Cover

INHALT

EIN PAPST OHNE ANGST
Franziskus bricht das heiligste Gesetz

STILLE RADIKALITÄT
Aufbruch aus Lügen und Legenden

DIE ARROGANZ DER MACHT
Zwei Jahrtausende Papsttum

»MEIN REICH IST NICHT VON DIESER WELT«
Als die Päpste Jesus von Nazareth vergaßen

VOM GLAUBEN WIRD NIEMAND SATT
Ein Mann der kleinen Leute

GOTT GIBT NIE AUF
Franziskus und sein Gottesbild

DIE WUNDERSAME WANDLUNG
Wie Jorge Mario Bergoglio sich neu erfand

ES GEHT UM ARMUT
Der ehrlichste Ort im Vatikan

MENSCHEN WERDEN ARM GEMACHT
Franziskus und der Almosenier

REICH GEGEN ARM
Der Dritte Weltkrieg hat längst begonnen

INTERRELIGIÖSE FREUNDSCHAFT
Umbau der Kirche, 1. Akt

GLOBALISIERUNG KONTRA MACHTERHALT
Umbau der Kirche, 2. Akt

AMORIS LAETITIA
Umbau der Kirche, 3. Akt

HEISSES EISEN HOMOSEXUALITÄT
Umbau der Kirche, 4. Akt

VERGISS DIE ARMEN NICHT!
Der nächste Papst

EIN PAPST
OHNE ANGST
FRANZISKUS
 BRICHT DAS
 HEILIGSTE
 GESETZ

13. März 2013, ein historischer Abend auf dem Petersplatz: Der erste Papst vom amerikanischen Kontinent lässt sich von der Menge segnen.

An jenem kalten Märzabend 2013 in Rom stand ich mit vielen Tausend Menschen auf dem Petersplatz, als Kardinal Jean Louis Tauran von der Benediktionsloggia des Petersdoms aus den Namen des neuen Papstes verkündete: Jorge Mario Bergoglio, der sich als erstes Oberhaupt der katholischen Kirche den Namen Papst Franziskus gegeben hatte. Ich wusste, dass an diesem Abend auch mein argentinischer Freund Javier auf dem Platz war. Ich fand ihn schließlich, und Javier sah entsetzlich aus, wie vom Donner gerührt; als hätte er mitten im Gedränge auf dem Petersplatz eine Erscheinung gehabt.

»Nimmt es dich so mit, dass ein Landsmann Papst ist?«

Er war kreidebleich. »Du verstehst das nicht«, stotterte er.

»Sicher verstehe ich das«, widersprach ich. »Es ist unglaublich! Der erste Papst vom amerikanischen Kontinent. Der erste Jesuit, der es auf den Thron Petri schafft. Und dann auch noch der Rebell der Celam-Konferenz. Es ist historisch, was hier heute Abend geschieht.«

Er redete jetzt sehr schnell. »Nein, du hast keine Ahnung!«

Ich konnte meine Begeisterung nicht verbergen. »Wieso nicht? Er wird neue Akzente setzen, Lateinamerika wird eine große Rolle spielen, er wird einen neuen Stil schaffen, in die Geschichte eingehen …«

Über Jorge Mario Bergoglio wusste ich einiges; schließlich hatte er schon bei der Wahl seines Vorgängers Joseph Ratzinger mehr als dreißig Stimmen im Konklave bekommen. Aber in der Tat hatte ich keine Ahnung, dass mein Wissen – über seine Rolle in der Celam (dem Lateinamerikanischen Bischofsrat, der immer wieder Konflikte mit dem Vatikan austrägt), seine schwierigen Beziehungen zum Vatikan, seinen Streit mit den Jesuiten – unbedeutend war. Was tatsächlich entscheidend sein würde für die Amtszeit dieses Papstes aus Argentinien, hatte sich vor langer Zeit in Buenos Aires abgespielt. Und es war Javier, der mir die Augen dafür öffnete.

