WIE DIE PFLANZEN
UNSERE ZUKUNFT ERFINDEN
Aus dem Italienischen
von Christine Ammann
Verlag Antje Kunstmann
Für Annina
VORWORT
1 GEDÄCHTNIS OHNE GEHIRN
Tiere und Pflanzen lernen durch Erfahrung
Pflanzen mit langem Gedächtnis
2 VON DER PFLANZE ZUM PLANTOIDEN
Ist die Bioinspiration wirklich ein neuer Ansatz?
Warum ausgerechnet die Pflanzen?
Die Individualität der Pflanzen
Von Pflanzen inspiriert: Der Plantoid
3 DIE RAFFINIERTE KUNST DER NACHAHMUNG
Vorbild, Nachahmer und Empfänger
Die Königin der Mimikry, Boquila trifoliolata, und die Augen der Pflanzen
Pflanzen, Steine und farbige Signale
Human Resources oder
der Mensch als Ressource der Pflanze
4 BEWEGUNG OHNE MUSKELKRAFT
Und sie bewegen sich doch!
Pinienzapfen und Hafergrannen
Bewegungsfreudige Samen:
der Gewöhnliche Reiherschnabel
5 CHILI-SÜCHTIGE
UND ANDERE PFLANZENSKLAVEN
Die Kunst der Manipulation
Extraflorale Nektarien:
Von Dealern und Konsumenten
Meine erste Begegnung mit Chili-Süchtigen
Chemische Manipulation
6 GRÜNE DEMOKRATIEN
Ein paar Vorbemerkungen zum
Körper der Pflanzen
Problemlöser und Problemvermeider
Wurzelschwärme und Insektenstaaten
Athener, Bienen, Demokratie
und Pflanzenmodule
Das Condorcet-Jury-Theorem
Die doppelte Buchführung der Vernunft
Organisation und Chaos
Kooperativ wie Pflanzen
7 ÜRPFLANZEN
Ein Wohn-Tower wie ein Zweig
Victoria Amazonica: Wie ein Blatt
die Londoner Weltausstellung rettete
Kaktus, Wasser und Hochhäuser
8 WELTRAUMPFLANZEN
Unsere Reisegefährten im All
Paria des Himmels
9 LEBEN OHNE SÜSSWASSER
Süßwasser, eine begrenzte Ressource
Mit Salzwasser leben
Jellyfish Barge –
Das schwimmende Gewächshaus
ANHANG
Literaturhinweise
Manchmal denke ich, dass den meisten Menschen gar nicht bewusst ist, welche Bedeutung die Pflanzen für uns haben. Jeder weiß zwar, so hoffe ich zumindest, dass sie den Sauerstoff produzieren, den wir einatmen, und dass sie letztendlich am Anfang der Nahrungskette aller Tiere stehen. Aber wer denkt schon daran, dass sämtliche fossilen Energien wie Erdöl, Kohle oder Gas eigentlich nichts anderes sind als Sonnenenergie, die vor Jahrmillionen von Pflanzen umgewandelt und gespeichert wurde? Oder dass die meisten Wirkstoffe in unseren Arzneimitteln von Pflanzen stammen? Oder dass das wichtigste Baumaterial in vielen Weltgegenden noch immer das dafür so hervorragend geeignete Holz ist? Wenn wir es genau betrachten, sind wir, wie alle anderen tierischen Lebensformen, auf Gedeih und Verderb auf die Pflanzen angewiesen.
Nun sollte man annehmen, dass wir daher über die Pflanzen – von denen noch dazu ein Großteil unserer Wirtschaft abhängt – allerbestens Bescheid wüssten. Doch weit gefehlt: Allein 2015 wurden noch sage und schreibe 2034 neue Pflanzen entdeckt – und nicht etwa nur winzige Pflänzchen, die man leicht übersehen könnte. Gilbertiodendron maximum beispielsweise ist ein ungefähr 45 Meter hoher endemischer Baum im Regenwald von Gabun, mit bis zu 1,5 Meter Stammdurchmesser und über hundert Tonnen Gesamtgewicht. Und 2015 war auch kein Ausnahmejahr: Im letzten Jahrzehnt gab es jährlich über zweitausend Erstbeschreibungen neuer Arten.
