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ICH FÜHLE, ALSO BIN ICH

Die jüngsten Ergebnisse der Hirnforschung kommen einer kleinen Revolution gleich. Aus Sicht des Gehirns läuft das Leben als Lernprozess in andauernder Wechselwirkung mit der Umwelt ab. Es hat sich herausgestellt, dass für ein gelingendes Leben vier Säulen entscheidend sind: gute Beziehungen, aktives Bewirken, ein gesunder Stresshaushalt und Kohärenz, also das Gefühl von Stimmigkeit. Werden diese vier Aspekte beachtet, fühlen wir uns pudelwohl.

Die wichtigste neurowissenschaftliche Erkenntnis dabei ist: Wir haben immer mehr Stress, und der macht uns krank. Sein Gegenspieler ist das Bindungs- und Liebeshormon Oxytocin. Von ihm brauchen wir viel mehr, als wir uns in unserem Alltag gönnen. Dabei wäre es so einfach, das zu ändern.

Wie also kann uns die Hirnforschung helfen, unser eigenes Leben besser zu leben?

Wir müssen die Funktionsweise des Gehirns verstehen, die Einflüsse kennenlernen, die es prägen, allen voran seine Abhängigkeit von der Umwelt und seine enorme Bindungsfähigkeit. Forschungen beweisen, dass Liebe unsere Gesundheit wirksamer schützt als jede andere Maßnahme. Wenn wir dafür sorgen, dass wir ein liebevolles Miteinander pflegen und unseren Lebensentwurf selbst gestalten, werden wir immer wieder Momente des kleinen Glücks erleben – eine simple, aber wirksame Empfehlung damit das Leben gelingt.

Ein erfülltes Leben ist keine Hexerei, sondern wir selbst können die Grundlagen dafür schaffen. Das untermauert Hans-Otto Thomashoff mit vielen Beispielen, vor allem auch aus seiner eigenen Lebenspraxis.

HANS-OTTO THOMASHOFF

Das

gelungene

Ich

Die vier Säulen der Hirnforschung für ein erfülltes Leben

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© 2017 Ariston Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28,

81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Regina Carstensen

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie, Zürich

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-19755-1
V001

Wem, wenn nicht dir

Sich selbst zu kennen ist nicht einfach.

Doch es ist die Basis für ein gut funktionierendes Gehirn.

Peter C. Whybrow

Inhalt

Einleitung

I Wie wir werden, wer wir sind – Grundlagen der Hirnforschung

1 Der Aufbau der Psyche im Gehirn – wie aus Biologie und Chemie unser Lebensentwurf entsteht

Ohne Umwelt sind wir nichts  Vererbte Angst  Was uns der kleine Mann im Kopf erzählt – Leben als Erleben  Die Macht der Schablonen  In Morpheus’ Armen  Wie die Vielfalt unserer Bindungen unser Gehirn wachsen lässt  Das Sonnensystem unseres Denkens  Die Geburt der wahren Liebe  Spielarten der Lust  Leben ist Gefühl  Sind wir flexibel, und wenn ja, wo?  Und wo nicht?  Wie kommen Meeresschnecken ins Gefühl?  Wenn die Angst in den Knochen sitzt und wie wir sie loswerden

2 Bindung – Warum, wann und wie Beziehungen wirken

Wie du mich zu dem machst, der ich bin  Berührungen sind Muttermilch für die Psyche  Wenn Schreien nicht gehört wird  Die Entdeckung der feinfühligen Mutter  Ein Trampelpfad im Dschungel  Es liegt an uns, wie unsere Kinder werden – und damit die Menschheit der Zukunft  Warum die Wiedergeburt rückwärts verläuft  Geburt ins Leben vor dem Tod  Die Wirkung von Bindung im Gehirn  Wundermittel Nähe  Depression und das Trauma früher Trennung  Ich, Du oder besser: Du, Ich  Wenn die Gefühle in Kinderschuhen stecken bleiben  Dank Empathie kann der andere in uns auch Hund oder Katze sein  Impulskontrolle für Anfänger  Die dunkle Seite des Spiegels  Viele neigen zur Spaltung  Freuden und Fallstricke der Partnerwahl  Einsicht ist nur das Popcorn – der Film läuft woanders

3 Bewirken – Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es

Was uns antreibt  Motivation ist das Salz in der Suppe  Das absolute Hoch im Flow

4 Stress – Wann wir ihn brauchen und wann er uns verbraucht

Stress, mal gut, mal nicht  Der Botenstoff des Erfolgs  Stress, Stress und kein Ausweg?

