Ludwig Erhards
Soziale Marktwirtschaft
Wissenschaftliche Grundlagen
und politische Fehldeutungen
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ISBN 978-3-95768-136-2
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Umschlagentwurf: Atelier Versen, Bad Aibling
In memoriam Ludwig Erhard
Kaum jemand wird daran zweifeln wollen, dass der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft, dass Ludwig Erhard ebenso gedacht und geurteilt hat, wie es Wirtschaftswissenschaftler und Politiker heute tun. Doch das ist ein Irrtum. Erhard war weder Neoklassiker noch Neoliberaler im heutigen Sinn. Er hat anders gedacht und anders geurteilt, als es Politiker und Politikberater heute tun. Schon in der Wirtschafts- und Sozialpolitik seiner unmittelbaren Nachfolger als Bundesminister und Bundeskanzler hat Erhard einen gravierenden Bruch mit seinen politischen Vorstellungen und seiner erfolgreichen Politik gesehen: einen Rückfall in staatlichen Dirigismus und eine Rückkehr zum Interventionismus und Protektionismus einer überwunden geglaubten Zeit.
Erhards Soziale Marktwirtschaft und seine legendär gewordenen Erfolge – das „deutsche Wirtschaftswunder“ nach der Währungs- und Wirtschaftsreform 1948 und die daran anschließende Periode mit wirtschaftlicher Prosperität, Stabilität, Vollbeschäftigung und sozialer Zufriedenheit – beruhten auf dem wertorientierten Denken, das die sozialethisch orientierte politische Ökonomie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgezeichnet hat. Diesem Denkansatz gemäß war es Erhard wichtig, dass die Würde jedes Menschen gewahrt wird, und das bedeutete für ihn, dass jede Art von obrigkeitlicher Bevormundung und Gängelung unterbleiben muss. Jeder Mündige muss sein Leben in Autonomie, das heißt: selbstverantwortlich gestalten. Die Aufgabe der Wirtschaftspolitik war hiernach, günstige Bedingungen für Selbsthilfe und Selbstvorsorge zu schaffen und vor allem darauf zu achten, dass keiner aus dem Wirtschaftsgeschehen gedrängt oder ausgebeutet wird, so dass sich „Wohlstand für alle“ und stabile Strukturen einer solidarischen Gesellschaft entwickeln.
Nach Erhards Rücktritt aus der Politik erfolgte eine Abkehr von dieser anspruchsvollen Zielsetzung. Die Wirtschaftspolitik beschränkte sich auf das Ökonomische. Sie sollte mit der sogenannten Globalsteuerung die Wachstumskräfte der Wirtschaft fördern, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stärken und eine stetige Wirtschaftsentwicklung garantieren. Die Verteilung der Wirtschaftsergebnisse sollte im Rahmen einer „Konzertierten Aktion“ von Staat und Wirtschaftsverbänden geregelt werden.
Was für Erhard selbstverständliche Folge seiner Politik war – was erreicht wurde, auch wenn es Erhard nicht ausdrücklich angestrebt hatte –, wurde gesetzlich vorgegeben. Der Staat definierte fortan die wünschenswerten Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts und förderte die Wirtschaft. Doch die globale Wirtschaftslenkung funktionierte nicht in befriedigender Weise. Erst traten Preissteigerungen, dann wirtschaftliche Stagnation und hohe Arbeitslosigkeit auf. Die auf Selbstvorsorge beruhende soziale Sicherheit, deren Grundlage Vollbeschäftigung ist, wurde brüchig. Der Staat musste eingreifen, denn nur er konnte bei hoher Arbeitslosigkeit das Niveau der sozialen Leistungen garantieren und die Verteilung der sozialen Lasten auf Versicherte, Unternehmen und Steuerzahler durchsetzen.
Im Zuge dieser Entwicklung wurde mehr und mehr von den Prinzipien abgewichen, die für Erhard unverzichtbare Voraussetzungen einer Politik waren, mit der Wohlstand und soziale Sicherheit für alle geschaffen und Verteilungskämpfe vermieden werden können, unter anderem auch von Erhards Überzeugung, dass sich der Staat nicht auf Kosten zukünftiger Generationen verschulden darf und dass wirtschaftliche und soziale Fortschritte in einer Marktwirtschaft nicht durch staatliche Wirtschaftsförderungen und Subventionen angeregt werden können, sondern in erster Linie aus der Erfahrung und dem Einfallsreichtum der Wirtschaftenden selbst entstehen. Erhard hatte auf Freiheit und Selbstverantwortung vertraut, weil – wie er sagte – „die Freiheit individuelle und gesellschaftliche Kräfte freisetzt, von deren Stärke und Macht sich die Schulweisheit der Planwirtschaftler nichts träumen lässt.“ An eine Kombination von Marktwirtschaft mit globaler Wirtschaftssteuerung und sozialem Bürokratismus hatte er nie gedacht.
Im vorliegenden Buch werden die geistigen Grundlagen von Erhards Sozialer Marktwirtschaft nachgezeichnet. Es wird gezeigt, dass Erhard seine Politik als Wissenschaftler gründlich bedacht hatte und dass er sich als Politiker konsequent an seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert hat. Aus diesem Sachverhalt wird zum einen der Erfolg der Erhardschen Politik erklärt. Zum anderen wird dargelegt, dass die gegenwärtige Politik nur der altbekannte, in der Vergangenheit schon so oft gescheiterte Versuch ist, akute Probleme durch punktuelle staatliche Eingriffe zu kurieren.
Da es die Wirtschaft versteht, den Nachteilen staatlicher Interventionen einfallsreich auszuweichen, da Wirtschafts- und Sozialverbände in der staatlichen Wirtschaftsförderung und der staatlichen Sozialpolitik manchen Nutzen sehen und da es Politik und Bürokratie stets wichtig ist, möglichst alles, was geschehen kann, in Gesetzen und Verordnungen lückenlos und detailliert zu regeln, ist mit der gegenwärtigen Politik eine Tendenz zur Vervollkommnung von Wirtschaftslenkung und sozialstaatlicher Organisation entstanden. Es scheint, als könne diese Entwicklung zur Planwirtschaft nur blockiert werden, wenn die Notwendigkeit einer konzeptionellen Umorientierung der Politik begriffen und erkannt wird, dass in Erhards Sozialer Marktwirtschaft Umstände und Verhaltensweisen bedacht und beachtet wurden, die jederzeit wirksam sind und die niemals ignoriert werden dürfen.
