Michael Ende

Der Spiegel im Spiegel

Ein Labyrinth

Unter einem schwarzen Himmel liegt ein unbewohnbares Land. Eine grenzenlose Wüste aus Bombenkratern, versteinerten Wäldern, verdorrten Flussbetten und endlosen Autofriedhöfen.

Mitten in dieser Wüste liegt eine Stadt ohne Menschen. Eine Stadt voller Schatten und schwarzer Fensterhöhlen, das Gerippe einer Stadt.

Mitten in dieser Stadt gibt es einen Jahrmarkt, dort ist die Stille am tiefsten. Die rostigen Gondeln des Riesenrades schwanken im kalten Wind und die Karussellpferdchen sind ergraut vom Staub.

Nichts ist zu hören als das gleichmäßige Pochen eines riesigen, fallenden Wassertropfens, immerzu, immerzu, gewaltig und beharrlich.

Oder ist es ein Herzschlag? Aber wenn es ein Herz ist, das da schlägt, wessen Herz ist es dann? Eines Menschen? Eines Tieres? Eines Engels vielleicht?

In der Mitte des toten Jahrmarkts steht ein Kind. Es steht vor einer Bude, die bunt bemalt ist mit unzähligen Figuren, die Gelächter, Rührung und Wunder verheißen. Nach einer Weile, da niemand es daran hindert, wagt es sich ins Innere der Bude. Dort findet es ein paar blank gewetzte Holzbänke vor einem geschlossenen, vielfach geflickten Vorhang, der im Halbdunkel leise vom Luftzug bewegt wird. Plötzlich strahlt das Rampenlicht magisch in den Falten empor. Das Kind setzt sich ganz hinten auf die letzte Bank und wartet.

Nach einer Weile wird eine Stimme hörbar. Sie kommt, scheint’s, von hinter dem Vorhang und klingt ein wenig heiser, als habe sie lang nicht gesprochen oder als spräche sie zum ersten Mal.

»Damen und Herren!«, sagt sie. »Unsere Vorstellung wird sogleich beginnen, aber wir müssen Sie noch um ein klein wenig Geduld bitten. Unser Theater ist nicht wie andere Theater, es lässt sich nicht maschinell betreiben wie ein Dampfschiff, es gleicht vielmehr einem Dreimaster, der abhängig ist von Ebbe und Flut, vom Wind und den Strömungen des Meeres. Und, Damen und Herren, Sie müssen doch zugeben: Im Vergleich zur brutalen und stumpfsinnigen Zielstrebigkeit eines Dampfschiffs ist ein Dreimaster schön und sensibel, wenn auch natürlich etwas antiquiert wie alles Noble. Was wir Ihnen zeigen, Damen und Herren, wird Sie weder klüger noch tugendhafter machen, denn unser Theater ist weder Schule noch Kirche. Das Unglück der Welt wird durch unsere Darbietung nicht vermindert – allerdings auch nicht vermehrt, das ist immerhin schon viel! Wir haben keinerlei Absichten, nicht einmal die, Sie zu betrügen. Wir argumentieren nicht. Wir wollen nichts beweisen, nichts anklagen, nichts aufzeigen. Ja, wir wollen Sie noch nicht einmal von der Wirklichkeit unserer Vorstellung überzeugen, falls Sie es vorziehen, sie für Fantasie zu halten. Es könnte scheinen, als brauchten wir Sie überhaupt nicht, Damen und Herren, doch dem ist nicht so.«

Es entsteht eine Pause, in welcher man hinter dem Vorhang erregtes Flüstern hört. Das Kind auf der letzten Bank hat das Kinn in die Hand gestützt und wartet.

»Da sind wir nun also«, fährt die Stimme, jetzt wieder laut, fort. »Sie da unten und wir hier oben. Und Sie beginnen sich wohl allmählich mit dem guten Recht dessen, der Eintrittsgeld bezahlt hat, zu fragen, warum und wofür? Sie wollen wissen, Damen und Herren, warum unsere Vorstellung noch immer nicht beginnen kann? Ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen: Niemand ist schuld.

Was unter den gegebenen Umständen solche Schwierigkeiten macht, das ist die Verkörperung. Unser Magier arbeitet bereits seit Stunden im Schweiße seines Angesichts und mit den stärksten Beschwörungsformeln von Agrippa bis Einstein, um die Gestalt hinter diesem Vorhang bis zur Sichtbarkeit zu verdichten. Dennoch ist sie bis jetzt nur erst zweidimensional und ständig in Gefahr, in ein Häuflein Buchstaben zu zerfallen. Vielleicht liegt es allerdings auch daran, dass erst noch so vieles zum Verschwinden gebracht werden muss, was aus früheren Vorstellungen übrig geblieben ist und nun die Bühne verrammelt. Wir sind auf Ihre Mitwirkung angewiesen, Damen und Herren. Wenn Sie also so freundlich sein wollen, uns zu helfen, so sagen wir Ihnen im Namen der Direktion herzlichen Dank. Geben Sie acht!

Ihre Aufgabe besteht darin, mit ganzer Kraft an einen Seiltänzer zu denken. Sehen Sie ihn? Hoch droben, zwischen zwei Masten, glitzernd und zartfüßig, mit nichts unter sich als einem Stückchen schwankenden Seils und dem Abgrund. Nein, Damen und Herren, kein Netz! Die Pflicht eines wahren Seiltänzers ist es, Kopf und Kragen aufs Spiel zu setzen. Den eigenen Kopf und Kragen, versteht sich, denn ein Seiltänzer ist schließlich kein General.

Aber wofür?

Er will von einer Seite des hoch gespannten Seils auf die andere. Er könnte ganz bequem und gefahrlos auf der ebenen Erde hinübergehen, das brächte ihn ans gleiche Ziel – aber nein, er muss unbedingt den Weg über das Seil wählen. Warum?

