Cover

Ein großes Dankeschön an:

 

 

 

Florin Montoyo, Chefin der Ballettakademie in Göteborg, die mir die Räumlichkeiten zeigte und mich mit nützlichen Hinweisen zur gegenwärtigen Tanzausbildung versah.

 

Meine langjährige Freundin Tuula Dajén. Sie ist nicht nur Realschullehrerin, sondern auch ausgebildete Tänzerin und Choreographin. Seit einigen Jahren betreut und leitet sie diverse kulturelle Projekte. 1980 gründete sie die Ballettschule in Sunne, aus der in den letzten Jahren viele Berufstänzerinnen und -tänzer hervorgingen. Durch ihre Begeisterung und ihre Begabung hat sie das Tanzinteresse meiner Tochter geweckt. Während der zehn Jahre, die meine Tochter Ballettstunden nahm, habe auch ich einiges über das Ballett und die Welt des Balletts gelernt.

 

Die Göteborger Kriminalinspektorin Maina Sahlman. Sie hat mir sehr geholfen, sowohl bei diesem Buch als auch bei »Tod im Pfarrhaus«. Ich sage immer, dass sie mein Vorbild für Irene Huss ist, obwohl wir uns erst bei meiner Recherche für das vierte Buch dieser Serie begegneten…

 

Wie immer habe ich mir große Freiheiten bei der Topographie Göteborgs erlaubt. Ich richte mich mit meinen Geschichten nicht danach, wie die Wirklichkeit aussieht, sondern die Wirklichkeit passt sich den Geschichten an. Keine Person dieses Buches wurde bewusst dem wirklichen Leben entnommen.

 

Helene Tursten

Autorin

Helene Tursten wurde 1954 in Göteborg geboren und arbeitete lange Jahre als Zahnärztin, ehe sie sich ganz auf das Schreiben konzentrierte. Mit ihren Kriminalromanen um Inspektorin Irene Huss begeisterte sie Schwedens Kritiker und Publikum auf Anhieb und schrieb sich auch in Deutschland in die Herzen der Krimileser und -leserinnen. Ihre Serie um die Göteborger Kriminalinspektorin wurde jetzt erfolgreich fürs Fernsehen verfilmt. Helene Tursten lebt in Sunne/Värmland und ist verheiratet mit einem Ex-Polizisten.

 

Helene Tursten bei btb

Die Irene-Huss-Serie:
Der Novembermörder. Roman
Der zweite Mord. Roman
Die Tätowierung. Roman
Tod im Pfarrhaus. Roman
Der erste Verdacht. Roman
Feuertanz. Roman
Die Tote im Keller. Roman
Das Brandhaus. Roman

 

Außerdem:
Die Frau im Fahrstuhl

EPILOG

Der Arzt sagt, dass ich erst wieder nach Weihnachten arbeiten darf«, sagte Krister seufzend und ließ sich tiefer ins Sofa sinken.

»Das musst du dann wohl beherzigen«, vermutete Irene.

Krister warf ihr einen verärgerten Blick zu und fauchte:

»Undenkbar! Letztes Wochenende hatten wir das erste Weihnachtsbüfett. Und bis Neujahr geht das so weiter! Ich muss einfach dort sein!«

»Du sagst doch selbst immer, dass niemand unersetzlich ist…«

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. Krister wurde hochrot und sah aus, als wolle er sich gleich auf sie stürzen.

»Ausgerechnet du musst so etwas sagen! Du bist doch nie zu Hause!«

Er stand abrupt vom Sofa auf, ging mit energischen Schritten ins Schlafzimmer und knallte die Tür zu.

Sprachlos blieb Irene auf dem Sofa sitzen. Was war bloß mit ihrem freundlichen Ehemann passiert, der nie oder höchstens ganz selten einmal laut wurde? Der nie klagte oder jammerte. Der seine Familie und seine Arbeit liebte.

 

Krister hatte nach anfänglichem Sträuben eingewilligt, Tabletten zu nehmen. So allmählich sah er ein, dass er wirklich kürzer treten musste. Der Herbst war zu anstrengend gewesen. Im Grunde genommen waren die ganzen letzten Jahre zu stressig gewesen. Er konnte sich immer noch nicht daran erinnern, was in den Stunden seines Gedächtnisschwunds geschehen war.