Die Suche nach noch unentdeckten Pflanzen lohnt sich auf jeden Fall. Wir nutzen heute nachweislich über 31 000 Pflanzenarten: fast 18 000 davon für medizinische Zwecke, weitere 6000 für unsere Ernährung, 11 000 als Textilfasern und Baumaterial, 1300 im gesellschaftlichen Rahmen – etwa für religiöse Riten oder als Drogen –, 1600 als Energiequelle, 4000 als Tierfutter, 8000 für Umweltzwecke, 2500 als Gift – und so weiter. Wie sich leicht ausrechnen lässt, profitieren wir unmittelbar von 10 Prozent aller Pflanzenarten. Noch lohnender wäre es allerdings, wenn wir sie nicht nur nutzen, sondern auch von ihnen lernen würden.
Pflanzen sind nämlich vorbildlich zeitgemäß. Und genau das will ich mit diesem Buch zeigen. Die Pflanzenwelt hat schon vor undenklichen Zeiten optimale Lösungen für die Probleme entwickelt, mit denen wir heute zu tun haben, ob es um Materialien, autonome Energieversorgung, Resilienz oder Anpassungsstrategien geht. Eigentlich müssten wir jetzt nur noch wissen, wie und wo wir am besten suchen.
Pflanzen und Tiere haben sich in einem Prozess, der vor etwa einer Milliarde Jahre begann und vor 400 Millionen Jahren endete, evolutionär in die entgegengesetzte Richtung entwickelt. Auf der Suche nach Nahrung bewegten sich die Tiere fort; die Pflanzen aber blieben am Ort, erzeugten mithilfe der Sonne die notwendige Energie und passten sich an das ortsgebundene Leben an, etwa daran, dass sie leichte Beute waren. Keine einfache Aufgabe. Können Sie sich vorstellen, wie schwer es ist, in einer feindlichen Umgebung zu überleben, wenn man sich nicht vom Fleck rühren kann? Wie es wäre, eine von Insekten, pflanzenfressenden Tieren und anderen Feinden umlauerte Pflanze zu sein und nicht fliehen zu können? Sie hätten dann nur eine Überlebenschance: Ihr Körper müsste unzerstörbar sein und folglich völlig anders aufgebaut als jener der Tiere. Sie müssten eben eine Pflanze sein.
Die Pflanzen schlugen angesichts ihrer Fressfeinde einen evolutionär einzigartigen und von dem der Tiere so weit entfernten Weg ein, dass sie für uns geradezu zum Sinnbild der Andersartigkeit geworden sind. Sie könnten genauso gut Außerirdische sein, so grundlegend unterscheidet sich ihr Organismus von unserem. Viele Lösungen der Pflanzen sind denen der Tierwelt diametral entgegengesetzt: Die Tiere sind mobil, die Pflanzen sesshaft; die Tiere schnell, die Pflanzen langsam. Tiere sind Verbraucher, Pflanzen Erzeuger; Tiere produzieren CO2, Pflanzen binden es, und so weiter. Doch der entscheidende und kaum jemandem bewusste Unterschied zwischen Pflanze und Tier liegt ganz woanders, nämlich im Gegensatz zwischen dezentraler Verteilung und Konzentration. Während sich die Körperfunktionen der Tiere in bestimmten Organen konzentrieren, sind die der Pflanzen über den ganzen Körper verteilt. Die weitreichenden Folgen, die sich daraus ergeben, können wir noch kaum überblicken. Pflanzen wirken auf uns auch darum so grundlegend anders, weil sie völlig anders aufgebaut sind als wir.
Wenn der Mensch Werkzeuge baut, will er stets sich und seine Körperfunktionen ersetzen, erweitern oder verbessern. Unsere Werkzeuge und Geräte orientieren sich deshalb am Aufbau des tierischen Organismus. Nehmen wir beispielsweise den Computer. Seine Bauweise beruht auf einer uralten Blaupause: Ein Prozessor steuert, ähnlich wie ein Gehirn, Hardware, Festplatten, Arbeitsspeicher, Grafik- und Audiokarten. Wir haben also unsere Organe einfach auf eine künstliche Intelligenz übertragen. Was immer der Mensch gebaut hat, gründet mehr oder weniger offensichtlich auf derselben Architektur: Ein zentrales Gehirn steuert die ausführenden Organe. Selbst unsere Gesellschaften basieren auf diesem archaischen, hierarchischen und zentral gelenkten Modell. Dabei bietet es nur einen einzigen Vorteil. Es liefert schnelle Antworten – die aber nicht unbedingt richtig sein müssen. Ansonsten ist es anfällig und alles andere als innovativ.
