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ISBN 978-3-492-97793-7
November 2017
© Piper Verlag GmbH, München, 2017
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München und Julian Hartwig/NeonBlack (Foto)
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

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Inhalt

Vorwort: Den perfekten Mord gibt es nicht?

Reise ohne Rückkehr

Der gute Freund

Katzenkönig

Der syrische Arzt

Eigene Sorgfalt

Unter den Wolken

DNA

Ein formvollendeter Tod

Mordsberufe

Der Parkhausmord

Vorwort: Den perfekten Mord gibt es nicht?

»Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.« – So steht es im Strafgesetz. Eine vorzeitige Haftentlassung ist frühestens nach 15 Jahren möglich, bei besonders schwerer Schuld meist nicht vor 24 Jahren.

Es kann sich also durchaus lohnen, einer Verurteilung wegen Mordes zu entgehen. Nur wie soll man das anstellen, ohne das Ergebnis für das tote Opfer zu ändern?

Die Antwort lautet: Einen perfekten Mord begehen! Doch was ist der perfekte Mord? Und kann es ihn wirklich geben?

Alfred Hitchcock sagte einmal: »Natürlich hat es schon perfekte Morde gegeben, sonst wüsste man ja etwas von ihnen.«

Der allsonntägliche Tatort, Fernsehserien à la CSI, reißerische Kriminalliteratur oder einschlägige Sachbücher diverser Kriminalisten behaupten hingegen das Gegenteil. Zu hoch entwickelt seien Forensik und Kriminalistik, was schließlich auch durch die Aufklärungsquote von rund 98 % aller Tötungsdelikte bewiesen werde. DNA-Spuren, Handyortung, Telefonauswertung, Fingerabdrücke, Faserspuren, Rechtsmedizin, Kriminalbiologie und nicht zuletzt die hartnäckigen und umfassenden Bemühungen erfahrener Kriminalbeamter werden über kurz oder lang jeden Täter überführen. In der öffentlichen Wahrnehmung entsteht so der Eindruck, dass es sich bei den wenigen unaufgeklärten Morden lediglich um Zufälle handelt, um unvermeidliche Fehler in der Statistik.

Vereinzelt werden immerhin Fälle bekannt, in denen ein scheinbar perfekter Mord am Ende doch noch aufgeklärt werden konnte. Sei es, weil der Täter sein geheimes Wissen doch nicht für sich behalten konnte, sei es, weil er schlicht und ergreifend durch einen dummen Zufall überführt wurde. Ob diese Fälle allerdings der Beweis sind, dass am Ende doch jeder Mörder seiner gerechten Strafe zugeführt wird, daran habe ich meine Zweifel.

Vielmehr bin ich der Ansicht, dass gerade diese Fälle uns erst eine dunkle Ahnung vermitteln können, wie die Wirklichkeit in Wahrheit aussieht. Aber lesen Sie selbst …

Reise ohne Rückkehr

Während meiner Zeit als Strafverteidiger erreichten mich bisher so einige skurrile Briefe, auch aus dem Ausland. Darin ging es in den meisten Fällen um Fragen der Verjährung von Straftaten und eine straffreie Rückkehr nach Deutschland. Die Bandbreite der Delikte jener Flüchtigen reichte von Mord über Vergewaltigung bis hin zu Bankraub. Nur selten war es mir möglich, befriedigende Antworten zu geben. Mord verjährt nach deutschem Recht nicht und auch Delikte wie eine Vergewaltigung haben eine so lange Verjährungsfrist, dass der mutmaßliche Täter alt und grau ist, ehe seine Straftat verjährt – wenn die Frist denn überhaupt abläuft; denn bei Tätern, die sich im Ausland aufhalten und deren Auslieferung seitens der deutschen Behörden beantragt ist, ruht die Verjährung. Dann bleibt dem Täter nur noch die Flucht in ein anderes Land, um die Verjährungsfrist in Gang zu setzen.

