Londoner Erzählungen
Elsinor Verlag
I. Die bemerkenswerten Abenteuer des Majors Brown
II. Ein schmerzhafter Sturz aus den Höhen des Ruhms
III. Der Besuch des Pfarrers
IV. Ungewöhnliche Überlegungen eines Immobilienmaklers
V. Das merkwürdige Betragen des Professors Chadd
VI. Die groteske Gefangenschaft der alten Dame
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Über den Autor
Über dieses Buch
Impressum
Rabelais oder sein besessener Illustrator Gustave Doré müssen wohl an den Entwürfen zu jenen Merkwürdigkeiten mitgewirkt haben, die in England und Amerika unter dem Namen «Mietwohnungen» Bekanntheit erlangten. Denn zweifelsohne steckt etwas Gargantueskes hinter den Bemühungen, Platz zu sparen, indem man ganze Häuser mitsamt den Haustüren und allem Zubehör einfach übereinanderstapelt. Im sorgsam geordneten Gewirr jener Straßenschluchten leben die eigenartigsten Gestalten, und es geschehen dort die merkwürdigsten Dinge; deshalb vermute ich auch, daß der Club für bizarre Berufe gerade in einer solchen Straße seine Büroräume bezogen haben dürfte. Die Vermutung drängt sich zwar auf, dieser Name müsse doch eigentlich die Passanten geradezu anlocken oder sie zumindest verstören, doch in diesen gewaltigen dämmrigen Bienenkörben gibt es nichts, was die Menschen anlocken könnte oder aus der Fassung bringt. Die Passanten gehen trübselig ihren eigenen Verrichtungen nach; sie suchen die Reederei von Montenegro oder das Londoner Büro der Allgemeinen Zeitung von Rutland, und auf den Wegen dorthin eilen sie durch das Halbdunkel der engen Gassen, wie man im Traum durch düstere Gänge gleitet. Käme es Meuchelmördern in den Sinn, in einem der hoch aufragenden Bauten in der Norfolk Street ein Unternehmen zur Durchführung von Auftragsmorden einzuquartieren, und gäbe dort ein freundlicher Herr mit Brille Auskünfte zur Abwicklung dieser Geschäfte, niemand hätte daran irgend etwas auszusetzen. Der Club für bizarre Berufe also hat Räume in einem turmhohen Bau bezogen; er versteckt sich dort wie ein Fossil, das in einem mächtigen Fels zwischen unzähligen Versteinerungen im Verborgenen kauert.
Das Wesen dieser Vereinigung, wie es sich uns nach und nach enthüllte, ist rasch beschrieben. Es handelt sich um einen exzentrischen Club, der bürgerlichen Konventionen spottet; eine Aufnahme setzt voraus, daß der Kandidat die Art und Weise, wie er seinen Lebensunterhalt bestreitet, ganz allein ersonnen hat. Dabei muß es sich um ein vollkommen neuartiges Gewerbe handeln. Die beiden Grundregeln der Satzung führen dies näher aus: Erstens geht es nicht um eine bloße Abwandlung oder Variation eines schon bestehenden Berufes. So würde der Club beispielsweise keinen Versicherungsvertreter in seine Reihen aufnehmen, der, statt Möbel gegen Brandschäden zu versichern, einfach nur, sagen wir, eine Hose für den Fall unter Vertrag nimmt, daß sich ein tollwütiger Hund darin verbeißt. Beiden Fällen läge nämlich ein und dasselbe Prinzip zugrunde, wie Sir Bradcock Burnaby-Bradcock in einem bemerkenswerten Vortrag zum Fall Stormby-Smith so überaus geistreich und treffend darlegte. Zweitens muß die Tätigkeit tatsächlich gewerbsmäßig betrieben werden und den Lebensunterhalt des Erfinders sichern. Die Vereinigung würde also niemanden aufnehmen, der seine Tage mit dem Sammeln leerer Sardinenbüchsen zubringt, es sei denn, er hätte diese Beschäftigung zu einem schwunghaften Handel entwickelt. Professor Chick hat dies ein für allemal klargestellt. Und wenn man bedenkt, welcher neuartigen Profession Professor Chick selbst nachgeht, weiß man nicht einmal so recht, ob einem da eher zum Lachen oder zum Weinen zumute sein sollte.