Die Pflanzen besitzen dagegen kein Organ wie ein zentrales Gehirn. Trotzdem können sie ihre Umgebung sensibler wahrnehmen als Tiere, sie können aktiv um begrenzte Boden- und Luftressourcen kämpfen, Situationen zuverlässig beurteilen, raffinierte Kosten-Nutzen-Rechnungen durchführen und angemessen auf Umweltreize reagieren. Sie könnten für uns also eine alternative Blaupause sein, die wir ernsthaft in Betracht ziehen sollten. Umso mehr, als wir Veränderungen heute immer schneller erkennen und umgehend hochinnovative Lösungen entwickeln müssen.
Zentralistische Strukturen sind per se schwach. Hernán Cortés landete am 22. April 1519 mit nur hundert Matrosen, fünfhundert Soldaten und ein paar Pferden in Mexiko, nahe dem heutigen Veracruz. Schon zwei Jahre später, am 13. August 1521, war mit dem Fall der Hauptstadt Tenochtitlan das Ende der aztekischen Kultur besiegelt. Dasselbe Schicksal widerfuhr einige Zeit später auch den Inka; sie wurden 1533 von Francisco Pizarro besiegt. In beiden Fällen konnten winzige Heere jahrhundertealte Großreiche vernichten, indem sie einfach die Könige, Montezuma und tahualpa, gefangen nahmen. Die zentralistischen Staaten erwiesen sich als angreifbar und verletzlich. Doch nur wenige Hundert Kilometer nördlich von Tenochtitlan lebten die Apachen, die längst nicht so fortschrittlich waren wie die Azteken, aber auch nicht zentralistisch organisiert. Sie konnten sich, wenn auch nur in einem langen Krieg, erfolgreich gegen Cortés zur Wehr setzen.
Das pflanzliche Modell ist wesentlich widerstandsfähiger und zeitgemäßer als das der Tiere. Pflanzen sind ein lebendes Beispiel dafür, dass Robustheit und Flexibilität kein Widerspruch sein müssen. Ihr modularer Aufbau macht sie zum Inbegriff der Moderne: Dank ihrer kooperativen, verteilten Architektur ohne Kommandozentrale bleiben sie selbst in Katastrophenfällen funktionsfähig und passen sich schnell an veränderte Umweltbedingungen an.
Die wichtigsten Körperfunktionen der komplex aufgebauten Pflanzen können sich dabei auf ein hoch entwickeltes sensorisches System stützen, das eine effiziente Erkundung der Umwelt und eine schnelle Reaktion auf Bedrohungen ermöglicht. So verfügen Pflanzen über ein raffiniertes, sich kontinuierlich weiterentwickelndes Netzwerk aus Wurzelspitzen, die den Boden aktiv erforschen. Nicht nur zufällig ist auch das Internet, der Inbegriff unserer modernen Welt, wie ein Wurzelnetzwerk aufgebaut.
Weil Pflanzen durch ihren einzigartigen evolutionären Weg eine wesentlich zeitgemäßere Struktur aufweisen als Tiere, kann es in puncto Robustheit und Innovationskraft niemand mit ihnen aufnehmen.
Wir täten gut daran, dem Rechnung zu tragen, wenn wir uns Gedanken über unsere eigene Zukunft machen.
Gedächtnis: Fähigkeit des Gehirns, die die Speicherung von Lernstoff, Eindrücken, Erlebnissen und Erfahrungen und die Reproduktion derselben zu einem späteren Zeitpunkt möglich macht, Erinnerungsvermögen
Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache – DWDS
Die Klugheit ist die Ehefrau, die Fantasie die Geliebte und die Erinnerung die Dienstmagd.
Victor Hugo, Post-scriptum de ma vie
Wir besitzen ein gigantisches Gedächtnis, von dem wir aber nichts wissen.