Die Gage ist es gewiss nicht, sie ist gering. Für niemand ist sein Wagemut von Nutzen, am wenigsten für ihn selbst. Die Bewunderung des Publikums wiegt wenig im Angesicht des drohenden Absturzes. Und überdies, was ein wahrer Seiltänzer ist, der erfüllt seine Pflicht auch, wenn niemand zusieht.

Und geht es ihm denn überhaupt darum, von der einen Seite auf die andere zu kommen? Sind nicht sogar die Seiten vertauschbar? Wofür also, bedenken Sie das bitte, setzt er seine sowieso schon fragwürdige Existenz aufs Spiel? Und das immer und immer wieder?«

In diesem Augenblick beginnt der zerlumpte, buntfleckige Vorhang sich langsam, ruckend und quietschend, zu öffnen.

»Bravo!«, ruft die Stimme. »Wir wissen nicht, Damen und Herren, wer von Ihnen allen dort unten soeben die richtige Antwort gedacht hat, aber durch ihn ist die Verkörperung gelungen. Allez-hopp! Et voilà! Da ist er!«

Auf der Bühne im Halbdunkel steht einer, der einen großen, sonderbaren Hut aufhat. Er zeigt mit der linken Hand nach oben und mit der rechten nach unten. So steht er reglos ein Weilchen. Dann plötzlich tritt er an die Rampe, nimmt seinen Hut ab und verbeugt sich tief, fast bis zur Erde, vor dem Kind auf der letzten Bank.

»Danke!«, sagt er, »das hast du sehr gut gemacht.«

»Wer bist du denn?«, fragt das Kind.

»Der Pagad«, antwortet der Mann, setzt sich auf die Rampe und baumelt mit den Beinen.

»Und was bist du?«, fragt das Kind.

»Ein Magier«, antwortet der Mann, »und ein Gaukler. Beides.«

»Und wie heißt du?«, will das Kind wissen.

»Ich habe eine Menge Namen«, antwortet der Pagad, »aber am Anfang heiße ich Ende.«

»Das ist ein komischer Name«, meint das Kind und lacht.

»Ja«, sagt der Pagad. »Und wie heißt du?«

»Ich heiße bloß Kind«, sagt das Kind verlegen.

»Vielen Dank jedenfalls«, sagt der Mann mit dem Hut, »dass du mich dir vorgestellt hast. Dadurch kann ich mich dir nun vorstellen. Und damit ist die Vorstellung zu Ende.« Er zwinkert.

»Schon?«, fragt das Kind. »Und was machen wir jetzt?«

»Jetzt«, antwortet der Mann auf der Rampe und schlägt die Beine übereinander, »jetzt fangen wir etwas an.«

»Kann ich bei dir bleiben?«, fragt das Kind.

»Man wird nach dir fragen«, meint der Pagad ernst.

Das Kind schüttelt den Kopf.

»Wo wohnst du denn?«, erkundigt sich der Pagad.

»Man kann nirgends mehr wohnen«, antwortet das Kind. »Ich jedenfalls nicht.«

»Dann kann ich es auch nicht«, meint der Pagad nachdenklich. »Was machen wir da?«

»Wir könnten zusammen losgehen«, schlägt das Kind vor, »und eine neue Welt suchen, wo wir beide wohnen können.«

»Eine gute Idee!«, sagt der Pagad und setzt seinen großen, sonderbaren Hut auf. »Und wenn wir keine finden, dann zaubern wir uns eine.«

»Kannst du das denn?«, fragt das Kind.

»Ich hab’s noch nicht versucht«, antwortet der Pagad, »aber wenn du mir dabei hilfst … Übrigens finde ich, du solltest doch einen richtigen Namen haben. Ich werde dich Michael nennen.«

»Danke«, sagt das Kind und lächelt, »jetzt sind wir quitt.«

Dann verlassen sie die Bude, den Jahrmarkt, die Stadt. Unter dem schwarzen Himmel gehen sie, angelegentlich ins Gespräch vertieft, auf den Horizont zu und werden kleiner und kleiner. Sie halten sich gegenseitig an der Hand und man weiß nicht genau: Wer führt wen?

Hand in Hand gehen zwei eine Straße hinunter: Eine große dunkle Gestalt, die eine kleine helle führt. Die große ist ein Dschinn in langer schwarzbrauner Kutte. Sein kupfernes, grünspanüberzogenes Gesicht blickt schwermütig unter der Kapuze hervor wie das eines uralten Affen. Seine Hand ist schwarz und schuppig, die klauenartigen Finger sind nach allen Seiten verkrümmt, dennoch halten sie behutsam eine andere Hand, eine kleine, die weich ist und weiß, die Hand eines Kindes, eines zartgliedrigen Knaben in weißem Matrosenanzug mit knielangen Hosen und schwarzen Schnürstiefelchen. Die runde Mütze mit den Bändern sitzt auf dem Hinterkopf und umrahmt das Kindergesicht wie ein Heiligenschein.

Die Straße, auf der sich die beiden ohne Eile fortbewegen, erstreckt sich schnurgerade und immer abfallend bis zum Horizont. Die ganze Fläche der Erde ist schräg gestellt. Die Häuserzeilen zur Linken und zur Rechten zeigen ehemals prächtige, balustraden- und figurengeschmückte Fassaden, die schon seit Langem verfallen, von Mauerschwamm zersetzt und von Schimmelflecken überwuchert sind. Geruch von Fäulnis, Kot und Miasma steht in glasiger Luft. In der Stille klingt nur der Widerhall von den Schritten des Kindes. Der Dschinn macht kein Geräusch, er gleitet neben dem Knaben her wie eine hohe Säule aus wirbelnden Insekten.