Immerhin wirkte die Entdeckung dieser fremdartigen Vereinigung auf eigentümliche Weise anregend: Denn der Gedanke, daß auf Erden zehn neue Berufszweige entstanden sind, ähnelte durchaus dem Anblick des ersten Schiffes oder dem Staunen über den allerersten Pflug. Kurz, man empfand, was jeder Mensch empfinden sollte: daß die Welt noch immer in den Kinderschuhen steckt. Daß ich selbst auf einen derart einzigartigen Verein gestoßen bin, verdanke ich freilich keinem bloßen Zufall, wie ich ohne Eitelkeit feststellen darf; immerhin treibt mich eine geheime Leidenschaft, so vielen skurrilen Gesellschaften wie irgend möglich anzugehören. Ich sammle also gewissermaßen Clubmitgliedschaften, seit ich in meinen tollkühnen Jugendtagen mit dem Athenäum begonnen habe. Vielleicht ergibt sich ja irgendwann einmal die Gelegenheit, auch von den übrigen Vereinen zu berichten, deren Mitgliedschaft mir zuteil ward. Dann werde ich von den Umtrieben der «Vereinigung für das Schuhwerk von Verstorbenen» zu berichten wissen, jener bei oberflächlicher Betrachtung womöglich etwas anrüchigen Gemeinschaft, deren Anliegen sich bei näherem Hinsehen freilich auf geheimnisvolle Weise als wohlbegründet erweist. Ich werde vom merkwürdigen Ursprung jenes «Clubs der Katzen & Christen» erzählen, dessen Name auf so schändliche Weise mißdeutet wurde; und der Welt wird endlich zu Ohren kommen, warum das «Institut der Maschinenschreiber» den Anschluß an die «Rote-Tulpen-Liga» fand. Den «Club der Zehn Teetassen» werde ich selbstverständlich mit keinem Wort erwähnen. Jedenfalls handelt meine erste Enthüllungsgeschichte vom Club für bizarre Berufe, der, wie schon erwähnt, in genau diese Kategorie hineingehört – und auf den ich wegen meiner Vorliebe früher oder später zwangsläufig stoßen mußte. (Die ausgelassene Jugend der Hauptstadt nennt mich deshalb spöttisch einen «König der Clubgänger», gelegentlich werde ich auch als «Cherub» tituliert, eine Anspielung auf meine rosige und jugendfrische Farbe, die mich trotz meiner fortgeschrittenen Jahre auszeichnet. Immerhin gönne ich jenen Bewohnern einer besseren Welt, daß sie dort droben ebenso schmackhafte Mahlzeiten serviert bekommen wie ich hienieden ...) Was die Entdeckung des Clubs für bizarre Berufe betrifft, hat es damit eine ganz eigentümliche Bewandnis. Das Merkwürdigste daran war, daß nicht ich diese Entdeckung machte, sondern mein Freund Basil Grant, ein Sterngucker und Mystiker, der sich nur selten einmal dazu bequemte, seine Dachstube zu verlassen.
Basil war eigentlich den allerwenigsten Menschen bekannt. Das rührte freilich nicht von einer ungeselligen Art her – hätte ein beliebiger Mann von der Straße nur einmal den Kopf durch seine Türe gesteckt, Basil hätte ihn unverzüglich und bis zum nächsten Morgen in Gespräche verwickelt. Nein, ihn kannten deshalb so wenige Menschen, weil Basil wie alle Poeten gut ohne die Menschen auszukommen wußte. Er freute sich über ein menschliches Antlitz, so wie er sich über eine unerwartete Farbschattierung des Sonnuntergangs freute – doch sein Verlangen, sich deshalb in Gesellschaft zu begeben, war nicht größer als sein Bedürfnis, die Wolken vor der untergehenden Sonne umzufärben.
Basil wohnte in einer ebenso bizarren wie gemütlichen Mansarde unter den Dächern des Londoner Stadtteils Lambeth. Er hatte sich mit einem wahren Wirrwarr von Dingen umgeben, die einen eigenartigen Gegensatz zu den Quartieren der Armen ringsum abgaben: mit uralten Büchern, Schwertern, Rüstungen – kurz, mit dem ganzen alten Plunder der Romantik. Trotz all dieser Gerätschaften, die eines Don Quijote würdig gewesen wären, wirkte sein Gesicht auf seltsame Weise wach und modern, und man erkannte die kräftigen Züge des Rechtskundigen. Außer mir aber wußte niemand, wer er eigentlich war.