Denis Diderot
Ich habe mich schon immer für die Intelligenz der Pflanzen interessiert und darum zwangsläufig auch für ihr Gedächtnis. Im ersten Moment klingt das vielleicht seltsam: ihr Gedächtnis. Aber schauen wir doch einmal genauer hin. Man kann sich ja durchaus vorstellen, dass Intelligenz nicht einem einzelnen Organ zuzuordnen ist, gehört sie doch zum Leben selbst. Wie die Pflanzen zeigen, ist das Großhirn lediglich ein evolutionärer «Zufall», der nur bei den Tieren, also einem winzigen Teil der Lebewesen, auftritt. Bei der überwiegenden Mehrheit, den Pflanzen, hat sich die Intelligenz ohne Gehirn entwickelt. Andererseits kann ich mir beim besten Willen keine Form von Intelligenz – und sei sie auch noch so speziell – vorstellen, die ohne Gedächtnis auskommt.
Gedächtnis ist also nicht dasselbe wie Intelligenz. Ohne Gedächtnis können wir nichts lernen, und ohne Lernen ist Intelligenz unmöglich. Steht ein Lebewesen mehrfach vor demselben Problem, werden wir es nur dann als intelligent bezeichnen, wenn es auf das Problem mit der Zeit besser reagiert. Sicher haben wir alle manchmal das Gefühl, immer wieder dasselbe Verhalten zu zeigen, obwohl wir es eigentlich besser wissen müssten. Und jedem fallen wohl Freunde oder Verwandte ein, die in bestimmten Situationen immer gleich, also niemals auch nur einen Deut klüger reagieren. Doch das ist nur unser Eindruck. Von Ausnahmen oder Sonderfällen abgesehen, die oft mit kleineren pathologischen Störungen zusammenhängen, lernen alle Lebewesen durch Erfahrung. Und diese goldene Regel gilt auch für Pflanzen. Wenn sich Probleme wiederholen, reagieren sie immer angemessener. Und das wäre nicht möglich, wenn sie die Informationen zur Problemlösung nicht irgendwo abspeichern würden. Wenn sie also kein Gedächtnis besäßen.
Aber glauben Sie bloß nicht, dass man deshalb schon offen von einem pflanzlichen Gedächtnis spricht. Weil die Pflanzen kein Gehirn besitzen, hat man sich zur Erklärung der zahlreichen Aktivitäten, für die Tiere analog das Gehirn benutzen, nämlich die verschiedensten Fachbegriffe ausgedacht: Akklimatisierung, Abhärtung, Priming, Konditionierung … Die Wissenschaft hat also linguistische Drahtseilakte vollführt, um in Bezug auf Pflanzen den alten, bequemen und einfachen Begriff «Gedächtnis» zu umgehen.
Doch ebenso wie die Tiere lernen Pflanzen aus Erfahrung und müssen folglich ein Erinnerungsvermögen besitzen. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Olivenbaum kann Stresssituationen wie trockene oder salzige Böden überleben, weil er Anatomie und Stoffwechsel entsprechend verändert. Das wäre an sich noch nichts Besonderes. Aber wenn wir dieselbe Pflanze nach einer gewissen Zeit derselben Stresssituation, vielleicht sogar noch in verstärkter Form, aussetzen, fällt ihre Reaktion scheinbar überraschend aus, nämlich besser. Sie hat ihre Lektion gelernt! Irgendwie hat sie die angewandte Lösung gespeichert, umgehend abgerufen und so diesmal effizienter und präziser reagiert. Um ihre Überlebenschancen zu erhöhen, hat sie aus Erfahrung gelernt und sich die optimale Reaktion gemerkt.
Vieles in der Pflanzenwelt, das analog zur Tierwelt abläuft, ist mittlerweile zufriedenstellend erforscht: Intelligenz, Kommunikation, Verteidigungsstrategien oder Verhalten. Nur zum Gedächtnis hat man erst kürzlich Vergleichstests durchgeführt. Das ist umso erstaunlicher, als der Vorreiter auf diesem Gebiet einer der berühmtesten Naturwissenschaftler war: Lamarck (1744–1829), oder besser Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet, Chevalier de Lamarck – weil seine wissenschaftliche Leistung damit würdig zum Ausdruck kommt. Wie andere Naturforscher seiner Zeit interessierte sich der Vater der Biologie – der Begriff geht auf ihn zurück – besonders für die schnellen Bewegungen der sogenannten Sinnpflanzen, Pflanzen also, die umgehend und offensichtlich auf bestimmte Reize reagieren. Lamarck hat sich vor allem lange mit der Frage beschäftigt, wie und warum die Mimose ihre Blättchen plötzlich schließt. Und um es gleich vorwegzunehmen, so genau wissen wir es bis heute nicht.