Der Knabe bleibt stehen und sagt: »Kehren wir um! Ich habe keine Lust mehr.«

Der Dschinn nickt traurig. »Ja, es ist nicht lustig hier. Aber wir sind nicht zu deinem Vergnügen gekommen. Du musst jetzt zur Schule gehen – und dies ist deine erste Unterrichtsstunde.«

»Ich mag aber nicht!«, ruft das Kind trotzig. »Ich will fort von hier.«

Auf der wulstigen Stirn des Dschinns schwillt eine Ader an. »Wir bleiben!«, sagt er mit bronzener Stimme. Dann, nach einer Weile, fügt er sanfter hinzu: »Für diesmal wird es nicht lang sein.«

Erstaunt hebt der Knabe seine Augenbrauen, sodass sie wie ein fliegender Vogel aussehen, und mustert das Gesicht seines riesenhaften Begleiters. »Du willst mir nicht gehorchen?«, fragt er ungläubig. »Du weißt, wer ich bin. Hast du keine Angst vor mir?«

»Hätte ich Angst, dann hätte ich Hoffnung«, murmelt der Dschinn und nun hört man den Sprung im Metall der Stimme. »Nein, ich habe keine Angst vor dir, Kleiner. Vor dem, der du jetzt bist, noch nicht. Und vor dem, der du sein wirst, nicht mehr. Der nämlich wird mir recht geben.«

»Wann wird das sein?«, will das Kind wissen. »Wenn ich groß bin?«

Auf dem trostlosen Affengesicht erscheint fast so etwas wie ein Lächeln. »Das ist noch ein Weilchen hin, Kleiner. Noch viele Leben und Tode. Bis du wirklich groß bist.«

Er zieht weiter wie eine Rauchschwade und der Knabe trottet gedankenverloren neben ihm her. Nach langer Stille fragt die Kinderstimme: »Und du wirst immer böse bleiben, bis dahin?«

Der Dschinn verdoppelt sich, seine Konturen zerfließen für einen Augenblick, dann sammelt er seine Gestalt von Neuem, steht vor dem Knaben wie ein Stück undurchdringliche Finsternis.

»Böse?«, fragt er mit schweren Lippen. »Böse? Was ist das? Vielleicht wirst du es auch mich einmal lehren. Aber erst musst du es ganz in dich aufnehmen, um es ganz zu verwandeln. Das ist ein schweres und langes Studium, Kleiner, das dir bevorsteht. Das ist kein Kinderspiel.«

»Für dich vielleicht«, meint der Knabe munter. »Für mich ist es leicht. Es ist nichts, es ist nur ein Fehler, den man verbessern muss. Alles wäre in Ordnung ohne das Böse.«

Der Dschinn hebt langsam seine wolkigen Schultern, als müsse er eine gewaltige Last hochstemmen. »Vieles ist notwendig!«, summt es zornig aus dem Insektenschwarm. »Wer weiß wie vieles?«

»Also gut«, sagt der Knabe einlenkend, »gehen wir weiter!«

»Nein«, erwidert der Dschinn, »wir sind angelangt.«

Der Knabe blickt neugierig umher. »Warten wir auf jemand?«

»Ja«, murmelt der Dschinn, »wir warten auf jemand.«

»Sollen wir jemand helfen?«, fragt der Knabe eifrig und verbessert sich sogleich: »Soll ich jemand helfen?«

Der Dschinn betrachtet ihn unter jahrtausendschweren Augenlidern hervor. »So einfach ist es nicht, wie du denkst.«

»Nein«, sagt das Kind ein wenig verlegen, »ich weiß gut, dass es nicht einfach ist zu helfen.«

Der Dschinn schüttelt den Kopf, langsam wie ein Baum im Wind. »Du bist es«, rauscht seine Stimme, »du bist es, Kleiner, dem geholfen wird.«

Der Knabe errötet heftig. »Ich fühle mich kein bisschen hilfsbedürftig«, sagt er rasch und blitzt den Riesen stolz an.

Der Dschinn seufzt, als ob flüssiges Magma Blasen werfe. »Da siehst du nun, Kleiner, wie wenig du noch verstehst.«

»Wer soll mir denn helfen?«, will der Knabe wissen. »Und warum?«

»Alle«, antwortet der Dschinn, »alle, denen du später helfen wirst. Denn ihnen allen wirst du verdanken, dass du es kannst.«

»Dir auch?«

»Vielleicht, ja, ich denke, mir auch.«

Der Knabe macht sich steif. »Dir will ich nicht dankbar sein müssen. Ich will nicht, hörst du?«

Aus dem Inneren des schwarzen Rauchs kommt ein Lachen, als ob lebendes Holz im Feuer knackt und winselt. »Du willst, Kleiner, du willst! Würde ich dich sonst führen können?«

Jetzt wird der Knabe ernstlich ungeduldig. »Auf wen warten wir also noch? Willst du mich zum Narren halten? Du bist doch schon hier! Auf wen soll ich noch warten?«

Der Dschinn streicht sich müde mit der Klauenhand über das Kupfergesicht. Es klingt, als ob Glas zertreten wird. »Gib Ruhe, kleiner Herr, gib Ruhe! Ich bin nicht hier. Oder glaubst du, ich könnte dich sonst an der Hand führen, ohne dass dein warmes Herzchen zu Eis erstarrte? Aber nun frage nicht fortwährend. Gib nur acht auf alles, was geschehen wird. Mehr ist für diesmal nicht deine Pflicht.«

Und der Dschinn zieht tief die Kapuze über sein Gesicht und sieht nun aus wie eine von schwarzem Schnee bedeckte Tanne.

Plötzlich ist ein raues, bellendes Heulen zu hören, das langsam und qualvoll erstirbt wie die Stimme eines großen Hundes, der den Tod seines Herrn beklagt. Der Knabe erschauert und blickt suchend umher. Es scheint ihm, sie ist aus einem der Häuser nahebei gekommen, doch kann er eines seltsamen Echos wegen, das hin und her fliegt, nicht feststellen, aus welchem. Als er sich langsam umwendet, erblickt er hinter sich eine graue, gebückte Gestalt, deren Kommen er nicht bemerkt hat. Erleichtert atmet er auf, denn allem Anschein nach handelt es sich nur um einen alten Straßenkehrer, der da auf seinen Besen gestützt steht und der Unterhaltung der beiden Besucher gelauscht hat. Als der Blick des Knaben dem seinen begegnet, lächelt er, nickt und tippt mit dem Finger an den Rand seiner Mütze.