Das Vorkommnis liegt zwar schon lange zurück, doch jeder erinnert sich noch an die furchtbare und groteske Begebenheit, die sich in *** ereignet hat – als nämlich einer der scharfsinnigsten und gewandtesten Richter Englands auf dem Richterstuhl dem Wahnsinn verfiel. Ich hatte zwar meine ganz eigene Deutung dieser Begebenheit, doch über die bloßen Fakten läßt sich kaum streiten. Schon einige Monate, wenn nicht sogar Jahre zuvor waren gewisse Eigentümlichkeiten im Verhalten des Richters aufgefallen. Er schien das Interesse am Gesetz verloren zu haben, bei dessen Anwendung er doch über die Maßen brillierte; stattdessen hatte er begonnen, den Menschen persönliche und moralische Ratschläge mit auf den Weg zu geben. Er trat eher wie ein Arzt oder wie ein Priester auf, und zwar wie einer, der ein offenes Wort nicht scheut. Zum ersten Mal war diese Wandlung aufgefallen, als er einen Mann, der eine Eifersuchtstat begangen hatte, mit den Worten entließ: «Ich verurteile Sie zu drei Jahren Gefängnis, auch wenn ich der felsenfesten, von Gott gegebenen Überzeugung bin, daß Sie eher einen dreimonatigen Urlaub an der Küste bräuchten.» Vom Richterstuhl aus warf er Angeklagten Dinge vor, die mit ihren Taten kaum etwas zu tun hatten und die noch nie zuvor vor den Schranken des Gerichts zur Sprache gekommen waren: monströsen Egoismus, Humorlosigkeit oder die fahrlässige Förderung krankhafter Anlagen. Regelrecht auf die Spitze trieb er sein Verhalten im berühmten Fall des Diamantendiebstahls, bei welchem der Premierminister persönlich, ein brillanter Herr von Adel, vor Gericht zu erscheinen hatte, um – auf ebenso zurückhaltende wie formvollendete Weise – Zeugnis abzulegen gegen seinen Kammerdiener. Nachdem man die gesamten häuslichen Lebensumstände gründlich beleuchtet hatte, ersuchte der Richter den Premierminister, noch einmal vorzutreten, und dieser leistete der Aufforderung mit stiller Würde Folge. Da zischte der Richter ihn plötzlich an: «Besorgen Sie sich eine neue Seele! Die jetzige taugt ja nicht einmal für einen Hund. Besorgen Sie sich eine neue Seele!»
Für den Menschenkenner waren dies alles freilich nur Vorboten jenes traurigen und lächerlichen Tages, an dem sein Verstand ihn auf dem Richterstuhl vollends verließ. Es handelte sich um einen Verleumdungsprozeß gegen zwei mächtige und bedeutende Finanzleute, die beide überdies der Veruntreuung erheblicher Geldbeträge angeklagt waren. Das Verfahren zog sich in die Länge; die Verteidiger ließen sich Zeit und waren äußerst beredt. Am Ende aber und nach langen Wochen voll harter Arbeit und funkelnder Rhetorik war der Tag gekommen, an dem der große Richter sein Schlußwort sprechen sollte – und alles wartete sehnsüchtig auf die berühmte Klarheit und messerscharfe Logik seines Vortrags. Während des gesamten Verfahrens hatte er kaum ein Wort gesagt, und am Ende machte er einen finsteren und niedergeschlagenen Eindruck. Er schwieg einen Augenblick, und dann stimmte er mit Stentorstimme ein Liedchen an. Seine Einlassungen – so das offizielle Protokoll – lauteten folgendermaßen:
«Oh ene-mene-dubi-dene,
Dubi-dene, dubi-dene!
Heiti-teiti dubi-eiti,
Dubi-eiti buff.»
Anschließend legte er alle öffentlichen Ämter nieder und bezog die Dachstube in Lambeth.
Eines Abends so gegen sechs Uhr saßen wir dort bei jenem herrlichen Burgunder zusammen, den er hinter einem Stapel dicker Wälzer mit gotischen Lettern aufbewahrte. Er selbst schritt gerade im Zimmer auf und ab und strich wie gewöhnlich mit dem Finger über eines der großen Schwerter aus seiner Sammlung. Der rote Schein des Feuers beleuchtete seine kantige Gestalt und das wirre graue Haar. Der Blick seiner blauen Augen war ungewöhnlich entrückt, und er hatte gerade seinen Mund geöffnet, um wie traumverloren von etwas zu sprechen, da wurde die Tür aufgerissen, und ein bleicher, leidenschaftlicher Mann mit rotem Haar und in einem weiten Pelzmantel stürzte keuchend in die Stube.
