TOM CLANCY
UND PETER TELEP
GEGEN ALLE FEINDE
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Michael Bayer
TOM CLANCY
UND PETER TELEP
GEGEN ALLE FEINDE
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Michael Bayer
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Against All Enemies
bei G.P. Putnam's Sons, New York
Redaktion: Ulrich Mihr
Copyright © 2011 by Rubicon, Inc.
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Satz: Leingärtner, Nabburg
ePub-ISBN 978-3-641-08582-7
V003
www.heyne.de
Wir glauben, Al-Kaida sei übel, aber das sind Waisenknaben im Vergleich mit den Kartellen.
anonymer leitender FBI-Agent, El Paso, Texas
Jeder hat seinen Preis.
Man muss nur herausfinden, wie hoch er ist.
Pablo Escobar
In Mexiko ist man dem Tod immer sehr nahe. Das gilt zwar für alle Menschen, denn er ist ein Teil des Lebens, aber in Mexiko begegnet man dem Tod in vielerlei Gestalt.
Gael García Bernal
Prolog
Rendezvous Foxtrott
02.15 Uhr, Arabisches Meer
8 km südlich der Indus-Mündung
Pakistanische Küste
Ein verdunkeltes Schiff muss immer und jederzeit ausweichen sowie allen anderen die Vorfahrt gewähren und sollte deshalb mit größter Vorsicht manövrieren, dachte Moore, als er vor dem Steuerhaus des OSA-1-Schnellboots Quwwat stand. Dieses war zwar in Pakistan selbst in der Werft von Karatschi gebaut worden, beruhte jedoch mit seinen vier HY-2-Boden-Boden-Raketen und seinen beiden 25-mm-Zwillings-Flak auf einem alten sowjetischen Bauplan. Drei Dieselmotoren und drei Schrauben trieben das 40 Meter lange Patrouillenboot mit 30 Knoten durch die Wellen, die unter einer dicht über dem Horizont stehenden Mondsichel silbern schimmerten. »Verdunkelt« bedeutete, dass weder die Topplaternen noch die Steuerbordlichter brannten. Die »Internationalen Kollisionsverhütungsregeln« (COLREGs) von 1972 schrieben vor, dass die Quwwat in diesem Zustand bei einem Zusammenstoß mit einem anderen Schiff unabhängig von den jeweiligen Umständen auf jeden Fall schuld sein würde.
Am frühen Abend war Moore bei einbrechender Dämmerung in Begleitung des Leutnants Syed Mallaah eine Pier in Karatschi hinuntergegangen. Ihnen folgten vier Soldaten, die zur Pakistan Special Service Group Navy (SSGN) gehörten, einer Spezialeinheit der pakistanischen Marine, die den SEALs der US-Navy ähnelte, ohne jedoch über deren, ähm, Fähigkeiten und Kampfkraft zu verfügen. An Bord der Quwwat hatte Moore auf einem Schnellrundgang bestanden, an dessen Ende er kurz dem Kapitän, Leutnant Maqsud Kayani, vorgestellt wurde, der jedoch gerade mit den Auslaufbefehlen beschäftigt war. Der Schnellboot-Kommandant konnte nicht viel älter als Moore sein, er schätzte ihn auf fünfunddreißig Jahre, womit aber die Ähnlichkeiten zwischen den beiden schon erschöpft waren. Moores breite Schultern standen in starkem Gegensatz zu Kayanis schmaler Radler-Statur, die seine Uniform kaum auszufüllen vermochte. Der Leutnant hatte eine Hakennase, und wenn er sich in der letzten Woche rasiert haben sollte, so war das zumindest nicht mehr zu erkennen. Trotz seines etwas rauen Aussehens genoss er die höchste Aufmerksamkeit und den Respekt seiner 28-köpfigen Mannschaft. Wenn er etwas anordnete, wurde es sofort ausgeführt. Schließlich drückte Kayani Moore kräftig die Hand und sagte: »Willkommen an Bord, Mr. Fredrickson.«
»Vielen Dank, Leutnant. Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.«
»Keine Ursache.«
Sie unterhielten sich auf Urdu, der pakistanischen Nationalsprache, die Moore leichter erlernt hatte als Dari, Paschtu oder Arabisch. Diesen pakistanischen Marinesoldaten hatte man ihn als den Amerikaner »Greg Fredrickson« angekündigt, obwohl es ihm sein leicht dunkler Teint, sein dichter Bart und sein im Moment zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes langes, schwarzes Haar erlaubten, sich als Afghane, Pakistani oder Araber auszugeben, wenn er dies wünschte.