5 Kohärenz – Was stimmt, das stimmt, oder eben nicht

Die Sinnfrage  Über den Aha-Effekt zum Genuss  Wie Stadtpläne und Coca-Cola den Weg in unser Gehirn finden  Unbewusste Verwandlung der Persönlichkeit  Pessimisten leben länger  Kein Kopf ohne Bauch

6 Was das Leben mit uns macht und wir mit ihm

Die Kultur in uns  Warum wir die rosarote Brille so lieben  Die bunte Welt der Vernetzungen  Ohne dich bin ich nichts  Vom Gefühl zum Verstand  Die Wuthürde  Die Sache mit den Marshmallows  Abstraktion – oder gleichzeitig essen und reden  Veronika, der Lenz ist da  Wer wird wie erwachsen, wenn überhaupt  Wer nicht alt werden will, muss jung sterben oder jung bleiben

II Von der Theorie in die Alltagspraxis

7 Die vier Säulen für ein gelingendes Leben

Säule I: Beziehungen

Wie gute Beziehung wirkt  Beziehungsfallen  Die Zauberformel für ewige Liebe  Mit dir und nur mit dir  Dogge oder Hirschkalb? Warum gerade du?  Du in mir, ich in dir  Wie Liebe heilen kann  Von der Selbsterkenntnis zu erfülltem Sex  Wie sich wo die Lust regt  Was ich dir schon immer sagen wollte  Vom kleinen Zwist zum großen Knall  Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende  Liebe heute  Achtung! Dein PC kann nicht Spiegeln

Säule II: Bewirken

Sein schlägt Haben – immer noch  Die Eroberung unseres eigenen Lebens  Von anderen Welten  Wenn der große Kick ausbleibt, tut es auch der kleine

Säule III: Stressausgleich

Dauerstress macht krank  Was passiert, wenn der Stress zu viel wird  Gefühle erkennen und nutzen  Wenn Wut guttut oder Traubenzucker eine Ehekrise verhindert  Mit Liebe und Motivationsbonbons  Mach mal Pause

Säule IV: Stimmigkeit

Das Phänomen des automatischen Miteinanders  Von Sinn und Unsinn  Gemeinsam schwingen wir uns auf das Sahnehäubchen  Gerechtigkeit und der Umgang mit Drückebergern

8 Vom Gehirn in die Gesellschaft und zurück

Zeit für eine Revolution, sanft und radikal  Wider den Starrsinn  Mit dir ist mein Leben lebenswert  Richtige Anreize fürs Gehirn – das beste Anti-Aging  Eine hirngerechte Gesellschaft ist für den Menschen da  Warum wird uns das nicht beigebracht?  Warum es »Känguru-Babys« besser haben  Lasst Horst mit seinen Träumen nicht allein

Hier und Jetzt

Literatur und Links

Einleitung

Wie kann ein Leben gelingen? Lässt sich dieses Grundrätsel der menschlichen Existenz überhaupt lösen? Noch dazu objektiv? Gibt es also klare Ratschläge aus der Wissenschaft, worauf wir in unserer Lebensgestaltung achten sollten? Die Antwort auf diese Fragen lautet eindeutig: Ja. Aber wie können die spröden wissenschaftlichen Erkenntnisse den Weg in unseren Alltag finden?

Zum Glück hat die Hirnforschung ihren Elfenbeinturm verlassen und liefert zusammen mit den in der klinischen Arbeit gewonnenen Erfahrungen aus Psychoanalyse und Psychotherapie konkrete und brauchbare Handlungsempfehlungen für den Weg in ein gelingendes Leben. Unterm Strich bleibt zwar jeder von uns der Schmied seines eigenen Glücks, doch gibt es längst neurobiologisch fundierte Ratschläge, was uns dabei helfen kann.

