»DER SCHWARZE SCHWAN
hat meine Sicht auf die Welt verändert.«
Daniel Kahneman, Nobelpreisträger für Ökonomie
»Ein Meisterwerk.«
Chris Anderson, Wired
»Brillant.«
Niall Ferguson, Los Angeles Times
»Höchst unterhaltsam und spannend.«
Financial Times
»(Taleb ist) tatsächlich ein Philosoph … Jemand, der in der Lage ist,
unser Weltbild durch die Kraft seiner Ideen zu verändern.«
GQ
»Gelehrt und anregend … ein Lektüreschatz
mit einer bedeutenden Botschaft.«
Business Week
»Ein brillant geschriebenes Buch über den Unsinn
von Wirtschaftsprognosen.«
Manager Magazin
»Ein Klassiker.«
Süddeutsche Zeitung
Nassim Nicholas Taleb
Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse
Aus dem Englischen
von Ingrid Proß-Gill
Der vorliegende Band ist die erste deutsche Gesamtausgabe des bisher in zwei Bänden vorliegenden Werks Der Schwarze Schwan – Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse und dem Postscript Essay Konsequenzen aus der Krise. Die Ausgabe wurde vollständig durchgesehen und bezieht sich auf die 2010 erschienene Second Edition der amerikanischen Originalausgabe, die unter dem Titel The Black Swan. The Impact of the Highly Improbable 2007 erstmals bei Random House, einem Verlag der Random House, Inc., New York erschien.
Mit Vorwort des Autors zur deutschen Gesamtausgabe.
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Copyright der Originalausgabe © 2007, 2010 by Nassim Nicholas Taleb Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Gesetzt aus der Sabon von Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-28177-9
V001
www.knaus-verlag.de
Benoît Mandelbrot gewidmet,
einem Griechen unter Römern
Vorwort zur neuen deutschsprachigen Ausgabe
Prolog
Über das Gefieder von Vögeln
Eine neue Art von Undankbarkeit
Das Leben ist sehr ungewöhnlich
Wo die Schwarzen Schwäne herkommen
Zu langweilig, um darüber zu schreiben
Resümee
Teil 1 Umberto Ecos Antibibliothek Oder: Unsere Suche nach Bestätigung
Kapitel I Lehrjahre eines empirischen Skeptikers
Anatomie eines Schwarzen Schwans
Die Geschichte und das Triplett der Opazität
Cluster
Fast acht Pfund später
Kapitel II Yevgenias Schwarzer Schwan
Kapitel III Spekulanten und Prostituierte
Der beste (schlechteste) Ratschlag
Hüten Sie sich vor dem Skalierbaren!
Skalierbarkeit und Globalisierung
Kapitel IV Tausendundein Tag Oder: Bloß kein Dummkopf sein!
Was wir vom Truthahn lernen können
Das Problem des Schwarzen Schwans: Eine kurze geschichtliche Betrachtung
Kapitel V Der unstillbare Durst nach Bestätigung
Negativer Empirismus
Kapitel VI Die narrative Verzerrung
Weshalb ich nichts von Ursachen halte
Gespaltene Gehirne
Erinnerung an Dinge, die noch nicht ganz vorbei sind
Sich mit unendlicher Genauigkeit irren
Sensationen und der Schwarze Schwan
Die Abkürzungen
Kapitel VII Leben im Vorzimmer der Hoffnung
Die Grausamkeit der Kollegen
El desierto de los tártaros
Kapitel VIII Das nie versagende Glück des Giacomo Casanova: Das Problem der stummen Zeugnisse
Die Geschichte von den ertrunkenen Anbetern
Der Friedhof der Buchstaben
Fitnesstraining für Ratten
Was wir sehen und was nicht
Die Teflonschicht des Giacomo Casanova
Ich bin ein Schwarzer Schwan: Der anthropische Fehler
Kapitel IX Die ludische Verzerrung Oder: Die Unsicherheit von Nerds
Fat Tony
Mittagessen am Comer See
Zum Abschluss von Teil 1
Teil 2 Wir können einfach keine Vorhersagen machen
Kapitel X Der Skandal bei den Vorhersagen
Über die Unbestimmtheit der Zahl von Katharinas Liebhabern
Noch einmal: Blindheit gegenüber Schwarzen Schwänen
Weshalb Informationen schlecht für das Wissen sind
Das Expertenproblem: Die Tragödie des leeren Anzugs
»Abgesehen davon« war es in Ordnung
Durchqueren Sie keinen Fluss, der (im Schnitt) 1,20 Meter tief ist
Kapitel XI Auf der Suche nach Vogeldreck
Auf der Suche nach Vogeldreck
Vorhersage von Vorhersagen
Die n-te Billardkugel
Die Gläue von Smaragden
Die große Antizipationsmaschinerie
Kapitel XII Epistemokratie – ein Traum
Vergangenheit und Zukunft der Vergangenheit
Kapitel XIII Der Maler Apelles Oder: Was kann man tun, wenn man keine Vorhersagen machen kann?
Guter Rat ist überhaupt nicht teuer!
Positive Zufälle
Teil 3 Die Grauen Schwäne von Extremistan
Kapitel XIV Von Mediokristan nach Extremistan und wieder zurück
In Extremistan ist niemand sicher
Was können wir tun?
Kapitel XV Die Glockenkurve, der große intellektuelle Betrug
Gaußsche und mandelbrotsche Mathematik
Quetelets Durchschnittsmonstrum
Woher die Glockenkurve kommt
Kapitel XVI Die Ästhetik der Zufälligkeit
Der Poet des Zufalls
Die Platonität von Dreiecken
Die Logik der fraktalen Zufälligkeit (mit einer Warnung)
Noch einmal: Vorsicht vor den Vorhersagern!
Wo ist der Graue Schwan?
Kapitel XVII Lockes Verrückte Oder: Glockenkurven am falschen Ort
Es war doch nur ein Schwarzer Schwan!