Ich nehme an, Sie kennen Mimosen. Man kann sie ja heute im Supermarkt kaufen. Aber falls jemand noch keine gesehen hat: Es handelt sich um eine kleine, anmutige Pflanze, die ihre Blättchen bei äußeren Reizen wie Berührungen schamhaft schließt und darum auch Mimosa pudica, «Schamhafte Sinnpflanze» genannt wird. Sie stammt ursprünglich aus den amerikanischen Tropen, stieß aber durch ihre unmittelbare, bei Pflanzen seltene Reaktion in Europa schnell auf großes Interesse. So haben sich mit ihr etwa der Brite Robert Hooke (1635–1703) beschäftigt, der erstmals eine Zelle unter dem Mikroskop betrachtete und beschrieb, oder auch der Vater der Zellbiologie, Henri Dutrochet (1776–1847). Kurz und gut: Eine Zeit lang war die Mimose ein echter Star.
Auch Chevalier de Lamarck konnte sich ihrer Faszination nicht entziehen. Er führte zahllose Versuche durch, um ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen, und erforschte ihr Verhalten in, gelinde gesagt, ausgefallenen Situationen. Vor allem verwunderte ihn, dass die Pflanze irgendwann nicht mehr reagierte, wenn man sie wiederholt demselben Reiz aussetzte. Sie ignorierte ihn einfach. Lamarck vermutete ganz richtig, die Pflanze sei «müde». Wenn sich die Blättchen wiederholt schließen und öffnen, fehlt ihnen irgendwann einfach die Kraft. Anscheinend, so nahm er an, galt für die Mimose also Ähnliches wie für die Muskeln von Tieren, die auch nur so lange arbeiten können, wie die Energie reicht. Doch seltsamerweise stimmte das nicht in jedem Fall.
So fiel Lamarck auf, dass manche Pflanzen die Blättchen nicht mehr schlossen, obwohl sie noch längst nicht erschöpft waren. Erstaunt fragte er sich nach dem Grund und stieß eines Tages auf einen originellen Versuch, der seine Frage zu beantworten schien. Für den Versuch hatte der Botaniker René Desfontaines (1750–1833) einen Studenten mit jeder Menge Mimosentöpfen auf eine Kutschfahrt durch Paris geschickt und ihm aufgetragen, die Pflanzen genauestens zu beobachten. Vor allem sei darauf zu achten, wann sich die Blättchen schließen. Wir kennen den Namen des Studenten nicht, aber er war von seinem Professor offenbar Seltsames gewöhnt und fragte nicht lange nach. Er verteilte die Mimosentöpfe auf den Sitzen und befahl dem Kutscher, in gleichmäßigem Trab und möglichst ohne anzuhalten die Sehenswürdigkeiten der Stadt abzuklappern.
Der Student hatte wohl kaum Gelegenheit, die Spazierfahrt zu genießen, denn schon beim ersten Rütteln und Schütteln der Kutsche auf dem Pariser Kopfsteinpflaster schlossen sich die Blättchen, und er war vollauf damit beschäftigt, alle Beobachtungen in sein Notizbuch einzutragen. Doch der Versuch dürfte ihm trotzdem recht langweilig vorgekommen sein. Desfontaines würde damit nicht zufrieden sein. Denn was sollte jetzt noch groß passieren? Die Blättchen hatten sich wie vorhergesehen sofort geschlossen – und nun? Was wollte sein Professor bloß mit dem Versuch? Heute war offenbar nicht der richtige Tag für bahnbrechende Ergebnisse. Doch als der Student so dasaß, passierte plötzlich etwas Unerwartetes. Obwohl die Kutsche unvermindert und ohne Unterlass vibrierte, öffneten erst eine, dann zwei, dann fünf und schließlich alle Pflanzen ihre Blättchen. Was war denn jetzt los? Der unbekannte Student hatte eine geniale Eingebung und schrieb in sein Notizbuch: Die Pflänzchen haben sich an das Ruckeln gewöhnt.