Natürlich ist man auch als Strafverteidiger vor Anfragen von Trittbrettfahrern, die sich mit ihren Mandatsanfragen nur wichtig- oder einen Spaß machen wollen, und psychisch auffälligen Scharlatanen nicht gefeit. So erhielt ich im Laufe der Jahre auch schon Post mit der Bitte um anwaltliche Vertretung vom »König von Thailand« oder dem selbst ernannten »Konsul von Bayern«, deren Seriosität selbstredend wenig ernst zu nehmen war. Doch dann bekam ich einen Brief in meine Kanzlei geschickt, der sich von allen übrigen unterschied.

Sehr geehrter Herr Dr. Stevens,

vielleicht erinnern Sie sich an unsere Unterhaltung im Sommer 2015 auf Key West. Ich habe Ihr letztes Buch inzwischen mit einigem Vergnügen gelesen. Im letzten Kapitel deuten Sie dort einen perfekten Mord an, ohne es beim Namen zu nennen. Schade eigentlich, denn alle Welt will einen glauben machen, dass es den perfekten Mord nicht gibt.

Ich erinnerte mich tatsächlich sofort an ihn. Ich hatte damals eine Kreuzfahrt in der Karibik unternommen, um an besagtem Buch zu schreiben. In einer Bar auf Key West war ich mit dem freundlichen Mittvierziger ins Gespräch gekommen, und wir unterhielten uns länger über meine Arbeit und das Buch.

Warum er bei mir einen so bleibenden Eindruck hinterlassen hat, weiß ich nicht. Auf den ersten Blick war er ein eher unauffälliger Typ, den man leicht verwechselt. Zwar war mir die höfliche und ruhige Aufmerksamkeit, die er mir entgegenbrachte, damals angenehm aufgefallen, aber das Gespräch war eigentlich nicht besonders spektakulär verlaufen. Ganz anders stand es hingegen mit dem Inhalt seines Briefes.

Warum ich Ihnen schreibe? Ich habe meine Frau getötet. Ich hatte es längst getan, als wir uns kennenlernten, aber ich konnte in der Bar verständlicherweise nicht offen mit Ihnen darüber sprechen. Ich schreibe Ihnen auch nicht, um meine Tat zu rechtfertigen oder mein Gewissen zu erleichtern. Auch will ich nicht Ihren rechtlichen Rat einholen, ich weiß sehr wohl, dass Mord nicht verjährt. Ich schreibe Ihnen, weil ich die vielen Sachbücher, Interviews, Filme, Dokumentationen und Artikel leid bin, in denen stets behauptet wird, dass es den perfekten Mord nicht gibt.

Den Entschluss, meine Frau zu töten, fasste ich eher spontan. Wir befanden uns auf einer Kreuzfahrt in der Karibik. Die Reise hatte ich ihr zum siebten Hochzeitstag geschenkt. Sie begann in den USA und führte von dort ins Karibische Meer.

Schon am ersten Abend gab es Streit. Wie immer war es eine belanglose Auseinandersetzung, die aber dennoch einen recht heftigen Verlauf nahm. Es ging um das Abendessen: Sie wollte in schicker Kleidung zum Captain’s Dinner gehen, ich hingegen leger gekleidet und ohne viel Aufwand zum Büfett. Am Ende fügte ich mich ihrem Willen – wie immer.

Um den Abend so erträglich wie möglich zu gestalten, lud ich meine Frau später auf ein paar Drinks an die Bar des Bordbistros ein. Der Alkohol sollte uns helfen, einander einigermaßen gut zu verstehen und einen halbwegs liebevollen Umgang miteinander einzustellen. Auch an den folgenden Abenden trank ich mit meiner Frau einige Cocktails, und jeden Abend wurden es ein paar mehr.

Am fünften Tag der Reise hatten wir zwei volle Tage auf See hinter uns und damit einige Hundert Meilen seit dem letzten Halt an einer Karibikinsel zurückgelegt. Zwei weitere Tage auf See lagen noch vor uns. Wie schon zuvor, waren wir nach dem formellen Teil des Abends zur Bar gegangen. Wir bestellten Cocktails. Bei ihr waren es diesmal eindeutig zu viele.