Gleich vorweg: Die jüngsten Ergebnisse der Hirnforschung sind im wahrsten Sinne des Wortes revolutionär. Sie stellen das in unserer Gesellschaft propagierte Wertesystem auf den Kopf: Nicht Geld, nicht Leistung, nicht Dauerspaß sind die wichtigsten Säulen für ein zufriedenes Leben. Nein, an erster Stelle steht die Qualität der von uns gelebten Beziehungen. Kommen dazu noch die Erfahrung, aktiv selbst etwas gestalten zu können, ein ausgeglichener Stresshaushalt und zu guter Letzt die Erfüllung unseres Bedürfnisses nach Kohärenz, das heißt nach einem Gefühl von Stimmigkeit – wir wissen Bescheid, wir kennen uns aus, es passt –, dann haben wir die vier für unser Leben entscheidenden Säulen vor uns. Das bedeutet: Ein erfülltes Leben ist keine Hexerei. Sondern wir selbst können die Grundlagen dafür schaffen.

Doch wie geht das im Einzelnen? Die Philosophie hat diese Frage seit ihren Anfängen immer wieder gestellt, aber sich nicht zu einer eindeutigen Antwort durchringen können. Viele kluge Köpfe haben eben oft auch viele kluge Meinungen. Und so pendeln ihre Empfehlungen seit Epikur und den Stoikern zwischen Hedonismus und Verzicht in allenfalls immer neuen Varianten. Ihnen gemeinsam ist, dass alle Denker der abendländischen Philosophie das Individuum mit seinen existenziellen Fragen konfrontieren und es dann im selben Atemzug dazu auffordern, diese für sich allein zu lösen. Nur gerade das widerspricht gänzlich unserer Natur.

Erst in jüngster Zeit findet auch in der westlichen Philosophie Beachtung, was die Neurowissenschaft zur Funktionsweise unseres Gehirns und damit zu den Bedürfnissen unserer Psyche etwa nach guten Bindungen beinahe täglich an neuen Details herausfindet. Immer konkreter verdichten sich die gewonnenen Erkenntnisse zu Handlungsanleitungen für eine psychisch gesunde und damit erfüllte Lebensführung. Genau um diese alltagstauglichen Empfehlungen geht es mir, um die Überführung der wissenschaftlichen Einsichten in die alltägliche Lebenspraxis. Die Grundfrage lautet also: Wie kann uns die Hirnforschung dabei helfen, unser eigenes Leben besser zu leben?

Um diese Frage zu beantworten, werden wir im ersten Teil des Buchs einen Blick in die Funktionsweise unseres Gehirns werfen. Es geht dabei darum, die Grundregeln seiner Arbeit zu verstehen und die wesentlichen Einflüsse, die es prägen, kennenzulernen. Also vor allem die Eigenschaften, die sich noch nicht so richtig herumgesprochen haben und die daher immer noch viel zu wenig Beachtung geschenkt bekommen: seine enorme Umweltabhängigkeit, die bereits lange vor der Geburt beginnt, seine Bindungsfähigkeit, seine Kreativität und seine lebenslange Anpassungsfähigkeit, um hier vorab nur einige zu nennen. Auf diesen wissenschaftlichen Befunden aufbauend, ergeben sich anschließend in der zweiten Hälfte des Buchs die praktischen Konsequenzen für unser Leben Schritt für Schritt quasi wie von selbst.

Warum guter Rat so oft danebenliegt

Eigentlich ist es doch verrückt, dass wir nicht einfach so wie Tiere vor uns hin leben und dann alles passt, sondern dass wir uns mühsam den Kopf darüber zerbrechen, was wir in unserem Leben brauchen. Das, was wir intuitiv wissen sollten, gelingt oft nicht. Wieso verlieren wir so leicht den Zugang zu dem, was uns von Natur aus guttut?

Der Grund dafür liegt in einer geradezu genialen Vereinfachung unserer Art zu lernen. Denn vieles von dem, was wir lernen, erfahren wir direkt von unseren Mitmenschen. Wir vertrauen dem, was sie uns sagen. Auf diese Weise wird unser Menschheitswissen ganz direkt von Generation zu Generation weitergereicht. Das ist vom Prinzip her enorm vorteilhaft, denn so muss das Rad nicht immer wieder neu erfunden werden. Der Erfahrungsschatz, auf den jeder Einzelne zurückgreifen kann, ist dadurch riesengroß, eben weil er nicht ausschließlich auf seine selbst gemachten Erfahrungen zurückgreifen muss.

Zugleich aber ist dieser Mechanismus fehleranfällig, da wir nur allzu gern alles Mögliche glauben, solange es uns nicht am Überleben hindert. In der Regel überprüfen wir gar nicht, ob die zahllosen Informationen, die wir von unseren Mitmenschen bekommen, überhaupt zutreffen. Sondern wir glauben das, was andere uns sagen, vor allem dann, wenn wir ihnen vertrauen.