Kapitel XVIII Alles Schwindel!
Mehr zur ludischen Verzerrung
Wie viele Wittgensteins können auf einem Stecknadelkopf tanzen?
Teil 4 Schluss
Kapitel XIX Halb und halb Oder: Wie man es dem Schwarzen Schwan heimzahlen kann
Wann es nicht wehtut, einen Zug zu verpassen
Schluss
Epilog Yevgenias Weiße Schwäne
Postskript Essay Konsequenzen aus der Krise
Kapitel I Weshalb die Natur das beste Vorbild ist
Über gemächliche, aber lange Spaziergänge
Robustheit und Fragilität
Eine Gesellschaft, die Fehlern gegenüber robust ist
Kapitel II Weshalb ich so viele Spaziergänge mache Oder: Wie Systeme fragil werden
Noch ein paar Hanteln
Kapitel III Margaritas ante porcos
Die Hauptfehler beim Verstehen meiner Botschaft
Kapitel IV Asperger und der ontologische Schwarze Schwan
Asperger-Wahrscheinlichkeit
Blindheit gegenüber der Zukunft
Wahrscheinlichkeit muss subjektiv sein
Kapitel V (Vielleicht) Das nützlichste Problem in der Geschichte der modernen Philosophie
Leben in zwei Dimensionen
Die Abhängigkeit von Theorien über seltene Ereignisse
Falsche Vorhersagen über die Wahrscheinlichkeit einzelner Ereignisse
Das Induktions- und Verursachungsproblem in der komplexen Domäne
Kapitel VI Der vierte Quadrant, die Lösung für das nützlichste aller Probleme
Entscheidungen
Der vierte Quadrant, eine Karte
Kapitel VII Was wir mit dem vierten Quadranten machen können
Nicht die falsche Karte benutzen: Das Konzept der Iatrogenie
Phronetische Regeln: Was sollte man im wirklichen Leben tun (oder nicht tun), um den vierten Quadranten abzumildern, wenn man die Hantel-Strategie nicht einsetzen kann?
Kapitel VIII Zehn Prinzipien für Robustheit von Gesellschaften gegenüber Schwarzen Schwänen
Kapitel IX Amor fati: Wie man unzerstörbar wird
Dank
Glossar
Anmerkungen
Bibliografie
Register
Die Infographik auf den ersten Seiten des Buches ist ein Versuch, die Genealogie des Incerto darzustellen und eine kulturelle Karte dafür zu präsentieren. Warum gerade diese Form?
Als ich 50 wurde, begann ich zwei neue Aktivitäten: Gewichtheben und eine (gewissermaßen) ernsthafte wissenschaftliche Karriere im Bereich der angewandten Wahrscheinlichkeits- und Risikotheorie. Bis dahin hatte ich die akademische Welt nur ab und zu besucht und dabei vor allem die Gelegenheit genutzt, die Ökonomen zu irritieren.
Die Akademiker verbinden die Dinge gern mit bereits existierenden Disziplinen, die sich schon mit einem bestimmten Problem befasst haben, zum einen als Anerkennung (damit sie selbst ebenfalls Anerkennung bekommen können), zum anderen, um über den Stammbaum zu zeigen, dass ihre eigenen Ideen nicht völlig verrückt sind. Akademiker sind gewöhnlich sehr um ihren Ruf besorgt und haben große Angst davor, für Spinner gehalten zu werden; sie werden zwischen der Notwendigkeit, etwas Neues zu sagen, und der Angst, sich zu weit aus der Terra cognita herauszuwagen, hin und her gerissen. Zum Glück habe ich im Incerto einen Weg gefunden, unnötige direkte Verweise auf die Forschungstraditionen außerhalb dieser Karte zu umgehen und meine Arbeit in einen akademischen Rahmen zu stellen, ohne den Text zu korrumpieren und den Leser zu langweilen. Wie? Ich habe es mir zur Mission gemacht, parallel eine technische Version des Incerto anzufertigen, indem ich meine entscheidenden Ergebnisse in Fachzeitschriften veröffentlichte und sie in einem frei erhältlichen technischen Begleiter, Silent Risk, synthetisierte. Die angewandte Wahrscheinlichkeit gefiel mir als Unterhaltung besser als Bridge am Nachmittag oder Schach; allerdings fand ich sie weniger unerbittlich. (Ich ziehe das Gewichtheben der akademischen Welt bei Weitem vor, obwohl ich mir dabei schon schlimme Rückenverletzungen zugezogen habe.)
Historisch betrachtet waren fünf Disziplinen an der Entwicklung des Themas beteiligt. Der Kreis in der Mitte zeigt, welche Forschungstraditionen mit dem Incerto im Zusammenhang stehen und welche Überschneidungen zwischen ihnen existieren. Diese Disziplinen sind: Philosophie, Mathematik, Sozialwissenschaften, Rechtstheorie und die »reale Welt« oder der Fat-Tonyismus, der natürlich durch Fat Tony und sein rigoroses, aber anti-intellektuelles Vorgehen bei Entscheidungen repräsentiert wird – man kann dies als Teil der »Entscheidungstheorie« betrachten, doch »Fat-Tonyismus« passt viel besser zu diesem Stil und den Zielen. Bei den meisten Disziplinen gibt es Unterdisziplinen, die hier mit eigenem Namen oder mit dem Namen der Person, die eine bestimmte Denkschule repräsentiert, bezeichnet werden. Der Pfeil an den Grenzen weist darauf hin, dass viele Disziplinen, Denkschulen und leider auch Unterdisziplinen überhaupt nicht miteinander reden. Damit will ich sagen, dass sie wirklich nicht das geringste Interesse aneinander haben.
Ich möchte den Leser bitten, sich die Einzelheiten auf der Karte erst anzusehen während er im Incerto liest und danach – aber nicht vorher irgendwelche Teile daraus einzeln zu betrachten! Das Incerto ist mehr wie ein GPS-System gedacht und weniger wie eine konventionelle Landkarte zu lesen.