Wie immer, wenn sie zu viel Alkohol intus hatte, philosophierte sie darüber, wie gut es ihr doch im Leben ergangen wäre, hätte sie mich nie kennengelernt und geheiratet. Dabei blieb sie ganz ruhig und sachlich. Ihre Ausführungen aber hätten kaum verletzender sein können. Ein Schlappschwanz sei ich, der sie nicht ordentlich zu befriedigen wisse. Selbst der Barmann an der Theke, etwa zwanzig Jahre älter als ich und mit schütterem Haupthaar, mache sie mehr an als ich. Zum Glück verstand der Barkeeper sie nicht, er sprach kein Deutsch und kümmerte sich nicht weiter um die Gespräche seiner Gäste.

Es war nicht das erste Mal, dass ich mir ihre Hasstiraden anhören musste, aber diese Intensität war selbst für mich eine neue Stufe der Eskalation, ihre Beschimpfungen nur schwer zu ertragen. Als der Abend schon sehr weit fortgeschritten war, drohte sie mir, sie werde mir meinen kleinen nichtsnutzigen Penis abschneiden. Sie werde einfach behaupten, ich hätte sie seit Jahren vergewaltigt. Sie fantasierte darüber, dass sie am Ende straflos davonkommen würde. »Alle werden mir voller Mitleid zuhören, und ich, ich werde daran denken, wie schlecht du mich immer gefickt hast!« Sie lachte und schrie das hemmungslos in den Raum hinein. Ein Publikum hatte sie allerdings nicht: Neben zwei russischen Saufkumpanen, die bereits seit Stunden nur noch starr auf ihre im Minutentakt wechselnden Wodkagläser blickten, waren wir die letzten Gäste an der Bar.

In einem günstigen Moment signalisierte ich dem Barkeeper augenrollend, dass meine Frau deutlich zu viel getrunken hatte. Woraufhin der Barmann sich meiner erbarmte und uns keine Getränke mehr ausschenkte. Er hatte zwar sicherlich nichts von unserem Gespräch verstanden, aber die Situation war auch so leicht zu deuten.

Trotz all dem Geschimpfe hielt ich meine Frau unterstützend am Arm, als wir die Bar verließen. Sie schien sich sogar etwas beruhigt zu haben, vielleicht musste sie sich aber auch einfach darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen und konnte mich deshalb nicht weiter beschimpfen. Sie stolperte mehrfach und musste sich an mir festhalten. Der freundliche Barkeeper begleitete uns noch ein Stück in Richtung unseres Zimmers, einer luxuriösen Kabine mit Balkon in den oberen Etagen des Schiffs.

Dort angekommen, legte ich meine Frau auf das Bett, worauf sie, kaum dass sie die Laken berührte, sofort zu weiteren Schimpftiraden ansetzte. Ich trat auf den Balkon hinaus, um wenigstens dort, abgelenkt vom Rauschen der Wellen und dem Blick auf die vollmondbeschienene Weite des Meeres, einen Moment der Ruhe und Entspannung zu finden.

Doch der Moment war nur von kurzer Dauer. Der Unmut meiner Frau hatte sich noch nicht gelegt, weshalb sie versuchte, mir auf den Balkon zu folgen. Sie hatte sichtliche Schwierigkeiten, die Schiebetür zum Balkon zu öffnen, und wirkte dabei wie ein zierliches Mädchen, dem man sofort zur Hilfe eilen will. Aber ich half ihr nicht, ich starrte sie nur an. Ich wusste, sie würde dort weitermachen, wo sie an der Bar aufgehört hatte. Sie würde abermals meine Männlichkeit infrage stellen und den ohnehin nicht mehr vorhandenen Sex durch den Dreck ziehen.