Der Versuch auf den Straßen von Paris war der Botanischen Gesellschaft immerhin eine Notiz wert, und Lamarck und Augustin-Pyramus de Candolle (1778–1841) einen kurzen Bericht in ihrem Werk Flore française. Doch wie viele andere geniale Entdeckungen gerieten auch diese Versuchsergebnisse bald in Vergessenheit. Dabei war Desfontaines’ Text ziemlich eindeutig und implizierte ganz klar ein Anpassungsverhalten, das ein Speichern von Informationen, also Gedächtnis voraussetzte. Denn wie hätten sich die Mimosen an das Rütteln der Kutsche gewöhnen können, wenn sie kein Erinnerungsvermögen besaßen? Allerdings fehlte für diese interessante Annahme lange jeder wissenschaftliche Beleg.
Doch im Mai 2013 kam Monica Gagliano von der University of Western Australia in Perth für sechs Monate ans LINV (Laboratorio internazionale di neurobiologia vegetale), das von mir geleitete Internationale Institut für Pflanzenneurobiologie an der Universität Florenz. Die Meeresbiologin war vielseitig interessiert, an der Philosophie ebenso wie an der Evolutionsgeschichte der Pflanzen. Mit diesem Forschungsaufenthalt wollte sie vor allem ihre Botanikkenntnisse vertiefen, und ihre besondere Aufmerksamkeit galt dabei dem Verhalten der Pflanzen. Wir unterhielten uns natürlich ausgiebig über unsere Forschungsgebiete, und irgendwann entwickelten wir einige gemeinsame Versuche, die sich einerseits vor ihrer Universität rechtfertigen ließen und uns andererseits Antworten auf die brennendsten Fragen aus unseren Gesprächen geben sollten. Mir schien eine Frage von besonderer Bedeutung: Besitzen Pflanzen wirklich ein Gedächtnis? Obwohl man ihnen schon länger ein hervorragendes Erinnerungsvermögen zuschrieb, gab es dafür noch keinen wissenschaftlichen Beweis. Ich wollte das pflanzliche Gedächtnis endlich experimentell belegen. Nachdem wir uns also auf das Thema geeinigt hatten, blieb uns noch der schwierigste Teil der Aufgabe: Wie sollten wir beweisen, dass Pflanzen auf wiederholte Reize zunehmend besser reagieren, weil sie über eine spezielle Form von Gedächtnis verfügen?
Als ich wenige Monate zuvor den japanischen LINVSitz in Kitakyūshū besucht hatte, hatte mir der Leiter, mein Freund und Kollege Tomonori Kawano, mit berechtigtem Stolz einige Bücher gezeigt, die die Pariser Sorbonne mit Tausenden anderen einstampfen lassen wollte. Es war ihm in zähen Verhandlungen gelungen, die Bücher zu retten und nach Japan zu bringen. Unter den zahlreichen Schätzen befand sich auch eine Originalausgabe der Flore française von Lamarck und de Candolle – und darin der Bericht über Desfontaines und wie er Mimosenpflänzchen durch Paris kutschieren ließ. Wir hatten uns beim Lesen köstlich amüsiert – Tomonori hatte Desfontaines’ Studenten als japanischen Musterschüler bezeichnet –, und nun fiel mir die Geschichte wieder ein. Ich erzählte Monica davon, und wir fragten uns, ob wir den Klassiker nicht einfach mit heutigen wissenschaftlichen Methoden wiederholen sollten. Und tatsächlich konnten wir schon wenige Tage später einen aktuellen Bericht über den «Versuch von Lamarck und Desfontaines», wie wir die Experimente spontan nannten, verschicken.
Im Jahr 2013 konnte man sich nicht mehr einfach mit Pflanzen in eine Kutsche setzen, aber Lamarcks Reizwiederholung griffen wir gern auf. Wir wollten beweisen, dass Mimosenpflänzchen erstens einen Reiz nach einer gewissen Anzahl von Wiederholungen als ungefährlich einstufen und ihre Blättchen nicht mehr schließen, und dass sie zweitens, nach entsprechender Vorbereitung, zwischen bekanntem und unbekanntem Reiz unterscheiden können und demgemäß reagieren. Anders gesagt, wir wollten herausfinden, ob sich die Pflänzchen an bekannte, ungefährliche Reize erinnern und diese von neuen, potenziell gefährlichen Reizen unterscheiden können.