Die Farben kennzeichnen die Disziplinen, die Kreise (oder Kästchen) zeigen die Positionen der Unterdisziplinen, und die Pfeile verweisen auf das (vollständige oder partielle) Fehlen einer Überschneidung zwischen benachbarten Einheiten. Es gibt beispielsweise Kreise, die sich nur teilweise mit einer Disziplin überschneiden. Nehmen wir die Tradition des Skeptischen Empirismus im Nordwesten. Die Werke von Montaigne lassen eine partielle Überlappung erkennen, da Montaigne dank seiner (finanziellen) Unabhängigkeit nur tangential in dieser Tradition stand; er war außerdem Stoiker – und vor allem Mensch. Seine Unabhängigkeit war größtenteils der Tatsache zuzuschreiben, dass er kein Gelehrter war, denn Gelehrte (die professionellen zumal) neigen dazu, beharrlich in den bereits existierenden Disziplinen zu bleiben. Professionellen Gelehrten fehlt es an dem Abenteuergeist von uns Menschen – daher das niedrige Niveau der Gelehrsamkeit, das man bei den Herren Professoren Doktoren auf der ganzen Welt findet. Der Leser kann interdisziplinäre Aktivitäten mit der Vertragstheorie erkennen, die die Ethik, das Recht, die Versicherungen und die Psychologie der Unsicherheit überspannten – doch das ist selten.
Zunächst möchte ich dieses Schubladendenken hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit geschichtlich verdeutlichen. Wenn man einen Mathematiker fragt – oder auch einen Durchschnittsmenschen, der einige Zeit damit verbracht hat, den Vorträgen seiner Professoren über die Ursprünge der Wahrscheinlichkeit zu lauschen –, wird er sagen, alles habe in der Mathematik angefangen. Angeblich waren die Alten dafür noch nicht hoch genug entwickelt. Es wird jedoch in den verschiedenen Teilen des Incerto mehrfach erläutert, dass die Alten sich möglicherweise deshalb nicht für die Wahrscheinlichkeitsrechnung interessierten, weil es ihnen mehr um das umfassendere Problem der Entscheidungsfindung unter der Opazität und die Entwicklung der Heuristik und des »Aberglaubens« als entsprechende Werkzeuge ging. In Wider die Götter wiederholt (und propagiert) Peter Bernstein die irrtümliche Ansicht, dass die Araber zwar die Algebra entwickelten, die Wahrscheinlichkeit aber nicht entdeckten. Das ist nicht wahr. In der Levante benutzten die Menschen während der Ära der Omaijaden, rund acht Jahrhunderte vor Fermat, weit entwickelte mathematische Methoden, um Botschaften auf Grundlage der Häufigkeit von Wörtern zu entschlüsseln. Es hat sich herausgestellt, dass Al-Kindi (Alkindus) in einer seiner Abhandlungen (Fi fakk rassal at-tashfir, was sich am besten mit »Die Wissenschaft der Wahrscheinlichkeit« übersetzen lässt) die Wahrscheinlichkeit erörtert und uns eine ausgefeilte numerische Vorgehensweise für Häufigkeiten liefert.
Im Mittelalter richtete man sein Augenmerk ganz einfach auf die größere Kugel und unterlag der ludischen Verzerrung für gewöhnlich nicht. Die Menschen damals mussten raffiniert sein, da es in ihrer Welt von täglichen Gefahren wimmelte; für Messungen interessierten sie sich schlichtweg nicht, da sie keinen zwingenden Nutzen darin sahen. Wenn sie die Unsicherheit verstanden, konnten sie überleben, verhungerten nicht und schlugen den Roulettetisch in Las Vegas nicht durch eine Reihe gut definierter Wetten. Die Messungen stellen auch heute nur eine sehr kleine Untermenge der probabilistischen Unsicherheit dar – die strengen Mathematiker setzen sich eher mit »Grenzen« als mit der genauen Wahrscheinlichkeit auseinander und machen diesen Gegenstand daher zu einer Form des qualitativen Rationalismus. Es ist wichtiger zu wissen, ob eine Domäne einen Fat Tail hat, als probabilistische Schätzungen zu produzieren.
Jetzt zur Interaktion zwischen den Disziplinen. Lassen Sie uns mit dem am wenigsten Offensichtlichen beginnen. Wer kannte sich mit den Schattierungen der Wahrscheinlichkeit am besten aus? Nicht die Mathematiker. Auch nicht die Sozialwissenschaftler. Und auch nicht so recht die Philosophen. Nein – die Juristen! Ein großer Teil der Rechtstheorie ist dazu gedacht, die Unsicherheit und die Auswirkungen der Zufälligkeit auf konkrete und allgemeine Vertreter zu mildern. Sie verfügten über hoch entwickelte Methoden und eine gesunde Auffassung bezüglich dieses Problems. So hatte Pierre de Jean Olivi, ein scholastischer Denker, ein beeindruckend detailliertes Verständnis von der Zufälligkeit und Risikoverteilung, welches man in der heutigen Zeit kaum noch findet. Risikoverteilung? Das führt uns zur Vertragstheorie.
Weshalb zur Vertragstheorie? Weil sie Schutz vor Schwarzen Schwänen bietet.
Es gibt zwei Möglichkeiten, mit Unsicherheit umzugehen: Man kann versuchen, die Welt besser zu verstehen in einer Weise, die es erlaubt, präzise Vorhersagen zu formulieren; man kann aber auch versuchen, dafür zu sorgen, dass man keinen Schaden durch Dinge erleidet, die man nicht versteht.