Er zog mich mit einem harten Griff wie ein Ringer zu sich. »Du hast keine Ahnung«, wiederholte er streng. »Du verstehst überhaupt nicht, was hier gerade passiert. Jetzt kann etwas Unglaubliches geschehen, etwas, das alles verändern wird.«

»Sag ich doch«, schnaufte ich genervt und machte mich los. »Er wird neue Ideen einbringen, ganz anders als seine Vorgänger.«

»Nein«, sagte Javier entschlossen. »Alles, was du sagst, ist nebensächlich. Es geht um viel, viel mehr. Entweder hat er noch seinen legendären Mut, und nichts wird im Vatikan so bleiben, wie es ist, oder aber da oben im Vatikan wird ihn der Mut verlassen, weil er jetzt Papst ist. Und dann wird alles so sein, wie du es sagst, er wird einfach ein Papst aus Lateinamerika sein. Doch wenn ihn der Mut nicht verlässt, wirst du Unglaubliches erleben.«

»Ich verstehe nicht.«

In strömendem Regen und beißender Kälte erleben die Gläubigen, wie erstmals ein Jesuit die Nachfolge des Apostels Petrus antritt.

»Sag ich doch!«, schrie er in dem Getöse. »Da ist etwas in diesem Jorge Mario Bergoglio. Da ist etwas sehr Seltsames und sehr Starkes und sehr Seltenes – und vielleicht behält er es, obwohl er jetzt Papst ist.«

Er sprach immer schneller. »Es hat vor vielen Jahren angefangen, auf einem Hof in Argentinien bei Buenos Aires.«

»Was für ein Hof? Ich habe nie davon gehört. War das ein berühmter Ort? Was ist da passiert?«

»Nein, kein berühmter Ort. Ein hässlicher, leerer Hof vor einer Kirche am Stadtrand von Buenos Aires.«

»Und was soll das mit diesem unglaublichen Abend seiner Wahl zum Papst zu tun haben?«

»Bergoglio hat damals eine Entscheidung getroffen, eine sehr weitreichende Entscheidung.«

»Was ist da passiert?«

»Auf diesem Hof in Buenos Aires standen damals die Eltern der Jugendlichen, die sich an diesem Tag vom Bischof firmen lassen sollten. Es waren schon viele Familien da, und sie alle schauten auf die Einfahrt, durch die das Luxusauto des Bischofs kommen musste. Der Erzbischof Kardinal Quarracino hatte sich immer in einer großen Limousine der Diözese fahren lassen. Alle starrten auf das Tor; es war schon spät, und der Bischof, der neue Bischof Jorge Mario Bergoglio, sollte kommen. Statt des Wagens des Bischofs bogen immer wieder Eltern in den Hof ein. Alle fragten sich mittlerweile, wo Bischof Bergoglio denn bleibe.«

»Und dann?«

Jorge Mario Bergoglio, hier noch als Kardinal, auf dem Petersplatz unterwegs zu einer Synode im Vatikan: Sein Verhältnis zur Kurie ist seit seiner Amtszeit als Bischof von Buenos Aires konfliktträchtig.

»Der Bischof war bereits da. Inmitten der Menge stand Jorge Mario Bergoglio, er trug seine Aktentasche. Er war mit der U-Bahn gekommen und schaute auf die Einfahrt. Er sah mit den Wartenden auf etwas, das nie wieder auftauchen würde. Er hatte noch kein einziges Wort gesagt. Aber er hatte das getan, was nie ein Bischof gewagt hatte und ein Papst nie wagen würde.«

Auf einmal begriff ich, warum Javier so aufgeregt war. Bergoglio hatte es damals gewagt, das heiligste Gesetz der katholischen Kirche zu brechen. Das Gesetz, dass immer alles beim Alten zu bleiben hat, damit um jeden Preis eines vermieden wird: einen Vorgänger im Amt zu kritisieren. Niemals durfte ein Bischof die Fähigkeiten des Bischofs herabsetzen, der vor ihm die Diözese regiert hatte. Niemals durfte er dessen Weisheit infrage stellen. Alles musste in der Tradition weitergehen, ohne einen Bruch. So war es, und so würde es in der katholischen Kirche sein für alle Zeit.

