Die Autorin
© Anette Klein
Anika Beer ist ein Herbstkind des Jahres 1983 und wuchs in der Bergstadt Oerlinghausen am Teutoburger Wald auf. Die Welt der fantastischen Geschichten begleitet sie seit frühester Kindheit: Sie lernte mit 3 Jahren lesen, im Alter von 8 bekam sie eine Schreibmaschine und fing an, erste Geschichten zu schreiben. Anika Beer begeistert sich für Kampf-kunst und fremde Kulturen und lebte ach dem Abitur einige Zeit in Spanien, bevor sie in Bielefeld eine Stelle an der Universität annahm. »Als die schwarzen Feen kamen« ist ihr erster Jugendroman.
ANIKA BEER
ist der Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
Für Sophie
Trotzdem. Weil. Und außerdem.
1. Auflage
Originalausgabe April 2012
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
© 2012 bei cbj Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Umschlagabbildung: plainpicture (arcangel/Marc Owen)/Istockphoto (Janis Litavnieks/ Jens Stolt)
Umschlagkonzeption: Kathrin Schüler
st · Herstellung: CZ
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-06837-0
www.cbj-verlag.de
Prolog: Jenseits
Dick und undurchsichtig türmten sich die Nebelschwaden am rotvioletten Himmel. Sie waren so dicht, dass nicht einmal das Licht der weißen Sonne hindurchdrang. Von einem Schritt zum nächsten war die Straße abgeschnitten, als ob sie nur einen Meter weiter einfach aufhörte, doch das tat sie nicht. Das wahre Ende musste dort in den grauen Schlieren verborgen sein. Irgendwo.
Vorsichtig schob Lea einen Fuß nach vorn, bis er vom Nebel verschluckt wurde. Kälte sickerte in ihren Schuh. Lea fröstelte und zog den Fuß wieder zurück. Zögernd hob sie die Laterne ein wenig höher. Das ölige Licht, das zuvor im Schein der Sonne verblasst war, drängte nun die dicken Schwaden zur Seite – allerdings nicht weit genug, als dass Lea weiter als eine Armlänge hätte sehen können. Nebelfetzen verfingen sich in ihren Haaren, und am liebsten wäre sie zurückgewichen. Sie wollte nicht berührt werden von diesem leichenblassen, feuchten Dunst, wollte ihn nicht einatmen und spüren, wie er ihr von innen das Leben aussaugte. Seit mehr als einem Jahr stand sie nun jeden Tag vor dieser Nebelwand, die ihre ganze Welt umschloss. Anfangs hatte sie noch geglaubt, mit der Zeit würde es ihr leichter fallen, die Schwelle zu überschreiten. Doch stattdessen wurde es mit jedem Mal schwerer, ihren Widerwillen zu bekämpfen und den Nebel zu betreten. Denn dort drin konnte es kein Leben geben. Das bleiche Grau umhüllte alles, was lebte, und verwandelte es in feuchte Kälte. Hielt man sich zu lange darin auf, fraß es das Gesicht, den Namen und die Persönlichkeit eines Menschen und zehrte ihn langsam aus, bis er nicht mehr war als ein geisterhafter Schatten seines ursprünglichen Wesens – und schließlich selbst zu Nebel wurde.
Eine kleine Ewigkeit, wie ihr schien, stand Lea nur da und lauschte, wartete auf ein Zeichen, irgendeins nur, das ihr sagte, dass sie diesmal vielleicht doch etwas finden würde … oder jemanden. Doch jenseits der trüben Schwaden war nichts zu hören. Nicht einmal ein leises Atmen.
Schließlich gab sie es auf und wandte sich zu ihrem Begleiter um. Der Maskierte sah aus seinen leeren Augenhöhlen auf sie herunter. Doch Lea spürte das Mitgefühl in seinem Blick.
»Das hat keinen Sinn, oder?« In der drückenden Stille klang es, als hätte jemand ihre Stimme in einen Blechkasten gesperrt. Lea schluckte. Ihr Hals war trocken. Sehnsüchtig sah sie zum Turm zurück, der sich in der Ferne über den schwarzen Häusern der Obsidianstadt erhob. Die bleiche Sonne brannte auf ihrer Haut. Sie konnte nicht ewig hier stehen bleiben.