Mit der ersten Vorgehensweise haben wir kaum etwas erreicht, vielleicht sogar gravierende Verschlechterungen erfahren, doch mit dem zweiten Ansatz sind uns außerordentliche Sprünge gelungen. Inwiefern? Hier kommen die Rechts- und die Vertragstheorie ins Spiel. Beachten Sie, in der zweiten Vorgehensweise verbirgt sich die Antifragilität: wie man damit umgeht, etwas ausgesetzt zu sein, statt sich auf dieses Etwas zu konzentrieren. Wenn man keine Vorhersagen machen kann, ist es besser, von zufälligen Ereignissen zu profitieren und den Zufall als Treibstoff für Verbesserungen zu nutzen. So ermöglicht die Abbildung der Fragilität die Schaffung von Verträgen, welche die Fragilität aufheben.
Ich war 21 Jahre lang Optionshändler (Optionen werden oft als »Derivate« bezeichnet). Mein Fachgebiet, die Optionstheorie, bei der man Strukturen entwickelt, die unter Bedingungen von Unsicherheit einen gewissen Profit bringen, liegt der Vertragstheorie am nächsten. »Tail-Ereignisse« verstehen Sie nicht? Machen Sie sich nichts vor! Reduzieren Sie das Ausgesetztsein, indem Sie sicherstellen, dass Sie einen Vertrag dafür haben. Und schlaue Firmen wussten, dass es besser war, für jeden Mathematiker drei Anwälte zu beschäftigen (oder zu benutzen) – durch Anwälte erhält man nämlich Schutz, während man durch Mathematiker leicht in die Luft fliegt.
Ich hoffe, der Leser wird bemerken, dass das Verstehen von Zufälligkeit nicht etwa heißt, Fat Tails zu verstehen. Zwischen dem skeptischen Empirismus und der Mathematik der großen Abweichungen sind keine Überlappungen zu erkennen. Es gibt einen technischen Aspekt, der nicht innerhalb des Incerto selbst entwickelt wird, sondern durch parallele Forschung: Nicht einmal bei der sogenannten Theorie der großen Abweichungen in der Mathematik gibt es Überschneidungen mit den durch die Cramér-Bedingung verursachten Fat Tails.
Auch zwischen der »Tradition der Heuristik und Bias« in der Psychologie und der Entscheidungstheorie mit den Pionieren Kahneman und Tversky und den Fat Tails gibt es keine Überlappung, was eine Tragödie ist: Viele Forschungsarbeiten schrecken die Leute massiv davon ab, sich wegen der Fat Tails Sorgen zu machen – doch, bemerkenswerterweise, erklären die ursprünglichen Kahneman-Tversky-Arbeiten und nachfolgende Forschungen dieser Art, dass Menschen, die Verzerrungen unterliegen, die Tails unterschätzen, gerade weil sie Zufälligkeit und Selbstüberschätzung unterschätzen, was uns in den Tails dann um die Ohren fliegt. Genauso wie Ökonomen, die von den Fat Tails zwar wissen, sie aber nicht verstehen, enorme inferentielle Fehler unterlaufen. Manche Psychologen finden es leider irrational, dass wir mehr Angst vor Flugzeugabstürzen haben als vor Autounfällen. Das ist ja berechtigt. Sie finden es aber auch irrational, dass Ebola uns stärker beunruhigt als Stürze von Leitern, die weit mehr Todesopfer gefordert haben als Ebola. Doch Ebola ist multiplikativ: Im Zeitalter der Konnektivität besteht eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer sehr großen unkontrollierbaren Ausbreitung kommt. Stürze von Leitern dagegen gehören zu Mediokristan. Sie können die europäische Population nicht dezimieren. Irrational sind folglich die Psychologen, die die falschen Modelle verwenden, nicht die Menschen.
Logik behandelt die Verwechslung des Fehlens von Beweisen mit Beweisen für das Fehlen – dem Kern der popperschen Asymmetrie. Keine Arbeit wurde bisher unternommen zu zeigen, dass der Unterschied, mathematisch betrachtet, zwischen dem Fehlen von Beweisen und Beweisen für das Fehlen in Extremistan größer ist. Es braucht wohl nicht gesagt zu werden, dass gerade Psychologen der Ungewissheit, die sich nicht auf die Fat Tails konzentrieren, typischerweise diese beiden verwechseln – und verheerende analytische Fehler machen.
Außerdem benötigt man unter Fat Tails mehr Daten, um erkennen zu können, was vor sich geht, und uns mit dem Problem des Skeptizismus verbindet. Das Gesetz der großen Zahlen ist das mathematische Pendant zum Induktionsproblem der Philosophie, doch in der Tradition gibt es keine Verbindung zwischen beiden.
Lassen Sie uns abschließend noch den eingehend bearbeiteten Punkt des Zusammenhangs von Statistik und skeptischer Philosophie in Narren des Zufalls betrachten. Im Gegensatz zu dem, was wir nach Ansicht der Vertreter der »großen Daten« denken sollen, gibt es die Statistik, um einen rationalen Mechanismus für die Beseitigung von Gewissheiten bereitzustellen – und um zu verhindern, dass wir uns vom Zufall narren lassen, indem wir an zufällige Zusammenhänge und falsche Verbindungen glauben. Sie ist von Anfang bis Ende die Anwendung des skeptischen Empirismus auf weltliche Dinge – und daraus folgende.
Ich danke den Lesern für ihr Interesse und wünsche mir, dass die Karte nicht jenen Nervenkitzel beseitigen wird, der entsteht, wenn wir uns gelegentlich im Bereich der Ungewissheit verloren fühlen – der Mutter aller Disziplinen aus meiner Sicht.