Und so bilden sich in unterschiedlichen Kulturen völlig unterschiedliche Lebensentwürfe heraus. Einmal entstanden, bleiben sie als absolute Wahrheiten unangetastet erhalten und pflanzen sich unhinterfragt fort, werden zu vererbten Traditionen. Je länger sie sich halten, desto beharrlicher werden sie als selbstverständlich empfunden. Egal in welchem Lebensbereich. Alltägliches, wie etwa unsere Ernährungsgewohnheiten oder unser Umgang mit Kindern, aber auch unser Gesellschaftsaufbau, unsere Wertesysteme, selbst unsere Religionen sind letztlich nichts anderes als Wissen, das wir von anderen übernehmen.

Verstärkt wird diese Tendenz zum Beharren noch durch eine Eigenschaft unseres Gehirns selbst, die sich aus seiner biologischen Struktur heraus erklärt. Alles, was einmal in dieser Struktur gespeichert worden ist, wird, eben weil es nun schon vorhanden ist, gerne wiederverwendet. Die Biologie ist von Natur aus sparsam.

Vielleicht ist Ihnen das auch schon selbst passiert. Sie gehen oder fahren tagein, tagaus denselben Weg. Erst durch Zufall entdecken Sie eines Morgens, dass es eine kürzere oder schönere Strecke gibt, die Sie zum selben Ziel bringt. Wir nennen das die Macht der Gewohnheit. Einmal Gelerntes behalten wir bei, solange es nicht einen triftigen Grund dafür gibt, es über Bord zu werfen.

Diese Neigung, die wir aus unserem Alltag kennen, gilt allerdings keineswegs nur dort, sondern genauso in der Wissenschaft. Beliebte Beispiele dafür finden sich in geisteswissenschaftlichen Arbeiten, die nicht selten davon leben, frühere Autoren zu zitieren. Die Logik des aktuellen Verfassers erlangt ihren Anspruch auf Gültigkeit ausschließlich dadurch, dass schon seine Vorgänger Gleiches behauptet haben. So wird in meinem eigenen Fachgebiet, der Psychoanalyse, gerne auf Zitate des Gründungsvaters Sigmund Freud zurückgegriffen. Frei nach dem Motto: Weil Freud das schon gesagt hat, muss meine Annahme richtig sein. Nur war auch Sigmund Freud ein Mensch. Und Menschen können sich bekanntlich irren. Selbst dann, wenn sie genial sind.

Übrigens wäre Freud einer der Letzten, die dem widersprechen würden. Gerade er hat seine Theorien ganz bewusst immer wieder an seine Erkenntnisprozesse angepasst. Und die unterlagen im Laufe seines Lebens durchaus kreativen Wandlungen.

Aber zurück zu uns. Besonders beharrlich neigen wir dazu, das beizubehalten, was wir schon früh in unserem Leben gelernt haben. Weil es sich eben schon früh in unserer Hirnstruktur niedergeschlagen hat. Und so sind wir besonders treu gegenüber den grundlegenden Werten und Lebensweisheiten, die uns in unserer Kindheit beigebracht wurden. Wir nehmen sie als gegeben hin und folgen ihnen blind, meist noch verstärkt dadurch, dass die anderen um uns herum es genauso machen.

Wissensweitergabe und das Festhalten an Bewährtem sind verantwortlich dafür, dass es uns schwerfällt, eingeschlagene Pfade zu verlassen, selbst wenn von außen, etwa durch die Wissenschaft, längst gegenteilige Erkenntnisse vorliegen. Der Kopf mag dann zwar eine neue Richtung gutheißen, der Bauch jedoch bleibt beim Vertrauten. Und der Bauch ist mächtig.

Stellt sich sogleich die Frage, warum ist er das? Warum fällt es uns oft so schwer, aus bewussten Erkenntnissen praktische Konsequenzen zu ziehen? Sind wir womöglich, wie einige Neurobiologen behaupten, gar nicht frei in unseren Entscheidungen? Sind wir, einmal geprägt, für immer hilflose Marionetten unseres Unbewussten?

Ist Erkenntnis möglich, und wenn ja, ist sie wirksam?