Aber dann hatte sich dieser Jorge Mario Bergoglio als Bischof von Buenos Aires tatsächlich mit der Aktentasche unter die Menge gemischt. Unfassbar. Er hatte es mit dieser, von außen betrachtet, einfachen Geste gewagt, seinen Vorgänger und großen Gönner, seinen Förderer Kardinal Quarracino, der den jungen Bergoglio für einen Freund gehalten hatte, an den Pranger zu stellen. Denn so würden die Kritiker das sehen. Für das, was Bergoglio auf diesem Hof getan hatte, würde er einen hohen Preis zahlen, und es war nahezu unglaublich, dass er bereit war, diesen Preis auch zu zahlen. Jeder, der als Bischof oder Papst etwas in der katholischen Kirche ändern wollte, räumte damit ein, dass es etwas zu ändern gab, dass der hochverehrte Vorgänger kein Heiliger gewesen war und Fehler gemacht hatte. Aber exakt dies machten katholische Würdenträger und erst recht ein per Dogma als unfehlbar erklärter Papst nicht: Fehler.

Ein Bischof, der es wagte, dieses wichtigste aller Gesetze der Kirche zu brechen, musste mit dramatischen Konsequenzen rechnen. Was würden die Gläubigen über Jorge Mario Bergoglio sagen, nachdem er demonstrativ auf den Dienstwagen verzichtet hatte und per U-Bahn, ohne Sekretär und mit der Aktentasche in der Hand, zu der Firmung gekommen war? Hatte er nicht mit seinem Vorgänger in der schicken Limousine gesessen, als enger Vertrauter und Mitarbeiter von Kardinal Quarracino, und geschwiegen zum Luxus des Chefs, der es liebte, in Roms schickstem Hotel, dem Hilton, abzusteigen? Genau das würden seine Feinde ihm vorwerfen. Hatte er Kardinal Quarracino nicht begleitet und geschwiegen wie eine Schlange, um nun den verehrten Vorgänger durch die Entscheidung, zu Fuß zu gehen, für immer zu beschämen und sein Andenken zu beschmutzen? Hatte Bergoglio nicht geschwiegen, wenn Kardinal Quarracino seine fürchterlichen Witze über Homosexuelle gerissen und vollkommen ernsthaft Ghettos für Schwule gefordert hatte, was eine Strafanzeige zur Folge hatte?

Damals auf dem Petersplatz verstand ich dank Javier, was geschehen könnte, welche Umwälzung im Raum stand – die ich nun seit jenem März 2013 erlebe.

Von dem Tag seiner Wahl an hat der Junge aus dem Stadtteil Flores von Buenos Aires im Vatikan gekämpft: gegen die Vorurteile, gegen seine eigene verschlossene, bedrückte Natur und vor allem gegen den eigenen Apparat. Der Kampf schien von vornherein aussichtslos. Noch nie war es einem Papst gelungen, den eigenen Apparat im Vatikan zu reformieren.

Sogar der als Jahrtausendpapst gefeierte Karol Wojtyla war daran gescheitert. Der Pontifex aus Polen hatte zwar das vor Atomwaffen starrende sowjetische Imperium das Fürchten gelehrt, aber an der eigenen Kurie war er gescheitert. Karol Wojtyla kannte die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen seinen Bankchef Paul Marcinkus – und beließ ihn im Amt. Er kannte die Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs gegen Kardinal Groer aus Österreich – und unternahm nichts. Wie sollte dem über Jahre von seinem eigenen Orden, den Jesuiten, gemobbten, im Vatikan unerfahrenen Jorge Mario Bergoglio ein radikaler Kurswechsel in der katholischen Kirche gelingen?