Am ersten Tag des neuen Jahres saßen sie in der Küche und tranken ihren Vormittagskaffee. Krister tunkte die erste Safranschnecke des Jahres in den Kaffee und schlürfte genüsslich. Irene war mit Sammie draußen gewesen und wärmte sich die Hände an der Kaffeetasse. Beide zuckten zusammen, als das Schrillen des Telefons den Feiertagsfrieden unterbrach. Krister erhob sich und sagte:

»Bleib sitzen. Ich heb ab.«

Er ging in die Diele. Nach einer Weile bekam Irene mit, dass es wohl seine Cousine Inga-Maj aus Arvika war. Sie unterhielten sich ausführlich miteinander. Mehrmals hörte Irene das Wort »ausgebrannt«.

Als Krister in die Küche zurückkehrte, gluckste er.

»Das war Inga-Maj. Sie hat mir von zwei Kolleginnen aus dem Pflegeheim erzählt, die auch ausgebrannt sind. Gewissermaßen, um mich zu trösten, damit ich nicht das Gefühl haben muss, dass es nur mir so ergeht. Aber in Arvika sagt man nicht, so viele Leute seien neuerdings ausgebrannt. Weißt du, was sie da sagen?«

»Nein, wie sagt man in Arvika?«

»Heutzutage sind so viele verbrannt«, sagte Krister und ahmte den breiten Värmlands-Dialekt, den man in Arvika sprach, nach.

Irene lächelte und begriff, dass ihr Mann und sie vollkommen unterschiedliche Assoziationen hatten. Sie sah plötzlich das Bild eines herzförmigen Mädchengesichts vor sich. Das Mädchen blickte ihr mit seinen großen braunen Augen geradewegs ins Gesicht. Um ihre ernsten Lippen begann ein leises Lächeln zu spielen, und in ihren Augen war ein Glitzern zu erkennen. Sachte verblasste das Bild. Irene ahnte, dass sie es zum letzten Mal gesehen hatte.

»Verbrannt«, wiederholte sie.

Sie musste dringend aufs Klo, versuchte aber nicht daran zu denken. Sie radelte so schnell sie konnte, um rechtzeitig den kleinen Laden zu erreichen. Tessans Mutter würde nicht warten, das war nicht ihre Art. Kam man nicht pünktlich, nahm sie einen nicht zum Training mit. Sie war aber darauf angewiesen, denn sonst schaffte sie es zeitlich nicht. Mit dem Bus dauerte es mehr als doppelt so lang. Die Trainingsstunde wäre vorbei, bevor sie dort eingetroffen wäre. Es hatte keinen Sinn, diese Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen.

Ihr Fahrrad war fast neu, und sie trat mit aller Macht in die Pedale. Der schmale, unbefestigte und unbeleuchtete Weg erstreckte sich dunkel vor ihr, was keine Rolle spielte, denn sie kannte hier jeden Stein. Sie war hier unzählige Male entlanggefahren. Das dichte Gebüsch beidseits des Weges war allerdings furchteinflößend. Mama hatte sie vor bösen Männern gewarnt. Wenn jetzt hinter einem der Büsche ein böser Mann stand?

Böse Männer – böse Männer – böse Männer – böse Männer… diese zwei Worte gingen ihr immer wieder durch den Kopf, während sie mit mechanischer Regelmäßigkeit in die Pedale trat.

Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie, als sie die Laternen der großen Straße sah. Sie musste anhalten, um einige Autos vorbeizulassen, stieg von ihrem Fahrrad und schaute auf die erleuchtete Fassade des Lebensmittelladens auf der anderen Seite. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie das rote Auto von Tessans Mutter auf dem Parkplatz vor dem Laden entdeckte. Rasch schwang sie sich wieder auf den Sattel. Beinahe wäre sie von einem Lastwagen überfahren worden, als sie die Straße überquerte. Ganz knapp kam sie vorbei. Der Laster bremste hupend und laut quietschend ab. Atemlos blieb sie vor dem roten Audi stehen und warf ihr Fahrrad in die Büsche. Mit steifen Fingern öffnete sie eine der hinteren Türen und warf sich auf die Rückbank. Tessan saß wie immer auf dem Beifahrersitz neben ihrer Mutter.

»Aber Sophie! Das hätte ins Auge gehen können! Der Laster hätte dich fast überfahren! Außerdem solltest du dein Fahrrad abschließen!«

Das Herz pochte Sophie bis zum Hals. Sie hörte gar nicht, was Tessans Mutter sagte. Keuchend saß sie da und rang nach Luft.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe? Du musst dein Rad abschließen«, sagte Tessans Mutter.

Ihre Stimme klang streng und verärgert wie meistens, aber normalerweise versuchte sie ihre schlechte Laune mit freundlichen Worten zu kaschieren. Sophie stieg aus dem Auto und zog ihr Fahrrad aus dem Gebüsch. Rasch schob sie es zu dem Fahrradständer vor dem Laden, schloss es ab und rannte zurück zum Auto.