Beim Schreiben dieses Buches haben mir viele geholfen. Namentlich zu nennen sind Dr. Herbert B. Schmidt, der Mitgründer des Wirtschaftsrates der CDU, dem ich viele Hinweise aus seiner Erfahrung mit Ludwig Erhard verdanke, sodann meine Frau, die meine Arbeit mit großer Geduld und vielen praktischen Hinweisen gefördert hat, sowie meine Töchter, die mich durch kritische Anmerkungen zu gründlicherem Nachdenken gezwungen haben. Nicht vergessen werde ich aber auch das teilnahmsvolle Engagement vieler Archivare und Bibliothekare bei meiner Suche nach verschollen geglaubten Dokumenten und vergessenen Texten. Kurz: Ich bin vielen sehr dankbar.
Hennef, im November 2014 |
Horst Friedrich Wünsche |
I.Die jahrzehntelange Banalisierung von Erhards Politik
OFFENKUNDIGE BEFUNDE
1.Das aktuelle Meinungsspektrum
a)Gegensätzliche Urteile
b)Fragwürdige Maßstäbe
c)Ausgeblendete Wirklichkeit
d)Programmierte Ratlosigkeit
e)Bigotterie und Dogmatismus
f)Sozial blindes Streben nach Wachstum
g)Gravierende Denkfehler
h)Kontraproduktive Argumentationen
2.Im Kontrast: Zentrale Punkte in Erhards Sozialer Marktwirtschaft
a)Fünf Merkposten zu Erhards politischem Denken
b)Erhards Nähe und Distanz zum Neoliberalismus
c)Erhards wirtschaftstheoretischer Ausgangspunkt
3.Eigenheiten der aktuellen Politik aus Erhards Sicht
a)Begriffsverwirrung um das Soziale
b)Aktionismus statt langfristig bedachter Politik
c)Rechtfertigung von Politikversagen
d)Hang zur Öffentlichkeitsarbeit
e)Überschätzung wissenschaftlicher Politikberatung
4.Fehleinschätzungen durch die Wissenschaft
a)Strategisch begründete Interpretationen
b)Euckens problematische Wegweisung
c)Der Gegensatz zwischen Erhard und Eucken
d)Die missratene „Aktion Soziale Marktwirtschaft“
e)Furcht vor einer Erhard-zentrierten Betrachtung
TIEFERE URSACHEN
1.Verdrängte historische Tatsachen
a)Die Phase des „Wirtschaftswunders“
b)Der Umschwung Ende der 1960er Jahre
c)Die Entwicklungstrends aus heutiger Sicht
2.Vorurteile und mangelndes Interesse
a)Skepsis und Gleichgültigkeit
b)Versagen der Forschung
c)Wortkaskaden statt Forschungsbefunden
MÖGLICHKEITEN UND FOLGEN EINER KORREKTUR
1.Aufklärung durch einen neuen Forschungsansatz
2.Perspektiven einer Revitalisierung
a)Konsequentes marktwirtschaftliches Denken
b)Fundamentale Lösungen statt Symptomtherapien
c)Ursachenadäquate Maßnahmen statt Dogmatismus
d)Politik mit Weitblick und Beharrungsvermögen
3.Die Absicht der vorliegenden Untersuchung
II.Erhards Weg in die Wissenschaft
ABSICHTEN UND ZUFÄLLIGE FÜGUNGEN
1.Biographische Ausgangspunkte
2.Erhards Studienmotive
3.Die Nürnberger Handelshochschule
a)Die Gründungsabsichten
b)Nürnberg als Refugium der historischen Schule
III.Das Wirtschaftsstudium im Zwiespalt der Denkschulen
ERSTER TEIL: WÜRDIGUNG DER HISTORISCHEN SCHULE
1.Das verbreitete Fehlurteil über die historische Schule
2.Ausgangspunkte der ethisch-historischen Forschung
a)Freiheit als Richtmaß im Wirtschaftsleben
b)Die induktive Erkenntnismethode
c)Die sozialen Erkenntnisziele
3.Verwechslung von mildtätig, sozial und sozialistisch
a)Der Verein für Socialpolitik
b)Sozialpolitik in ethischer Sicht
c)Bismarcks Sozialversicherungen
d)Sozialismus aus „kathedersozialistischer“ Sicht
ZWEITER TEIL: DER UMBRUCH VON DER ETHISCHEN ZUR MODERNEN ÖKONOMIE
1.Die Rückkehr archaischer Denkweisen
a)Die Genesis der Grenznutzenlehre
b)Die Probleme einer ethikfreien Ökonomie
2.Der Methodenstreit
a)Anlass und Ablauf
b)Hintergründe und Bewertung
c)Vermengung von Methode und Erkenntnisobjekt
3.Die Wende zur Neoklassik
a)Die neue Lehre
b)Unbeabsichtigte Auswirkungen
c)Die Erklärungsschwäche neoklassischer Modelle
4.Das untergründige Fortleben der historischen Schule
IV.Erhards Karriere als Wirtschaftswissenschaftler
AUSBILDUNG ZU SOZIALER SENSIBILITÄT
1.Das fragwürdige Erkenntnisziel der modernen Ökonomie
a)Fehlendes Verständnis für soziale Fragen
b)Erhards Suche nach den Grundlagen der Politik
2.Erhards Studienzeit
a)Ein Semester Privatwirtschaftslehre
b)Umschwenken zur Nationalökonomie
c)Soziologie, Sozial- und Gesellschaftspolitik
d)Erhards Post-Graduierten-Studium
e)Die Hyperinflation 1922/23
3.Tätigkeit am Institut für Wirtschaftsbeobachtung
4.Wissenschaftliche Politikberatung