Der Mann aus Argentinien krempelte die Ärmel hoch, nahm als erster Papst nicht auch nur einen Tag Urlaub. Er ging nicht in den Bergen spazieren, fuhr nicht Ski und ruhte nicht einmal im eigenen Sommersitz in Castelgandolfo aus. Die Mitarbeiter im Urlaubspalast der Päpste warten bis heute vergeblich auf das Kommen von Franziskus; er hat einfach zu viel zu tun.

Im Dezember 2016 wird dieser Mann achtzig Jahre alt. Die Revolution im Vatikan, die er anzettelte, hat ihm jetzt schon einen der außergewöhnlichsten Plätze im dicken Buch der Geschichte der katholischen Kirche gesichert. Der Sohn einer italienischen Einwandererfamilie ist einen langen Weg gegangen, und er hat die Herausforderung angenommen: seine Kirche zu jenem Mann zurückzuführen, der einst barfuß Liebe und Gerechtigkeit predigte.

Wenn ich auf das bisherige Pontifikat des Jorge Mario Bergolio, der schon mit seiner Namenswahl ein Zeichen setzte, blicke, denke ich oft an jenen Abend auf dem Petersplatz, als Javier mir mit einer kleinen Geschichte klarmachte, dass in diesem Jorge Mario Bergoglio ein Krieger steckt, ein Revolutionär, der keine Angst hat, selbst das bisher Undenkbare zu wagen: auszusprechen, dass die katholische Kirche unglaubwürdig geworden ist durch ihr Gehabe der Unfehlbarkeit und dass es höchste Zeit ist, sich an die eigene Nase zu fassen. Dass es hohe Zeit ist zurückzukehren auf einen Weg, den die Kirche verlassen hat, nämlich den Weg des Jesus von Nazareth.

Damals fing es an.

Erstmals wählt ein Papst den Namen Franziskus. Nur Insider hatten mit dem Argentinier Bergoglio gerechnet, weil er im Konklave 2005 bereits 32 Stimmen erlangt hatte.

Einzug der wahlberechtigten Kardinäle in die Sixtinische Kapelle. Die Gruppe der italienischen Kardinäle hofft darauf, das Amt des Papstes zurückerobern zu können.

Vor Gott muss bei der Wahl des Papstes auch der Pileolus, das Käppchen, das den Kopf des Bischofs vor der schweren Bischofsmütze schützen soll, abgelegt werden.

Als die 115 wahlberechtigten Kardinäle am 12. März 2013 zur Wahl des 265. Nachfolgers des heiligen Petrus in die Sixtinische Kapelle einziehen, wird erst zum zweiten Mal in der Geschichte der katholischen Kirche ein Papst gewählt, obwohl sein Vorgänger noch lebt. Vor 598 Jahren, 1415, hatte Gregor XII. im Streit der Gegenpäpste auf sein Amt verzichtet; Benedikt XVI. legte sein Pontifikat am 28. Februar 2013 offiziell nieder. Dieses Konklave steht im Zeichen einer Grundsatzentscheidung: Wird das Kardinalskollegium nach der Wahl des Polen Johannes Pauls II. und des Deutschen Benedikts XVI. wieder zu der uralten Regel zurückkehren, den einflussreichsten italienischen Kardinal zum Papst zu befördern? Die Grundlagen dafür hatte Benedikt XVI. geschaffen, indem er die von Johannes Paul II. geschwächte italienische Gruppe im Kardinalskollegium wieder aufstockte. Aber ist eine italienisch geprägte Kirche, die noch dazu in verkrusteten Strukturen gefangen ist, den Herausforderungen weltweiter religiöser Konflikte gewachsen?

Man mag es als Fingerzeig deuten, dass die Kardinäle zur Wahl durch den Saal der Schlacht von Lepanto ziehen müssen. Die Fresken mit dem Skelett des Sensenmanns gemahnen an die schrecklichste Seeschlacht aller Zeiten, als die von Pius V. und den Spaniern organisierte Heilige Liga die Flotte des Osmanischen Reiches vernichtete, die schlimmste Schlacht der Christenheit gegen Muslime. 38 000 Mann starben an diesem Tag im Jahr 1571. 442 Jahre später wissen die Kardinäle, dass der neue Papst sich dem weltweiten Aufflammen religiös motivierter Gewalt wird stellen müssen. Braucht die Kirche also einen global denkenden Mann, einen, der weit weg vom Hickhack der römischen Kurie gelebt hat?