Fahr endlich – fahr endlich – fahr endlich – fahr endlich… begann es in ihr.

Erst als das Auto rollte und auf die Landstraße einbog, wagte sie es, sich zurückzulehnen und aufzuatmen.

Geschafft – geschafft – geschafft – geschafft…

 

Ein eisiger Wind wehte vom Meer. Die Kälte biss ihr in Ohren und Finger, als sie einige Stunden später den unbefestigten Weg zurückradelte. In der Eile hatte sie natürlich sowohl Mütze als auch Handschuhe vergessen.

Bereits von weitem erblickte sie die rotierenden Blaulichter in der Dunkelheit. Im Scheinwerferlicht bewegten sich Menschen. Ein Stück weiter hoben sich dunkle Silhouetten vor einem roten Schein ab, der die schwarze Dunkelheit erhellte.

Plötzlich wurden ihre Beine ganz kraftlos. Sie schaffte die letzten hundert Meter nicht mehr. Sie wollte nicht… wollte nicht — wollte nicht — wollte nicht — wollte nicht — wollte nicht — wollte nicht…

 

»Wir haben das Mädchen am Wegrand gefunden. Wahrscheinlich ist sie vom Fahrrad gefallen. Es lag neben ihr im Graben. Wir kamen von der Brandstelle, unsere Arbeit war erledigt, und da sahen wir sie plötzlich im Scheinwerferlicht sitzen. Seltsam, dass der Krankenwagen sie nicht gesehen hat.«

»Hat sie was gesagt?«

»Nein. Sie hat uns nur angestarrt.«

»Stand sie unter Schock?«

»Ganz offensichtlich. Wir haben sie ins Östliche Krankenhaus gefahren. Ihr kleiner Bruder und ihre Mutter waren bereits auf dem Weg dorthin.«

»Hast du im Auto mit ihr geredet?«

»Nein. Ich habe sie in eine Decke gewickelt und mich zu ihr auf die Rückbank gesetzt. Ich habe versucht, sie zu beruhigen… aber sie hat nichts gesagt. Das war merkwürdig.«

»Was meinst du?«

»Tja… dass sie überhaupt nichts gesagt hat. Dass sie nicht nach ihrer Mutter oder ihrem Bruder gefragt hat. Sie hat auch nicht geweint.«

»Sie starrte nur?«

»Genau.«

Kommissar Sven Andersson betrachtete seine neue Inspektorin nachdenklich. Sie gehörte erst seit einem knappen Monat zu seinem Dezernat. Er unternahm nichts, um seinen Ärger darüber zu verbergen, dass man ihm eine Frau zugeteilt hatte. Zwei kleine Kinder hatte sie außerdem, das gefiel ihm nicht. Der Kommissar seufzte laut, und seine frischgebackene Kriminalinspektorin warf ihm einen fragenden Blick zu.

Irene Huss hatte große Achtung vor ihrem neuen Chef, der den Ruf genoss, ein richtig guter Polizist, dafür aber etwas unwirsch zu sein. Es war bekannt, dass ihm oft der Kragen platzte. In den ersten Tagen war sie noch etwas nervös gewesen, hatte sich dann aber zusehends entspannt. Wenn sie ihre Arbeit nur gewissenhaft machte, würde er seine Einstellung schon noch ändern. Außerdem waren Ermittlerinnen bei der Polizei auch nichts so Seltenes mehr.

»Es ist jetzt fast drei Monate her, seit ihr dieses Mädel auf dem Weg gefunden habt, und nach wie vor starrt sie nur vor sich hin und schweigt.«

Ohne es zu merken, hatte er seine Stimme erhoben. Die Entrüstung war ihm deutlich anzuhören. Vielleicht handelte es sich ja auch eher um Frustration. Irene wusste, dass er keine Kinder hatte.

Sie zog die Augenbrauen hoch, schwieg aber, da ihr keine passende Erwiderung einfiel. Mit dem Brand in Björlanda hatte sie nur insofern zu tun gehabt, als ihr Kollege Håkan Lund und sie die erste Streife vor Ort gewesen waren. Das Wenige, was sie über die Ermittlung wusste, hatte sie aus den Zeitungen.

»Hasse und ich haben versucht, sie zum Reden zu bringen, aber es ist wie ein Kampf gegen Windmühlen! Sie sitzt einfach nur da und schweigt und schaut einen mit ihren großen braunen Augen an!«

»Kann sie überhaupt sprechen? Ich meine… sie ist doch nicht etwa stumm oder so was?«

»Nein. Sie kann sprechen. Aber offenbar war sie immer sehr verschlossen. Also schon vor dem Feuer.«

»Wie alt ist sie?«

Andersson sah sie lange an, ehe er antwortete:

»Das kannst du in den Akten nachlesen. Nur zu! Du übernimmst die Verhöre von Sophie Malmborg.«

Er erhob sich und schob eine dicke Mappe über den Schreibtisch. Ratlos sah Irene erst ihren Chef und dann die Mappe an.