»Guten Morgen!«, sagt er heiser. Und da der Junge nicht antwortet, sondern ihn prüfend anblickt, fährt er fort: »Nicht wahr, es ist doch ein guter Morgen, da du gekommen bist?«

Der Knabe erwidert noch immer nichts, sondern blickt sich nach dem Dschinn um, doch der steht nur riesenhaft und leise schwankend wie ein Wirbel aus Dunkelheit.

»Allerdings«, lässt sich nun wieder die raschelnde Stimme des kleinen grauen Mannes vernehmen, »war hier immer ein Morgen wie dieser, solang ich auch zurückdenke. Und es ist auch jetzt der gleiche Morgen. Hier gibt es nur eine einzige Stunde, die Stunde vor Tagesanbruch. Niemals Mittag, niemals Abend, niemals Nacht. Diese Tageszeiten sind hier noch nicht erfunden. Es ist die längste von allen Stunden, ein Stück Ewigkeit, daher kommt das.« Er lacht ein wenig, oder vielleicht hustet er auch. Er mustert das ungleiche Paar mit Augen, die schmal sind und tausendfältig.

»Das Kind da«, fragt er plötzlich barsch den Dschinn, »warum hast du’s hier hergeschleppt in unsere Hurenstraße?«

Aber der Dschinn steht stumm wie ein Turm aus steinerner Trauer.

»Was geht’s dich an«, ruft der Knabe hochfahrend. »Meinst du vielleicht, ich weiß nicht, was Huren sind? Das weiß ich schon lang!«

»Ach ja?« Der Straßenkehrer senkt den Kopf und stützt sich schwer auf den Besen. »Dann lass hören, was du weißt?«

»Frauen«, erklärt der Knabe, »die Liebe für Geld verkaufen. Und das ist etwas sehr Schlimmes.«

Der Straßenkehrer nickt ein wenig. »Schau, schau!« Dann fährt er mit einem kleinen betrübten Lächeln fort: »Aber das wäre vielleicht noch nicht so sehr schlimm, mein Kind. Nur, siehst du, hier gibt es kein Geld – und keine Liebe. Die Trösterinnen in unserer Straße verkaufen etwas anderes und bekommen etwas anderes dafür, das ist es.« Und wieder hustet er oder lacht leise.

Der Knabe ist verwundert und nähert sich dem Straßenkehrer zwei, drei vorsichtige Schritte. »Was denn?«

Der graue Alte überlegt eine Weile, wie er es dem Kind erklären soll. Schließlich hat er es gefunden und fragt: »Gewiss kennst du eine Menge Märchen, mein Junge?«

»Ich kenne alle«, sagt der Knabe stolz, »alle, die es gibt. Ich habe jemand, der sie mir erzählt und der jedes Märchen der Welt weiß.«

»Das ist schön. Und du weißt sicher auch, dass sie wahr sind.«

»Freilich!«

Der Straßenkehrer nickt wieder. »Ganz recht. Ich sage nicht, dass sie nicht wahr sind. Wenn einer sie richtig zu erzählen versteht, sind sie alle wahr. Aber siehst du, es sind immer nur die Geschichten der Sieger, sie gehen gut aus, so oder so. Aber die Geschichten der Verlierer sind auch wahr, nur werden sie bald vergessen. Vielleicht weil die Verlierer sie selbst vergessen. Daher kommt das.«

»Verlierer?«, fragt der Knabe und kommt noch ein wenig näher. »Davon habe ich nie gehört! Gibt es sie wirklich?«

Der Alte streckt die Hand aus, um die Wange des Knaben zu streicheln, aber der weicht mit einer brüsken Bewegung zurück. Der Straßenkehrer lächelt um Entschuldigung bittend.

»Mir scheint trotz allem«, sagt er heiser, »du kennst in Wahrheit nur eine einzige Geschichte, mein Kind, nur die Geschichte des hundertsten Prinzen, der das Rätsel zu lösen vermag, aber nicht die der neunundneunzig vor ihm, die zugrunde gehen, weil es ihnen nicht glückt. Und fast alle ihre Geschichten enden hier in dieser Straße.«

Der Alte wendet den Kopf und blickt in die Ferne, dorthin wo die Häuserzeilen in einem Punkt zusammenlaufen. »Ich habe jedenfalls noch keinen gesehen von allen, die hierherkamen, der das andere Ende erreicht hätte, denn die Straße wächst unter ihren Schritten und wird um so länger, je mehr Weg sie schon zurückgelegt haben. Deshalb bleibt jeder schließlich, wo er gerade ist, in diesem Haus oder in dem dort, und richtet sich ein und lebt mit den Trösterinnen – solang er eben noch lebt.«

»Du auch?«, fragt der Knabe erschrocken.

Der Straßenkehrer gibt keine Antwort. Er lacht oder hustet nur kurz, als ob etwas zerrisse, und sagt nach einer Weile: »Aber in Wirklichkeit ist diese Straße sehr kurz. Höchstens ein Leben lang. Ich muss das schließlich wissen.«

In diesem Augenblick fühlt der Knabe schattenschwer die Klaue des Dschinns auf seiner Schulter. Er will sich nach ihm umwenden, aber der Dschinn hält seinen Kopf und dreht sein Gesicht in die Richtung, aus der sie beide gekommen sind. Dort zeigt sich, sehr fern noch, eine Gestalt. Wie eine von ungeübten Händen geführte Marionette torkelt sie die Straße herunter, knickt in den Knien ein, fängt sich wieder und taumelt weiter. Bisweilen stützt sie sich vornübergebeugt mit der Hand gegen die Wand eines Hauses und verharrt so, wie um zu Atem zu kommen. Obgleich ihr Weg abwärts geht, scheint jeder Schritt sie große Anstrengung zu kosten.