An diesem Tag zieht auch ein Kardinal in das Konklave, für den eine eigenartige Ausnahmeregel gilt. Sein Name ist Walter Kasper, und eigentlich ist er schon zu alt, um teilzunehmen. Kardinäle verlieren mit dem Erreichen des 80. Lebensjahres das aktive Wahlrecht. Kardinal Kasper wurde am 5. März 1933 geboren, wäre also sieben Tage über der Altersgrenze. Aber da das Datum des Amtsverzichts von Papst Benedikt XVI. als Orientierung gilt, darf Kasper ins Konklave einziehen. Er wird erleben, dass der Traum seines Lebens Realität wird: Der erste Papst vom amerikanischen Kontinent wird den Wunsch des Walter Kasper nach einer barmherzigen Kirche erfüllen, und er wird dessen Kampf wieder aufnehmen, die wiederverheirateten Geschiedenen zurück in die Kirche zu holen.

Vor der Wahl legt jeder Kardinal einen Eid ab; er schwört, über alles, was während der Wahl geschieht, absolute Geheimhaltung zu wahren.

Der soeben gewählte Papst verlässt die Kammer der Tränen, wo er Abschied von seinem vorherigen Leben genommen hat.

Darauf warten Dutzende Fernsehkameras auf dem Petersplatz: weißer Rauch! Der Papst ist gewählt.

Dieses Lächeln wird die Welt bezaubern: Franziskus gewinnt die Herzen der Menschen.

Franziskus auf der Benediktionsloggia: Als erster Papst wird er die Gläubigen auf dem Platz bitten, ihn zu segnen, bevor er sie segnet.

Franziskus zelebriert die Messe; er wird beschließen, jeden Morgen die Frühmesse im Gästehaus des Vatikans zu feiern, wo er auch wohnt.

Der lächelnde Papst wirkt während der
Zeremonien im Petersdom stets ungemein ernsthaft.

Die gewinnende Art des Papstes Franziskus wird eine weltweite Sympathiewelle auslösen.

STILLE
RADIKALITÄT

 AUFBRUCH
 AUS LÜGEN
 UND
 LEGENDEN

Absage an Prunk und Pomp: Franziskus trägt den goldenen Fischerring der Päpste fast nie, sondern den einfachen Ring des Erzbischofs von Buenos Aires.

Papst Franziskus hatte zu Beginn seiner Amtszeit eine spektakuläre Entscheidung getroffen: Er wollte nicht im Verborgenen, langsam und unsichtbar, die Kirche verändern. Er hatte beschlossen, dass grundlegende Veränderungen in der Kirche vor aller Welt sichtbar sein sollen. Jeder, ob gläubig oder nicht, sollte den radikalen Wandel an der Spitze der Kirche sehen. Deswegen hatte Papst Franziskus bereits unmittelbar nach seiner Wahl dem Zeremonienchef, der ihn prunkvoll kleiden wollte, unmissverständlich erklärt: »Der Karneval ist vorbei.«

Als erster Papst weigert sich Franziskus, in den apostolischen Palast einzuziehen, er lässt sich im Kleinwagen fahren, trägt ein einfaches Brustkreuz aus Eisen und verzichtet darauf, seine Aktentasche von einem Sekretär tragen zu lassen. Während der Messfeiern im Petersdom verzichtet er auf jeden Prunk, im Alltag verzichtet er auf einen eigenen Koch und eigene Kammerdiener, er setzt sich in der Mensa des Gästehauses des Vatikans wie ein normaler Besucher an einen der langen Tische. Ein Platz wird für ihn nicht reserviert.

Der Papst attackiert damit fortwährend vor den Augen der Welt, gut sichtbar, das komplette höfische Protokoll der Päpste und damit ihre Art, sich zu zeigen, also ihr Selbstverständnis zu präsentieren. Und genau darum geht es Franziskus, um diese Frage: Als was sehen sich die Päpste?