»Aber warum ich…? Wenn sie nicht mit dir oder Hans reden will…«

»Damit hast du deine Frage schon selbst beantwortet. Sie will nicht mit uns reden. Warum? Vielleicht weil wir Männer sind. Das vermuten zumindest die Seelenklempner. Deswegen versuchen wir’s jetzt mal mit dir, weil du eine Frau bist. Außerdem hast du selbst Kinder.«

Irene fühlte sich ganz schwach. Das hier war ein großer Fall, den man plötzlich auf sie abwälzte. Ein Mann war im Feuer umgekommen, und es gab noch jede Menge offener Fragen. Vieles deutete darauf hin, dass Sophie möglicherweise wichtige Informationen besaß. Und vielleicht sogar mehr…

»Oder meinst du, dass du damit nicht klarkommst?«, setzte Andersson nach.

In seinem spöttischen Tonfall schwang eine deutliche Drohung mit. »Kommst du mit solchen Aufgaben nicht klar, dann hast du hier beim Dezernat nichts zu suchen«, lautete die unausgesprochene, aber doch deutlich vernehmbare Warnung.

Sie spürte einen eisigen Kloß im Magen, dann überlief es sie siedendheiß. Sie zwang sich dazu, seinen Blick zu erwidern, und antwortete mit fester Stimme:

»Ich spreche mit ihr.«

»Gut. Sie kommt morgen.«

 

Irene saß an ihrem Schreibtisch in dem Büro, das sie sich mit Tommy Persson teilte. Er hatte im letzten Jahr bei der Kripo angefangen und sie dazu überredet, sich ebenfalls dort zu bewerben. Sie hatten sich an der Polizeihochschule in Stockholm kennen gelernt und waren gute Freunde geworden. Anfangs hatte das möglicherweise daran gelegen, dass sie die einzigen Göteborger in ihrer Klasse waren. Ihr Freund, Krister, hatte Tommy gegenüber ein gewisses Misstrauen gehegt. Inzwischen waren sie die besten Kumpel, und Tommy war Kristers Trauzeuge bei der jetzt bald fünf Jahre zurückliegenden Hochzeit gewesen. Irene war damals im siebten Monat schwanger gewesen und fand immer noch, dass sie auf den Hochzeitsfotos aussah wie der Panzerkreuzer Potemkin.

Mit ihren vierundzwanzig war sie den Zwillingen eine recht junge Mutter gewesen. Ihre Eltern waren bei ihrer Geburt sehr viel älter gewesen, ihre Mutter Gerd sechsunddreißig und ihr Vater Börje fünfundvierzig, interessanterweise hatte zwischen ihnen derselbe Altersunterschied bestanden wie zwischen ihr und Krister.

»Aha, hier sitzt du rum und träumst!«

Irene wurde von Tommys munterem Tonfall aus ihren Gedanken gerissen. Sie hatte nicht gehört, wie er die Tür geöffnet hatte. Jetzt kam er mit einem breiten Grinsen herein.

»Martin sagt Papa! Um genau zu sein… Pa-pa-pa-pa-pa. Und das fast genau an seinem ersten Geburtstag! Frühreif, eben ganz der Vater.«

Er strahlte vor Stolz. Martin war das erste Kind von Agneta und ihm, und Irene war die Patentante des Jungen. Sie musste lächeln.

»Toll. Besser gesagt, herzlichen Glückwunsch. Sei froh, solange er nur Pa-pa sagt. Wenn er erst einmal sprechen gelernt hat, wirst du dich in diese Zeit zurücksehnen. Heute Morgen wäre ich fast zu spät gekommen, weil mir Jenny im Kindergarten eine Szene gemacht hat.«