Wir sollten endlich aufgeben, dachte sie mutlos. Dem Nebel den Rücken zukehren, nach Hause gehen und einfach auf das Ende warten. Bis er auch uns verschluckt …
Aber wie lange, fragte eine boshafte Stimme in ihrem Kopf, wirst du auf dich allein gestellt sein, bevor es wirklich vorbei ist? Und was wirst du tun, wenn auch der Maskierte dir nicht mehr helfen kann? Bei dem Gedanken verengte sich ihre Kehle schmerzhaft. Natürlich. Sie würden nicht gemeinsam im Nebel vergehen. Der Nebel würde sie einzeln nehmen. Einen nach dem anderen. Bis keiner mehr übrig war.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und sie sah auf. Der Maskierte nickte ihr zu und deutete wortlos auf das dichte Grau vor ihnen. Noch war er hier, sagte seine Geste. Lea verstand es auch ohne Worte. Er würde bei ihr sein, so lange er konnte. Freiwillig würde er sie niemals allein lassen. Und noch war es nicht zu spät, vielleicht doch einen Ausweg zu finden. In diesem Moment hätte Lea nichts lieber getan, als die Arme um ihn zu schlingen, ihn an sich zu drücken und hilflos zu weinen. Aber das wollte sie nicht. Für sie war er stark. Darum musste sie auch für ihn stark sein. Entschlossen presste sie die Lippen zusammen, zog sich die Kapuze ihres Mantels über den Kopf und legte ihre Hand auf die des Maskierten. Durch die Handschuhe konnte sie seine Finger spüren, die jeden Tag kälter wurden.
»Du hast ja recht«, flüsterte sie. »Wir haben keine andere Wahl.« Wir müssen den Weg finden, oder ich verliere dich auch noch …
Den letzten Gedanken ließ Lea unausgesprochen, aus Furcht, dass er zur Wahrheit würde, sobald sie ihn in Worte fasste. Sie konnte und würde nicht zulassen, dass auch er verschwand und zu Nebel wurde, wie so viele vor ihm. Wie Leas Familie und ihre Freunde, ihre Gesichter, ihre Namen.
Sie alle hatten sich mit der Zeit in den grauen Schwaden aufgelöst, bis schließlich kaum mehr die Erinnerung an sie übrig blieb. Nur noch das Wissen, dass es sie einmal gegeben hatte, steckte wie ein scharfkantiger Splitter in Leas Bewusstsein. Und obwohl es ihr wehtat, klammerte sie sich mit aller Kraft an diesem Splitter fest.
Der Maskierte musste bei ihr bleiben! Auch wenn er seinen Namen und sein Gesicht bereits dem Nebel geopfert hatte – sie musste einen Weg finden, ihn zu retten, bevor es endgültig zu spät war.
In diesem Augenblick wurde der Griff der Finger an ihrer Schulter plötzlich fester, grub sich durch den Mantel in Leas Haut. Alarmiert wandte sie sich um. Der Maskierte war neben ihr zu einer reglosen Silhouette erstarrt, wachsam und angespannt, den Kopf lauschend zur Seite geneigt. Seine rechte Hand lag auf dem Griff seines Schwertes, bereit, sie zu verteidigen.
Und im nächsten Moment hörte Lea es auch: Das Rascheln zarter Flügel, jedes für sich so fein, dass es für menschliche Ohren nicht wahrnehmbar war. Und doch war die Luft nun von einem singenden Rauschen erfüllt, das sich in Kopf und Ohren festsetzte, bis für nichts anderes mehr Raum darin blieb. Übelkeit drückte Leas Kehle zusammen, und Gänsehaut kroch über ihre Arme. Sie wusste, wer sich dort näherte. Und instinktiv wusste sie auch, dass sie sie heute mehr denn je fürchten musste. Sie kamen in einem dichten Schwarm, wie eine schimmernde Wolke riesiger schwarzer Schmetterlinge, jede so groß wie eine Männerhand, und ließen sich auf den Fenstersimsen und Giebeln der nahen Häuser nieder. Die hauchdünnen Flügel vibrierten.
Feen. Es mussten Hunderte sein.
Lea rückte einen Schritt näher an den Maskierten heran. Es war nicht das erste Mal, dass sie die Schwarzen Feen sah. Aber noch nie waren sie so nah gekommen. Und noch nie waren es so viele gewesen. Normalerweise huschten sie allenfalls kurz durch das Blickfeld, hielten sich von allem Lebenden fern und näherten sich nur den Geistern. Doch jetzt waren sie hier. Unzählige schwarz glänzende Augen beobachteten Lea und ihren Beschützer – die letzten lebenden Menschen in der Obsidianstadt.
Unwillkürlich beschattete Lea ihr Gesicht mit der Hand. Die Feen waren von einem weißlich blauen Licht umgeben, das von den Nebelschwaden um ein Vielfaches verstärkt zurückgeworfen wurde.
»Was wollt ihr von uns?« Ihre Stimme kippte und brach im singenden Flügelrauschen, das langsam an ihren Nerven zu zerren begann, bis sie sich am liebsten die Finger in die Ohren gesteckt und laut geschrien hätte, um es zu übertönen.
Sie hatte es kaum ausgesprochen, als eine der Feen wie ein schwarzer Blitz vorschoss und nach Leas Haaren griff. Erschrocken keuchte sie auf und wollte nach dem Wesen schlagen – da spürte sie plötzlich die liebkosende Berührung winziger Hände an ihrer Wange.
Keine Angst.