«Entschuldige die Störung, Basil», brachte er gerade noch heraus, «ich war so frei – habe hier gleich eine Verabredung mit einem Herrn ... einem Klienten ... in fünf Minuten. Mein Herr, ich bitte um Vergebung», und er deutete mir gegenüber eine Verbeugung an.
Basil wandte sich lächelnd an mich: «Du weißt ja noch gar nicht, daß ich einen weltgewandten Bruder habe. Dieser Herr hier ist Rupert Grant, der alles beherrscht und alles erledigt, was eben zu erledigen ist. Während ich ja in einem Fall versagt habe, ist sein Wirken in allen Fällen von Erfolg gekrönt. Meines Wissens war er schon Journalist, Immobilienmakler, Naturkundler, Erfinder, Verleger, Lehrer ... was genau bist du denn jetzt eigentlich, Rupert?»
«Schon seit geraumer Zeit», erwiderte Rupert in würdevoller Haltung, «bin ich als Privatdetektiv tätig, und hier ist auch schon mein Klient.»
Von außen wurde kräftig an die Tür geklopft, und kaum hatte man den Ankömmling zum Eintreten aufgefordert, wurde die Tür auch schon heftig aufgerissen, und ein stämmiger, durchaus eleganter Herr trat mit eiligen Schritten ins Zimmer, warf seinen Zylinder auf den Tisch und begrüßte uns mit einem «Guten Abend, die Herren» – und zwar in einem Tonfall, der den gebildeten und mit gesellschaftlichen Umgangsformen vertrauten Soldaten verriet. Seinen mächtigen Kopf bedeckte graumeliertes dunkles Haar; im Gesicht trug er einen kantig geschnittenen Schnurrbart, der ihm ein bedrohliches Aussehen verlieh, das nicht recht zu seinen traurigen wasserblauen Augen passen wollte.
«Komm, Gully, wir ziehen uns ins Nebenzimmer zurück», forderte Basil mich auf und wandte sich zur Tür, doch der Fremde unterbrach ihn: «Keinesfalls. Freunde bleiben. Hilfe möglich.»
Als ich ihn so reden hörte, erinnerte ich mich wieder an ihn: Er war ein gewisser Major Brown, und ich hatte ihn vor einigen Jahren einmal bei Basil getroffen. Die dunkle, ein wenig dandyhafte Gestalt mit dem imposanten großen Schädel hatte ich vollkommen vergessen, doch entsann ich mich noch recht genau seiner eigentümlichen Sprechweise, die darin bestand, daß er nur ungefähr ein Viertel eines jeden Satzes herausbrachte, dieses allerdings sehr scharf, so wie das Krachen einer Gewehrsalve. Möglicherweise gewöhnt man sich dergleichen ja an, wenn man Soldaten Kommandos zubrüllt.
Major Brown war ein fähiger und verdienter Soldat, doch war er alles andere als eine kriegerische Erscheinung. Wie viele jener abgebrühten Herren, die das britische Indien gerettet haben, ähnelten sein Geschmack und seine Ansichten eher denen einer alten Jungfer. Seine Kleidung wirkte adrett und gleichzeitig altmodisch; sein Gebaren war über die Maßen präzise, bis hin zum exakten Plazieren der Teetasse. Immerhin kultivierte er eine Leidenschaft, die bei ihm beinahe religiöse Züge trug – das Pflanzen von Stiefmütterchen. Wenn er von seiner Sammlung schwärmte, glänzten seine blauen Augen wie die eines Kindes beim Anblick eines neuen Spielzeugs, Augen, die fest und unbewegt zugesehen hatten, wie die britische Armee den Sieg bei Kandahar bejubelte.
«Nun, Major», begann Rupert Grant mit kräftiger Stimme und ließ sich in einen Sessel fallen, «um was genau handelt es sich denn eigentlich in Ihrem Fall?»
«Gelbe Stiefmütterchen. Kohlenkeller. P. G. Northover», erwiderte der Major im Ton aufrichtiger Entrüstung.