Leutnant Kayani fuhr fort: »Keine Angst, Sir. Ich plane, unseren Bestimmungsort pünktlich, wenn nicht sogar etwas früher zu erreichen. Der Name dieses Boots bedeutet Schlagkraft oder Leistungsfähigkeit, und das trifft es ganz genau.«
»Hervorragend.«
Point Foxtrot, der vorgesehene Treffpunkt, lag 5 Kilometer vor der pakistanischen Küste und gerade außerhalb des Indus-Deltas. Dort würden sie vom indischen Patrouillenboot Agray einen Gefangenen übernehmen. Die indische Regierung hatte sich bereit erklärt, einen erst kürzlich verhafteten Taliban-Kommandeur namens Akhter Adam auszuliefern. Nach indischen Angaben war dieser Mann ein »hochrangiges Ziel« mit genauen Kenntnissen über die Operationen der Taliban-Truppen im Südabschnitt der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Inder glaubten, Adam habe vor seiner Festnahme seine eigenen Leute nicht mehr alarmieren können. Für diese war er einfach seit 24 Stunden verschwunden. Trotzdem drängte die Zeit. Beide Regierungen wollten sicherstellen, dass die Taliban niemals erfuhren, in wessen Hände Adam gefallen war. Aus diesem Grund waren an dieser Übergabe auf See keine amerikanischen Soldaten oder militärischen Einheiten der US-Navy beteiligt – außer einem gewissen CIA-Agenten für paramilitärische Operationen namens Maxwell Steven Moore.
Freilich hatte Moore gewisse Bedenken, diesen Einsatz mit einem Sicherheitsteam der SSGN durchführen zu müssen, das von einem jungen, unerfahrenen Leutnant geführt wurde. Bei der Vorbesprechung hatte man ihm jedoch versichert, dass Mallaah, ein Einheimischer aus der ganz in der Nähe liegenden Stadt Thatta in der Sindh-Provinz, absolut loyal, hoch angesehen und für seine Zuverlässigkeit bekannt sei. Für Moore mussten Loyalität, Vertrauen und Respekt zwar erst einmal verdient werden, aber es würde sich bald herausstellen, ob der Leutnant der Aufgabe gewachsen war. Immerhin war Mallaahs Job ziemlich wichtig: Er musste die Übergabe überwachen und für den Schutz Moores und des Gefangenen sorgen.
Wenn Akhter Adam sicher an Bord war, wollte Moore bereits auf der Rückfahrt in den Hafen von Karatschi mit seinem Verhör beginnen. In dieser Zeit wollte er klären, ob der Kommandeur tatsächlich ein »hochrangiges Ziel« war, das die Aufmerksamkeit der CIA verdiente, oder jemand, den man den Pakistani zu einer kleinen Kurzweil überlassen konnte.
Auf der Backbordseite durchdrangen drei schnelle weiße Lichtblitze die Dunkelheit, die vom Turshian-Mouth-Leuchtturm stammten, der den Eingang zum Indus bewachte. Die Sequenz wiederholte sich alle zwanzig Sekunden. Etwas weiter östlich bemerkte Moore auf der Steuerbordseite den einzelnen weißen Lichtblitz des Kajhar-Creek-Leuchtfeuers, der alle zwölf Sekunden aufleuchtete. Das Drehlinsenfeuer des vielumkämpften Kajhar-Creek-(oder Sir-Creek-)Leuchtturms kam exakt von der indisch-pakistanischen Grenze. Moore hatte sich bei der Einsatzbesprechung die Navigationskarten gründlich angesehen und sich vor allem Namen und Lage der Leuchttürme und ihre spezifischen Leuchtsequenzen genau eingeprägt. Solche alten SEAL-Gewohnheiten saßen eben sehr tief.
Da der Mond um 2.20 Uhr unterging und der Himmel zur Hälfte bewölkt war, erwartete Moore, dass es während des Treffens um 3.00 Uhr stockdunkel sein würde. Auch die Inder würden ihr Schiff völlig abdunkeln. Notfalls würden ihnen die Leuchtfeuer von Kajhar Creek und Turshian Mouth eine genaue Positionsbestimmung ermöglichen.
Leutnant Kayani hielt tatsächlich Wort. Als sie genau um 2.50 Uhr Point Foxtrot erreichten, ging Moore zur anderen Seite des Steuerhauses hinüber, wo an Backbord das einzige vorhandene Nachtsichtgerät angebracht war. Kayani war bereits dort und versuchte, etwas in der stockfinsteren Nacht auszumachen. In der Zwischenzeit hatten sich Mallaah und sein Team mittschiffs auf dem Hauptdeck aufgestellt, um den Gefangenen an Bord zu holen, sobald das indische Schiff längsseits gehen würde.