Wie erstarrt hielt Lea in ihrer Bewegung inne. Eine Welle von Ekel überschwemmte sie, und nur mit Mühe konnte sie ein Würgen unterdrücken. Ein schwerer Geruch, süßlich und bitter zugleich, wehte ihr entgegen. Keine Stimme war zu hören, und doch konnte sie das Gesagte deutlich verstehen. Die Worte bebten im Schwirren der vielen hundert Feenflügel und drangen in jede Faser ihres Körpers.
Du suchst einen Weg aus der Einsamkeit? Wir helfen.
Lea wurde schwindelig. Ihr Herz stolperte, während es sich vergeblich bemühte, in seinen normalen Rhythmus zurückzufinden. Die Fee schwebte bewegungslos nur wenige Zentimeter von ihrer Nase entfernt. Lea konnte die spitzen Zähne in dem dunklen, faltigen Gesicht leuchten sehen, und die knorrigen, von ledriger Haut bedeckten Glieder. Die körperlose Stimme berührte etwas in ihr. Etwas Unangenehmes, ohne dass Lea es genauer hätte beschreiben können. Es griff nach ihr und lief kalt ihren Rücken hinab, dass sie sich am liebsten geschüttelt hätte. Wie von selbst ballte sich ihre Hand zur Faust. Sie durfte sich keine Angst machen lassen. Was auch immer die Feen wollten, wenn sie sich ihrer Furcht hingab, war sie ihnen ausgeliefert.
»Was wisst ihr von meiner Einsamkeit?«
Allein wirst du deinen Freund nicht vor dem Nebel retten. Wir helfen.
Der Maskierte griff erneut nach ihrer Schulter, energischer diesmal, als ob er Lea zum Gehen bewegen wollte. Sein Schwert hatte er losgelassen. Es wäre ja doch nutzlos gegen diese schiere Übermacht.
Schmutzig, dachte Lea plötzlich, ohne zu wissen, wie das Wort in ihren Kopf gelangt war. Die Feen fühlten sich schmutzig an.
In diesem Moment verzerrte sich das Gesicht der Fee zu einem wilden Grinsen. Auf einmal war die Luft erfüllt von flirrendem, hässlichem Gelächter, das den Atem aus Leas Lungen presste und ihren Kopf zu sprengen drohte. Keuchend schlug sie die Hände auf ihre Ohren und kauerte sich zusammen, um dem Geräusch zu entgehen.
Gib es auf. Du kannst dich nicht wehren. Du willst unsere Hilfe. Du brauchst unsere Hilfe. Öffne die Tür für uns.
Die Stimme brannte sich in ihren Geist. Sie konnte sie nicht aussperren. Lea wollte schreien, aber es kam nur ein klägliches, luftleeres Wimmern aus ihrer Kehle.
Wir sind die Reisenden. Du bist der Schlüssel und das Schloss. Öffne die Tür zu der Welt, aus der wir kommen, oder der Nebel wird euch töten. Wir bringen das Leben zurück, das der Stadt gestohlen wurde. Öffne nur die Tür für uns.
Ein spitzes Jammern, das ihr selbst in den gepeinigten Ohren stach, entwich Leas staubtrockenem Mund. Blind schlug sie nach der Fee, ohne sie zu treffen, und krabbelte einige hilflose Schritte rückwärts.
Im nächsten Moment wurde sie mit einem Ruck in die Höhe gezerrt und war plötzlich mitten im Nebel, den Kopf an die Brust des Maskierten gedrückt, der sie auf den Armen trug. In rasendem Tempo liefen sie durch das dichte Grau, immer weiter und weiter, ohne anzuhalten, bis die Stimmen und das Licht der Feen vollständig von den trüben Schwaden verschluckt wurden.
Erst nach einer Weile wurde der Maskierte langsamer und blieb schließlich stehen, um Lea vorsichtig abzusetzen. Aber er ließ sie nicht los.
Zitternd klammerte Lea sich an ihn. Die Stelle, an der die Fee ihre Wange berührt hatte, brannte, als hätte jemand kaltes Eisen dagegengedrückt. Der Nebel umschloss sie mit dichtem Grau. Nur die Laterne, die am Gürtel des Maskierten schwankte, erhellte einen winzigen, schützenden Kreis.
»Sind sie weg?« Leas Stimme war nicht mehr als ein Wispern. Sanft strichen die Hände des Maskierten über ihren Rücken. Doch ein Gedanke, flatterhaft wie ein Flügelschlag, berührte ihren Geist und jagte einen Schauer über ihre Haut: Nein, sie waren nicht weg. Sie wusste es genau. Die Feen waren immer noch in der Nähe. Sie konnten nicht vor ihnen weglaufen. Weder sie noch ihr Begleiter.
Der Maskierte drückte Lea ein letztes Mal an sich. Dann ließ er sie vorsichtig los und machte die Laterne von seinem Gürtel los, um sie in die Höhe zu halten.
