierten Soldaten und Polizisten wieder zu erhöhen. Natürlich ist das lediglich der Anfang. Der Anfang der Heilung unserer Gesellschaft. Wir werden die Menschen aus den Slums holen … irgendwann.«

Grewe machte eine kunstvolle Pause und sah sie an.

Wow. Das klang … ambitioniert. Er wollte also mit den Ergebnissen ihrer bislang erfolgreichsten Publikation arbeiten, die ihr mehr Aufmerksamkeit eingebracht hatten, als ihr lieb gewesen war.

Zoe hatte in ihrem vergleichsweise zarten Alter tatsächlich bewiesen, dass Erinnerungen sich theoretisch löschen ließen, ohne die Gehirnstruktur nachhaltig zu schädigen. Aber die praktische Anwendung ihrer Forschungsergebnisse brächte verschiedenste, schwer bis gar nicht lösbare Probleme mit sich. Vor allem ethische.

Sie überlegte einen Moment, bevor sie etwas entgegnete. »Also … das klingt nach einer guten Sache, aber … ich bin mir nicht sicher, ob sich Ihre Idee realisieren lässt. Allein die steinigen Bürokratiewege mit den ganzen Genehmigungen ... Abgesehen davon stehen mir weder ausreichend technische noch finanzielle Mittel –«

»Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Selbstverständlich stünde Ihnen alles zur Verfügung, was Sie benötigen. Was halten Sie davon, mich morgen in meinem Institut zu treffen? Ich würde Sie gern herumführen und Ihnen Näheres erläutern. Abschließend ist noch zu erwähnen, dass Sie mehr als gut für Ihre Arbeit bei uns honoriert werden würden. Selbst dann, wenn der praktische Versuch misslingen sollte.«

Wieder dieses charmante Lächeln.

Zoe wusste nicht, wie sie sich fühlen sollte. Das kam unerwartet – und schnell. Aber das Angebot klang auf jeden Fall interessant. Beinahe zu gut, um wahr zu sein: Menschen zu helfen und dafür bezahlt zu werden. Es konnte nicht schaden, sich dort mal umzusehen.

»Natürlich, sehr gern. Danke für die Einladung.«

Sichtlich zufrieden tippte er sich mehrfach an den Ringfinger und übertrug damit seine Kontaktdaten an ihre ID.

Ein leichtes Vibrieren ihres Handgelenks bestätigte den Eingang der Nachricht.

»Morgen zwölf Uhr?« Mit diesen Worten erhob er sich und streckte ihr erneut die Hand entgegen. Zoe stand ebenfalls auf und schüttelte sie.

»Ich bin gespannt und freue mich. Bis morgen um zwölf.«

»Die Freude ist ganz meinerseits.« Mit einem letzten, verschmitzten Lächeln und einem Zwinkern verschwand er so schnell aus der Tür, wie er gekommen war.

Zoe ließ sich zurück in ihren Bürostuhl fallen und atmete durch. Als sie sich durchs lange Haar fuhr und dabei ihre Wange streifte, fiel ein dicker Krümel auf ihre Hose. Hatte der während des Gespräches etwa die ganze Zeit in ihrem Gesicht geklebt? Super ...

Schnaubend drückte sie den Sensor der Sprechanlage.

»Du weißt, dass ich dir gleich in deinen zarten Popo treten muss? Ich habe gerade ein geschäftliches Gespräch mit Zuckergebäck im Gesicht geführt, da ich nicht vorgewarnt wurde!«

Als Antwort ertönte ein Kichern. »Mach dir nicht so einen Kopf, der fand das bestimmt zuckersüß! Und das heißt, ich hab alles richtig gemacht. Ha!«

Zoe lachte. Typisch Natalie.

Ihr Herz machte einen Hüpfer und ihr Blick schweifte durch das möglicherweise bald ehemalige Büro. Erst jetzt sickerte in ihr Bewusstsein, dass sich alles verändern konnte. Dass sie alles verändern konnte.

In jedem Fall würde sie für heute Schluss machen mit der Arbeit.

Zoe angelte nach ihrer beigefarbenen Jacke, die über der Lehne hing, und zog sie an. Das rollbare Display verstaute sie im abschließbaren Aktenschrank.

»Na, da bin ich mal gespannt«, murmelte sie.



Nach einem letzten Blick auf das schlichte Betongebäude mit den vielen Fenstern hielt sie den ID-Chip an die grüne Autotür. Die sprang auf und die künstliche Intelligenz, der sie passend zum Namen ihres Gefährts eine männliche Stimme verpasst hatte, begrüßte Zoe mit einem mechanisch-fröhlichen »Hallo, Zoe. Gute Fahrt!«

»Hallo Walter«, entgegnete sie.


Der Wecker holte Zoe gewohnt sanft aus dem Schlaf. »Guten Morgen, Zoe. Ihr Schlafzyklus ist beendet. Weckzeit liegt in Alphaphase, Schlafstadium eins. Neue Gesundheitsergebnisse liegen vor.«

War sie nicht eben erst ins Bett gegangen? Sie streckte sich und wartete vergebens auf den Duft frisch gebrühten Kaffees. Entnervt stöhnte sie. Noch hatten die Maschinen die Weltherrschaft nicht übernommen und somit auch kein neues Paket Kaffee in die Maschine gelegt, was bedeutete, dass sie jetzt, Punkt halb sieben, lediglich heißes Wasser serviert bekommen würde. Hätten die Maschinen die Weltherrschaft, dann hätten sie vermutlich ohnehin besseres zu tun, als mir Kaffee zu kochen …

Zoe schwang die Beine aus dem Bett, streckte sich noch einmal ausgiebig und zähmte ihr blondes Haar, bevor sie in die Küche schlurfte. Dort schüttete sie das Wasser weg und entnahm dem in der Wand integrierten Thermofast das Frühstück. Immerhin hatte sie das nicht auch vergessen.

Während sie ihre Scheibe Vollkornbrot mit Butter und Rührei aß, ignorierte sie die Blutdruckergebnisse, ihre nächtliche Atemfrequenz und die Gesundheitsempfehlungen für den Tag, die der Chip über Nacht für sie gemessen hatte und nun herunterratterte.

Eilig schlang sie den letzten Bissen hinunter und bereitete sich auf den Tag vor.