»Schau, schau!«, raunt die heisere Stimme. »Wieder einer.«

Und nun wird es plötzlich lebendig auf der Straße und in den Häusern. Die Türen öffnen sich und da und dort auch eines der Fenster.

Überall zeigen sich Weiber, die dem Ankömmling nach- oder entgegenstarren. Sie alle gleichen einander so völlig, dass es scheint, als seien sie nur eine einzige Frau, deren Bild in einer endlosen Reihe von Spiegeln auftaucht. Diese eine, die sie alle sind, trägt ein Kleid aus grauem, von Moder zerfressenem Stoff, das ihren sehr mageren Gliedern eng anliegt und schlaffe, winzige Brüste mit tierhaft langen Zitzen frei lässt. Fahlgraues Haar umgibt Kopf und Schultern wie Rauch und im kalkweißen Gesicht steht der Mund wie eine große schwarze Wunde.

Die taumelnde Gestalt ist herangekommen und nun zeigt sich, dass es ein Mann in der unförmigen, silberglänzenden Montur eines Weltraumpiloten ist. Nur den Helm hat er offenbar fortgeworfen oder verloren. Sein farbloses, schütteres Haar steht ihm wirr um den Kopf. Seine wimpernlosen Augen sind gerötet und sein Gesicht ist von einem idiotischen Lächeln wie gedunsen. Als er die Gruppe der drei Wartenden mitten auf der Straße bemerkt, bleibt er unschlüssig stehen. Er hebt eine Hand, dann fällt er zu Boden und bleibt liegen, das Gesicht nach unten.

Der Knabe will zu ihm laufen, aber da fühlt er nachtmahrkalt die Klaue des Dschinns, die ihn festhält.

»Jetzt nicht!«, rauscht die baumhafte Stimme. »Schweig und gibt acht!«

Eines der Weiber geht zu dem Gestürzten, dreht ihn auf den Rücken und betrachtet sein vom Straßenkot besudeltes Gesicht, in dem noch immer das wesenlose Lächeln steht. Langsam schiebt sich aus ihrem Mund eine dünne schwarze Zunge, sie leckt sich die Lippen, die wie geronnenes Blut aussehen. Der Mann erblickt über sich das Gesicht und ohne dass das Grinsen seiner Lippen verschwindet, tritt in seine Augen langsam der Ausdruck des Entsetzens. »Wer bist du?«, fragt er.

Das Weib lächelt, ihre Augen glänzen lüstern. Sie hockt sich zu ihm und bettet seinen Kopf auf ihren Schoß. Fingernägel aus schwarzem Silber gleiten zärtlich und grausam durch sein Haar. Der Mann stöhnt: »Bist du stumm? Was machst du da? Lass mich!«

»Ja«, flüstert sie und fährt fort, ihn zu lausen, »ich bin stumm.«

Der Mann lässt es geschehen, unfähig sich zu wehren. Auf seiner Stirn steht Schweiß. »Und ich«, murmelt er, »bin blind.«

»Man sieht es dir nicht an.«

»Nein, nicht so. Nicht die Augen.«

»Bei mir ist es auch nicht der Mund, der stumm ist.«

Der Mann macht Anstrengung, sich aufzurichten. »Was tust du mit mir? Lass mich los! Ich will fort.« Aber sie drückt ihn nieder und er gibt, halb schon aus eigenem Willen, nach.

»Du bist angelangt«, raunt sie ihm ins Ohr, »du bist endlich angelangt. Du kannst es daran merken, dass der Schmerz nachlässt.«

Der Mann schließt die Augen und atmet tief und stoßweise, es klingt wie ein ungeborenes Schluchzen. »Du betrügst mich. Aber es ist mir schon gleich worum. Alles ist ein großer Betrug.«

»Das sagen alle, die hierherkommen«, flüstert das Weib. »Du bist das erste Mal hier, nicht wahr? Aber auch du bist wie alle. Du hast dich selbst betrogen und deshalb meinst du nun, dass auch ich dich betrüge. Aber ich werde dir die Wahrheit sagen. Glaubst du, es macht einen Unterschied, ob du dich noch einen Tag, noch ein Jahr, noch hundert Lichtjahre weiterschleppst? Nichts wird sich mehr ändern. Weiter kommst du nicht mehr, so weit du auch gehst. Wozu willst du also fort? Bleib bei mir, ich werde dir wohltun, du wirst sehen.«

Der Astronaut starrt sie an, ohne sie zu sehen. »Ich kenne dich nicht. Wer bist du?«

»Da du wie alle bist, bin ich wie jede«, antwortet sie und ihr leises Lachen klingt wie ferne Schreie. »Und darum wirst du dir von mir helfen lassen.«

Eine Zeit lang wirft der Mann seinen Kopf hin und her wie ein Fieberkranker. Unter dem Spiel ihrer kundigen Finger in seinem Haar wird er langsam ruhiger. Sein Gesicht, noch immer von diesem idiotischen Lächeln verquollen, ist fast so weiß geworden wie das ihre. Wenn er nicht hin und wieder krampfhaft atmete, könnte man ihn für tot halten.