Der Moment, als sie die Tür endlich aufbekam und unsere Blicke sich trafen, zog sich nahezu endlos in die Länge und hat sich mir unwiderruflich ins Gedächtnis eingebrannt. Ihre dunklen Augen waren weit geöffnet, und das Mondlicht spiegelte sich in ihren Pupillen. »Du schaffst es ja noch nicht mal, mich zu ficken, du armseliges Würstchen!«, zischte sie. »Aber keine Sorge, das erledigen längst andere. Ich will die Scheidung.«

Ohne auch nur ein Wort zu sagen, zog ich sie an beiden Händen zu mir hin, küsste sie und bugsierte sie zur Reling des Balkons. Mit dem rechten Arm griff ich ihr zwischen die Beine, hob sie unvermittelt hoch, und mit viel weniger Kraftaufwand, als ich erwartet hätte, warf ich sie schwungvoll über Bord, die fünfzig Meter hinunter ins Meer. Bis heute wundere ich mich darüber, dass sie keinen Laut von sich gab. Jedenfalls hörte ich nichts, nicht einmal einen Aufprall auf dem Wasser, er wurde vermutlich von dem Lärm der wuchtigen Schiffsschrauben übertönt.

Nur für einen kurzen Moment, gefühlt aber für eine ganze Ewigkeit, dachte ich an gar nichts und verweilte in der Stille auf dem Balkon. Ich blieb ganz ruhig und war einfach nur erleichtert, wobei die Schuldgefühle nicht lange auf sich warten ließen.

Wie dem auch sei, alles Weitere führte ich mit einer geradezu unheimlichen Professionalität durch, die ich mir nie zugetraut hätte. Ich wühlte die Bettseite meiner Frau auf, sodass es so aussah, als hätte sie etwas länger darin gelegen. Dann eilte ich zurück zur Bar. Und tatsächlich, die beiden Russen und der ältere Barmann waren immer noch da. Erstaunlich gut gelaunt erzählte ich dem Barkeeper auf Englisch, dass ich meine Frau soeben aufs Zimmer gebracht hatte und sie sofort eingeschlafen war. Ich witzelte, dass Frauen einfach nicht so viel vertrügen wie wir Männer. Der Barkeeper pflichtete mir mit einem Lächeln und routiniert chauvinistischen Bemerkungen bei. Ich bestellte noch einen letzten Drink und stieß mit dem Barkeeper auf meine Frau an. Dann stieg ich auf einen kleinen Small Talk mit ihm ein, wusste aber nicht, ob er mir wirklich zuhörte – und es war mir auch egal. Danach ging ich zurück zu meiner Kabine. Und rannte kurz darauf zurück zur Bar, wo ich den Barkeeper besorgt nach meiner Frau fragte. Er schüttelte leicht amüsiert den Kopf und meinte in etwas gebrochenem Englisch, dass meine Frau es mir sicher gleichgetan und sich noch irgendwo auf dem Schiff einen Drink gegönnt hätte: »Lady wants have fun somewhere else, maybe disco?« Ich solle mir keine Sorgen machen, das käme durchaus häufiger vor. Entsprechend beruhigt ging ich zurück zu meinem Zimmer und wartete den Sonnenaufgang ab.

Am Morgen meldete ich dem Schiffssteward voller Sorge, dass meine Frau seit dem gestrigen Abend immer noch nicht zurückgekehrt war. Zu meiner Überraschung versuchte auch dieser Mitarbeiter zunächst nur, mich zu beschwichtigen. So taktvoll wie möglich erklärte er mir, dass der ein oder andere Partner auf dem Schiff über Nacht verschwände, um ein kleines Abenteuer in den Armen einer anderen Person zu erleben. Natürlich protestierte ich vehement dagegen. Aber nach diesem Gespräch wagte ich nun wirklich zu hoffen, dass ich mit dem Mord an meiner Frau tatsächlich davonkommen würde.