»Wollte sie nicht dableiben?«

»Doch, schon, aber sie wollte, dass ich ihr erst einen Tiger verspreche.«

»Den Tiger, den sie im Garten halten will?«

»Genau. Dieser Gedanke lässt sie nicht los.«

Krister und Irene waren an einem schönen Augustsonntag mit den Zwillingen in Borås im Zoo gewesen. Jenny und Katarina waren herumgerannt und hatten sich alle Tiere angesehen. Bei jedem Tier, das sie noch nicht kannten, waren sie vollkommen außer sich gewesen. Katarina hatten die Affen am besten gefallen, während sich Jenny über beide Ohren in die Tiger verliebt hatte. So einen wollte sie haben. Wenn man den Garten ihres Reihenhauses nur hoch genug einzäunte, bestand auch nicht die Gefahr, dass er entkommen würde. Das Argument, dass Tiger gefährlich seien und sicher gerne auch mal an den Bewohnern des Reihenhauses kauten, kümmerte Jenny nicht. Sie wollte einen ganz jungen Tiger aufnehmen, der dann zum liebsten Tiger der Welt heranwachsen würde. Und Fleisch würde er sowieso keines fressen! Zielstrebig hortete sie ihr Geld und verwahrte es in der Spardose, einem roten Plastikschwein. Jenny nannte es ihr Tigerschwein. Ihre gesamten Ersparnisse wollte sie für den Tiger opfern. Am vergangenen Wochenende hatte sie Irene gezwungen, die Sparbüchse zu öffnen, um das Geld zu zählen. Nach einigen Versuchen war es Irene gelungen, den Schraubverschluss am Bauch des Schweins zu öffnen. Langsam zählte Jenny zweiunddreißig Kronen fünfzig. Dann schaute sie sie mit großen Augen an und fragte atemlos:

»Reicht das?«

»Nein. Ein Tiger ist recht teuer. Aber spar du nur weiter, vielleicht reicht es für einen Tiger in, sagen wir mal, zwei Jahren. Oder du kaufst dir dann etwas anderes, das du gerne haben möchtest.«

»Ein Barbiehaus!«, schlug Katarina rasch vor.

»Nee. Einen Tiger!«, erwiderte Jenny mit Nachdruck. Katarina liebte es, mit ihrer Barbiepuppe zu spielen. Stundenlang konnte sie das lange Haar der Puppe kämmen und sie an- und ausziehen. Ihre Schwester interessierte sich überhaupt nicht für Puppen, sondern zog es vor, singend vor dem Spiegel Seil zu hüpfen. Jennys großes Idol war die Sängerin Carola.

»Mittlerweile ist sie so groß, dass sie allmählich einsieht, dass sie das Geld für einen Tiger wohl kaum jemals zusammenkriegt. Heute früh hat sie daher versucht, so lange zu brüllen, bis sie einen bekommt. Das war ganz schön übel. Alle Kindergärtnerinnen kamen angelaufen und glaubten wohl, ich hätte das arme Kind misshandelt«, seufzte Irene.

»Wie ich Jenny kenne, wird sie das mit dem Tiger schon noch hinkriegen«, erwiderte Tommy lachend.

»Bestimmt. Apropos Kinder, Andersson hat mich beauftragt, die Verhöre von Sophie Malmborg zu übernehmen.«

Tommys Lächeln verschwand, und seine Stimme klang bedrückt, während er sagte:

»Das ist ein unheimlicher Fall. Weshalb hast du ihn bekommen? «

»Tja… zum einen weigert sie sich, mit Andersson und Borg zu sprechen, zum anderen bin ich ihr schließlich bereits einmal begegnet. Unmittelbar nachdem es passiert ist. Außerdem habe ich selbst Kinder.«

»Aber die Zwillinge sind doch erst vier. Sophie ist elf«, wandte Tommy ein.

»Stimmt. Aber Kinder sind Kinder, meint der Chef.«

»Verstehe. Kinder sind nicht gerade sein Ding«, befand Tommy lächelnd.

 

Irene verbrachte den Rest des Arbeitstages damit, die umfangreiche Akte zu studieren, die ihr der Kommissar gegeben hatte. Auch noch eine Stunde nach ihrem offiziellen Feierabend saß sie da. Sie hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen, denn ihre Mutter hatte die Zwillinge bereits um drei vom Kindergarten abgeholt. Sicher hatten sie mit ihrer Großmutter bis fünf Uhr ihren Spaß gehabt, dann war Krister von der Arbeit nach Hause gekommen. Er arbeitete Teilzeit in einem Gourmetrestaurant an der Avenyn. Er war überglücklich, den Job bekommen zu haben, obwohl er beim Vorstellungsgespräch gesagt hatte, dass er nur dreißig Stunden in der Woche arbeiten könnte. Der Besitzer war zwar erst etwas erstaunt gewesen und hatte versucht, Krister zu einer vollen Stelle zu überreden. Aber Krister hatte gemeint: »Meine Frau ist Polizistin. Nach Neujahr fängt sie als Kriminalinspektorin beim Dezernat für Gewaltverbrechen an. Dort gibt es keine Teilzeitstellen, also muss ich der Mädchen wegen weniger arbeiten.«

Danach hatte der Besitzer eingelenkt und ihn als Teilzeitkoch eingestellt.