a)Auftragsarbeiten in Lothringen
b)Die Gutachten für die „Haupttreuhandstelle Ost“
c)Das Institut für Industrieforschung
Das Arbeitsprogramm (Exposé Dr. Erhard)
d)Das Kriegsende 1945
5.Funktionen nach Kriegsende
a)Aufträge der Militärregierung in Bayern
b)Leiter einer universitären Arbeitsgruppe „Industrie“
Problemaufriss:
Der Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft:
Die Aufgaben bis zur währungspolitischen Neuordnung (Dr. Ludwig Erhard, Fürth)
c)Minister für Wirtschaft in Bayern
d)Leiter der Sonderstelle Geld und Kredit
e)Der Weg in das Bundesministerium für Wirtschaft
6.Die konzeptionell entscheidende Phase
V.Bausteine einer Sozialen Marktwirtschaft
ERHARDS AKADEMISCHE LEHRER
1.Sieben Lehrer, darunter drei Wohltäter
2.Erhards Fragestellungen
3.Das Lehrangebot
(1) Wilhelm Rieger
a)Zur Biographie
b)Das Werk
c)Der privatwirtschaftliche Denkansatz
d)Symbiose von Privat- und Volkswirtschaft
(2) Karl Theodor von Eheberg
a)Zur Biographie
b)Das Werk
c)Grundsätze einer soliden Finanzpolitik
(3) Adolf Günther
a)Zur Biographie
b)Das Werk
c)Wertorientierte politische Ökonomie
d)Die Grundzüge einer sozialen Politik
(4) Franz Oppenheimer
a)Zur Biographie
b)Das Werk
c)Oppenheimers „System der Soziologie“
d)Der liberale Sozialismus
e)Grundlinien freiheitlicher Politik
(5) Andreas Voigt
a)Zur Biographie
b)Das Werk
c)Sicherung von Wirtschaftsfrieden
(6) Fritz Schmidt
(7) Wilhelm Vershofen
a)Zur Biographie
b)Das Werk
c)Einsichten und Folgerungen
d)Erhards Verhältnis zu Vershofen
4.Die für Erhard relevanten Lehren
VI.Erhards Soziale Marktwirtschaft
ERSTER TEIL: DAS KONZEPTIONELLE GRUNDGERÜST
1.Die Marktwirtschaft
a)Die Aufgabe marktwirtschaftlicher Politik
b)Freiheitssicherung durch Wohlstand für alle
c)Sozialethik und Psychologie in Erhards Denken
2.Das Soziale
a)Vollbeschäftigung und Leistungsgerechtigkeit
b)Komplementäre Gestaltungsprinzipien
c)Steckengebliebene Reformabsichten
ZWEITER TEIL: VON DER KONZEPTION ZUR POLITIK
1.Eckpunkte einer freiheitlichen Wirtschaftspolitik
a)Marktwirtschaftliche Steuerung durch Preise
b)Die soziale Funktion des Wettbewerbs
c)Vermeidung von wirtschaftlicher Fehlsteuerung
d)Anhaltspunkte auf dem Weg zu Vollbeschäftigung
2.Ausblick
a)Erhards Standpunkt
b)Was lehrt Erhard?
Anmerkungen
Quellenverzeichnis
1.Konsultierte Archive
2.Zitierte Texte von Ludwig Erhard
3.Literaturverzeichnis
Personenregister
Viele Jahre lang galt die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland als viel versprechende Politik. Man glaubte, mit ihr könnten relativ leicht der Wohlstand des Volkes gemehrt und soziale Sicherheit garantiert werden. Vor einem Vierteljahrhundert, als die Berliner Mauer geöffnet und der Einigungsvertrag geschlossen wurde, galt sie vielen sogar als Patentrezept, mit dem im bisher sozialistischen Teil Deutschlands ohne weiteres hohes Wirtschaftswachstum erreicht, Beschäftigung und Einkommen gesichert, eine international wettbewerbsfähige Wirtschaft aufgebaut und jedem Bürger Existenzsicherheit geboten werden können.
Die großen Erwartungen, die mit dem Einheitsprozess verbunden waren, wurden enttäuscht. Aber dem Ruf der Sozialen Marktwirtschaft hat das kaum geschadet. Es war bekannt, dass die Methoden der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in Ost und West grundverschieden waren und statistischen Ausweisen ohnehin nicht getraut werden durfte. Offensichtlich war die ehemalige DDR weitaus stärker heruntergewirtschaftet, als die veröffentlichten Zahlen vermuten ließen. So wurde zwar bedauert, dass die Wirtschaftsexperten einer Fehleinschätzung erlegen waren. Aber Bevölkerung und Politiker nahmen es hin, dass der Aufholprozess der neuen Bundesländer wahrscheinlich mühsamer sein und länger dauern wird, als ursprünglich erwartet wurde.
Die Überzeugung, dass mit der Sozialen Marktwirtschaft große und auch größere Herausforderungen glänzend bewältigt werden können, blieb zunächst unerschüttert. Doch im Lauf der Zeit hat sich dieser Optimismus verflüchtigt – verständlicherweise, denn auch im dritten Jahrzehnt der deutschen Einheit gibt es noch immer keinen überzeugenden Beleg für die angenommene überlegene Leistungskraft der Sozialen Marktwirtschaft.