Dieses Selbstverständnis ist geprägt durch zwei Jahrtausende Kirchengeschichte. Es ist geprägt durch die arrogante Abwertung der weit würdevolleren Konkurrenten um weltliche und kirchliche Macht. Es wurzelt im Anspruch auf ein eigenes Reich und bewahrt höfische Rituale, die an die Cäsaren erinnern. Papst Julius II. nannte sich bewusst nach Julius Cäsar und handelte wie ein Feldherr und Staatsmann. Die Päpste trugen bis zu Benedikt XVI. die roten Schuhe in der Tradition der Cäsaren und mit Purpur verbrämte Kleidung; sie empfingen zu ihren Audienzen in Basiliken nach dem Vorbild römischer Kaiser.

Die Peterskuppel über dem mutmaßlichen Grab des heiligen Petrus, Symbol des Machtanspruchs der Päpste.

Ein Papst des dritten Jahrtausends greift nun eine Tradition an, die vor mehr als fünfzehnhundert Jahren ihren Anfang genommen hat. Jorge Mario Bergoglio stammt dabei aus einem Land, in dem zu jener Zeit, als sein Vorgänger im Amt des Papstes weltgeschichtlich relevante Fälschungen in Auftrag gab, Menschen der uralten Tafi-Kultur, die Ureinwohner Argentiniens, gerade entdeckten, dass man Mais anbauen konnte und dass Lamas sich domestizieren ließen. Als im Jahr 1516 der erste Europäer nach Argentinien kam, waren die Päpste gerade damit beschäftigt, durch einen Ablasshandel die Revolution des Martin Luther heraufzubeschwören. Die heutige, scheinbar so beiläufige Attacke auf die päpstliche Hofhaltung, die Abschaffung der Zeichen von Prunk und Macht sind weit mehr als eine spleenige Idee von Franziskus. Er will ein System der Päpste zerstören, das über fast zwei Jahrtausende die weltliche Macht und den Anspruch auf Reichtum der Päpste gefestigt hat.

Möglich wird diese Revolution nur durch das entscheidende Merkmal dieses Papstes Franziskus. Durch die Entschlossenheit, vom ersten Tag seines Pontifikats an das Mächtigste aller vatikanischen Tabus zu brechen: dass niemals ein Vorgänger auf dem Stuhl Petri kritisiert werden darf. Damit trifft er das Wesen des Papsttums ins Mark, die Arroganz. Seither hat er dieses Ziel immer wieder bekräftigt: die Arroganz der römisch-katholischen Kirche bekämpfen zu wollen.

Diese Arroganz der römischen Päpste reicht bis zu den Anfängen des Christentums zurück. Nach dem Tod des Jesus von Nazareth und nach seiner Himmelfahrt, wenn man der Darstellung der Bibel Glauben schenken will, scheint eines klar, das Zentrum des christlichen Glaubens kann nur eine einzige Stadt sein: Jerusalem. Dort fand jenes Ereignis statt, auf das sich das Christentum gründet: der Tod und die Auferstehung des Mannes aus Nazareth mit dem Namen Jesus. Den Vorsitz der Gemeinde übernahm Jakobus, der Bruder Jesu. Die Lesarten des griechischen Originals des Neuen Testaments lassen die Möglichkeit zu, dass Jesus einen älteren leiblichen Bruder hatte. Sicher ist, dass das erste Konzil in Jerusalem zusammentrat, das sogenannte Apostelkonzil um 44 bis 49. Damals gab es nicht den geringsten Zweifel daran, dass Jerusalem das Zentrum des entstehenden Christentums war. Die Jerusalemer Juden, die sich zum Christentum bekehrten, spielten in dieser ersten Gemeinde eine besondere Rolle. Die Päpste werden später mit Vehemenz die Bedeutung der Stadt Rom verteidigen, weil dort schließlich die Gräber der Apostel Petrus und Paulus lagen; aber für die Christen des ersten Jahrtausends waren die Gräber von Petrus und Paulus unerheblich, ein anderes Grab spielte die Hauptrolle. Die Grabkammer, in der Gottes Sohn gelegen haben soll, existierte ja zu jener Zeit noch. Sie wurde erst auf Befehl des Fatimiden-Kalifen al-Hakim, der in Kairo residierte, im Jahr 1009 zerstört, sodass heute nur noch Bruchstücke erhalten sind.