 

Am Montag, dem 6. November 1989, hatte Sophie Malmborg wie immer nachmittags den Schulbus nach Hause genommen. Sie hatte es eilig gehabt, da ihre Ballettstunde um 17.15 Uhr begann. Die Mutter einer Freundin wollte beide zum Haus des Tanzes mitnehmen. Die Freundin hieß Terese Olsén und ihre Mutter Maria Olsén.

Der Schulbus hatte gegen 15.35 Uhr vor dem Lebensmittelladen gehalten. Der Busfahrer hatte Sophie zum Fahrradständer vor dem Laden gehen und ihr Rad aufschließen sehen. Vom Laden aus musste sie einen guten Kilometer weit auf einem schmalen, unbefestigten Weg radeln. Das hatte maximal zehn Minuten gedauert, wahrscheinlich weniger. Laut ihrer Mutter Angelica Malmborg-Eriksson aß sie immer rasch ein paar Butterbrote und trank dazu ein Glas Milch. Dann radelte sie mit ihrer bereits gepackten Tasche für den Ballettunterricht zurück zum Lebensmittelladen. Dort wartete Maria Olsén auf das Mädchen. Wie jeden Montag im vergangenen Jahr.

Laut Maria Olséns Aussage war Sophie Malmborg in rasendem Tempo angeradelt gekommen und mit einer geringen Verspätung eingetroffen, was ungewöhnlich war, da Sophie sonst immer zu früh war und bereits vor dem Laden auf sie wartete.

Trafen die Angaben des Schulbusfahrers zu, so war Sophie spätestens um 15.45 Uhr zu Hause gewesen. Um den Laden rechtzeitig zu erreichen, hätte sie von dort gegen 16.20 Uhr oder – wenn man ihre Verspätung berücksichtigte – vielleicht eher um 16.25 Uhr wieder aufbrechen müssen. Was hatte sich zu Hause ereignet? Niemand wusste es. Niemand außer Sophie.

Nach dem Ballett gegen acht hatte Sophies Mutter Angelica Malmborg-Eriksson die beiden Mädchen abgeholt. Die beiden tanzten in der gleichen Gruppe im Haus des Tanzes klassisches Ballett. Erst waren sie bei Terese Olsén vorbeigefahren und hatten diese abgesetzt, dann waren Sophie und Angelica weitergefahren. Sophie war beim Lebensmittelladen ausgestiegen, um mit ihrem Fahrrad nach Hause zu radeln. Es passte nicht in den Kofferraum des Golfs. Deswegen war Angelica Malmborg-Eriksson allein mit dem Auto bei ihrem Zuhause oder dem, was davon noch übrig war, eingetroffen.

Irene unterbrach ihre Lektüre und lehnte sich zurück. Sie erinnerte sich, dass der klapprige Golf neben dem Streifenwagen abgebremst hatte. Angelica Malmborg-Eriksson war ausgestiegen, noch ehe der Wagen ganz zum Stillstand gekommen war.

»Frej! Wo ist Frej?«, hatte sie entsetzt geschrien.

Ein kleiner Junge kletterte aus einem alten Saab Kombi, der kurz nach Angelica eingetroffen war. Er wirkte nicht ganz sicher auf den Beinen und packte die Hand der großen Frau, die am Steuer gesessen hatte. Es war, als benötigte er ihren Halt. Womöglich hatten ihn das Chaos und die Verwüstung der Brandstätte erschreckt, vielleicht wollte er auch nichts als weg. Der schwere, stechende Brandgeruch hätte wirklich jeden in die Flucht geschlagen. Gemeinsam gingen der Junge und die Frau dann auf die hysterische Angelica zu. Nachdem diese den Jungen entdeckt hatte, rannte sie unter Lachen und Weinen auf ihn zu. Sie presste ihn an sich, während ihr die Tränen übers Gesicht strömten. Die Frau, die ihn hergebracht hatte, wandte sich an einen der Feuerwehrleute und fragte ihn etwas. Der Mann schüttelte den Kopf und machte eine bedauernde Geste. Mit verbissener Miene kehrte sie zu der Gruppe zurück, zu der sich nun auch Irene und Håkan Lund gesellt hatten. Mit rauer Stimme sagte die Frau: »Sie waren noch nicht drinnen. Als die Feuerwehr eingetroffen ist, hat es schon lichterloh gebrannt. Sie wissen also nicht…« Sie schwieg und warf einen Blick auf den Jungen. Håkan Lund nahm sie beim Arm und zog sie sanft, aber energisch ein Stück weg. »Ist es möglich, dass sich noch jemand im Haus befindet?«, fragte er. Sie biss auf ihre Unterlippe und meinte dann: »Mein Bruder. Magnus Eriksson. Frejs Vater.« Irene betrachtete das flammende Inferno, in das sich das Haus verwandelt hatte. Falls jemand im Haus gewesen sein sollte, war nicht mehr viel übrig von ihm.