Eine einfache, aber wirksame Anordnung für unseren Versuch «Lamarck und Desfontaines» war schnell gefunden. Wir ließen Mimosentöpfe in einer speziellen Versuchseinrichtung mehrfach zehn Zentimeter tief fallen. Der präzis quantifizierbare Sturz stellte also den Reiz dar. Unser Versuchsergebnis ließ keine Wünsche offen; Desfontaines’ Beobachtungen stimmten haargenau: Nach sieben oder acht Wiederholungen schlossen sich die Blättchen nicht mehr, und jede weitere Wiederholung wurde souverän ignoriert. Nun mussten wir allerdings noch herausfinden, ob es sich bloß um eine Ermüdungserscheinung handelte oder ob die Mimosen wirklich erkannt hatten, dass der Reiz ungefährlich war. Wir mussten sie also einem neuen Reiz aussetzen. Dazu stellten wir die Töpfe in einen Apparat, in dem sie horizontal geschüttelt wurden. Und siehe da: Bei diesem neuen, ebenfalls exakt quantifizierbaren Reiz schlossen sich die Blättchen sofort. Ein fantastisches Ergebnis. Mit dem Versuch «Lamarck und Desfontaines» hatten wir bewiesen, dass Pflanzen einen Reiz durch Lernen als ungefährlich einstufen und diesen von anderen, potenziell gefährlichen Reizen unterscheiden können. Und dafür mussten sie sich an Erlebtes erinnern.
Doch wie lange erinnerten sie sich daran? Um diese Frage zu beantworten, ließen wir mehrere Hundert Mimosen, die gelernt hatten, zwischen den beiden Reizen zu unterscheiden, eine Weile ungestört und überprüften anschließend in immer längeren Abständen, ob sie sich noch daran erinnerten. Das Ergebnis übertraf alle unsere Erwartungen: Sie erinnerten sich noch nach mehr als vierzig Tagen daran, also erheblich länger als viele Insekten und ungefähr genauso lange wie manche höheren Tiere.
Bis heute bleibt es allerdings ein Rätsel, wie sich Lebewesen, die kein Gehirn besitzen, an etwas erinnern können. Zahlreiche Forschungsarbeiten, vor allem auf dem Gebiet des Stressgedächtnisses, deuten darauf hin, dass die Epigenetik einiges zu einer Erklärung beitragen könnte. Die Epigenetik beschäftigt sich mit vererbbaren Chromosomen-Modifikationen, die nicht auf Veränderungen der DNA-Sequenz beruhen. Mit anderen Worten: Die Veränderungen betreffen die Genexpression, nicht aber die Gensequenz. Hierzu gehören etwa die Modifikation von Histonen – Proteinen zur DNA-Organisation – oder die Methylierung, bei der sich eine Methyl-CH3-Gruppe an eine stickstoffhaltige DNA-Base bindet.
Schon vor einiger Zeit musste man verblüfft feststellen, dass die nicht codierende Zell-DNA, die man lange als «genetischen Müll» bezeichnet hatte, offenbar wichtige Aufgaben erfüllte. Wie man heute weiß, ist sie beispielsweise für die Produktion von RNA-Molekülen zuständig, die bei der Embryoentwicklung, den Gehirnfunktionen und anderen entscheidenden Punkten eine Schlüsselrolle spielen. Wie so oft in der Biologie, verdanken wir auch hier viele Forschungsfortschritte den Pflanzen – und in letzter Zeit vor allem den Anstrengungen, das Geheimnis des Pflanzengedächtnisses zu lüften. Um nur ein Beispiel zu nennen: Woher wissen Pflanzen überhaupt, wann genau sie blühen müssen? Dass sich Pflanzen seit Jahrtausenden erfolgreich vermehren und fortpflanzen können, liegt ja hauptsächlich daran, dass sich ihre Blüten genau im richtigen Moment öffnen. Nach Ende der Winterkälte warten viele Pflanzen eine bestimmte Anzahl an Tagen ab, ehe sie blühen. Sie müssen sich also daran erinnern, wie viel Zeit verstrichen ist.