Als er Moore kommen hörte, überließ Kayani ihm das Nachtsichtgerät. Trotz der aufziehenden Wolken lieferte das Sternenlicht immer noch genug Photonen, um das indische Patrouillenboot der Pauk-Klasse in ein unheimliches grünes Zwielicht zu tauchen. Sogar die Zahl 36 am Rumpf war zu erkennen. Die von Steuerbord heranrauschende Agray war mit ihren 500 Tonnen doppelt so schwer wie die Quwwat. Sie war mit acht GRAIL-Boden-Luft-Raketen und zwei RBU-1200-ASW-Raketenwerfern auf der Steuerbordseite ausgerüstet. Jedes aus fünf Werferrohren bestehende System konnte Täuschkörper sowie ASW-Raketen auf Bodenziele oder zur U-Boot-Bekämpfung abfeuern. Die Quwwat wirkte neben ihr geradezu winzig.
Die Agray driftete jetzt langsam an Steuerbord entlang und bereitete sich auf die endgültige Annäherung vor. Moore entdeckte ihren Namen, der mit schwarzen Buchstaben quer über das Heck gemalt war, das aus dem Gischtnebel auftauchte. Als er dann einen Blick durch die Steuerhaus-Tür auf die Backbordseite warf, bemerkte er einen »kurz-lang, kurz-lang«-Lichtblitz. Er versuchte sich daran zu erinnern, welcher Leuchtturm diese Lichtfolge verwendete. Inzwischen hatte die Agray ihr Anlegemanöver fast beendet, und Kayani lehnte sich über die Steuerbord-Reling, um das Ausbringen der Fender zu überwachen, die eventuelle Schäden am Schiffsrumpf möglichst klein halten oder ganz verhindern sollten, die beim Kontakt der beiden Schiffe durch den Seegang entstehen konnten.
Da, wieder diese Lichtblitze: kurz-lang, kurz-lang.
Von wegen Leuchtturm …, dachte Moore. ALPHA-ALPHA bedeutete im internationalen Morsecode so etwa: »Wer zum Teufel sind Sie?«
Moore überlief es eiskalt. »Leutnant, wir bekommen ein ALPHA-ALPHA auf der Backbordseite. Sie fordern uns auf beizudrehen!«
Kayani stürzte zur Backbord-Reling hinüber. Moore stellte sich direkt hinter ihn. Wie oft hatte man sie wohl schon aufgefordert, sich zu identifizieren? Sie befanden sich zwar immer noch in pakistanischen Küstengewässern, aber wie genau sahen die pakistanischen Marine-Einsatzregeln aus?
Plötzlich explodierte über ihren Köpfen eine Leuchtrakete. Deren Licht ließ tiefe Schatten über die Decks der beiden Patrouillenboote huschen. Moore spähte angestrengt auf die See hinaus. Was er dann erblickte, erschien ihm wie ein Albtraum. Etwa 1000 Meter von ihnen entfernt durchbrach ein U-Boot mit einem riesigen schwarzen Turm die Fluten. Seine schwarzen Decks wurden immer wieder überspült, während es seinen Bug genau auf sie richtete. Der Kommandant hatte sich zum Auftauchen entschlossen, um die vermeintlichen Eindringlinge aufzubringen. Da sie nicht geantwortet hatten, hatte er ein Leuchtgeschoss abgefeuert, um sein Ziel visuell genau ausmachen zu können.
Kayani führte den Feldstecher, der ihm um den Hals hing, an die Augen und stellte ihn scharf. »Es ist die Shushhuk! Sie ist eines unserer Boote! Sie sollte jedoch daheim an der Pier liegen.«
Moores Brust zog sich zusammen. Was zum Teufel hatte ein U-Boot der pakistanischen Marine an ihrem Treffpunkt zu suchen?
Er drehte sich zur Agray um. Inzwischen stand der Taliban-Gefangene bestimmt schon zur Übergabe bereit auf ihrem Deck. Laut Plan sollte der an den Händen gefesselte Adam einen schwarzen Overall und einen Turban tragen und von zwei schwer bewaffneten MARCOS, Elitesoldaten des indischen Marinekommandos, bewacht werden. Moore wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem U-Boot zu …
Und da sah er es: eine phosphoreszierende Linie bewegte sich durch das Wasser an ihrem eigenen Heck vorbei auf die Agray zu.