Natürlich, dachte Lea und griff mit bebenden Fingern nach seiner Hand. Sie mussten weitergehen, auch wenn sie das Gefühl hatte, kaum mehr stehen zu können. Sie waren tief in den Nebel vorgedrungen, weiter, als sie es je zuvor gewagt hatten. Sie mussten einen Weg zurück finden, bevor das Licht verlosch. Schon jetzt spürte Lea, wie der Nebel sie mit jedem Schritt dichter umhüllte, durch die Poren in ihre Haut sickerte und in ihren Körper eindrang. Sie mit Leere füllte. Mit Trostlosigkeit. Und mit Tod.
Ein Knoten saß in Leas Kehle. Ungewollt kamen ihr die Tränen. Die Tropfen froren auf ihren Wangen. Die Laterne flackerte.
Sinnlos, dachte sie, und wie von selbst wurden ihre Schritte langsamer. Es ist sinnlos. Wenn wir hierbleiben, werden wir sterben. Wenn wir den Nebel verlassen, werden wir auch sterben. Die Feen warten draußen auf uns. Und wenn sie uns nicht töten, dann wird es der Nebel tun, auch wenn wir nie wieder hineingehen.
Dicht bei ihr schlug das Herz des Maskierten, langsam und dumpf: ein sterbendes Herz. So bösartig sie auch sein mochten, die Feen hatten recht, das wusste Lea. Sie würde ihn niemals retten, indem sie ihn zwang, mehr Zeit im Nebel zu verbringen, auf einer Suche, die vollkommen hoffnungslos war.
Öffne die Tür … Wie ein leises Echo klangen die Worte der Fee in ihrem Kopf wieder. Oder du wirst bis in alle Ewigkeit allein sein.
Lea blieb stehen. Vielleicht war es der letzte Ausweg. War es denn nicht dumm, ein Hilfsangebot auszuschlagen, nur weil sie sich fürchtete? Sie hatte versprochen, für den Maskierten stark zu sein. Was auch immer die Feen im Schilde führten – konnte, nein, musste es ihr nicht egal sein, solange sie dadurch wenigstens eine Chance bekam, ihren letzten, ihren einzigen Freund zu retten? Ihm seinen Namen zurückzugeben? Und sein Gesicht? Selbst wenn alles andere leere Versprechungen sein sollten, allein für diese Möglichkeit musste sie es riskieren. Was hatten sie denn zu verlieren?
Nichts mehr, dachte Lea. Gar nichts mehr.
Der Griff des Maskierten um ihre Finger wurde fester. Aber Lea wollte nicht sehen, wie er den Kopf schüttelte, wollte den Vorwurf in der Finsternis seiner leeren Augenhöhlen nicht sehen. Es war ein letzter, verzweifelter Schritt. Und sie würde ihn gehen, egal was der Maskierte davon hielt. Für ihn – und auch für sich selbst.
Suchend wandte sie den Kopf, versuchte in den dichten Schwaden die Feen zu entdecken, aber vergeblich. Doch sie waren da. Lea konnte es spüren.
»Erzählt mir davon!«, rief sie mit fester Stimme.
Und der Nebel füllte sich mit Licht.
Erstes Kapitel: Schneewalzer
Die Mädchen am Tresen lachten und redeten.
In irgendeiner Tasche in der Umkleidekabine klingelte ein Handy. Am anderen Ende der Theke klirrten Gläser, und ein Verschluss löste sich zischend vom Hals einer Colaflasche. Im Saal spielte noch Musik. Theresa ließ sich dort drin von Johannes Rumba beibringen. Und draußen vor dem Fenster schneite es. Seit Stunden schon fielen dicke Flocken vom Himmel und hüllten ganz Hamburg in einen kalten weißen Pelz.
Marie starrte gedankenverloren in das grau-weiße Gestöber. Egal, wie laut es ist, dachte sie. Der Schnee macht alles still.
Mit einem leisen Seufzer stützte sie das Kinn in die Hand und sah durch die Glastür den Tänzern zu. Theresa war jetzt schon fast zwanzig Minuten im Tanzsaal und schien Marie nicht besonders zu vermissen. Ziemlich lang, wenn man bedachte, dass Marie selbst nur hier war, weil Theresa sie bei ihrer neuesten Leidenschaft unbedingt hatte dabeihaben wollen.
»Ich habe beschlossen, dass Tanzen mir im Blut liegt«, hatte sie gesagt und Marie mit ihren großen, braunen Rehaugen angesehen. Um Verständnis bettelnd, aber gleichzeitig wild entschlossen. »Du musst mir dabei helfen, ja?«
Marie kannte Theresa schon seit dem Kindergarten und sie wusste genau: Wenn ihre Freundin sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war sie davon nicht mehr abzubringen. Durch nichts auf der Welt, auch durch Marie nicht. Und obwohl Marie selbst Tanzkurse schrecklich fand und nach einigen Tanzstunden erwiesenermaßen keinerlei Talent dafür besaß, war sie nach einer Weile guten Zuredens mitgegangen. Sie hatte es sogar geschafft, sich irgendwie darauf zu freuen. Es war ein bisschen wie Karneval: Für zwei Stunden ließ sie ihre vertrauten Kapuzenpullis und Baggypants im Schrank und zog sich Klamotten an, in denen sie sich sonst niemals in die Öffentlichkeit gewagt hätte. Blusen und figurbetonte Tops, Röcke und hochhackige Schuhe – so etwas war Theresas Stil, nicht Maries, und sie würde sich niemals wirklich wohlfühlen in so einer Aufmachung. Aber wenn sie damit ihrer besten Freundin eine Freude machen konnte, dann würde sie sich eben auch mal als Prinzessin verkleiden. Immerhin war Dienstag Theresas und ihr Tag, seit Jahren schon, und daran würde auch ein Tanzkurs nichts ändern. Hatte Marie gedacht.
Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sie natürlich noch nicht gewusst, dass Theresa gleich am ersten Kurstag auf Johannes treffen würde. Johannes, der Turniertänzer. Johannes, der immer direkt nach dem Anfängerkurs mit seiner Partnerin zum Training in die Tanzschule kam. Einundzwanzig war er schon, sechs Jahre älter als Marie und Theresa. Und er war in festen Händen, denen seiner Partnerin Kathrin nämlich. Aber das hielt Theresa nicht im Geringsten davon ab, sich Hals über Kopf in ihn zu verlieben. Und so hatte Theresa, nachdem ihre Bemühungen, sich »das Tanzen ins Blut zu prügeln«, die ersten Früchte trugen, gleich den nächsten unumstößlichen Entschluss gefasst: Sie würde sich wenigstens mit Johannes anfreunden. Natürlich hatte Marie sie dazu ermutigt, wie es sich für eine beste Freundin gehörte. Aber in Wirklichkeit …
In diesem Moment wurde die Tür zum Tanzsaal schwungvoll aufgestoßen und Theresa kam mit leuchtenden Augen und geröteten Wangen an die Theke gestürmt.
»Na, wie geht’s?« Sie griff nach Maries Apfelschorle und trank einen gierigen Schluck.
Marie zuckte unbeteiligt die Schultern und hob eine Augenbraue. Diese lässige Geste hatte sie vor zwei Jahren immer wieder vor dem Spiegel geübt, als sie durch einen Psychotest in einer Zeitschrift herausgefunden hatte, dass sie ›Die coole Unnahbare‹ war. Mittlerweile fand sie solche Psychotests albern, aber die Geste war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sie meist nicht einmal mehr bemerkte. Davon abgesehen war sie sehr hilfreich, wenn Marie nicht wollte, dass jemand ihre wahren Gefühle bemerkte – so wie jetzt. Natürlich würde sie sich nicht darüber beschweren, allein an der Theke zurückgelassen worden zu sein. Insgeheim aber hätte sie Theresa am liebsten ins Gesicht gesagt, wie kindisch und unfair sie ihr Verhalten fand.
»Alles klar.« Sie rang sich ein Grinsen ab und hoffte, dass es nicht zu gequält aussah. »Und bei dir?«
»Alles cool.« Theresa strich sich mit einer geschmeidigen Handbewegung die vom Tanzen wirren Haare zurück und sah dabei wie gewohnt umwerfend aus. Sie wusste genau, wie sie den Kopf drehen musste, damit ihr schlanker weißer Hals möglichst vorteilhaft unter den dunklen Locken zur Geltung kam – und das natürlich genau im richtigen Moment, als Johannes und Kathrin durch die Tür zum Tanzsaal traten. Marie verkniff sich im letzten Augenblick ein gereiztes Kopfschütteln.
»Puh, ich glaub, ich muss mal kurz zum Klo.« Theresa schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Kommst du mit?«
Trotz allen Ärgers konnte Marie ein Lachen nicht unterdrücken. Der Vorschlag kam nicht unerwartet. Zum Klo, das konnte nur bedeuten, Theresa hatte dringend etwas zu erzählen. Allerdings bedeutete es auch, sie hatte noch längst nicht vor, nach Hause zu gehen. Dieser Gedanke wiederum war für Marie nicht unbedingt Grund zum Jubeln. Aber das behielt sie lieber für sich.
»Sicher.« Sie rutschte von ihrem Hocker und folgte Theresa in die Toilette, in deren winzigem Vorraum kaum Platz genug für zwei Leute war. Sie schloss die Tür hinter sich ab und lehnte sich gegen den Rahmen, während Theresa sich mit beiden Händen auf den Waschbeckenrand stützte und in den Spiegel starrte. Ihr Atem ging noch immer ein wenig schwer.
»Und?« Marie verschränkte die Arme vor der Brust und grinste, während sie Theresas erhitztes Spiegelbild beobachtete. »Wie war er denn so?«
Theresa warf ihr über die Schulter einen gespielt entrüsteten Blick zu. Aber ihre Augen leuchteten. »Du fiese Nuss.«
Marie lachte, und Theresa lachte mit.