Wir blickten einander fragend an. Basil hielt seine Augen wie üblich geschlossen und fragte nur: «Entschuldigen Sie – wie bitte?»
«Tatsache. Straße, wissen Sie, Mann, Stiefmütterchen. Auf der Mauer. Mir den Tod. So etwas. Lächerlich.»
Wir wiegten bedächtig unsere Köpfe. Stück für Stück und vor allem dank der Hinweise meines vermeintlich schläfrigen Freundes Basil Grant setzten wir nach und nach die Bruchstücke, die uns der Major hinwarf, zu einer aufregenden Geschichte zusammen. Ich möchte dem Leser nicht zumuten, unsere Qualen noch einmal zu durchleben; daher werde ich die Geschichte des Majors mit meinen eigenen Worten wiedergeben. Doch sollte der Leser sich dabei die Szenerie vor Augen führen: Basil saß wie gewöhnlich mit geschlossenen Augen da und schien fast wie in Trance; Rupert und ich jedoch rissen unsere Augen immer weiter auf, je mehr wir von einer der erstaunlichsten Begebenheiten der Welt vernahmen – und zwar aus dem Munde des kleinen schwarz gekleideten Mannes, der vollkommen aufrecht auf seinem Stuhl saß und seine Geschichte in der Art eines Telegramms vortrug.
Major Brown war, wie schon erwähnt, ein erfolgsverwöhnter Soldat, aber doch beileibe kein enthusiastischer Vertreter dieses Standes. Nichts lag ihm also ferner, als seinen Ruhestand bei halbem Sold zu bedauern. Vielmehr bezog er mit Freuden eine kleine hübsche Villa, beinahe eine Art Puppenhaus, und widmete sich im Ruhestand seinen Stiefmütterchen und dem Genuß von dünnem Tee. Denn der Gedanke, daß nun alle Schlachten geschlagen waren, da er seinen Degen an die Wand der kleinen Diele (neben zwei Töpfe und ein minderwertiges Aquarell) gehängt hatte, und daß er stattdessen in seinem sonnenbeschienenen Gärtchen nurmehr die Harke zu führen brauchte, dieser Gedanke stimmte ihn so heiter wie die ersehnte Einfahrt in einen himmlischen Hafen. Beim Gärtnern ging er mit einer geradezu holländischen Präzision zu Werke, und vielleicht neigte er sogar ein klein wenig dazu, seine Blumen so ordentlich und exakt aufzustellen wie einst sein Regiment. Er war einer jener Herren, die es fertigbringen, vier Schirme in einen Ständer zu stecken, der eigentlich nur für drei bestimmt ist, damit zwei in die eine Richtung weisen und zwei in die andere: Das Leben war für ihn wie ein vorgegebenes Muster in einem Malbuch. Und ganz gewiß hätte er nur ungläubig dreingeschaut und kein Wort verstanden, hätte ihm jemand prophezeit, daß nur wenige Meter von seinem Paradies entfernt die unglaublichsten Abenteuer auf ihn lauerten – Abenteuer, gegen die selbst der schrecklichste Dschungel oder das heißeste Gefecht verblassen sollten.
An einem sonnigen und windigen Nachmittag war der Major, wie üblich in tadelloser Kleidung, zu seinem gewohnten Spaziergang aufgebrochen. Er wechselte gerade von einer großen Wohnstraße in die nächste und stieß dabei zufällig auf eines jener gesichtslosen kleinen Gäßchen hinter den Gartenmauern einer Häuserzeile, die so leer und farblos wirken, daß man sich des unangenehmen Gefühls nicht erwehren kann, man blicke gerade hinter die Kulissen einer Theaterbühne. Den meisten Menschen wäre dieser Weg öde und düster erschienen – nicht aber dem Major, denn auf dem groben Schotterweg erblickte er etwas, das ihn mindestens ebenso entzückte, wie eine herannahende Prozession den Gläubigen beglückt. Ein großer, schwerer Mann mit wasserblauen Augen und einem leuchtend roten Bart näherte sich dort, vor sich eine Schubkarre, die angefüllt war mit den herrlichsten Blumen. Es gab Prachtexemplare von beinahe jeder Sorte, vor allem aber die dem Major so teuren Stiefmütterchen. Der Major blieb also stehen, er verstrickte den Ankömmling in ein Gespräch und dann in einen Handel. Dabei ging er nach der Weise von Sammlern und anderen Verrückten vor: Mit peinlichster Sorgfalt suchte er die allerbesten Pflänzchen unter den weniger guten heraus, er lobte diese und tadelte jene, er stellte eine ausgeklügelte Rangordnung auf und pries die einen Blumen als kostbare Raritäten und tat andere als unbedeutend ab ... und dann kaufte er sie allesamt. Schon im Weitergehen, zögerte der fremde Mann noch einmal und trat dicht an den Major heran. «Also, ich sach ihn ma watt», unterbreitete er ihm eine Neuigkeit. «Wenn Sie so watt intressiert, müssen Se nur ma auf die Mauer steigen.»