Nassim Nicholas Taleb im Sommer 2015
Bevor Australien entdeckt wurde, waren die Menschen in der Alten Welt überzeugt, alle Schwäne seien weiß. Diese Überzeugung war unanfechtbar, da sie durch die empirische Evidenz anscheinend völlig bestätigt wurde. Als der erste schwarze Schwan gesichtet wurde, mag das eine interessante Überraschung für ein paar Ornithologen (und andere Leute, denen die Farbe von Vögeln extrem wichtig war) gewesen sein, doch dort liegt die Bedeutung der Geschichte nicht. Sie veranschaulicht eine schwerwiegende Beschränkung bei unserem Lernen durch Beobachtung oder Erfahrung und die Zerbrechlichkeit unseres Wissens. Eine einzige Beobachtung kann eine allgemeine Feststellung, die aus Jahrtausenden von bestätigenden Sichtungen von Millionen weißer Schwäne abgeleitet wurde, ungültig machen. Alles, was dafür nötig ist, ist ein einziger (und, wie ich gehört habe, ausgesprochen hässlicher) schwarzer Vogel.1
Ich möchte einen Schritt über diese philosophisch-logische Frage hinausgehen und in eine empirische Realität vorstoßen, von der ich seit meiner Kindheit besessen bin. Was wir hier einen Schwarzen Schwan nennen (mit einem Großbuchstaben am Anfang), ist ein Ereignis mit den drei folgenden Attributen.
Es ist erstens ein Ausreißer – es liegt außerhalb des Bereichs der regulären Erwartungen, da nichts in der Vergangenheit überzeugend auf seine Möglichkeit verweisen kann. Es hat zweitens enorme Auswirkungen. Drittens bringt die menschliche Natur uns trotz seines Status als Ausreißer dazu, im Nachhinein Erklärungen für sein Eintreten zu konstruieren, um es erklärbar und vorhersagbar zu machen.
Die drei Attribute sind also Seltenheit, massive Auswirkungen und Vorhersagbarkeit im Rückblick (allerdings nicht in der Vorausschau).2 Eine kleine Zahl Schwarzer Schwäne erklärt so ziemlich alles in unserer Welt, vom Erfolg von Ideen und Religionen über die Dynamik geschichtlicher Ereignisse bis zu Elementen unseres persönlichen Lebens. Seit wir vor rund 10 000 Jahren das Pleistozän hinter uns gelassen haben, hat der Effekt dieser Schwarzen Schwäne sich verstärkt. Er hat während der industriellen Revolution begonnen, sich zu beschleunigen, da die Welt damals komplizierter wurde; alltägliche Ereignisse – diejenigen, mit denen wir uns befassen, über die wir sprechen und die wir nach der Lektüre der Zeitungen vorherzusagen versuchen – haben dagegen immer mehr an Bedeutung verloren.
Denken Sie nur daran, wie wenig unser Verständnis der Welt am Vorabend der Ereignisse des Jahres 1914 uns dabei geholfen hätte, zu erraten, was als Nächstes passieren würde! (Sie dürfen natürlich nicht mogeln und die Erklärungen benutzen, die Ihnen Ihr langweiliger Lehrer in der Schule eingetrichtert hat!) Wie steht es mit dem Aufstieg von Hitler und dem nachfolgenden Krieg? Und mit dem jähen Zerfall des Ostblocks? Mit dem Aufkommen des islamischen Fundamentalismus? Der Verbreitung des Internets? Dem Zusammenbruch des Marktes im Jahre 1987 (und der unerwarteteren Erholung)? Fimmel, Epidemien, die Mode, Ideen, die Entstehung von Gattungen und Schulen in der Kunst – all das erfolgt nach der Dynamik der Schwarzen Schwäne. Ich könnte hier so ziemlich alles in unserer Umgebung, was von Bedeutung ist, anführen.
Die Kombination von geringer Vorhersagbarkeit und starken Auswirkungen macht den Schwarzen Schwan zu einem großen Rätsel, doch auch das ist noch nicht das Kernthema dieses Buchs. Es kommt nämlich hinzu, dass wir dazu neigen, so zu handeln, als würde dieses Phänomen gar nicht existieren! Mit »wir« meine ich nicht nur Sie, Ihren Cousin Robert und mich selbst, sondern so ziemlich alle »Sozialwissenschaftler«, die seit über einem Jahrhundert von der falschen Überzeugung ausgehen, sie könnten die Unsicherheit mit ihren Tools messen. Die Anwendung der Wissenschaften der Ungewissheit auf Probleme der realen Welt hatte nämlich lächerliche Auswirkungen; ich durfte sie in der Finanzwelt und der Wirtschaft selbst erleben. Fragen Sie Ihren Portfoliomanager doch mal, wie er »Risiko« definiert – er wird Ihnen sehr wahrscheinlich eine Messgröße präsentieren, die die Möglichkeit Schwarzer Schwäne ausschließt; man hat für die Schätzung des Gesamtrisikos also keinen besseren prädiktiven Wert als die Astrologie (wir werden noch sehen, wie der intellektuelle Betrug durch die Mathematik verbrämt wird). Dieses Problem ist bei sozialen Dingen sehr verbreitet.
Bei der zentralen Idee in diesem Buch geht es um unsere Blindheit gegenüber dem Zufall, insbesondere gegenüber großen Abweichungen: Wieso sehen wir – Wissenschaftler oder nicht, Koryphäen oder Normalbürger – eher die Cent- als die Dollarbeträge? Weshalb konzentrieren wir uns weiter auf die Kleinigkeiten, nicht auf die möglichen großen bedeutungsvollen Ereignisse, trotz der offensichtlichen Beweise für ihren starken Einfluss? Und, falls Sie meinem Gedankengang folgen: Weshalb verringert das Lesen der Zeitung unser Wissen über die Welt sogar?
Es ist leicht zu erkennen, dass das Leben der kumulative Effekt einer Handvoll signifikanter Erschütterungen ist. Wenn man in seinem Lehnstuhl (oder auf einem Barhocker) sitzt, ist es nicht besonders schwierig, die Rolle der Schwarzen Schwäne zu erkennen. Machen Sie doch mal folgende Übung: Betrachten Sie Ihr eigenes Dasein. Zählen Sie die signifikanten Ereignisse, die technologischen Veränderungen und die Erfindungen, zu denen es seit Ihrer Geburt in Ihrer Umgebung gekommen ist, und vergleichen Sie sie mit dem, was vor ihrem Auftreten erwartet wurde. Wie viele von ihnen waren so geplant? Sehen Sie sich Ihr eigenes Leben an, Ihre Berufswahl, die Begegnung mit Ihrem Lebenspartner, Ihr Exil aus Ihrem Herkunftsland, den Verrat, dem Sie ausgesetzt waren, Ihren plötzlichen Aufstieg zum Wohlstand oder Ihre schlagartige Verarmung. Wie oft sind diese Dinge planmäßig eingetreten?