Dass es sich dabei um ein epigenetisches Gedächtnis handelt, bezweifelt niemand mehr, doch wie dieses tatsächlich funktioniert, war bis vor Kurzem noch ein Rätsel. Erst in der Septemberausgabe 2016 der Zeitschrift «Cell Reports» sollte eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Karissa Sanbonmatsu am Los Alamos National Laboratory ihre Forschungsergebnisse zu einer bestimmten RNA-Sequenz veröffentlichen: Demnach beurteilt eine COOLAIR genannte Sequenz, wie viel Zeit seit der Winterkälte vergangen ist, und steuert so die Frühlingsblüte. Wenn das RNA-Stück inaktiv ist oder entfernt wird, blühen die Pflanzen nicht mehr. Doch uns geht es hier ja nicht um die komplexe Dynamik von COOLAIR – im Grunde der Repressor eines Repressors der Blüte. Uns interessiert hier vor allem, dass solche Mechanismen bei Pflanzen wesentlich häufiger sein könnten als angenommen und dass das Pflanzengedächtnis genau darauf beruhen könnte. Offensichtlich spielen epigenetische Modifikationen in der Pflanzenwelt eine wesentlich größere Rolle als bei Tieren, und es wäre daher durchaus denkbar, dass sich Pflanzenzellen an eine stressbedingt modifizierte Genexpressivität erinnern.
Eine Forschungsgruppe unter Leitung von Susan Lindquist am MIT (Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, USA) hat kürzlich die These aufgestellt, dass sich Pflanzen zumindest für ihr Blütengedächtnis Prionen zunutze machen, Proteine mit falsch gefalteten Aminosäureketten. Die Umfaltung (misfolding) könne durch Kettenreaktionen zudem an Nachbarproteine weitergegeben werden. Bei Tieren verheißen Prionen nichts Gutes und verursachen beispielsweise die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, den sogenannten Rinderwahnsinn. Aber bei den Pflanzen könnten sie für ein originelles biochemisches Gedächtnis sorgen.
Anders als man vielleicht denken könnte, sind solche Studien nicht nur für die Botanik von größtem Interesse. Wenn wir begreifen, wie ein Gedächtnis ohne Gehirn funktioniert, können wir nämlich nicht nur das Rätsel um das Pflanzengedächtnis lösen, sondern auch unser eigenes besser verstehen: Auf welche Weise kann sich unser Gedächtnis verändern oder erkranken? Wie können sich auch außerhalb des Nervensystems spezielle Gedächtnisformen ansiedeln? Noch dazu könnten zahlreiche technologische Entwicklungen von den neuen Erkenntnissen der biologischen Gedächtnisforschung profitieren. Mit anderen Worten: Fortschritte auf diesem Gebiet sind von allgemeinem Interesse für die Menschheit, weil sie uns ungeahnte Möglichkeiten eröffnen können.
Wer tief in die Natur hineinschaut, wird alles besser verstehen.
Albert Einstein
Die Roboter-Revolution scheint ihre Probleme nach Jahren der vorschnellen Ankündigungen, Bedenken, Richtigstellungen und Erläuterungen langsam in den Griff zu kriegen: Heute werden in vielen Bereichen, die man noch vor nicht allzu langer Zeit dem Menschen vorbehalten glaubte, zuverlässige und wirtschaftliche Roboter eingesetzt. Manche gehören sogar schon zum Alltag: Nicht mehr nur im Science-Fiction-Film saugen heute Roboter die Wohnung, mähen den Rasen oder sammeln den Papiermüll von der Straße auf.
Doch obwohl die Roboter längst da und aus einigen Bereichen gar nicht mehr wegzudenken sind, betrachten die meisten Menschen sie noch immer, je nach Einstellung, als Zukunftsgespenst oder Zukunftstraum. Schuld daran ist vermutlich das Bild, das wir von ihnen haben. Eigentlich verbreiten sich die Roboter rasend schnell. In der Automobilindustrie, der Medizin oder der Unterwasserforschung sind sie längst unersetzbar geworden, und täglich kommen neue Anwendungsmöglichkeiten hinzu: Roboter mit künstlicher Intelligenz, Putzroboter, Unterwasserroboter etc.