Jerusalem, die übermächtige Rivalin Roms, die wichtigste Stadt des Christentums.

Den Päpsten war stets gegenwärtig, dass zweifellos Jerusalem die heilige Stadt des Christentums war und nicht Rom, auch wenn sie alles taten, um den Schein zu erwecken, als wäre das nicht so. Eines der spektakulärsten Eingeständnisse des Neids der Päpste auf Jerusalem ist der Bau der Sixtinischen Kapelle. Die Kapelle, die Papst Sixtus IV. erbauen ließ, sollte Jerusalem nachahmen, die Kapelle sollte die exakten Ausmaße des salomonischen Tempels haben. Die Päpste wollten sich also ihr Jerusalem in Rom nachbauen, eine Art Legoland-Version der heiligen Stätten.

Rom schmückte sich jahrhundertelang mit Schätzen, die in dieeigentliche Hauptstadt des Christentums gehören, nach Jerusalem – und zwar lange bevor die heiligen Stätten der Christen bedroht wurden. Kaiserin Helena unternahm im dritten Jahrhundert den Versuch, Rom mit aller Macht durch Reliquien aufzuwerten, die eigentlich in Jerusalem hätten bleiben müssen. Sie ließ alles, was vom Kreuz Jesu Christi übrig geblieben sein soll, vor allem den Kreuzestitel, die INRI-Tafel, die tatsächlich echt sein könnte, nach Rom schleppen, ebenso die Treppe, über die Christus gegangen sein soll und die bis heute in der Heiligen Stiege an der Lateranbasilika verbaut ist. Helena konnte dabei kaum für sich in Anspruch nehmen, die Reliquien lediglich in Sicherheit gebracht zu haben. Denn von der Bedrohung durch muslimische Kalifen konnte damals noch keine Rede sein. Mohammed wurde erst drei Jahrhunderte später geboren.

Rom unternahm also alles, um vergessen zu machen, dass Jerusalem das eigentliche Zentrum der Christenheit ist.

Das erste Konzil, das Apostelkonzil, bescherte den Päpsten etwas, das den Nachfolgern Petri zwei Jahrtausende lang Kopfschmerzen bereiten würde: Petrus hatte unter den Aposteln keineswegs eine Vormachtstellung inne. Er war lediglich einer von vielen.

Das Evangelium weist in diesem Punkt einen seltsamen Widerspruch auf. In der berühmten Stelle sagt Jesus den für die römischen Päpste alles entscheidenden Satz (Matthäus 16,18/19):

»Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.«

Die römischen Päpste ließen voller Stolz dieses zusammengefasste Zitat auf Latein an den heiligsten und prächtigsten aller Orte schreiben, der aus ihrer Sicht existiert, in die Kuppel des Petersdoms:

»Tu es Petrus et super hanc Petram aedificabo ecclesiam meam et tibi dabo claves caelorum.« (Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und ich werde dir die Schlüssel des Himmels geben.)

Alle Besucher der gewaltigen Kirche sollten für alle Zeiten sehen, dass der Ursprung des Machtanspruchs der Päpste, die einzig wahre Kirche zu regieren, auf Christus selber zurückgeht. Doch seltsamerweise scheinen im Evangelium die Apostel nichts davon mitbekommen zu haben, dass Petrus das ist, als was ihn die Päpste zwei Jahrtausende später anpreisen: der Fürst der Apostel. Laut Evangelium ist er das keineswegs. Ganz im Gegenteil: Die maßgebliche theologische Rolle spielte Paulus, während der Chef der christlichen Urgemeinde nicht Petrus, sondern der ältere Bruder Christi, also Jakobus, war. Der vermeintliche Apostelfürst hingegen musste sich Demütigungen anhören, die auszuschließen scheinen, dass er so etwas wie der Fürst der Apostel gewesen sein könnte. An der berühmten Stelle des Galaterbriefs faltet Paulus Petrus, den er stets Kephas nennt (Kephas = aramäisch für Stein/Fels) regelrecht zusammen; er stellt ihn zur Rede und kanzelt ihn ab (Galaterbrief 2,11 bis 14):