«Auf die Mauer!» rief der Major entrüstet, denn sein Sinn für korrektes Betragen ließ sein Inneres beim bloßen Gedanken an eine derart kühne Schandtat erbeben.
«Jau, ein Garten mit die schönsten gelben Stiefmütterkes von England», wisperte ihm der Versucher verlockend ins Ohr. «Komm schon, ich helf Sie.»
Der Enthusiasmus des Majors siegte schließlich über die eher hinderlichen Manieren, und mühelos und ohne die angebotene Hilfe in Anspruch zu nehmen schwang er sich in die Höhe und auf die Mauer am Ende des fremden Gartens. Kaum aber stand er dort oben, spürte er, wie sein Gehrock ihm um die Knie flatterte, und seine Tat kam ihm plötzlich unsagbar lächerlich vor. Gleich darauf aber vergaß er sämtliche kleinlichen Erwägungen dieser Art, denn was er nun erblickte, war die wohl schockierendste Überraschung, welcher sich der altgediente Soldat jemals in seinem kühnen und abenteuerlichen Leben zu stellen hatte. Er blickte nämlich hinab in den Garten, und dort waren in einem großen Beet inmitten des Rasens Stiefmütterchen zu kunstvollen Figuren arrangiert. Herrliche Blumen waren das; doch ausnahmsweise betrachtete der Major sie dieses Mal nicht unter gartenkundlichen Aspekten, denn diese Stiefmütterchen waren zu riesigen Buchstaben gruppiert und ergaben einen Satz:
«TOD DEM MAJOR BROWN»
Ein freundlicher älterer Herr mit weißem Schnauzbart war gerade mit dem Gießen beschäftigt. Brown blickte hinter sich; der Mann mit der Schubkarre war urplötzlich verschwunden. Dann wandte er sich wieder dem Rasen mit der bizarren Inschrift zu. Ein anderer an seiner Stelle hätte nun vielleicht geglaubt, er habe den Verstand verloren – nicht aber Brown. Wenn romantische Damen sein Victoria-Kreuz anhimmelten und von seinen Heldentaten schwärmten, hatte er gelegentlich den Eindruck, er sei wohl leider ein allzu nüchterner Kerl, doch aus genau diesem Grund war er sich jetzt sicher, vollkommen bei Sinnen zu sein. Manch anderer hätte möglicherweise vermutet, er sei das Opfer eines harmlosen Scherzes geworden, aber an so etwas glaubte Brown nicht. Aus eigener Erfahrung wußte er, daß dieses Beet mit höchster Sorgfalt und mit beträchtlichem finanziellem Aufwand hergerichtet war. Und er hielt es für äußerst unwahrscheinlich, daß irgend jemand einen solchen Haufen Geld verschwenden würde, nur um ihm einen kleinen Streich zu spielen. Er fand keinerlei Erklärung, und das gestand er sich auch offen ein, ratlos wie ein vernünftiger Mann beim Anblick eines Menschen mit sechs Beinen.
In diesem Augenblick schaute der untersetzte ältere Herr mit dem weißen Schnauzbart von seiner Arbeit auf, und die Gießkanne fiel ihm aus der Hand, so daß ein Wasserschwall den Kiesweg hinunterlief.
«Wer zum Henker sind Sie?» fuhr er den Major zornig an.
«Ich bin Major Brown», erwiderte der Angeredete, wie stets vollkommen gefaßt in der Stunde der Gefahr.
Gleich einem riesigen Fisch schnappte der alte Mann hilflos nach Luft. Schließlich stotterte er: «Kommen Sie herunter; kommen Sie her.»