Zwei Tage später stießen die Ermittler der Feuerwehr auf Teile eines Skeletts. Mit Hilfe des Unterkiefers, der fast noch intakt war, hatte der Gerichtsmediziner feststellen können, dass die Knochen von Magnus Eriksson stammten.

 

Angelica Malmborg-Eriksson war Ballettlehrerin im Haus des Tanzes, unterrichtete aber auch an der Hochschule für Tanz, die Berufstänzer und Choreographen ausbildete. Die Schule lag in Högsbo in einem Schulhaus aus den fünfziger Jahren. Vom Haus des Tanzes bis zum Haus der Malmborg-Erikssons in Björkil waren es fast fünfundzwanzig Kilometer. Da der öffentliche Nahverkehr in Göteborg zu wünschen übrig ließ, mussten Sophie und Tessan zu ihren Ballettstunden gefahren werden. Diese Angaben fanden sich in den Protokollen der ersten Verhöre.

Dort stand auch, dass Sophie von frühester Kindheit an getanzt hatte. Laut ihrer Mutter hatte sie getanzt, noch bevor sie laufen konnte.

Alles, was über Sophie in den Akten zu finden war, hatten sie von ihrer Mutter erfahren, da Sophie selber mit den Ermittlern nach dem Brand kein Wort gesprochen hatte. Die Mutter beteuerte, dass Sophie auch mit ihr kaum geredet habe. Das Mädchen blieb stumm und betrachtete die Welt mit ernstem Blick. Offenbar hatte sie jedoch mit ihrem Vater, dem Komponisten Ernst Malmborg, gesprochen. Verzweifelt berichtete Angelica Malmborg-Eriksson dem allmählich recht resignierten Kommissar Andersson, das Mädchen habe sich nach ihrem letzten Besuch beim Vater geweigert, wieder zu ihr zu kommen. Da das Haus in Björkil vollständig abgebrannt war, hatte das Sozialamt Angelica und ihren zwei Kindern eine Wohnung zugewiesen. Ihr gesamtes Hab und Gut war von den Flammen vernichtet worden. Nur ein alter Gartentisch, mit dem sie in der vierten Etage eines Hochhauses in Biskopsgården jedoch nichts anfangen konnten, hatte im Freien das Feuer überstanden. Sophie weigerte sich, bei der Mutter zu wohnen. Äußerst widerstrebend hatte Angelica schließlich erlaubt, dass ihre Tochter beim Vater blieb, »bis das Schlimmste vorbei ist«.

Irene suchte nach dem Datum dieser Eintragung. Sie stammte von kurz vor Weihnachten.

War das Schlimmste inzwischen vorüber? Warum konnten Angelica und die Kinder nach dem Brand nicht bei Magnus Erikssons Schwester wohnen? Sie und der kleine Frej schienen ja ein gutes Verhältnis zu haben. Irene blätterte alle Papiere durch, die in der Mappe lagen, fand aber nirgendwo einen Hinweis auf ein Verhör mit der Schwester. Vage erinnerte sie sich daran, dass die Frau sich vorgestellt hatte. Wie war noch einmal ihr Name gewesen? Das würde sie morgen herausbekommen, und zwar nach dem Treffen mit Sophie, das für neun Uhr angesetzt war.

Ganz hinten in der Mappe fanden sich drei kurze Berichte. Der erste handelte vom Brand eines Heuhaufens im April 1989. Der Besitzer eines Reitstalls hatte das verrottete Heu des Vorjahres auf einen Acker hinter dem Stall gebracht, um es dort später zu verbrennen. Gegen neun Uhr abends hatte bei ihm das Telefon geklingelt. Es war der Nachbar, der berichtete, das Heu stehe in Flammen. Er könne es von seinem Küchenfenster aus sehen. Der Reitstallbesitzer und seine Frau waren zum Stall geeilt und hatten die Wände mit Wasser bespritzt. Als die Feuerwehr eintraf, war der Brand unter Kontrolle gewesen und hatte rasch gelöscht werden können.

Die Ermittlung der Brandursache hatte Brandstiftung ergeben. In der Nähe waren zwei leere Spiritusflaschen gefunden worden. Leider hatten sie nahe am Feuer gelegen und waren teilweise geschmolzen, sodass man keine Fingerabdrücke hatte sichern können.