Den Knaben fröstelt. »Was tut sie? Wird sie ihm wirklich helfen?« Er blickt zum Dschinn hinauf, doch an dessen Stelle antwortet der Straßenkehrer: »Ja, auf ihre Art, Junge. Sie ist eine Trösterin. Achte auf ihre Finger! Sie nimmt ihm den Schmerz! Er wird nicht mehr daran leiden und sie wird davon satt. Für kurze Zeit jedenfalls. Am Ende wird er niemand sein.«

Der Mann liegt ganz still. Seine Augen suchen die des Kindes. Seine lächelnden Lippen bleiben fest geschlossen, dennoch hört der Knabe des Mannes Stimme: »Ich habe das Paradies gesucht.«

Danach entsteht eine lange Stille und der Knabe hört nichts mehr als das Pochen seines eigenen Herzens. Schließlich flüstert die Hure: »Du hast es natürlich nicht gefunden, weil es nicht existiert. Und nun hast du alle Hoffnung verloren, ist es nicht so?«

Der Mann hält den Blick des Kindes mit dem seinen fest. Seine Stimme klingt fast gelassen vor Unglück. »Hätte ich es nicht gefunden, so hätte ich die Hoffnung niemals verloren.«

Die schwarzsilbernen Fingernägel kämmen und kämmen durch sein Haar. »Sprich nur! Erzähle mir alles!« Und der Knabe, immer noch eingeschlossen in den Blick des Mannes wie in eine Falle, hört dessen Stimme sagen: »Ich hätte weiter gesucht bis ans Ende meines Lebens. Und ich wäre glücklich gestorben, ohne je daran zu zweifeln, dass es irgendwo einen Ort gibt, wo alles schön und alles vollkommen ist. Und ich hätte es gutgeheißen, dass niemand ihn finden kann.«

Die Stimme der Trösterin ist sanft wie der Biss eines Blutegels. »Warum hast du ihn dann gesucht?«

Als hätte dieser gefragt, antwortet der Mann dem Knaben: »Es war das Heimweh und es war so groß, dass mir keine Wahl blieb, etwas anderes zu tun. Mir war nicht wichtig, hineinzugelangen. Nur einen einzigen Blick in die vollkommene Schönheit wollte ich werfen. Die Gewissheit, dass es sie gibt, wäre mir genug gewesen für alle Ewigkeit.«

»Aber nun hast du es doch gefunden, das Paradies«, raunt die Hure und fährt immer fort, sein Haar zu durchsuchen. »Sie haben dich eingelassen, nicht wahr?«

Der Mann fährt so jäh empor, dass das graue Weib erschrocken zurückweicht, aber seine Stimme ist immer noch kalt und gleichgültig. »Mitten im Weltall«, sagt er in den großen Blick des Kindes hinein, »gibt es eine Ringmauer aus undurchdringlicher Schwere. Über der Pforte stehen eingemeißelt die Worte: »Der Garten Eden«. Ich berührte die Gitterstäbe des verschlossenen Tores und sie zerfielen mir unter den Händen zu Rost und Moder. Ich trat durch das Tor und sah vor mir eine endlose Landschaft aus Asche und Schlacke und in der Mitte einen riesenhaften versteinerten Baum, der seine Äste in den schwarzen Himmel krallte. Und während ich noch stand und schaute, regte sich etwas neben mir und aus einem schwarzen Loch im Boden kroch wie eine Riesenspinne ein Wesen hervor. Ich konnte nur erkennen, dass es entsetzlich ausgetrocknet und entsetzlich alt war und riesige Flügel hinter sich herschleifte. Und das Wesen wälzte sich heran und schrie in einem fort: ›Kommt wieder! Kommt wieder, Menschenkinder!‹ Und es raufte sich Fäuste voll Federn aus und warf sie nach mir. Ich wich vor ihm zurück, da begann es zu kreischen und zu lachen und schrie immer weiter: ›Ist doch niemand mehr da außer mir! Ich bin allein, allein, allein!‹ – Da bin ich geflohen, ich weiß nicht wie und wohin, ob es nur eine Stunde war oder tausend Jahre.«

Der Mann bleibt reglos sitzen, die Beine grade ausgestreckt vor sich, immer noch das gleiche böse Lächeln auf dem Gesicht, aber nun schaut er vor sich nieder und entlässt den Knaben aus seinem Blick. Und wieder tritt eine Stille ein, so endgültig, als sei aller Klang aus der Welt verschwunden. Aber dann, als der Knabe schon meint, nicht mehr atmen zu können, sagt die Trösterin: »Komm! Ich kann machen, dass du deine Sehnsucht für immer vergisst. Dann wirst du aufhören zu leiden.«

Der Mann steht auf, sie nimmt ihn an der Hand und geht mit ihm auf eine Tür zu. Da reißt sich der Knabe aus dem Griff des Dschinns und stellt sich den beiden in den Weg. »Das darfst du nicht!«, ruft er zornig. »Du darfst dein Heimweh nicht vergessen. Sie nimmt dir alles! Sie nimmt dir dich selbst weg!«

Plötzlich fühlt das Kind die harte Hand des Mannes auf seiner Wange und taumelt zurück. Er hat es geschlagen.

»Lass gut sein«, sagt das graue Weib, »das Kind weiß es nicht besser. Noch nicht.«

Und sie zieht den Mann hinter sich her ins Haus.

»Er darf es nicht vergessen«, stammelt der Knabe, »sonst ist doch das Paradies für immer verloren …«, und nun kommen ihm doch die Tränen.

Der Straßenkehrer scheint etwas im Rinnstein gefunden zu haben. Es ist ein goldener Reif, groß wie eine Krone. Er hebt ihn auf und während er ihn zwischen den Händen dreht, sagt er: »Ja, Kleiner, es ist deine erste Unterrichtsstunde. Und alles Böse beginnt mit dem Vergessen einer Sehnsucht.«

»Aber warum hat er mich geschlagen?«

Der Alte antwortet nicht. Er dreht und dreht den Reif.

»He, Straßenkehrer!«, ruft eines der anderen grauen Weiber. »Was hast du da?«

»Es scheint eine Krone zu sein«, murmelt der Alte. »Irgendein armer Teufel hat sie wohl verloren oder weggeworfen. Hier werden alle unkenntlich.«

Das Weib streckt die Hand aus, ohne jedoch näher zu kommen.

»Gib sie mir! Gib sie mir!«, bettelt sie.