«Zu Ihren Diensten», sprach der Major und sprang mit einem Satz hinunter ins Gras, ohne daß sein Zylinder bei diesem Manöver verrutscht wäre.
Der alte Mann kehrte ihm seinen breiten Rücken zu und spazierte in einer Art Watschelgang zum Haus hinüber, und der Major folgte ihm mit eiligen Schritten. Sein Führer geleitete ihn durch düstere Nebenflure einer prächtig ausgestatteten Villa, bis sie vor der Tür eines vorderen Zimmers standen. Da erst wandte der alte Mann sich nach seinem Begleiter um, und im dämmrigen Licht zeichnete sich auf seinem Gesicht der Ausdruck einer schrecklichen Furcht ab.
«Um Himmels willen», flüsterte er, «sagen Sie bloß nichts von Schakalen.»
Er riß die Tür auf, hinter der rotes Lampenlicht glühte, und verschwand eilends mit klappernden Schritten die Treppe hinab.
Den Hut in der Hand, trat der Major in den leuchtend hellen Raum, der mit rotem Kupfer und purpurfarbenen Wandbehängen ausstaffiert war. Major Browns Betragen war stets tadellos, und obwohl er ein wenig verblüfft war, schien er keineswegs verlegen, als er in diesem Raum nur eine Dame erblickte, die am Fenster saß und hinausschaute.
«Gnädige Frau», grüßte er mit knapper Verbeugung, «ich bin Major Brown.»
«Setzen Sie sich», bat die Dame ihn, ohne sich nach ihm umzudrehen.
Sie war grün gekleidet und alles in allem eine angenehme Erscheinung; ihr Haar war feuerrot, und sie verströmte den Duft von Bedford Park. Traurig fuhr sie fort: «Sie sind doch vermutlich gekommen, um mich wegen der gräßlichen Eigentumsurkunde zur Rede zu stellen?»
«Ich bin hier», stellte der Major klar, «um herauszufinden, was eigentlich los ist. Um herauszufinden, warum mein Name in Ihrem Garten geschrieben steht. Und nicht unbedingt auf eine Weise, die mir lieb wäre.»
Er sprach zornig, die ganze Angelegenheit hatte ihn durchaus mitgenommen. Welchen Eindruck dieser friedliche und sonnenbeschienene Garten mit seiner gewalttätigen Forderung auf ihn gemacht hatte, läßt sich kaum beschreiben. Noch immer lag Stille über dem Garten, das Gras leuchtete golden in der Abendsonne, und die kleinen Blumen, die er so liebte, schrien nach seinem Blut.
«Wissen Sie, ich darf mich nicht umwenden», erklärte die Dame. «Jeden Nachmittag muß ich bis zum Sechs-Uhr-Läuten die Straße im Auge behalten.»
Die eigenartige Stimmung des Ortes stärkte den nüchternen Soldaten, so daß er die grotesken Rätsel ganz ohne ein Zeichen der Überraschung hinnahm.
«Es ist schon fast sechs», bemerkte er, und in diesem Moment tat die grausame kupferne Wanduhr ihren ersten Stundenschlag. Beim sechsten Glockenschlag aber sprang die Dame auf und wandte dem Major das wohl eigenartigste und zugleich anziehendste Gesicht zu, das er jemals gesehen hatte: offen und doch wie vom Schmerz gezeichnet – das Gesicht einer Elfe.
«Nun warte ich schon drei Jahre», rief sie. «Heute haben wir den Jahrestag. Das Warten ist so zermürbend, daß es mir lieber wäre, das Entsetzliche käme einfach.»
Und noch während sie sprach, durchbrach ein schrecklicher Schrei die Stille. Unten auf dem Gehsteig der dämmrigen Straße (denn der Abend war bereits angebrochen) rief eine Stimme mit harter und mitleidloser Klarheit: «Major Brown, Major Brown, wo wohnt nur der Schakal?»
Brown handelte schnell und wortkarg. Er riß die Haustür auf und schaute hinaus. Doch kein Mensch war zu sehen, nur das blaue Licht der Straße und der gelbe Schein von ein oder zwei Straßenlaternen. Als Brown ins Zimmer zurückkehrte, sah er, daß die grüne Dame zitterte.
«Das ist das Ende», wisperte sie mit zuckenden Lippen. «Vielleicht bringt das uns beiden den Tod. Denn wann immer ...»