In ihren Berichten zum Stand der deutschen Einheit stellt die Bundesregierung zwar alljährlich fest, dass es deutliche Anzeichen für einen Aufschwung in den östlichen Bundesländern gibt. So wurde beispielsweise 2013 hervorgehoben, dass immer weniger junge Menschen von Ost nach West übersiedeln, weil sie einen Ausbildungs- oder einen Arbeitsplatz im Osten finden.1 Aber die Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer mussten und müssen dennoch fortlaufend eingestehen, dass das Hauptziel der Wirtschafts- und Sozialpolitik der 1990er Jahre noch immer nicht erreicht ist:
„Die neuen Länder sind auch heute noch durch viele gemeinsame strukturelle Merkmale und Herausforderungen gekennzeichnet, die ein noch fortbestehendes Defizit im Hinblick auf die Angleichung an die westdeutschen Bundesländer dokumentieren.“2
Im jüngsten Jahresbericht wird der Rückstand der ostdeutschen hinter den westdeutschen Regionen bei den wichtigsten Indikatoren für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit 20 bis 30 Prozent beziffert3 und festgestellt:
„Die Bilanz zeigt, dass inzwischen zahlreiche wirtschaftliche und soziale Verbesserungen erreicht werden konnten. Vor allem hinsichtlich der Lebensqualität und der Infrastruktur sind heute zwischen neuen und alten Ländern kaum mehr Unterschiede festzustellen. Indes wurden gerade in den ersten Jahren des gesellschaftlichen Umbruchs viele Erwartungen und Hoffnungen enttäuscht. Insbesondere die Arbeitslosigkeit war und ist immer noch ein drückendes Problem, obwohl sie inzwischen auch in Ostdeutschland deutlich gesunken ist. Auch die Wirtschaftsstrukturen und die damit verbundene Wirtschaftskraft unterscheiden sich in Ost- und Westdeutschland noch erheblich.“4
Das lange Zeit so unbeirrt positive Urteil über die Soziale Marktwirtschaft wurde auch durch die seit der Jahrtausendwende aufgekommenen wirtschafts-, sozial- und finanzpolitischen Schwierigkeiten erschüttert. Angesichts dieser Schwierigkeiten vermuten nun viele, dass die wirtschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen in den vergangenen Jahrzehnten stark angewachsen sind, so dass sie sich nicht mehr so, wie es früher der Fall gewesen sei, mit der Sozialen Marktwirtschaft bewältigen lassen. Immer mehr Menschen folgern daraus, dass der Staat jetzt viel entschlossener eingreifen müsse als früher – entweder, um die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft zu verbessern, oder, um die Probleme unmittelbar zu lösen, die in der Marktwirtschaft ungelöst bleiben. Freilich fragen dabei auch manche, was von einer Marktwirtschaft übrig bleibt, wenn sich der Staat in marktwirtschaftliche Prozesse einklinkt oder wenn die Marktwirtschaft für politisch festgesetzte Ziele instrumentalisiert wird. Einige verweisen zudem darauf, dass staatliche Eingriffe häufig wirkungslos und manchmal sogar die Ursache von Fehlentwicklungen waren.
Der Stand der Debatte lässt sich so zusammenfassen: Derzeit herrschen in Deutschland sowohl gegenüber der Marktwirtschaft als auch gegenüber staatlichen Interventionen Vorbehalte. Im Konkreten heißt das: Die Bevölkerung ist gespalten. Einerseits gibt es viele Vertreter der Marktwirtschaft. Deren Plädoyers für mehr Marktwirtschaft werden jedoch in der Regel mit Hinweisen auf vermeintliche Schwächen der Marktmechanismen zurückgewiesen. Andererseits gibt es viele, die stärkere Staatseingriffe verlangen. Aber auch deren Vorschläge werden meistens als nicht Erfolg versprechend abgelehnt. – Einige vertrauen mehr dem Markt, andere mehr dem Staat. Die meisten davon und viele andere vertrauen keinem vorbehaltlos, weil beide die Erwartungen enttäuscht haben, die in sie gesetzt wurden.
Unentschlossenheit und permanentes Zweifeln sind die Hauptkennzeichen der gegenwärtigen Debatten um die Wirtschaftsordnung in Deutschland. Viele meinen, dieses Schwanken könne nur durch den ernsthaften Versuch überwunden werden, die Aufgabenverteilung zwischen Markt und Staat angesichts der aktuellen politischen Herausforderungen neu zu bestimmen. Es müsse ermittelt werden, worin die Überlegenheit der Marktwirtschaft in der gegenwärtigen Situation eigentlich noch besteht und wo die Schwächen der Marktwirtschaft liegen. Und dort, wo solche Schwächen festgestellt werden, müsse geklärt werden, ob und inwieweit sie durch staatliche Maßnahmen ausgeglichen werden können.
Diese Fragen lassen sich aber nicht so einfach beantworten, denn nötig wäre hierfür ein wirklichkeitsnahes Verständnis vom Wesen und der Funktion der Marktwirtschaft. Das heißt vor allem: Feststellungen, die sich aus der weithin üblichen Gegenüberstellung von freier Markt- und staatlicher Planwirtschaft ergeben, sind hierfür ungeeignet, denn bei diesem Denkansatz wird von der Wirtschaftswirklichkeit abstrahiert und auf der einen Seite unterstellt, dass es sich bei jeder realisierten Marktwirtschaft um ein idealtypisches System handelt: um ein System, das in jedweder Situation lehrbuchgemäß, das heißt, ohne jede Regulierung durch den Staat perfekt funktioniert. Auf der anderen Seite – für die Planwirtschaft – wird entsprechend angenommen, dass auch der Staat idealtypisch handelt, indem er seine Planziele mit Gesetzen, Verordnungen, Kontrollen und Strafen durchzusetzen sucht.
In der Wirklichkeit waren und sind diese Idealtypen nirgendwo anzutreffen. Markt und Staat sind in der Wirklichkeit immer eng miteinander verwoben. Selbst dort, wo eine Marktwirtschaft neu eingeführt wird, werden oft staatliche Maßnahmen beschlossen, die dem marktwirtschaftlichen Ideal widersprechen. So geschah es beispielsweise Anfang der 1990er Jahre bei der Vereinigung Deutschlands, als der Fonds Deutsche Einheit geschaffen und sein Volumen alsbald drastisch erhöht wurde5 und als angesichts der wachsenden Furcht vor einer lange Zeit fortbestehenden, enttäuschenden Entwicklung in den neuen Bundesländern der Plan „Aufbau Ost“6 entworfen wurde, mit dem der Staat Sanierungsprojekte ausgeschrieben, die erforderlichen Arbeiten vergeben und sie überwiegend aus neu erhobenen Steuern finanziert hat.