Die Logik des Schwarzen Schwans macht das, was wir nicht wissen, viel bedeutungsvoller als das, was wir wissen. Schwarze Schwäne werden nämlich oft dadurch verursacht und verschlimmert, dass sie unerwartet kommen.
Denken Sie an den Terrorangriff in den USA am 11. September 2001: Wenn die Gefahr am 10. September vorstellbar gewesen wäre, hätte dieser Angriff nicht stattgefunden. Wenn man so eine Möglichkeit der Aufmerksamkeit für wert erachtet hätte, hätten Kampfflugzeuge die Twin Towers umkreist, alle Passagierflugzeuge hätten verschlossene, kugelsichere Cockpittüren gehabt, und der Angriff hätte nicht stattgefunden – Punktum! Dann hätte sich vielleicht etwas anderes ereignet. Was? Das weiß ich nicht.
Ist es nicht erstaunlich, dass ein Ereignis gerade deshalb eintreten kann, weil niemand davon ausgeht, dass es passieren könnte? Wie können wir uns gegen so etwas verteidigen? Alles, was man erfährt (beispielsweise, dass New York für Terroristen ein leichtes Ziel ist), kann bedeutungslos werden, wenn der Feind weiß, dass man es weiß. Bei solchen strategischen Spielen kann das, was man weiß, seltsamerweise wirklich bedeutungslos sein.
Das gilt auch für die gesamte Wirtschaft. Denken Sie nur an das »Geheimrezept« für durchschlagenden Erfolg in der Gastronomie. Wenn es bekannt und offensichtlich wäre, hätte irgendjemand die Idee schon gehabt und umgesetzt, und sie wäre Allgemeingut geworden. Die nächste grandiose Idee in der Gastronomie muss etwas sein, was die derzeitige Population der Restaurantbetreiber sich nicht leicht vorstellen kann. Sie muss ein gutes Stück von den Erwartungen entfernt sein. Je unerwarteter der Erfolg eines derartigen Projekts ist, desto kleiner ist die Zahl der Konkurrenten und desto erfolgreicher ist der Unternehmer, der es verwirklicht. Für das Schuh- und Buchgeschäft gilt das Gleiche – überhaupt für alle Branchen. Und für wissenschaftliche Theorien auch – niemand ist daran interessiert, sich Banalitäten anzuhören. Wie stark ein Unterfangen sich auszahlt, ist im Allgemeinen umgekehrt proportional zu dem, was man davon erwartet.
Nehmen wir den Tsunami, der im Dezember 2004 die Pazifikregion überrollte. Wäre er erwartet worden, hätte er keinen so immensen Schaden angerichtet – die betroffenen Gebiete wären nicht so dicht bevölkert gewesen, und man hätte ein Frühwarnsystem eingerichtet. Was wir wissen, kann uns nicht wirklich verletzen.
Dass wir Ausreißer nicht vorhersagen können, bedeutet angesichts ihres großen Anteils an der Dynamik der Ereignisse, dass wir den Lauf der Geschichte nicht vorhersagen können.
Wir verhalten uns aber so, als könnten wir geschichtliche Ereignisse vorhersagen oder, was noch schlimmer ist, als könnten wir den Lauf der Geschichte ändern. Wir produzieren Projektionen für die Ölpreise und die Defizite bei der Sozialversicherung, die sich über 30 Jahre erstrecken, ohne zu erkennen, dass wir nicht mal die Entwicklung im nächsten Sommer vorhersagen können. Die Summe unserer Fehler bei der Vorhersage politischer und wirtschaftlicher Ereignisse ist so gigantisch, dass ich mich beim Blick darauf immer kneifen muss, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träume. Das Überraschende ist nicht das Ausmaß unserer Fehler bei den Vorhersagen, sondern dass wir uns dessen überhaupt nicht bewusst sind. Wenn es um tödliche Konflikte geht, ist das noch viel beunruhigender: Kriege sind völlig unvorhersehbar (und wir wissen das nicht). Da wir die Kausalketten zwischen Politik und Handlungen nicht verstehen, können wir aufgrund unserer aggressiven Ignoranz leicht Schwarze Schwäne auslösen – wie Kinder, die mit einem Chemiebaukasten spielen.
Dass wir in Umgebungen, in denen es zu Schwarzen Schwänen kommen kann, keine Vorhersagen machen können und das nicht einmal erkennen, bedeutet, dass gewisse »Experten« in Wirklichkeit gar keine Experten sind, auch wenn sie das glauben. Wenn man sich ihre Ergebnisse ansieht, kann man nur den Schluss ziehen, dass sie auch nicht mehr über ihr Fachgebiet wissen als die Gesamtbevölkerung, sondern nur viel bessere Erzähler sind – oder, was noch schlimmer ist, uns meisterlich mit komplizierten mathematischen Modellen einnebeln. Außerdem tragen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit Krawatten.