Doch dann wurde ihr Gesicht plötzlich ernst. »Du Marie … ich wollte dich eigentlich was fragen.«
Marie sah ihre Freundin überrascht an. Das klang irgendwie seltsam – und ganz und gar nicht so, als ob das, was Theresa zu sagen hatte, ihr gefallen würde.
»Ach so? Was denn?«
Theresa kaute mit offensichtlichem Unbehagen auf ihrer Unterlippe. »Ich … also … würde es dir vielleicht was ausmachen, demnächst nach den Tanzstunden direkt nach Hause zu gehen? Ich meine … wegen Johannes … ich wollte mich ein bisschen mit Kathrin anfreunden, und …«
… du störst dabei.
Die Worte hingen unausgesprochen in der Luft.
Marie starrte ihre Freundin entgeistert an. Sie fühlte sich, als hätte Theresa ihr lächelnd ins Gesicht geschlagen. Sie hatte mit vielem gerechnet. Aber damit nicht.
»Tut mir leid«, murmelte Theresa. »Aber das verstehst du doch … Du … hast doch bestimmt sowieso keine Lust, hier so lange rumzuhängen, oder?«, fügte sie hastig hinzu.
Marie kniff die Lippen zusammen. In ihrer Brust brannte es. »Klar«, brachte sie hervor, doch es klang längst nicht so locker, wie sie gehofft hatte. »Hast schon recht. Kein Thema. Ich wollte sowieso gehen.«
Sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen, obwohl sie selbst nicht genau wusste, warum. Sie fühlte sich wie betäubt. »Ich hau dann jetzt auch ab. Bleibst du noch?«
Theresa nickte. Sie hatte den Blick nun fest auf die blau-weißen Bodenfliesen geheftet. »Ein bisschen.«
Marie schloss die Toilettentür auf und ging mit unsicheren Schritten zurück auf den Gang. Theresa folgte ihr wortlos. Das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Tut mir leid …«
Marie antwortete nicht. Leid … es tat ihr leid … Und was sollte sie sich dafür kaufen? Stumm zog sie ihre Jacke an, dann Schal und Handschuhe, und griff nach ihrer Tasche.
»Bis morgen dann, ja?«, sagte Theresa, in einem kläglichen Versuch, ihre Stimme normal und unbekümmert klingen zu lassen.
Aber Marie gab keine Antwort. Ihr fiel keine ein, die nicht gelogen gewesen wäre. Mit schnellen Schritten drängte sie sich an ihrer Freundin vorbei und lief die Treppe zum Eingang hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen.
Schneeflocken schmolzen auf ihrer Haut, als sie auf die Straße trat. Selbst bei diesem Wetter war die Einkaufszone bevölkert von Menschen in dicken Mänteln unter schneebedeckten Regenschirmen. Marie konnte sie vom Eingang der Tanzschule aus sehen, wie sie die Spitalerstraße entlangeilten. Doch hier in den Nebenstraßen waren nur wenige Leute unterwegs. Sie hinterließen Fußspuren in der weißen Schicht, die sich über die Hamburger Innenstadt gelegt hatte.
Und alles war still. Schneestill.
Marie blinzelte die Tränen weg, die plötzlich aus ihren Augen fallen wollten, und zog die Kapuze ihrer Jacke tief ins Gesicht.
Ein Flattern regte sich in ihrer Brust. Unruhig und fast schmerzhaft. Und nur allzu vertraut. Nicht auch das noch!, dachte Marie. Sie atmete mehrmals tief aus und ein. Aber das Flattern verschwand nicht.
Mit bebenden Fingern griff sie nach ihrem Schal, zerrte daran, um sich mehr Luft zu verschaffen, und kramte mit der anderen Hand in ihrer Tasche nach dem Tablettendöschen. Ruhig, bleib ruhig, versuchte sie sich selbst gut zuzureden. Alles in Ordnung …
Aber es war nichts in Ordnung. Das Flattern wurde stärker, drückte von innen gegen ihre Rippen, bis sie das Gefühl hatte, ihr Brustkorb würde zerspringen. Schwärze kroch vom Rand ihres Sichtfeldes auf sie zu. In ihren Ohren rauschte es. Marie taumelte und stützte sich im letzten Moment an einem parkenden Auto ab. Mit zusammengekniffenen Augen würgte sie zwei Tabletten hinunter, presste die Hände gegen das kalte, schneebedeckte Blech und zwang sich, ruhig weiter zu atmen, obwohl ihr Brustkorb zu explodieren drohte.
Ein. Aus. Ein und wieder aus.
Ganz langsam verging der Schmerz, wurde schwächer mit jedem Atemzug. Marie hätte nicht sagen können, wie lange sie so dastand, leicht vornübergebeugt, und nur mit Mühe den Würgereiz unterdrücken konnte. Endlose Sekunden später erst wich auch der Schreck aus ihrem Nacken, und ihr Herz fand allmählich in seinen normalen Rhythmus zurück. Marie wischte sich erschöpft über die trockenen Lippen und richtete sich auf. Ihre Beine fühlten sich an wie aus Pudding, und am liebsten hätte sie sich hingesetzt, die Hand noch immer fest in den Jackenkragen verkrampft.