Dieses Verfahren, bei dem der Staat geplant und die Wirtschaft die ihr zugedachten Aufgaben übernommen und durchgeführt hat, war ohne Zweifel eine Art Aufgabenverteilung zwischen Markt und Staat. Optimal konnte sie nicht gewesen sein, denn – wie schon gesagt – der erwartete Erfolg blieb bis zum heutigen Tage aus. Zudem geschahen beklagenswerte Pannen. Viele waren auf Fehleinschätzungen der Treuhandanstalt zurückzuführen, die beispielsweise lebensfähige Betriebe an Investoren verkauft – besser gesagt: Interessenten übergeben hat, denen nur daran lag, die Konkurrenten „platt zu machen“.7 Zur Rechtfertigung solcher Pannen konnte oft nur auf die immense Größe der Aufgabe, auf die schwierigen Umstände und auf die begrenzte Zeit verwiesen werden, die nicht zugelassen hätte, Entscheidungen gründlicher zu bedenken. – Es ist schwer, Derartiges zu kritisieren.
Doch nicht nur bei der Neueinführung, auch bei Versuchen, den Marktkräften in stark regulierten Wirtschaftsbereichen mehr Freiraum einzuräumen, scheint es schwierig zu sein, das Ideal einer sich selbst regulierenden marktwirtschaftlichen Ordnung zu verwirklichen. Viele Initiativen, mit denen die Bürokratie abgebaut und öffentliche Aufgaben privatisiert werden sollten, wurden mit großen Erwartungen begonnen und haben schnell in unerwartete Schwierigkeiten geführt, so dass sie abgebrochen und rückabgewickelt werden mussten. Auch die Liberalisierung der Finanzmärkte um die Jahrtausendwende, bei der die Politik sich den weltweiten Globalisierungstendenzen anschloss und speziell interessierte, sachkundige Marktkräfte aus dem Geld- und Kreditwesen die Richtung vorgaben und wichtige Maßnahmen angeregt haben, führte unerwartet schnell in ein Debakel auf den Finanzmärkten mit dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Aussichten, so dass unverzüglich staatliche Maßnahmen ergriffen wurden, um Banken zu retten, die Funktion der Geld- und Kreditmärkte zu sichern und drohende Gefahren zu bannen.8
Offensichtlich gelingt es nirgendwo, die Wirtschaftswirklichkeit dem Marktideal entsprechend umzubauen. Nirgendwo entspricht die Wirklichkeit dem Idealbild einer Marktwirtschaft. – Nirgendwo! Das heißt: Alles Wissen und alle Erfahrungen deuten darauf hin, dass es sich beim Begriff Marktwirtschaft nur um ein gedankliches Konstrukt handelt, um ein Ideal, das sich möglicherweise nie und nimmer verwirklichen lässt, weil Markt und Staat in der Wirtschaftswirklichkeit stets untrennbar miteinander verwoben sind und möglicherweise nur in Symbiose miteinander existieren können. In einer symbiotischen Verbindung ist es natürlich unmöglich, Erfolge und Misserfolge dem einen oder dem anderen Einfluss zuzurechnen, um daraus Maßnahmen für eine sachgerechte Aufgabenverteilung abzuleiten. Das bedeutet, dass nicht nur die wirklichkeitsfremden Idealmaßstäbe zur Beurteilung der Wirtschaftspolitik unbrauchbar sind, sondern dass sich auch mit Hilfe von praktischen Erfahrungen die Aufgabenverteilung zwischen Markt und Staat nicht verbessern lässt.
Die Verwobenheit von Markt und Staat, die Unmöglichkeit, die beiden Sphären in der Wirklichkeit sauber auseinanderzuhalten und getrennt zu beurteilen, hat zwei schwer wiegende Konsequenzen, die im ordnungspolitischen Denken und Handeln bislang kaum berücksichtigt wurden:
•Es ist offensichtlich nicht möglich, im Staat die letztlich entscheidende Instanz zu sehen, die er der marktwirtschaftlichen Theorie zufolge sein müsste, um souverän alle Maßnahmen zur Herstellung und Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung veranlassen bzw. eine einmal etablierte Ordnung bewahren oder, wenn nötig, verändern zu können, denn entgegen der marktwirtschaftlichen Theorie muss sich der Staat bei der Erfüllung seiner Ordnungsaufgabe an den Möglichkeiten, Wünschen und Erwartungen orientieren, die in der Wirtschaftspraxis vorhanden sind. Er kann die Wirklichkeit nicht nach einem abstrakten Ordnungsentwurf gestalten, sondern muss die konkret vorhandenen Engpässe und Schwierigkeiten im Wirtschaftsleben kennen, analysieren und gegebenenfalls helfen, sie zu beseitigen, und er muss sich darauf verlassen, dass ihn die Wirtschaft bei der Erfüllung dieser Aufgabe bereitwillig und in entscheidender Weise unterstützt. Die Wirtschaft dient dem Staat, indem sie ihm die ordnungspolitischen Notwendigkeiten aufzeigt und die wünschenswerten Maßnahmen skizziert. Und da sie keine wirtschaftsordnenden Gesetze und Verordnungen verkünden kann, muss sie darauf bauen, dass der Staat ihre Interessen berücksichtigt. Natürlich ist schwer zu entscheiden, ob die Ergebnisse dieses Zusammenwirkens mehr den Wirtschafts- oder mehr den Allgemeininteressen entsprechen, die der Staat zu vertreten hat.
•Zum anderen darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Staat im Wirtschaftsleben in massiver Weise aktiv mitwirkt, und zwar nicht nur mit staatlichen Unternehmen, sondern weit darüber hinaus. Er ist die mächtigste Instanz im Wirtschaftsleben. Er ist Träger der sozialen Sicherheit, Garant einer funktionierenden Infrastruktur, Förderer der Wirtschaft und Arbeitgeber. Fast 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fließen gegenwärtig durch öffentliche Kassen,9 und das, obwohl es aus Sicht der marktwirtschaftlichen Theorie wenig Grund für das Engagement des Staates in einer Marktwirtschaft gibt und sich in der Praxis vielfach bestätigt hat, dass der Staat mit seinem Wirtschaften und seinen Eingriffen in das Wirtschaftsgeschehen tatsächlich nichts Besseres bewirken kann als die Marktkräfte, so dass es zwecklos ist, wenn er sich in das Marktgeschehen mit der Absicht einmischt, Marktkräfte zu lenken, zu dirigieren oder zu Leistungen zu zwingen, die sie nicht freiwillig erbringen.