Da Schwarze Schwäne sich nicht vorhersagen lassen, müssen wir uns auf ihre Existenz einstellen (statt so naiv zu sein, sie vorhersagen zu wollen). Wenn wir uns auf das Antiwissen konzentrieren, auf das, was wir nicht wissen, können wir wirklich viel tun. Wir können uns beispielsweise möglichst stark Schwarzen Schwänen vom positiven Typ aussetzen, die günstige Umstände bringen. Auf manchen Gebieten – wie bei den wissenschaftlichen Entdeckungen und der Investition von Risikokapital – zahlt das, was wir nicht wissen, sich unverhältnismäßig stark aus, da wir dort durch ein seltenes Ereignis gewöhnlich wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen haben. Wir werden noch sehen, dass – entgegen den gängigen Annahmen im Bereich der Sozialwissenschaften – kaum eine bemerkenswerte Entdeckung oder Technologie aus Absicht und Planung resultierte; die weitaus meisten waren schlicht Schwarze Schwäne. Entdecker und Unternehmer sollten bei ihrer Strategie daher weniger auf Top-down-Planung setzen, sondern sich auf maximales Herumprobieren und das Erkennen der Chancen, die sich ihnen bieten, konzentrieren. Ich stimme nicht mit den Anhängern von Marx und Adam Smith überein: Freie Märkte funktionieren, weil sie es den Leuten erlauben, dank aggressivem Trial and Error Glück zu haben, nicht, weil sie ihnen Belohnungen oder »Anreize« für ihre Fähigkeiten bieten. Die beste Strategie besteht also darin, möglichst viel auszuprobieren und möglichst viele Chancen, aus denen sich Schwarze Schwäne ergeben könnten, zu ergreifen.
Leider konzentrieren wir uns zu stark auf das, was wir wissen: Wir neigen dazu, nicht das Allgemeine zu lernen, sondern das Präzise. Und das ist eine große Behinderung.
Was haben die Leute denn aus den Ereignissen am 11. September gelernt? Dass manche Ereignisse aufgrund ihrer Dynamik größtenteils außerhalb des Rahmens der Vorhersagbarkeit liegen? Nein. Dass die traditionellen Ansichten einen eingebauten Mangel haben? Nein. Was haben sie daraus gelernt? Präzise Regeln dafür, islamische Prototerroristen und große Gebäude zu meiden. Ich werde immer wieder darauf hingewiesen, dass es doch wichtig für uns sei, praktisch zu denken und greifbare Maßnahmen umzusetzen, statt über das Wissen zu »theoretisieren«. Die Geschichte der Maginot-Linie zeigt, dass wir darauf konditioniert sind, spezifisch zu sein. Nach dem Ersten Weltkrieg errichteten die Franzosen entlang dem Weg, auf dem die Deutschen in ihr Land eingefallen waren, ein Befestigungssystem, um zu verhindern, dass sich so etwas wiederholte. Doch Hitler umging es (beinahe) mühelos. Die Franzosen hatten sich sehr eingehend mit der Geschichte befasst, aber leider mit zu viel Präzision gelernt. Sie waren zu praxisbezogen und übermäßig auf ihre eigene Sicherheit fokussiert.
Wir lernen nicht spontan, dass wir nicht lernen, dass wir nicht lernen. Das Problem liegt in der Struktur unseres Verstands: Wir lernen keine Regeln, sondern nur Fakten. Wir sind offenbar nicht gut darin, uns Metaregeln (wie die Regel, dass wir dazu neigen, keine Regeln zu lernen) anzueignen. Wir verachten das Abstrakte, und zwar leidenschaftlich.
Weshalb ist das so? Hier muss ich, wie auch sonst in diesem Buch, die traditionellen Ansichten auf den Kopf stellen und zeigen, dass sie auf unsere moderne, komplexe und zunehmend rekursive Umgebung einfach nicht anwendbar sind.3
Es gibt jedoch eine tiefere Frage: Wofür ist unser Verstand gemacht? Es sieht so aus, als hätten wir die falsche Bedienungsanleitung. Unser Verstand ist offenbar nicht für das Denken und die Introspektion gemacht. Sonst wären die Dinge heute für uns einfacher, aber dann wären wir gar nicht hier, und ich könnte nicht darüber sprechen – mein introspektiver und intensiv nachdenkender Vorfahr, der nicht viel auf die Tatsachen gab, wäre dann nämlich von einem Löwen gefressen worden, während sein nicht denkender, aber schneller reagierender Cousin die Beine in die Hand genommen und Schutz gesucht hätte. Denken ist ja schließlich eine zeitraubende Aktivität und generell eine große Energieverschwendung; unsere Vorfahren brachten über 100 Millionen Jahre als nicht denkende Säugetiere zu, und wir haben unseren Verstand in der Millisekunde unserer Geschichte, in der wir ihn benutzt haben, für Themen eingesetzt, die zu sehr am Rande lagen, um von Bedeutung zu sein. Die Evidenz zeigt, dass wir viel weniger denken, als wir glauben – außer natürlich, wenn wir darüber nachdenken.
Es stimmt mich sehr traurig, an die Menschen zu denken, die von der Geschichte schlecht behandelt wurden. Die Poètes maudits, wie Edgar Allan Poe und Arthur Rimbaud, wurden von der Gesellschaft verachtet, später aber verehrt und den Schulkindern eingetrichtert. (Es gibt sogar Schulen, die nach Schulabbrechern benannt wurden.) Diese Anerkennung kam leider ein bisschen zu spät, um den Dichtern einen Serotoninstoß zu verschaffen oder ihrem Liebesleben auf der Erde einen Schub zu geben. Manche Helden wurden allerdings noch schlechter behandelt – die ganz traurige Kategorie der Menschen, die uns das Leben gerettet oder uns vor Katastrophen bewahrt haben, ohne dass wir das wissen. Sie haben keine Spuren hinterlassen und wussten nicht einmal, was sie vollbrachten. Wir erinnern uns an die Märtyrer, die für eine Sache gestorben sind, von der wir wissen, aber nie an diejenigen, deren Beitrag genauso effektiv war, uns aber nicht bekannt ist – gerade weil sie Erfolg hatten. Angesichts dieser anderen Art von Undankbarkeit verblasst unsere Undankbarkeit gegenüber den Poètes maudits völlig. Hier handelt es sich nämlich um eine viel schlimmere Form: das Gefühl der Nutzlosigkeit seitens des verkannten Helden. Das möchte ich durch ein Gedankenexperiment verdeutlichen.