Kurz vor Ausbruch des Brandes war eine Person auf einem Fahrrad in der Nähe gesehen worden. Diese Aussage stammte von dem Nachbarn, der auch den Brand entdeckt hatte. Er war schon älter und sah nicht mehr gut, aber er war sich ganz sicher, eine Person mit Fahrrad vor dem Stall bemerkt zu haben. Leider konnte er sie nicht näher beschreiben. Er wusste auch nicht, ob es sich dabei um einen Mann oder eine Frau gehandelt hatte. Klar war seinen Angaben nach nur, dass die betreffende Person auf dem Fahrrad lange, dunkle Hosen und einen dunklen, langärmligen Pullover oder eine langärmlige Jacke getragen hatte.

Der andere Bericht galt einem viel schwerwiegenderen Brand. Er war Anfang September 1989 in einem Sommerhaus in Hovdalen ausgebrochen. Das Haus lag abgeschieden, und es hatte eine Weile gedauert, bis das Feuer von einem Paar, das einen Spaziergang mit seinen zwei Hunden gemacht hatte, entdeckt worden war. Das Haus war vollständig abgebrannt. Die Spurensicherung hatte schnell entdeckt, dass es sich um Brandstiftung handelte. Teppiche, Bettzeug und andere Textilien waren in der Mitte des Hauses aufgetürmt und angezündet worden. Die chemische Analyse hatte ergeben, dass der Täter Brennspiritus verwendet hatte.

In den Zeitungen war in großen Lettern vom »Pyromanen von Björlanda« die Rede gewesen, und die Bevölkerung hatte weitere Brandanschläge befürchtet. Aber bis November, als das Haus in Björkil abgebrannt war und Magnus Eriksson in den Flammen umkam, war es ruhig gewesen.

Der letzte Bericht handelte von einer Person, die im Bett geraucht hatte, und stammte vom 25. Dezember 1988, 19.47 Uhr. Eine hysterische Frau hatte die Feuerwehr zum Haus von Familie Malmborg-Eriksson gerufen. Laut Notrufzentrale hatte sie geschrien: »Es brennt! Es brennt!«

Als der Krankenwagen und die Feuerwehr eintrafen, war das Feuer bereits gelöscht. Magnus Eriksson hatte eine hässliche Brandverletzung an der rechten Hand und am rechten Unterarm davongetragen, war aber im Übrigen unverletzt. Laut Bericht war er sehr betrunken. Seine Frau war auch nicht nüchtern gewesen. Ihr siebenjähriger Sohn hatte sich ebenfalls im Haus befunden.

Man brachte Magnus Eriksson ins Krankenhaus, um seinen Arm zu versorgen. Seine Frau Angelica Malmborg-Eriksson erklärte, ihr Mann sei müde gewesen und nach oben gegangen, um sich hinzulegen. Als sie etwas später ins Schlafzimmer gekommen sei, um ihm zu sagen, der Film, den sie im Fernsehen sehen wollten, finge gleich an, habe es im Zimmer gebrannt. Sie habe geschrien, und so sei es ihr gelungen, ihren Mann zu wecken. Seine Frau verhielt sich erstaunlich geistesgegenwärtig. Sie lief ins Badezimmer, in dem ein paar Turnschuhe in einem Eimer einweichten. Sie zog die nassen Schuhe heraus und kippte das Wasser auf den Brandherd. Das Bett hatte noch nicht gebrannt, sondern nur ein dicker Bettvorleger. Die Untersuchung ergab, dass Magnus Eriksson mit brennender Zigarette auf dem Bett eingeschlafen war. Sein Arm hatte über die Bettkante gehangen, und seine Zigarette war auf den Bettvorleger gefallen und hatte diesen in Brand gesetzt.

Irene stellte fest, dass Sophie in dem Bericht nicht erwähnt wurde. Wahrscheinlich war sie bei ihrem Vater Ernst Malmborg gewesen.

Die zwei ersten Brände waren in einem Umkreis von einem Kilometer vom Haus der Familie Malmborg-Eriksson in Björkil gelegt worden. Der dritte hatte sich gleich im Haus selber abgespielt.

Das konnte ein Zufall sein, war aber rein statistisch gesehen recht unwahrscheinlich. Oder wie Kommissar Andersson in seiner kaum lesbaren Handschrift geschrieben hatte: »Ein Brand – möglich. Zwei Brände – kaum. Drei – schon gar nicht!«

Irene gab ihm Recht. Drei Brände innerhalb eines halben Jahres in einem Umkreis von einem Kilometer waren wohl kaum als Zufall zu bezeichnen.