Mit dieser Frage befinden wir uns ganz unversehens mitten in einem Streit, der jahrelang erbittert zwischen Hirnforschern und Philosophen ausgetragen wurde. Der Grund dafür? Beide Seiten verrannten sich in ihren Positionen, beschworen die absolute Gültigkeit ihrer jeweiligen Sichtweise und belegten damit beherzt, doch ungewollt, genau die Beharrungstendenz, wie ich sie im vorherigen Absatz beschrieben habe.

Am Ausgangspunkt der Debatte stand die abendländische Philosophie. Die meisten ihrer Vertreter sehen die Selbsterkenntnis und damit die bewusste Selbstkontrolle des eigenen Handelns als wesentlichen Pfeiler unseres Menschseins an. Sie stehen in der Fortsetzung der Tradition von Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche und zugleich im Einklang mit unserer alltäglichen Selbstwahrnehmung. Allerdings haben sie dabei den in ihren Augen überlegenen Verstand getrennt von den Gefühlen, die sie als schwach und irreführend empfinden. Folglich haben sie den Anspruch in die Welt gesetzt, das logische Denken müsse die Gefühle beherrschen. Selbst die in vielem so gesellschaftskritische Psychoanalyse sprang auf diesen Zug auf, wenn Sigmund Freud deklarierte: »Wo Es war, soll Ich werden.«

Doch was wäre die Philosophie, wenn es nicht zu jedem gedachten Gedanken auch sein Gegenteil gäbe? Natürlich ebenfalls in vollkommen stimmig hergeleiteter Argumentation. Ein prominenter Vertreter der Gegenposition zur menschlichen Willensfreiheit, bei der der Handlungsspielraum des Menschen innerhalb des unermesslichen Universums als minimal angesehen wird, war Arthur Schopenhauer.

Ende der Siebzigerjahre erhielt seine willenskritische Position unvermittelt Unterstützung aus der experimentellen Psychologie. Die Naturwissenschaft begann gerade damit, sich in die Geisteswissenschaft einzumischen. Ein auf den ersten Blick unspektakulärer Versuch wurde für einige Hirnforscher zum Anlass für eine lautstark verkündete Revolution, von der allerdings, so viel sei vorweggenommen, mittlerweile nicht mehr viel übrig geblieben ist. Worin bestand das Experiment, das so hohe Wellen schlug?

Es war der US-amerikanische Psychologe Benjamin Libet, der 1979 die Schädeldecke seiner Versuchsteilnehmer verkabelte, um auf diese Weise ihre Hirnströme zu messen. Anschließend ließ er sie auf einen Knopf drücken und machte eine überraschende Entdeckung: Noch bevor die Versuchsteilnehmer bewusst die Entscheidung für ihre Handlung getroffen hatten, war an der Aktivierung in ihrem Hirnstrombild zu erkennen, dass der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie drücken würden. Ihr Unbewusstes war schneller als ihr Bewusstsein, um durchschnittlich etwa 300 Millisekunden. Damit war klar, dass das Unbewusste und nicht das Bewusstsein die entscheidende Instanz für die Auslösung der Handlung sein musste.

Während Libet eher bescheiden schlussfolgerte, dass er mit seinem Versuch die Existenz des Unbewussten experimentell bewiesen habe, zogen andere Hirnforscher daraus deutlich weiter reichende Konsequenzen. Sie erklärten geradewegs den freien Willen zur Fiktion, schafften ihn ab. Da eine Handlung offenkundig in Gang gesetzt werde, noch bevor das Bewusstsein davon etwas mitbekomme, sei der subjektive Eindruck, wir Menschen könnten Entscheidungen bewusst fällen, nichts weiter als eine von unserem Gehirn erschaffene Einbildung.

Zahllose Forderungen ließen sich aus dieser Behauptung ableiten. Ihr Widerhall drang vor bis zu den Grundfesten unseres Rechtssystems: Denn wie kann ein Täter schuldfähig sein, wenn er die Entscheidung zu seiner Tat gar nicht bewusst gefällt haben kann?