Doch während sie noch redete, war in der dunklen Straße erneut die heisere Stimme zu vernehmen, und wieder klang sie sehr deutlich: «Major Brown, Major Brown, wie starb nur der Schakal?»
Abermals stürzte Brown aus der Tür und die Stufen hinab, doch wiederum vergebens: Niemand zeigte sich, und die menschenleere Straße war viel zu lang, als daß jemand ungesehen hätte davonlaufen können. Trotz seiner Nüchternheit war sogar der Major ein wenig verunsichert, als er wieder ins Wohnzimmer trat. Kaum war er eingetreten, rief die schreckliche Stimme von neuem: «Major Brown, Major Brown, wo ...»
Im gleichen Augenblick stand Brown schon wieder auf der Straße, und dieses Mal kam er rechtzeitig – also zeitig genug für eine Szene, die ihm zunächst das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der Rufer war offensichtlich ein abgeschlagener Kopf, der auf dem Gehsteig lag.
Es dauerte aber nur einen Moment, und der bleiche Major hatte das Rätsel durchschaut: Er sah den Kopf eines Mannes, der durch die Kohlenluke auf die Straße hinausblickte. Im Nu war dieser Kopf denn auch wieder verschwunden. Major Brown wandte sich an die Dame. «Wo haben Sie Ihren Kohlenkeller?» fragte er und trat in den Flur. Sie starrte ihn mit ihren grauen Augen an, in denen sich blankes Entsetzen spiegelte. «Sie wollen doch nicht hinuntergehen – ganz allein, ins dunkle Loch, zu dieser Bestie?»
«Hier herunter?» fragte Brown noch und eilte auch schon die Treppe bei der Küche hinab, wobei er immer gleich drei Stufen auf einmal nahm. Er riß die Tür zu einer finsteren Höhle auf und trat in den dunklen Raum, wobei er in seinen Taschen nach den Streichhölzern suchte. Während seine rechte Hand also noch beschäftigt war, griffen zwei große, schmierige Hände von hinten nach seinem Kopf – Hände, die einem Mann von hünenhafter Statur gehören mußten. Die Hände drückten den Major zu Boden, drückten ihn hinab in die erstickende Dunkelheit wie ein grausames Gleichnis des Schicksals.
Doch obwohl der Major mit dem Kopf nach unten gepreßt wurde, war er dennoch vollkommen bei Sinnen. Er gab dem Druck nach, bis er fast am Boden kniete. Und als er dort die Knie des unsichtbaren Ungeheuers unmittelbar neben sich spürte, griff er mit seiner langen, knochigen und geschickten Hand nach dem Bein und zog daran, bis der Riese krachend zu Boden fiel.
Der Widersacher wollte sich aufraffen, doch Brown stürzte sich wie eine Katze auf ihn, und die beiden wälzten sich am Boden. Browns Gegner war von enormer Größe, hatte nun aber offenbar kein anderes Bestreben mehr als eine schnelle Flucht; er wand sich hierhin und dorthin, um am Major vorbei zur Tür zu hasten.
Brown aber ließ sich nicht abschütteln; er hatte seinen Gegner am Mantelkragen gepackt und hielt sich mit der anderen Hand an einem Balken fest. Schließlich aber ermattete Brown beim Versuch, das menschliche Ungeheuer zu bändigen; er hatte das Gefühl, seine Hand könne jeden Augenblick vom Arm gerissen werden. In diesem Moment riß sich etwas anderes los und verschwand; die kaum sichtbaren Konturen des Riesen glitten aus dem Keller hinaus, und der Major hielt nur noch dessen zerrissenen Mantel in der Hand – die einzige Trophäe seiner Heldentat und der einzige Schlüssel zu diesem Geheimnis. Denn als er wieder nach oben und durch die Haustür zurück in die Wohnung kam, war alles verschwunden: die Dame, die kostbaren Wandbehänge und das gesamte Inventar des Hauses. Nichts war dort mehr zu sehen als leere Regale und weiße Wände.
«Natürlich war die Dame in diese Verschwörung eingeweiht», konstatierte Rupert und nickte. Major Brown lief puterrot an. «Entschuldigung», hielt er dagegen, «ich glaube das nicht.»
Rupert zog die Augenbrauen in die Höhe, blickte Brown einen Moment an, sagte aber nichts weiter dazu. Schließlich fuhr er fort: «Steckte denn irgend etwas in den Manteltaschen?»