Erst am späten Vormittag wurde eine Suche auf dem Schiff organisiert und erbrachte erwartungsgemäß keinen Erfolg. Durchsagen oder dergleichen unterblieben – man wolle die anderen Gäste nicht verunsichern, so die Begründung der Crew. Gegen 13 Uhr wurde meine Frau nur auf massiven Druck meinerseits auch dem Kapitän als vermisst gemeldet. Hierbei wurde nach einer Anhörung des Barkeepers erstmals der Verdacht laut, dass sie aufgrund von alkoholbedingten Ausfallerscheinungen über Bord gegangen sein könnte. Der Kapitän erfragte, ob ich mich noch erinnern könne, wann ich meine Frau zuletzt gesehen hatte, und errechnete daraus den ungefähren Ort, an dem sie möglicherweise verunglückt war. Allerdings machte er mir schon zu diesem Zeitpunkt wenig Hoffnungen, dass ich meine Frau je wiedersehen würde, schon gar nicht lebend. Die See sei nachts kalt und rau, und ohne Schwimmhilfe könne man sich ohnehin nicht länger als eine halbe Stunde über Wasser halten, wenn man nicht schon durch den Aufprall auf das betonharte Wasser oder den Sog in die Schiffsschrauben versterben würde.

Der Kapitän ordnete zunächst an, alle Maschinen zu stoppen und abzuwarten, ob die Reederei ihn auffordern würde, zu der mutmaßlichen Unglücksstelle zurückzukehren. Die Reederei entschied sich dagegen – wohl aus Kostengründen. Sie alarmierte die Küstenwache der nächstgelegenen Karibikinsel. Diese würde die Vermisstensuche übernehmen.

Alles Weitere war reine Formalität. Ich erzählte einem philippinischen Sicherheitsmitarbeiter des Schiffs – der ähnlich schlechtes Englisch wie der Barkeeper sprach –, dass ich am Vorabend zusammen mit meiner Frau einige Cocktails an der Bar genossen und ich sie dann in angetrunkenem Zustand aufs Zimmer begleitet hatte. Dort habe sie sich ins Bett gelegt und ich sei wieder zur Bar gegangen, um einen letzten Absacker zu trinken. Bei meiner Rückkehr habe sie aber nicht mehr im Bett gelegen. Nach Zureden des Barmanns sei ich davon ausgegangen, dass sie noch zu einer anderen der unzähligen Bars auf dem Luxusliner gegangen war.

Dieselbe Geschichte erzählte ich zwei Tage später einem gelangweilten Polizisten auf einer kleinen Karibikinsel. Nachdem er binnen zwanzig Minuten meine Aussagen notiert und kaum Fragen gestellt hatte, brachte er mich zurück aufs Schiff. Weder machte er sich die Mühe, den Barkeeper näher zu befragen und dessen Aussagen mit meiner abzugleichen, noch suchte er die Kabine oder den Balkon auf, um etwaige Spuren zu sichern. Stattdessen drückte er mir nach Abschluss seiner nicht vorhandenen Ermittlungen eine Sterbeurkunde in die Hand: »Selbst verschuldeter Unfall oder Suizid« stand als Todesursache darauf geschrieben. Eine Leiche, so sagte er mir, sei nach der intensiven Suche der Küstenwache leider nicht gefunden worden, was er sehr bedauerte.

Alle Verantwortlichen auf dem Schiff kondolierten mir und sprachen mir ihr tiefes Beileid aus. Ich bekam eine neue Kabine, diesmal eine Suite auf Kosten der Reederei, damit ich nicht im Unglückszimmer schlafen musste. Die Schiffsreise wurde ohne weitere Zwischenfälle fortgesetzt. Von meinem tragischen Verlust bekamen die übrigen Passagiere nichts weiter mit.

Als das Schiff wenige Tage später wieder im Heimathafen einlief, nahmen mich zwei gut gekleidete Herren in Empfang, die mich um ein Gespräch baten. Wie sich herausstellte, waren es hochrangige Repräsentanten der Schiffsreederei, die mich in ihr Büro führten und mir zu meinem Erstaunen eine Million Dollar anboten, verbunden mit der höflichen Bitte, den tragischen Unfalltod meiner Frau nicht an die große Glocke zu hängen. Und was soll ich sagen, wir kamen ins Geschäft.