Da rebelliert unser gesunder Menschenverstand – und das zu Recht. In der Tat liegt der Annahme, dass die Denkprozesse, die dem simplen Drücken eines Knopfs vorausgehen, sich auf sämtliche Entscheidungsfindungen in unserem Gehirn übertragen ließen, ein passabler Denkfehler zugrunde. Schließlich kennt unser Zentralnervensystem ganz unterschiedliche Antworten auf ganz unterschiedliche Umweltreize, abhängig von Wichtigkeit und Dringlichkeit der zu fällenden Entscheidung. Wieder ein vertrautes Phänomen aus unserem Alltag als Beispiel: Berührt unsere Hand eine heiße Herdplatte, so ziehen wir sie unweigerlich zurück. Noch bevor wir auch nur den geringsten Gedanken daran verschwendet haben, denn unser Gehirn ist an dieser Handlung gar nicht beteiligt. Es handelt sich um einen simplen Reflex. Und für dessen Steuerung genügt allein das Rückenmark. Erst im Nachhinein wird uns unser Handeln überhaupt bewusst, registrieren wir im Gehirn, dass die Herdplatte heiß war und dass unsere Hand vielleicht deshalb jetzt ein wenig schmerzt, aber nichts Schlimmeres passiert ist.

Komplett anders als bei dieser unwillkürlichen Spontanhandlung verläuft dagegen der Entscheidungsprozess bei komplexeren Fragestellungen, vor allem dann, wenn nicht die Notwendigkeit für eine sofortige Reaktion besteht: bei der Partnerwahl, beim Autokauf, beim Aussuchen des Urlaubsziels oder eben bei der Planung des eigenen Lebensentwurfs. An solchen Entscheidungen ist das Gehirn maßgeblich beteiligt, nicht selten in langwierigen bewussten Abwägungen über das Für und Wider. Was allerdings keinesfalls heißen muss, dass sich die so getroffene Wahl im Endeffekt auch durchsetzen wird.

Doch zurück zu den Probanden im Versuchslabor von Libet. Für sie blieb das Drücken des Knopfs ohne jegliche Konsequenz. Und folglich verschwendeten sie keine unnötige Geistesarbeit darauf, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.

Mittlerweile gibt uns die Hirnforschung immer genauere Einblicke in den Ablauf unserer bewussten Handlungssteuerung. Und dabei kristallisiert sich heraus, dass in der Tat unsere Handlungsimpulse in unserem Unbewussten gesetzt werden. Aus dem Bauch heraus wollen wir etwas. Dann jedoch kann dieser Impuls – und darin besteht offenbar die zentrale Aufgabe unserer bewussten Denkebenen – bei Bedarf selbst im letzten Moment noch unterbunden werden. Auch hierzu hat das Experiment von Libet ein Detail zutage gefördert. Zwischen dem bewussten Erleben einer Entscheidung, im Falle seiner Versuchsteilnehmer eben jetzt den Knopf drücken zu wollen, und der aktiven Handlung selbst liegen 200 Millisekunden. Genau in diesem kurzen, aber entscheidenden Intervall kann das bewusste Kontrollzentrum des Gehirns, kann unser Verstand bis zuletzt ein Veto einlegen. Angesichts leerer Kassen vom Kauf des neuen Autos oder vom Urlaub absehen, die Erbtante leben lassen, auf das kalorienreiche Dessert verzichten.

Gerade bei Konflikten zwischen Bauch und Kopf fällt die Entscheidung oft erst im allerletzten Augenblick. Und wer dabei von beiden gewinnt, lässt sich im Einzelfall nicht verlässlich vorhersagen. Wir merken, die Sache beginnt komplex zu werden. Da gibt es bewusst und unbewusst, Gefühl und Verstand, schnelle und langsame Denkprozesse. Aber wie können wir daraus einen gelungenen Lebensentwurf zimmern?

Offenbar müssen wir uns dem Grundaufbau und der Grundfunktionsweise unseres Gehirns im Detail zuwenden, um zu verstehen, was wir wann wie wollen und entscheiden. Schon jetzt nehmen wir als erste Schlussfolgerung mit, dass wir grundsätzlich in der Lage sind, mit bewussten Entscheidungen auf unsere Lebensgestaltung einzuwirken. Das bedeutet, dass wir aktiv an den Grundlagen für ein erfülltes Leben arbeiten können. Sofern wir erkennen, was wir dafür benötigen, was, ganz biologisch gesprochen, unser Organ Gehirn braucht, um uns in der Lebenspraxis mit Erfüllung und Zufriedenheit als dauerhaftem Gefühlszustand zu belohnen.

I
Wie wir werden, wer wir sind – Grundlagen der Hirnforschung