Lassen Sie uns annehmen, dass es einem Gesetzgeber mit Mut, Einfluss, Verstand, Weitblick und Beharrlichkeit gelingt, ein Gesetz zu erlassen, das am 10. September 2001 in Kraft tritt. Für alle Cockpits sind jetzt kugelsichere Türen vorgeschrieben (was die Fluggesellschaften, die ohnehin zu kämpfen haben, eine ziemliche Stange Geld kosten wird), die ständig verschlossen zu halten sind – für den Fall, dass Terroristen beschließen, das World Trade Center in New York mit Flugzeugen anzugreifen. Ich weiß, dass das verrückt ist, aber es ist ja nur ein Gedankenexperiment (mir ist bewusst, dass es einen Gesetzgeber mit Mut, Einfluss, Verstand, Weitblick und Beharrlichkeit vielleicht gar nicht gibt; darum geht es mir hier doch). Beim Personal der Fluggesellschaften stößt dieses Gesetz nicht auf Begeisterung, da es ihm die Arbeit erschwert. Es hätte das, was dann am 11. September geschah, aber mit Sicherheit verhindert.
Der Person, die die Schlösser an den Cockpittüren durchsetzte, werden keine Denkmäler auf öffentlichen Plätzen errichtet, und ihr Verdienst wird auch nicht in ihrem Nachruf erwähnt: »Joe Smith, der dazu beigetragen hat, die Katastrophe vom 11. September zu verhindern, ist einem Leberleiden erlegen.« Die Öffentlichkeit, die ja sehen wird, dass seine Maßnahme völlig überflüssig und reine Geld- und Energieverschwendung war, könnte ihn – mit massiver Unterstützung der Piloten – sogar aus seinem Amt jagen. Vox clamantis in deserto. Er wird deprimiert abtreten, mit dem Gefühl, völlig versagt zu haben, und wird unter dem Eindruck sterben, nichts Nützliches getan zu haben. Ich würde ja gern zu seiner Beerdigung gehen, liebe Leser, aber ich kann ihn nicht finden. Dabei kann Anerkennung so viel Auftrieb geben. Sie können mir glauben: Selbst diejenigen, die ehrlich sagen, sie würden nichts von Anerkennung halten und die Arbeit von ihren Früchten unterscheiden, bekommen davon einen Serotoninstoß. So schlecht wird der stille Held behandelt: Nicht einmal sein eigenes Hormonsystem liefert ihm eine Belohnung!
Denken Sie jetzt noch einmal an die Ereignisse vom 11. September 2001. Wer heimste danach die Anerkennung ein? Die Leute, die man im Fernsehen bei der Vollbringung heroischer Taten sah, und diejenigen, die sich bemühten, dort den Eindruck zu erwecken, sie würden heroische Taten vollbringen. Zur zweiten Kategorie gehören Menschen wie Richard Grasso, Chairman der New Yorker Aktienbörse, der »die Börse rettete« und dafür eine gigantische Prämie bekam (eine Summe, die mehreren Tausend Durchschnittsgehältern entsprach). Er brauchte nichts anderes zu tun, als vor den Fernsehkameras die Eröffnungsglocke läuten zu lassen. Wir werden noch sehen, dass das Fernsehen der Träger von Ungerechtigkeit und eine der Hauptursachen für die Blindheit gegenüber Schwarzen Schwänen ist.
Wer wird belohnt, der Notenbankchef, der eine Rezession verhindert, oder derjenige, der kommt, um die Fehler seines Vorgängers »auszubügeln«, und zufällig während einer wirtschaftlichen Erholung im Amt ist? Wer ist wertvoller, der Politiker, der einen Krieg vermeiden kann, oder derjenige, der einen neuen anfängt (und das Glück hat, ihn zu gewinnen)?
Das ist die gleiche logische Umkehrung, die wir schon beim Wert von dem, was wir nicht wissen, gesehen haben: Jeder weiß, dass wir mehr Vorbeugung als Behandlung brauchen, doch kaum jemand belohnt Vorbeugungsmaßnahmen. Wir glorifizieren jene, deren Namen in die Geschichtsbücher eingegangen sind, auf Kosten derjenigen, über die unsere Bücher schweigen. Wir sind nicht nur eine oberflächliche Rasse (das ließe sich wohl bis zu einem gewissen Grad ändern), sondern zudem eine sehr ungerechte.
In diesem Buch geht es um Ungewissheit. Für mich bedeutet das seltene Ereignis Ungewissheit. Es mag übertrieben klingen, dass wir grundsätzlich die seltenen und extremen Ereignisse untersuchen müssen, um die häufigen verstehen zu können, doch ich sehe das so: Man kann sich Phänomenen auf zwei Weisen nähern. Zum einen kann man das Außergewöhnliche ausschließen und sich auf das »Normale« konzentrieren, also »Ausreißer« beiseitelassen und sich mit den üblichen Fällen befassen. Die zweite Methode beruht auf der Überzeugung, dass man Phänomene nur verstehen kann, wenn man sich zuerst mit den Extremfällen beschäftigt – vor allem, wenn sie, wie Schwarze Schwäne, eine enorme kumulative Wirkung haben.
Das Übliche interessiert mich nicht besonders. Wenn man etwas über das Temperament, die ethischen Grundsätze und die persönliche Eleganz eines Freundes wissen möchte, muss man sich ansehen, wie er sich unter schwierigen Umständen verhält, nicht im rosigen Glanz des täglichen Lebens. Welche Gefahr ein Verbrecher darstellt, kann man nicht nur danach beurteilen, was er an einem normalen Tag tut. Die Gesundheit können wir nur verstehen, wenn wir uns auch mit schweren Krankheiten und Epidemien befassen. Das Normale ist oft ohne Bedeutung.
Großer Intellektueller Betrug