Angesichts dieser Tatsachen ist es kaum zu rechtfertigen, dass viele der derzeit realisierten Wirtschaftsordnungen bedenkenlos Marktwirtschaften genannt werden. Keine gegenwärtig irgendwo realisierte Ordnung ist eindeutig marktwirtschaftlich gesteuert. Immer und überall handelt es sich um Marktwirtschaften, die von staatlicher und interessenpolitischer Lenkung stark durchsetzt sind und bei denen sich kaum entscheiden lässt, welchen Einflüssen die Ergebnisse der multiplen Lenkung letztlich zuzurechnen sind. Zudem sollte auch ernsthaft vermerkt werden, dass sich die zur Jahrtausendwende mancherorts gehegte Erwartung, die Transparenz der bestehenden Ordnung könne durch Liberalisierungen, das heißt, durch Stärkung der Marktkräfte, verbessert werden, in den Krisen zerschlagen hat, die nach den veranlassten Reformen auftraten und die vermehrte und verstärkte staatliche Regulierungen provoziert haben.
Die offenkundige Unmöglichkeit, die aktuellen wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme in überzeugender Weise zu lösen, liegt wohl vor allem darin begründet, dass ein wichtiges Merkmal aller gegenwärtig existierenden Wirtschaftsordnungen, die Verwobenheit von Markt und Staat, nicht zureichend erfasst wird. Das übliche ordnungspolitische Denkschema unterstellt, dass Markt und Staat unabhängig voneinander wirken und wirken können. Es verlangt eine klare Aufgabentrennung: Der Staat habe den Ordnungsrahmen zu setzen, in dem die Marktkräfte wirken. Er habe jede darüber hinaus gehende Einflussnahme auf die Marktkräfte zu unterlassen. Er dürfe lediglich – wie ein Schiedsrichter bei einem Wettkampf – das Wirtschaftsgeschehen beobachten und Regelverletzungen ahnden. Schon dieses Bild zeigt, wie unzureichend und weltfremd die angepeilte Aufgabentrennung von Markt und Staat bedacht ist. Wie soll ein Schiedsrichter Regelverstöße ahnden, ohne Einfluss auf den Spielverlauf zu nehmen? Und welchem Spieler läge nicht daran, dass die Regeln gegebenenfalls zu seinen Gunsten ausgelegt werden?
Mit dem dichotomischen Markt/Staat-Denkschema werden die Grundzüge der gegenwärtigen Wirtschaftswirklichkeit – einer Wirklichkeit, in der Markt und Staat zusammenwirken und zusammenwirken müssen, weil sie aufeinander angewiesen sind –, nicht erfasst. Die Politik ist unfähig, Maßnahmen zu ergreifen, die nicht im Interesse des Partners liegen, mit dem sie verbunden ist. Ihr kann noch nicht einmal daran liegen, diese Partnerschaft durch Schuldzuweisungen zu desavouieren. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als die trüben Bilanzen des gemeinsamen Wirkens schön zu reden und Mängel zu rechtfertigen. Nicht nur in den eingangs zitierten Jahresberichten der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit, auch in den öffentlichen Diskussionen um den „Aufbau Ost“ hat sich die Ohnmacht der Politik, das heißt, das Fehlen einer eigenständigen Erfolg versprechenden wirtschafts- und sozialpolitischen Konzeption, deutlich niedergeschlagen.
Bei den in den 1990er Jahren diskutierten Entscheidungen der Treuhandanstalt, besonders aber bei der Kritik an kostspieligen, gescheiterten Projekten sowie an erschlichenen Subventionen und Betrügereien gab es in der Regel keine Zweifel, dass das Verschulden letztlich bei den Glücksrittern lag, die rücksichtslos jede Chance nutzen, die sich ihnen bietet, die auch riskante Geschäfte und revolvierende Kreditfinanzierungen nicht allzu sehr scheuen und die sich vor allem auch im Subventionsdschungel zurechtfinden. Sie galten in den 1990er Jahren – nicht nur in den östlichen Bundesländern – als die Repräsentanten der Marktwirtschaft. Wenn sie in die Schlagzeilen gerieten und ihre Machenschaften angeprangert wurden, wurde in vielen Fällen nur achselzuckend vermerkt, dass hier Marktkräfte gewirkt haben, dass also nur getan wurde, was von Menschen in einer Marktwirtschaft zu erwarten ist. In einer Marktwirtschaft müsse jeder auf seinen Vorteil bedacht sein. Wer das nicht tue, gehe unter.
Insbesondere im Osten wurde oft bedauert, dass der Staat die beklagten Vorgänge nicht unterbunden hat. Man meinte, das wäre nicht allzu schwer gewesen, denn viele Fehlentwicklungen seien erwartbar gewesen. Die Beamten aus den westlichen Bundesländern, die Erfahrungen mit marktwirtschaftlichen Vorgängen hatten, hätten manche Entgleisung durch größere Aufmerksamkeit und entsprechend scharfe Kontrollen verhindern können.
Der einen Argumentation – den abfälligen Meinungen zu Marktwirtschaft und Marktwirtschaftlern – liegt die Vorstellung einer Marktmechanik zugrunde, die alles wirtschaftliche Handeln determiniert und zu der es keine Alternative gibt. Im Gegensatz hierzu wird bei der Kritik am staatlichen Handeln behauptet, dass der Staat das marktwirtschaftliche Geschehen streng kontrollieren und regulieren könne und müsse. Die Marktwirtschaft wird hierbei nicht als eine für alle Wirtschaftenden zwingende Norm, sondern als Instrument angesehen, das der Staat in beliebiger Weise nutzen kann, um seine Ziele zu erreichen.