Der kleine Alte schüttelt den Kopf. »Das darf ich nicht. Und du weißt es auch gut genug.«

»Und du? Was wirst du mit ihr anfangen?«

»Ich werde sie wohl meiner Frau mitbringen.«

»Ach! Sogar du hast eine Frau? Was du nicht sagst! Ist sie schön?«

Die anderen Weiber kichern, es klingt wie das Pfeifen von Ratten. Der graue Alte lässt sich nicht beeindrucken. »Mit der Krone schon, denke ich«, sagt er heiser.

»Hast du keine Angst?«, fragt eine andere Trösterin. »Unsere Königin hat befohlen, alle verlorenen Dinge ihr zu bringen. Sie lässt nicht mit sich spaßen, Alter.«

Der Straßenkehrer macht seine Augen schmal und hustet oder lacht ein wenig verlegen. »Wenn du mir versprichst, mich nicht zu verraten, will ich dir ein Geheimnis anvertrauen, meine Schöne.«

»Gut, ich verspreche es.«

»Eure Königin«, sagt der Straßenkehrer langsam, »ist meine Frau.«

Plötzlich ist die Straße so leer von Trösterinnen, wie sie es zu Anfang war. Alle Türen und Fenster sind geschlossen. Der graue Alte hängt die Krone über seinen Besen, den er schultert. Er nickt dem Knaben zu, tippt mit dem Finger an den Rand seiner Mütze und sein Grau verschwindet im Grau der Hauswände.

Der Knabe blickt fragend zu dem Dschinn auf. »War es denn das wirkliche Paradies, das der Mann gefunden hat?«

»Was weiß ich«, antwortet die bronzene Stimme, »was fragst du mich danach!«

Aus dem Haus, in dem der Astronaut mit der Trösterin verschwunden ist, klingt das lange, raue Hundegeheul und vergeht trostlos und qualvoll in der glasigen Luft. Der Knabe lauscht mit blassem Gesicht, nur auf seiner Wange leuchtet noch rot der Abdruck der Hand.

Die schuppige Klaue des Dschinns ergreift wieder behutsam die Kinderhand. »Komm, Kleiner. Deine erste Unterrichtsstunde ist vorüber.«

Als sie schon ein gutes Stück die Straße hinauf sind, bleibt das Kind noch einmal stehen und schaut zurück. »Ist es wahr, was der Straßenkehrer gesagt hat? Dass alles Böse mit dem Vergessen einer Sehnsucht beginnt?«

»Es beginnt früher«, antwortet der Dschinn. »Es beginnt immer mit einer verlorenen Hoffnung.« Und später, viel später, als der Knabe schon an die Spiele denkt, die er bald spielen wird, murmelt der Dschinn, längst wieder allein und eingeschlossen in seinem Turm aus Eis, noch einmal vor sich hin: »Niemand vermag zu ermessen, wohin es mit einem kommen kann, der die Hoffnung verloren hat …«

Im Klassenzimmer regnete es unaufhörlich. Es roch morastig, denn der Bretterboden war durch die ewige Nässe schon fast zu Torf zerfallen, die Wände schimmelten und an manchen Stellen wuchsen große, schneeige Salpetergespinste. Die Scheiben der drei hohen, schmalen Fenster bestanden aus Milchglas, damit die Schüler nicht durch die Möglichkeit hinauszuschauen abgelenkt würden.

Die Tür auf den Korridor des Schulhauses war klumpig wieder und wieder überstrichen und hatte die Farbe von altem, abgestandenem Spinat. Auf der Wandtafel an der Stirnseite des Raums waren noch die Reste irgendeiner Formel zu lesen: »… ist ein Punkt im Vakuum … gehe zur Zeit … t … ein Lichtimpuls d … dt …«

Auf dem hohen, teerschwarzen Katheder vor der Wandtafel lag wie aufgebahrt der reglose Körper eines Knaben von vielleicht vierzehn Jahren. Er war in ein eng anliegendes Seiltänzerkostüm gekleidet, das da und dort mit Flicken besetzt war. Die weiße Binde, die er um den Kopf trug, zeigte auf der Stirn einen kreisrunden roten Fleck. Offenbar handelte es sich um ein Zeichen, denn es war viel zu regelmäßig, als dass es durchgesickertes Blut sein konnte.

In den Schulbänken saßen nur sechs Schüler – zwei Männer, zwei Frauen und zwei Kinder –, jeder entfernt von den anderen, jeder für sich. Alle waren unter ihre Regenschirme geduckt, lasen, schrieben oder schauten starr vor sich hin. Ganz vorn saß unter einem schwarzen Schirm ein Mann unbestimmbaren Alters in betont korrekter Kleidung. Sein Gesicht wirkte unter dem schwarzen, steifen Hut blass und bis auf die etwas vorstehenden wässrigen Augen merkmalslos. Vor ihm auf dem Pult lag eine Aktentasche. In der Nähe der Tür saß ein bärtiger Mann mit Brille, der einen weißen Kittel trug. Er hielt einen Schirm aus durchsichtigem Plastikmaterial über sich und blickte in gewissen Abständen immer wieder auf seine Armbanduhr. Auf der Fensterseite hatte sich ein sehr dickes altes Weib in die für ihre Fülle viel zu kleine Schulbank gequetscht, sodass ihr gewaltiger Busen vor ihr auf dem Pult lag. Ihr Schirm war geblümt. Einige Reihen hinter ihr saß eine langbeinige, schlanke junge Dame in einem Brautkleid unter einem weißen Schirm mit Spitzenrüsche. Ganz im Hintergrund in der letzten Reihe saßen die beiden Kinder. Das eine, ein kleines Mädchen, hatte einen Schirm aus Ölpapier aufgespannt. Es hatte langes, blauschwarzes Haar und nachtdunkle Mandelaugen. Der Junge auf der anderen Seite wirkte sehr vernachlässigt. Er war klein und schmalwangig und sehr schmutzig. Seine Kleider waren zerrissen und seine Nase lief, er wischte sie alle Augenblicke an seinem Ärmel ab. Auf dem Rücken trug er viel zu große weiße Flügel, sie waren vom Regen nass und struppig und hingen schwer herunter. Sein Schirm bestand nur noch aus einem leeren Gestänge, an dem einige himmelblaue Fetzen hingen.