Ob Sie diese Geschichte nun veröffentlichen oder nicht, liegt bei Ihnen, Herr Dr. Stevens. Seien Sie aber versichert, dass Sie nie wieder von mir hören werden.

Der Mann hatte seinen Brief unterzeichnet. Ich erinnerte mich auch an seinen Namen, wobei, der könnte auch falsch sein. Laut Poststempel stammte der Brief von den Cayman Islands, aber der Absender war mit Sicherheit längst weitergezogen.

Und obwohl es der erste Klient war, der ausnahmsweise einmal nichts von mir wollte, war der Brief für mich Grund genug, ernsthaft zu recherchieren, ob ein solches Verbrechen, wie es der Absender beschrieb, wirklich auf einem Kreuzfahrtschiff so einfach zu begehen war. Die Antwort lautet: Ja!

Tatsächlich stieß ich auf eine erschreckend hohe Zahl von Todesfällen auf Kreuzfahrtschiffen. Seit 1999 sind weit über hundert Passagiere unbemerkt über Bord gegangen, wovon immerhin ganze dreiundzwanzig Fälle von Ermittlern und den zuständigen Behörden als verdächtig eingestuft wurden.

Die weiteren Recherchen bestätigten die Beschreibungen des mutmaßlichen Kreuzfahrt-Mörders: Die Reedereien scheinen alles daranzusetzen, Informationen über solcherlei Vorfälle nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Natürlich! Denn mal ehrlich: Würden Sie mit einer teuren Kreuzfahrtreederei Urlaub machen wollen, bei der es regelmäßig zu Unfällen und womöglich schweren Straftaten kommt?

Dass die Reederei in dem an mich adressierten Brief nur zaghaft ermittelte und dem Ehemann auch noch eine Million Dollar Kompensation bezahlte, sprach also für den Wahrheitsgehalt der Geschichte. Hinterbliebene und deren Anwälte berichten, dass das Prozedere bei so ziemlich allen Kreuzfahrtreedereien ähnlich abläuft, wird eine Person als vermisst gemeldet: So wenig Informationen wie möglich dringen nach außen, alles wird auf ganz kleiner Flamme gekocht. Zunächst sucht das Personal das Schiff unauffällig nach der vermissten Person ab, was bei Schiffen in der Größe von Kleinstädten mit drei- bis achttausend Menschen an Bord sehr, sehr lange dauern kann. Auf eine Mithilfe durch andere Passagiere in Form von Durchsagen wird zumeist verzichtet, um Unruhe unter den Gästen zu vermeiden. Erst nach einer erfolglosen Suche werden Küstenwache und Reederei verständigt. Dann wird abgestimmt, ob es noch Sinn ergibt, in das Gebiet zurückzukehren, in welchem die vermisste Person mutmaßlich über Bord gegangen ist. Davon wird in den meisten Fällen jedoch abgesehen, denn die Chance, einen Sturz vom Kreuzfahrtschiff aus einer Höhe von zwanzig bis sechzig Metern zu überleben, ist verschwindend gering. Wasser wirkt aufgrund der Trägheit seiner Moleküle beim Fall aus solchen Höhen wie Beton. Je nach Wetterlage herrscht hoher Seegang, sodass sich der Verunglückte kaum über Wasser halten kann. Dann ist da noch der Kälteschock, der gerade bei älteren oder alkoholisierten Menschen einen Herzinfarkt oder Schlaganfall auslösen kann, und nicht zuletzt der Sog der Schiffsschraube. Wenn ein Mensch trotz all dieser Gefahren überlebt, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis er ertrinkt. Denn vom Zeitpunkt des Unglücks bis zum Bemerken des Verschwindens bis hin zur Rückkehr an den Unglücksort dauert es oft zu lange.