Verkannt wird bei beiden Argumentationen, dass das Projekt „Aufbau Ost“ keine Initiative von Marktkräften, sondern ein staatlich geplantes Projekt, letztlich ein Angebot des Staates an die Marktkräfte war, sich am staatlich geförderten Aufbau in den neuen Bundesländern zu beteiligen. Die Aktion stand zwar unter dem Titel „Einführung der Marktwirtschaft“, und in den neuen Bundesländern wurden Plakate mit dem Slogan aufgehängt: „Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft kommt!“. Tatsächlich aber ging es nicht um den Aufbau einer sich selbst tragenden Marktwirtschaft, nicht um das Mittel Marktwirtschaft, sondern um die Ziele: Auf- und Ausbau der Infrastruktur, Sanierung von Betrieben und Illustration der Überlegenheit der in Westdeutschland praktizierten Wirtschafts- und Sozialpolitik in „blühenden Landschaften“. Von denen, die an einer Marktwirtschaft interessiert waren, wurden andere Konzepte vertreten.10 Und ebenso waren die Maßnahmen, die Erhard bei ähnlichen Gelegenheiten – beim Anschluss des Saarlandes an die Bundesrepublik 195711 und beim Wiederaufbau in Westdeutschland nach 1948 – durchgeführt hat, anderer Art als die, die beim „Aufbau Ost“ ergriffen wurden.
Bei der Kritik an der unzureichenden staatlichen Kontrolle marktwirtschaftlicher Entscheidungen und Entwicklungen wird ausgeblendet, dass es nicht einfach Gedankenlosigkeit, Leichtfertigkeit und Versäumnisse von Einzelnen sind, wenn die Verhaltensweisen und Prozesse, die für Marktwirtschaften als typisch angesehen werden, nicht zureichend kontrolliert werden. Der Verzicht auf solche Kontrollen beruht vielmehr auf der fragwürdigen, im marktwirtschaftlichen Denken fest verankerten Überzeugung, dass Fehlentwicklungen in marktwirtschaftlichen Ordnungen, wenn überhaupt, dann nur kurzfristig auftreten, weil sie sich von selbst korrigieren.
Ein marktwirtschaftlich geschulter Beamter muss es demgemäß als überflüssig oder schädlich ansehen, in Marktprozesse einzugreifen. Für ihn und für alle „Marktwirtschaftler“ steht außer Frage, dass jede Marktwirtschaft, gleichgültig, wie sie spezifisch ausgeprägt ist, Fortschritt, Effizienz und Wohlstand verbürgt und auftretende Schwierigkeiten automatisch löst. Darüber hinaus wird er – wie die meisten „Marktwirtschaftler“ – überzeugt sein, dass jede Marktwirtschaft als solche schon „sozial“ ist, so dass er im Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ nur einen Pleonasmus sehen kann.
Dass solche Überzeugungen vielen als unwiderlegbar richtig erscheinen, liegt zu großem Teil an der stets sehr überzeugenden Annahme, dass nicht ist, was nicht sein darf. Hätten Marktwirtschaften markante Unvollkommenheiten oder Schwächen, müsste der Staat sie beseitigen. Wenn aber in Marktwirtschaften eine prinzipielle Notwendigkeit zu staatlicher Überwachung und Kontrolle bestünde: Worin würden sich dann Marktwirtschaften von Planwirtschaften unterscheiden, deren Leistungsfähigkeit ebenfalls von staatlicher Aktivität abhängt? Und gerade die Erfahrungen – der Fall der Mauer und der Einheitsprozess – legen nahe, auf möglichst jede Staatstätigkeit in der Wirtschaft zu verzichten. Nicht nur in Planwirtschaften. Schon beim Zusammenwirken von Markt und Staat entstehen Probleme, die denen ähneln, die in Planwirtschaften typisch sind.
Darüber hinaus sind die Effizienz der Marktwirtschaft und ihre Fähigkeit, sich selbst zu regulieren, theoretisch unwiderlegbar und leicht verständlich begründet. Es muss jedermann einleuchten, dass einer, der in der Marktwirtschaft betrügt oder andere übervorteilt, sein Renommee und seine Kunden verliert. Niemand kann ihm vertrauen. Er isoliert sich und muss schließlich aus dem Markt ausscheiden. Und ähnlich überzeugend heißt es im Hinblick auf das Soziale: Dem Egoismus seien in der Marktwirtschaft systemische Grenzen gesetzt, weil in einer Marktwirtschaft niemand allein leben und sich keiner unmittelbar von dem Geld ernähren kann, das in seinem Safe liegt. Geld muss in Lebensmittel und lebensnotwendige Dienste eingetauscht, das heißt, es muss an die weitergegeben werden, die Lebensmittel produzieren und lebensnotwendige Dienste leisten, und in diesen Verteilungsprozess sind im arbeitsteiligen Wirtschaften alle Werktätigen, selbst die eingeschlossen, die einfachste Arbeiten verrichten.
Solchen Darlegungen lässt sich nicht widersprechen. Nur die Wirklichkeit kann sie widerlegen, und sie tut es. Sie zeigt, dass es in allen Ordnungen, die derzeit marktwirtschaftlich und sozial genannt werden, Geschäftemacher gibt, die davon leben, dass andere für ihre Gaukeleien und Luftschlösser zahlen, die sie anpreisen und verhökern. Mancherorts sind diese Betrüger, Blender und Täuscher zu einer regelrechten Volksplage geworden. George Packer spricht in seiner aufsehenerregenden Beschreibung des dreißigjährigen, im Zeichen einer entfesselten Wirtschaftsfreiheit geschehenen Niedergangs der wirtschaftlichen Moral in den USA sogar von einer Kleptokratie,12 die sich etabliert habe und das ganze Land beherrsche und niederdrücke.
Und was das Soziale betrifft: Auch die in Marktwirtschaften vorhandene, unbestreitbare Abhängigkeit aller von den Zulieferungen und Leistungen anderer verbürgt in der Praxis keine soziale Gerechtigkeit. Es gibt mannigfache Beispiele dafür, dass marktwirtschaftliche Ordnungen von Einzelnen und privilegierten Schichten in maßloser Weise für egoistische Zwecke ausgenutzt werden, so dass soziale Spannungen entstehen und Verteilungskämpfe stattfinden. Die Erfahrung lehrt sogar, dass gerade in gut funktionierenden Marktwirtschaften und schnell wachsenden Volkswirtschaften soziale Unzufriedenheit gedeiht und sich die Bevölkerung in widerstreitende Klassen spaltet. So manche Wirtschaftsnation, die in den vergangenen Jahrzehnten mit wirtschaftswunderähnlichen Wachstumsraten brillierte, wurde überraschend schnell von sozialen Spannungen zerrissen. Und die eingangs erwähnte niederschmetternde Bilanz von 25 Jahren staatlicher Bemühung um die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse im vereinigten Deutschland zeigt, dass auch hier – in der deutschen Wirtschaftsordnung, die für gefestigt und vielfach sogar für vorbildlich gehalten wird – Verteilungskämpfe nicht gebannt sind.