Alle schwiegen, denn Schwätzen war streng verboten. Nur der Regen fiel unaufhörlich.

Schließlich beugte sich der Mann im weißen Kittel nach einem abermaligen Blick auf seine Uhr zu dem korrekt Gekleideten hinüber und fragte flüsternd:

»Entschuldigen Sie bitte, aber wissen Sie vielleicht, wann der Herr Lehrer kommt?«

Der Angeredete hielt den Finger an die Lippen. Dann schüttelte er den Kopf und nach einer Weile raunte er zurück:

»Man weiß nie, wann er kommt und ob er überhaupt kommt. Aber wehe, man ist nicht da, wenn er zufällig doch kommt.«

Der Mann im weißen Kittel nickte seufzend.

»Das habe ich mir gedacht. Darf ich fragen, warum Sie hier sind?«

Der andere winkte ab und sah sich im Raum um. Wieder ließ er einige Minuten verstreichen, ehe er antwortete:

»Ich will meine Kenntnisse in Mathematik vervollständigen. Ich bin nämlich Beamter.«

»Aha«, sagte der bärtige Mann im weißen Kittel, aber man sah, dass ihn diese Auskunft nicht sonderlich befriedigte.

Eine Weile sah er seine Uhr an, dann schrieb er etwas auf einen Zettel und schob ihn zu seinem Gesprächspartner hinüber.

»Also sind Sie freiwillig hier?«, las der. Er drehte den Zettel um und schrieb auf die Rückseite: »Ihre Frage trifft auf mich nicht zu. Ich tue meine Pflicht.«

Als der Mann im weißen Kittel die Botschaft gelesen hatte, sagte er halblaut und mit aufsässigem Unterton:

»Ich bin nämlich nicht freiwillig hier. Ich bin Arzt, aber wegen einer dummen Kleinigkeit hat man mir die Lizenz entzogen. Und nun muss ich wieder ganz von vorn anfangen. Ich finde das schrecklich.«

»Alles beginnt immer wieder von vorn«, antwortete der Korrekte abweisend. »Das Leben ist Wiederholung. Mit welchem Recht erwarten Sie, dass Sie als Einziger versetzt werden?«

»Reden Sie doch nicht so laut!«, rief die Braut halblaut zu den beiden hinüber. »Man könnte Sie hören, dann müssen wir alle nachsitzen.«

»Wenn ihr mich fragt«, mischte sich nun die fette Person ins Gespräch, »dann sollten wir einfach nach Hause gehen. Ich habe Hunger.«

Der Beamte drehte sich nach ihr um und musterte sie mit seinem leeren Blick.

»Das ist nicht möglich«, sagte er kühl, »die Tür ist zu.«

Wieder war es lange Zeit still, nur der Regen fiel unablässig.

»Ich möchte wissen«, murmelte der Junge mit den durchnässten Flügeln vor sich hin, »was draußen für Wetter ist. Vielleicht sind draußen schon Ferien.«

Das kleine Mädchen mit den Mandelaugen lächelte zu ihm herüber und flüsterte hinter vorgehaltener Hand:

»Draußen ist das Paradies, aber man kann die Fenster nicht aufmachen.«

»Was ist draußen?«

»Das Pa-ra-dies.«

»Kenn ich nicht. Was soll denn das sein?«

»Das kennst du nicht?«

»Nein, hab ich noch nie gehört.«

Das Mädchen kicherte.

»Das glaub ich dir nicht. Bist du denn kein Engel?«

»Was soll denn das nun schon wieder sein?«, fragte der Junge.

Das mandeläugige Mädchen blickte eine Weile nachdenklich vor sich hin und flüsterte dann:

»Ich weiß in Wirklichkeit auch nicht, was das Paradies ist.«

»Was redest du dann?«, sagte der Junge.

»Aber ich weiß, dass es immer nebenan ist«, fuhr das Mädchen fort. »Das weiß doch jeder. Dazwischen ist nur eine Wand, manchmal aus Stein, manchmal aus Glas, manchmal aus Seidenpapier. Aber immer ist es nebenan.«

»Könnten wir dann nicht einfach die Scheiben einschlagen?«, schlug der Junge vor und errötete über seine eigene Kühnheit. »Ich meine, falls es sich überhaupt lohnt.«

Das Mädchen blickte ihn traurig an und flüsterte:

»Das würde doch nichts helfen. Es ist immer nebenan, also ist es nie da, wo wir sind. Wenn wir da draußen wären, wäre es auch dort nicht mehr. Aber jetzt ist es da. Ganz bestimmt.«

»Seid doch still!«, rief die Braut mit unterdrückter Stimme. »Ich glaube, es kommt jemand.«

Alle lauschten, aber nur der Regen war zu hören.

Der Arzt stand auf und ging zum Katheder, auf dem der Knabe im Seiltänzerkostüm lag wie auf einem Katafalk. Er musste auf den Stuhl hinter dem Katheder steigen, um ihn betrachten zu können.

»Sollten Sie nicht lieber Ihre Aufgaben machen?«, fragte der Beamte und zog die Augenbrauen hoch.

»Vielleicht ist das meine Aufgabe«, antwortete der Arzt gereizt.

Eine Weile untersuchte er den Knaben schweigend, prüfte den Puls, öffnete mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig eines seiner Augen, drückte da und dort, schüttelte schließlich mutlos den Kopf, stieg wieder herunter und setzte sich auf seinen Platz.

Die fette Alte, die ihm mit wachsender Neugier zugesehen hatte, rief jetzt so laut, dass alle erschrocken zusammenfuhren:

»Die Krankheit! Sagen Sie doch wenigstens, woran er gestorben ist!«

»Am Regen«, antwortete der Arzt barsch.