Eine ganze Weile noch blieb sie einfach stehen und versuchte, sich zu erholen. Der Anfall war unerwartet gekommen. Dieses Flattern in der Brust hatte sie schon ewig nicht mehr gespürt. So lange, dass sie fast vergessen hatte, wie schmerzhaft es war.
Benommen sah sie zu den hell erleuchteten Fenstern der Tanzschule hinauf. Beinahe bildete sie sich ein, die Musik bis zu ihr auf die Straße dringen zu hören. Ein Nachhall des Flatterns ließ Maries Körper erzittern, als sie daran dachte, dass Theresa dort oben noch immer mit Johannes tanzte, während sie hier unten beinahe zusammengebrochen wäre. Ihre Freundin würde ihr nicht nachlaufen, dachte Marie mit einem Anflug von Bitterkeit. So viel war nun wohl sicher.
Schließlich, als der Schnee sich bereits als feine weiße Schicht auf ihrer Jacke festgesetzt hatte und ihre Füße allmählich zu frostigen Klumpen erstarrten, wandte Marie sich endgültig ab. Sie fühlte sich leer, müde und erschöpft, und sie wollte nur noch eins: nach Hause. In ihr Bett, und sich die Decke über den Kopf ziehen. Schlafen. Und gar nichts mehr sehen oder denken.
Ihre Mutter rumorte in der Küche, als Marie die Wohnungstür aufschloss. Bis in den Flur roch es nach Tee und geröstetem Brot.
Marie warf ihre Mütze und die Handschuhe auf die Kommode und streifte ihre Schuhe neben der Heizung ab, ohne das Licht einzuschalten.
»Bin wieder da!«
In der Küche wurde es kurz still. Dann öffnete sich die Tür und vor dem erleuchteten Rechteck des Rahmens erschien Karins Silhouette. Ihre kurzen Haare waren zerwühlt, wie immer, wenn sie sich über etwas geärgert hatte, und das gelbe Licht der Küchenlampe glitzerte in ihren Brillengläsern. Wie ein Raubvogel sah sie aus – und gleich würde sie auf ihre Tochter niederstürzen. Marie atmete tief durch und versuchte, sich auf das Unvermeidliche vorzubereiten. Als wäre der Tag nicht auch so mies genug gewesen.
»Hallo Marie. Wie war der Kurs?« Obwohl die Frage in einem neutralen Tonfall gestellt war, bemerkte Marie sofort den unterschwelligen Vorwurf. Du hast schon wieder deine alte Wäsche im Bad liegen lassen, lautete die stumme Anklage. Und: Die Spülmaschine hast du auch nicht mehr ausgeräumt, bevor du gegangen bist.
»Ganz gut«, antwortete Marie einsilbig und hoffte, in ihr Zimmer verschwinden zu können, bevor ihre Mutter entschied, dass die Kein-Streit-direkt-beim-Heimkommen-Schonfrist vorüber war. Natürlich, sie befand sich in allen Anklagepunkten für schuldig. Und nein, es war nicht das erste Mal, dass sie diese Diskussion führten – es war nicht mal so, dass Marie ihrer Mutter nicht insgeheim recht gab. Aber gerade heute war ein Streit mit Karin das Allerletzte, was sie noch gebrauchen konnte. Vorsichtshalber stellte sie ihre Schuhe ordentlich auf die Fußmatte und legte die Handschuhe und die Mütze zum Trocknen über die Heizung, bevor sie die Jacke auszog und über einen Bügel hängte. Manchmal half es, guten Willen zu zeigen.
»Hattest du nicht gesagt, Theresa kommt noch mit hierher?«
Die Frage traf wie ein Pfeil in die Brust. Marie presste die Lippen zusammen.
»Nein«, murmelte sie undeutlich, ohne ihre Mutter anzusehen, und ignorierte dabei das Flattern, das schon wieder wie ein Echo des Anfalls in ihrem Körper vibrierte. »Ich muss noch Hausaufgaben machen.«
Karin holte etwas angestrengt Luft. Marie konnte das Wort »Spülmaschine« förmlich hören, ohne dass es ausgesprochen wurde. Theresa war nicht da – also musste auch auf niemanden Rücksicht genommen werden.
»Marie, wir hatten doch ausgemacht, dass …«
»Ich weiß!« Die Tränen, die sie auf dem Weg nach Hause so angestrengt zurückgedrängt hatte, stiegen nun doch in ihre Augen. »Aber ich hab jetzt keinen Nerv drauf, okay?«
Ohne noch eine Antwort abzuwarten, stürmte Marie an Karin vorbei in ihr Zimmer und warf die Tür krachend hinter sich ins Schloss. Sie wollte es nicht hören. Sie wollte gar nichts hören. Konnte ihre eigene Mutter denn nicht sehen, dass es ihr dreckig ging? Musste sie trotzdem mit diesem unnötigen Gemotze anfangen? Sie hatte einen Anfall gehabt, verflucht! Mit einem heiseren Schluchzen ließ sich Marie auf ihr Bett fallen und vergrub das Gesicht im Kissen.