Jedenfalls haben 99 Prozent aller Fälle, in denen Menschen über Bord eines Kreuzfahrtschiffs gingen, eines gemein: Die Opfer wurden nie gefunden. Es gibt also nur selten eine Leiche und noch seltener jemanden, der sich ernsthaft darum bemüht, diese zu finden. Und wo es keine Leiche gibt, da lässt sich auch ein Tötungsdelikt schwer nachweisen. Ein Sturz über die Reling in betrunkenem Zustand ist stets eine plausible Erklärung dafür. Wenn es nicht doch zufällig Zeugen gibt, die den Tathergang gesehen oder gar mit einer Kamera festgehalten haben. Fehlen aber solche Sachbeweise, ist ohne die Leiche eine Bestimmung der Todesumstände unmöglich.

Wenn der Täter sein Opfer dann auch noch vom Privatbalkon der eigenen Kabine schubst, kann er sicher sein, dass es keine Videoaufzeichnungen gibt, denn Kameras sind in diesen Räumen natürlich streng verboten.

Und selbst wenn die Leiche in dem einen Prozent der Fälle doch gefunden wird und eine forensische Untersuchung noch möglich ist – man bedenke den Fischfraß oder vom Wasser weggespülte Spuren –, muss diese schon eindeutige Merkmale von Fremdverschulden aufweisen, damit es zu einer Anzeige kommt. Im Schiffsjargon spricht man bei Anzeichen von Fremdverschulden übrigens von »foul play«. Ansonsten gehen die Reedereien auch in diesen Fällen von einem tragischen Unfall oder Suizid aus.

Sieht man sich die einzelnen Vermisstenfälle, die in den Statistiken angeführt werden, genauer an, könnte man zu dem Schluss kommen, dass das Kreuzfahrtbusiness ein Eldorado für Mordgetriebene ist, in welchem die Verantwortlichen die gröbsten Anfängerfehler großzügig übersehen. Erst jüngst wurde der folgende Fall bekannt: Eine Frau war von einem Kreuzfahrtschiff über Bord gegangen. Nahe der Absturzstelle stieß die Crew auf einen großen Blutfleck, ein Messer und auf ein geplündertes Portemonnaie, von dem die Fingerabdrücke abgewischt worden waren. Diese recht eindeutigen Spuren sowie die Tatsache, dass die Überwachungskamera am mutmaßlichen Tatort mit einem Pappkarton überdeckt war, weckten keinerlei Verdacht beim bordeigenen Sicherheitspersonal. Ganz im Gegenteil: Nach Aussagen von Zeugen hatten die beiden Sicherheitsmitarbeiter, die als Erste am Unglücksort eintrafen, den Inhalt des Portemonnaies untereinander aufgeteilt und dann die Fingerspuren darauf beseitigt, ehe sie sich auf Anweisung des Sicherheitschefs daranmachten, den roten Fleck wegzuwaschen. Bis heute geht die Reederei von einem Unfall aus. Der rote Fleck sei entgegen anderslautender Aussagen einiger Passagiere kein Blut, sondern ein verschütteter Cocktail. Die Überwachungskamera sei nur deshalb verdeckt gewesen, weil sich zuvor ein Liebespaar dort verlustiert habe.

Ein Messer sei da übrigens auch nicht gewesen.

Alles Weitere zum Tod der 37-jährigen Annette Mizener können Sie aber auch im offiziellen Bericht der Carnival Reederei nachlesen.

Ein geradezu typisches Beispiel für die Haltung der Reedereien in Sachen Aufklärung ist auch der Fall einer gewissen Merrian Carver aus Phoenix, Arizona, deren Kabinenbett fünf Tage lang unberührt geblieben war. Der Steward hatte daraufhin seinen Vorgesetzten informiert, welcher ihn allerdings anwies, sich nicht um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angingen, und besser seine Arbeit zu tun. Und obwohl am Ende der Fahrt noch immer jede Spur von Merrian Carver fehlte, packte die Crew ihre Sachen zusammen, lagerte sie ein und informierte weder Familie noch Polizei.

Diese beiden Fälle sind nur zwei Beispiele einer ganzen Reihe von sogenannten »suspicious overboard deaths«. Nachlesen können Sie diese unter www.cruiseshipdeaths.com.

Wieso aber wird ein solches Maß an Vertuschung, Begünstigung und fragwürdigen Ermittlungstechniken hingenommen?