»Als Kephas aber nach Antiochia gekommen war, bin ich ihm offen entgegengetreten, weil er sich ins Unrecht gesetzt hatte.

Bevor nämlich Leute aus dem Kreis um Jakobus eintrafen, pflegte er zusammen mit den Heiden zu essen. Nach ihrer Ankunft aber zog er sich von den Heiden zurück und trennte sich von ihnen, weil er die Beschnittenen fürchtete.

Ebenso unaufrichtig wie er verhielten sich die anderen Juden, sodass auch Barnabas durch ihre Heuchelei verführt wurde.

Als ich aber sah, dass sie von der Wahrheit des Evangeliums abwichen, sagte ich zu Kephas in Gegenwart aller: Wenn du als Jude nach Art der Heiden und nicht nach Art der Juden lebst, wie kannst du dann die Heiden zwingen, wie Juden zu leben?«

Paulus wirft Petrus dort also offen Unaufrichtigkeit und Heuchelei vor und weist ihn zurecht. Das passt überhaupt nicht zum Bild vom Fürsten der Apostel, das die Päpste so gern heraufbeschwören. Deshalb debattieren Forscher leidenschaftlich darüber, ob diese für die Päpste so entscheidende Stelle, die Petrus zum Felsen macht, auf dem die Kirche steht, nicht eine spätere Einfügung der Sympathisanten Petri im zweiten Jahrhundert gewesen sein könnte, dass also Christus diesen Satz in Wirklichkeit nie gesagt hat. Wenn es eine solche spätere Einfügung gegeben hat, dann ließe sich erklären, warum laut Evangelium die urchristliche Gemeinde von einer Gruppe geführt wurde, die, nach Paulus, von mehreren Säulen getragen wurde, so auch von Jakobus und Johannes. Petrus wird als eine von mehreren Führungspersönlichkeiten genannt. Seit der Entstehung der Evangelien rätseln die Wissenschaftler über diesen Widerspruch. Wieso steht an einer Stelle des Evangeliums, dass Christus zu Petrus angeblich sagte, er sei der herausragende Mann, der Fels oder der Apostelfürst, wie ihn die Päpste sehen wollen, wenn an anderen Stellen zweifelsfrei Petrus als einer von mehreren Gleichberechtigten beschrieben wird, keineswegs als ein Oberhaupt? Ist die stolzeste Bibelstelle der Päpste, die Petrus eine Vormachtstellung einräumt, etwa eine Fälschung?

Aber selbst wenn Christus tatsächlich diese Sonderrolle von Petrus verfügt haben sollte, bleibt für die Päpste ein weiteres großes Problem, um ihre Vormachtstellung zu begründen: Es ist äußerst fragwürdig, ob Petrus je in Rom war. Das römische Papsttum könnte durchaus auf einem Missverständnis und einer Legendenbildung gegründet worden sein.

Der wichtigste Tatbestand, der daran zweifeln lässt, dass Petrus je in Rom war, sind die Evangelien selber. Dort findet sich kein Wort darüber, dass Petrus nach Rom gereist und dort zu Tode gekommen ist. Warum nicht? Weil er nie in Rom war? Es lässt sich nicht nachvollziehen, warum die Evangelien ausführlich die Reise des Paulus nach Rom beschreiben und doch in einer Zeit verfasst wurden, als Petrus angeblich schon seit vielen Jahren in Rom lebte. Warum also steht kein Wort darüber in der Apostelgeschichte?