Leises Klopfen ertönte von der Tür her.
»Marie …?«
Marie gab keine Antwort. Mit vorsichtigen Schritten betrat ihre Mutter das Zimmer.
»Ist etwas passiert?«
Zitternd atmete Marie in das Kissen, das allmählich feucht wurde. Aber sie sagte nichts. Eine Weile blieb es an der Tür still – dann hörte Marie, wie ihre Mutter sich näherte. Die Matratze wippte, als sie sich vorsichtig auf die Bettkante setzte. Marie spürte sanfte Finger, die ihr behutsam über den Kopf strichen.
»Alles in Ordnung, Kleines?«
Marie drückte ihr Gesicht noch fester in das Kissen. Ein erneutes Schluchzen rüttelte an ihrem Brustkorb.
»Geh weg«, murmelte sie heiser.
Die streichelnde Hand hielt inne. Einen Moment lang lag sie warm und schwer auf Maries Hinterkopf. Dann seufzte Karin leise und zog ihren Arm zurück.
»Tut mir leid, Liebes. Ich hatte einen stressigen Tag im Büro. Ich hätte das nicht an dir auslassen dürfen.«
Marie umklammerte ihr Kissen noch ein wenig fester, obwohl sie allmählich keine Luft mehr bekam. »Lass mich einfach in Ruhe«, nuschelte sie in die Federn.
Ihre Mutter schwieg eine Weile. Dann aber seufzte sie erneut, ein wenig schwerer diesmal, und stand auf.
»Ich bin im Wohnzimmer, falls du etwas brauchst. Oder falls du reden möchtest. Du kannst immer zu mir kommen, Marie – das weißt du doch, oder?«
Marie gab keine Antwort. Und dann, endlich, ging ihre Mutter, genau so leise, wie sie hereingekommen war.
Marie drehte den Kopf zur Seite und starrte stumpf an die Wand mit der Raufasertapete neben ihrem Bett. Die Tränen flossen ihr immer noch aus den Augen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Ihr war klar, dass sie sich albern verhielt und dass ihre Reaktion kindisch war – etwas, das Marie an den meisten anderen Mädchen in ihrem Alter nicht ausstehen konnte. Sie wusste, sie hätte ihrer Mutter von dem Anfall erzählen müssen, selbst wenn sie ihr den Streit mit Theresa verschwieg. Sie musste einen Termin außer der Reihe bei Dr. Roth machen. Sie musste mit ihrem Therapeuten reden, das hatte sie ihm fest versprochen.
Aber gerade jetzt wollte Marie einfach nur weinen und sich selbst bemitleiden. Zumindest für eine Weile.
Sie rollte sich so eng zusammen wie möglich und zog die Bettdecke bis zu ihrer Nasenspitze nach oben. Ein wenig bereute sie es nun doch, ihre Mutter weggeschickt zu haben. Es tat einfach gut, ein wenig den Kopf gestreichelt zu bekommen. Und Karin war ja wirklich niemand, der auf einem Streit über Spülmaschinen beharrte, wenn es ihrer Tochter schlecht ging. Aber an Tagen wie diesem war sie einfach nicht die Person, von der Marie sich streicheln lassen wollte. Sie war nun einmal nicht ihr Vater. Und der würde nicht kommen. Konnte nicht kommen. Nie mehr.
Nach und nach wich die Schneekälte aus Maries Knochen. Die Wärme beruhigte ihre aufgewühlten Gedanken und machte sie schläfrig. Marie schniefte und zerrte ein Päckchen Taschentücher aus der Ritze zwischen Matratze und Wand. Dumm, dachte sie. Sie verhielt sich dumm und kindisch. Morgen würde sie noch mal mit Theresa reden. Höchstwahrscheinlich tat es ihrer Freundin inzwischen leid, und immerhin war sie verliebt. Verliebte Menschen taten seltsame Dinge, so viel hatte Marie schon verstanden, auch wenn sie selbst noch keine Erfahrungen damit gemacht hatte. Sie zog die Decke über ihren Kopf. Darunter war es warm und dunkel. Die Lider wurden ihr allmählich schwer. Der Anfall steckte ihr noch immer in den Knochen, und das Weinen hatte sie erschöpft. Heute war einfach ein mieser Tag. Bloß gut, dass er jetzt bald vorbei war. Flüchtig streifte sie der Gedanke an die unerledigten Hausaufgaben. Aber die waren jenseits ihrer Deckenhöhle und damit unendlich weit entfernt. Nur kurz die Augen zumachen, dachte sie. Die blöden Englischaufgaben können auch noch eine Viertelstunde warten.
Doch noch ehe sie den Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, war sie auch schon fest eingeschlafen.