Aus den Erfahrungen mit marktwirtschaftlichen Ordnungen kann nur gefolgert werden: Die Überzeugung, dass Marktwirtschaften das Ideal wirtschaftlicher Funktions- und Anpassungsfähigkeit darstellen und soziale Gerechtigkeit verbürgen, beruht auf Modellanalysen und theoretisch begründeten Abstraktionen von der Wirklichkeit. Das bedeutet: Manches daran ist unbestreitbar richtig. Die Marktkräfte erbringen in der Wirklichkeit tatsächlich erstaunliche Leistungen. Aber manches wird auch übersehen. Beispielsweise, dass die Marktkräfte auch mancherlei Schäden verursachen, und vor allem, dass sie keineswegs automatisch zum Wohl aller wirken. Die Marktkräfte müssten genauer untersucht werden. Sie sind unterschiedlich stark, und naturgemäß verstehen es die stärkeren besser als die schwächeren, ihre Interessen durchzusetzen und sich sozialen Anforderungen zu entziehen. Das könnte die Ursache dafür sein, dass auch in Deutschland in den letzten Jahren „fortschreitende gesellschaftliche Spaltungstendenzen“ entstanden sind und dass inzwischen registriert werden muss: „Eine wachsende Zahl von Menschen … ist von der wirtschaftlichen Entwicklung dauerhaft abgehängt und damit in ihren Teilhabechancen stark eingeschränkt.“13
Offensichtlich hatte Erhard ein wirklichkeitsnäheres Verständnis von Marktwirtschaft als es gegenwärtig existiert. Jedenfalls war es ihm vorrangig wichtig, soziale Fehlentwicklungen auszuschließen. Er hat seine Politik von Beginn an unter den Begriff einer Sozialen Marktwirtschaft gestellt und verlangt, dass „sozial“ ebenso groß geschrieben wird wie Marktwirtschaft. Zudem hatte er wohl auch klare Vorstellungen, wie eine sozial zufriedenstellende Situation herbeigeführt werden kann, denn er hat die gegenwärtig beschrittenen Wege, die disparate Entwicklung der Einkommen mit Mitteln der Steuerpolitik zu korrigieren bzw. nicht existenzsichernde Einkommen durch Sozialleistungen aufzustocken, ausdrücklich verworfen. Er hielt sie für bloße Symptomkorrekturen und warnte zudem vor dem einen Weg, weil auf ihm – wie er sagte – eine „Sozialisierung der Einkommensverwendung“ erfolge und unweigerlich Verteilungskämpfe entstehen, wenn das Prinzip der leistungsgerechten Entlohnung durchbrochen wird, das in Marktwirtschaften vorherrschen muss.14 Den anderen Weg verwarf er, weil er in einen Wohlfahrtsstaat führe, der „zuletzt immer nur Armut, Unordnung und sklavische Abhängigkeit“ bringt.15
Erhard hat verlangt, dass alles politische Handeln wissenschaftlich gut begründet wird.16 Er hat deshalb den Glauben an eine „unsichtbare Hand“, die in der Marktwirtschaft für soziale Harmonie sorgt, unnachsichtig als leichtfertig zurückgewiesen.17 Grundlage und Ausgangspunkt seiner politischen Ansichten war die Überzeugung, dass die Marktwirtschaft das System ist, in dem die Autonomie aller Wirtschaftenden am besten gewahrt werden kann. Und die Möglichkeit, im Wirtschaftsleben eigenständig zu entscheiden – also die Wirtschaftsfreiheit –, war ihm erstrangig wichtig, weil er meinte, sie gehöre zur Menschenwürde und damit zu den Sachverhalten, die nicht verletzt werden dürfen. Damit war für Erhard auch jede Absicht, die darauf hinausläuft, die Wirtschaftsfreiheit sozialen Erfordernissen entsprechend einzuschränken, eine Häresie.
Das Soziale der Sozialen Marktwirtschaft bestand für ihn nicht in sozialen Einkommensumverteilungen. Die Aufgabe der Sozialen Marktwirtschaft war, Bedingungen zu schaffen, unter denen möglichst jeder bereit ist – und zwar freiwillig bereit ist: es jedem selbstverständlich ist –, seine uneingeschränkte Freiheit zu nutzen, um anderen nützlich zu sein. „Freiheit und Verantwortung“ war Erhards Synonym für eine freiheitliche, dauerhaft existenzfähige soziale Lebensordnung, und Freiheit ohne Verantwortung war für ihn „Freibeutertum“, das zur Auflösung von sozialen Ordnungen führt.
An Erhards Freiheitsverständnis wird noch manches zu klären sein. Vorläufig soll nur hervorgehoben werden, dass Erhard klare Vorstellungen von Sozialer Marktwirtschaft hatte und dass er aufgrund seiner Vorstellungen auch die Marktwirtschaft ziemlich anders beurteilt hat, als es heute geschieht. Das Augenmerk von Politik und Öffentlichkeit ist gegenwärtig vorwiegend auf konkrete Ziele, auf wirtschaftliche Effizienz und Wirtschaftswachstum gerichtet. Wenn aus dieser Sicht von Wirtschaftsfreiheit gesprochen wird, wird sie nicht wie bei Erhard als Ausgangspunkt politischer Überlegungen angesehen, sondern instrumentalisiert. Im Hinblick auf das Wirtschaftswachstum ist es dann naheliegend, festzustellen, dass die größte Freiheit denen eingeräumt werden sollte, die am meisten zum Wirtschaftswachstum beitragen können. Wem jedoch wie Erhard Freiheit Teil der menschlichen Würde ist, die für jedermann gewahrt werden muss, kann dieser Befund nur unannehmbar und empörend erscheinen. Erhard schien, dass die moderne, auf Nutzen- und Gewinnmaximierung konzentrierte Ökonomie überhaupt nicht in der Lage ist, die soziale Problematik zureichend zu erfassen:
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