Die Antwort liegt in unserem Rechtssystem begründet. Kreuzfahrtschiffe sind faktisch eigene Kleinstädte, die der Rechtsordnung desjenigen Landes unterworfen sind, unter dessen Flagge sie segeln – zumindest, wenn sie, was häufig der Fall ist, in internationalen Gewässern unterwegs sind. Und weil ein wirtschaftlich orientiertes Unternehmen Steuern, Gebühren und sonstige lästige Ausgaben sparen will, lässt es sein Schiff natürlich unter der Flagge eines Landes segeln, das es mit den Steuern und dann zumeist auch mit allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht ganz so eng sieht. Meist fehlt es Dritte Welt- und Schwellenländern wie den Bahamas (dort ist zum Beispiel der Sitz von Royal Caribbean, der größten Kreuzfahrtreederei) oder Honduras schlicht an den personellen Mitteln und an der nötigen Erfahrung im Umgang mit einer möglichen Straftat auf einem Luxusliner. Darüber hinaus bezweifle ich, dass die örtlichen Behörden ein größeres Interesse an einer Strafverfolgung auf einem weit entlegenen Schiff entwickeln, das vermutlich nicht mal einen einzigen eigenen Staatsbürger an Bord hat.

Denn die Behörden haben meist genug mit der Kriminalität im eigenen Land zu tun. Und wahrscheinlich legen sie sich auch weniger gern mit den größten Geldgebern im Land an, und das sind nun mal die Reedereien mit ihren Milliarden, die sie mit den etwa 15 Millionen Passagieren im Jahr verdienen.

In unserem Recht ist übrigens verankert, dass deutsche Ermittler auch im Ausland zuständig sind, wenn Opfer oder Täter deutsche Staatsbürger sind. Diese Zuständigkeit kann jedoch nur greifen, wenn ein hinreichender Tatverdacht gegen einen mutmaßlichen Täter vorliegt. Und um diesen zu erhärten, muss eine Reederei, die unter der Flagge der oben genannten Staaten fährt, keine anderen Behörden an Bord lassen als die ihres Heimathafens.

Und selbst wenn man Profis von weit, weit her an Bord holen würde, um eine womöglich verdächtige Tat untersuchen zu lassen, hätte sich die Spurenlage bis zur Ankunft der Ermittler schon längst geändert, vielleicht lägen sogar gar keine Spuren mehr vor. Denn derzeit erschöpft sich die Arbeit der Sicherheitsmitarbeiter auf Kreuzfahrtschiffen fast ausschließlich im Scannen von Schiffsausweisen beim Ein- und Aussteigen der Passagiere. Wie man einen Tatort oder gar Spuren sichert, davon haben die Damen und Herren des Sicherheitspersonals meist keine Ahnung. Und etwaige Befragungen von Zeugen und potenziellen Verdächtigen scheitern häufig an einer Sprachbarriere – auch da scheint die Geschichte meiner zwielichtigen Urlaubsbekanntschaft viel Wahres in sich zu tragen.

Sieht man sich abschließend die im Durchschnitt etwa vierzehn Fälle pro Jahr an, bei denen Menschen auf Kreuzfahrten auf immer und ewig verschwinden, entsteht ein makabres Bild dieser beliebten Form des Reisens.

Die Chancen stehen also nicht schlecht, dass der Verfasser des Briefes auch weiterhin ungestraft davonkommt. Aber wenn man ihn denn aufspürte, könnte man ihn selbst bei einem vollumfänglichen Geständnis wahrscheinlich nicht zur Rechenschaft ziehen. Denn ein Geständnis allein kann in kaum einer Rechtsordnung zu einer richterlichen Überzeugungsbildung führen, bestünde doch immer die Möglichkeit, dass es sich dabei nur um frei erfundene Erzählungen eines Trittbrettfahrers, psychisch Kranken oder Königs von Thailand handelt – wenn auch in diesem Fall um einen mit einem eine Million Dollar schweren Bankkonto …