Er deutete mit dem Finger darauf und rief: »TORPEDO!«
Im nächsten Augenblick packte Moore Kayani von hinten und stieß ihn über die Reling ins Wasser. Als er selbst hineinsprang, traf der Torpedo die Agray. Das Donnern und Blitzen der folgenden Explosion war so surreal wie schockierend nahe. Mehrere Wellen von Metalltrümmern schwirrten durch die Luft, prallten vom Rumpf der Quwwat ab und peitschten wie eiserne Regengüsse in das umliegende Wasser.
Moores Augen weiteten sich, als die dampfende, zischende See auf sie zukam, die jetzt von den glühend heißen Metallsplittern aus dem Rumpf, den Decks und dem Torpedo erhitzt wurde, die bei jeder weiteren Explosion von der Agray aufstiegen. Als er ins Wasser eintauchte, wobei er fast auf einem scharf gezackten Stück Stahl gelandet wäre, explodierten die GRAIL-Boden-Luft-Gefechtsköpfe der Agray und sämtliche ASW-Raketen auf ihrem Vorderdeck in einem riesigen Feuerball.
Moore wurde unter das Wasser gedrückt, wobei seine Schuhe mit etwas unter ihm kollidierten. Er schwamm zur Oberfläche zurück und schaute sich um, ob er den Leutnant entdecken konnte. Da war er, gar nicht weit entfernt.
Plötzlich schlugen drei ASW-Raketen der Agray in die Gehäuse der Silkworm-Raketen an Bord der Quwwat ein. Die nachfolgenden Detonationen waren so laut und hell, dass Moore untertauchte, um sich zu schützen. Dann schwamm er zum Leutnant hinüber, der in Rückenlage auf dem Wasser trieb und anscheinend bewusstlos war. Auf der linken Seite seines Kopfes war ein tiefer Schnitt zu erkennen, der immer noch heftig blutete. Er hatte sich wohl an einem scharfen Trümmerstück verletzt, als er auf dem Wasser aufkam. Moore tauchte an der Schulter des Mannes wieder auf und spritzte Salzwasser auf die Wunde, während ihn Kayani mit leerem Blick anstarrte. »Leutnant! Aufwachen! Schnell!«
30 Meter von ihnen entfernt trieb brennender Diesel-treibstoff auf der Meeresoberfläche. Der Gestank war so entsetzlich, dass Moore das Gesicht verzog. Gleichzeitig spürte er zum ersten Mal fast körperlich das tiefe Brummen der Dieselmotoren – das U-Boot. Er hatte keine Eile und würde sich den Wracks auf keinen Fall nähern, bevor die Flammen erloschen waren.
Offensichtlich trieben auch noch andere Männer im Wasser. Obwohl sie kaum zu erkennen waren, hörte man zwischen den einzelnen Explosionen ihre Rufe. Ganz in der Nähe erklang jetzt ein erstickter Schrei. Moore suchte mit den Augen die Umgebung nach dem Taliban-Gefangenen ab, aber der doppelte Donnerschlag einer weiteren Detonation brachte ihn erneut zum Abtauchen. Als er sich, zurück an der Oberfläche, umdrehte, wies die Quwwat bereits eine bedenkliche Schlagseite nach Backbord auf und drohte jeden Augenblick zu sinken. Der Bug der Agray war sogar schon völlig überspült. Überall wüteten Feuer, und schwarzer Rauch stieg auf. Immer noch ging mit scharfem Knall und dumpfem Wummern Munition hoch. Die Luft war von einem beißenden Dunst erfüllt, der nach brennendem Gummi und Kunststoff roch.
Obwohl er die Feuerhitze bereits deutlich im Gesicht spürte, zwang sich Moore, ruhig zu bleiben. Er zog die Schuhe aus, knotete die Schnürsenkel zusammen und hängte sie sich um den Hals. Bis zum Ufer sind es fünf Kilometer … allerdings hatte er keine Ahnung, in welcher Richtung dieses Ufer lag. Wohin auch immer er blickte, mit Ausnahme der lodernden Flammen war es stockdunkel. Jedes Mal, wenn er auf die Feuersbrunst schaute, war danach seine Nachtsicht für einige Zeit gleich null.
Lichtblitz – Lichtblitz – Lichtblitz. Einen Augenblick. Er versuchte, sich zu erinnern. Er begann zu zählen … eins eintausend, zwei eintausend … bei neunzehn wurde er durch drei weitere kurze Lichtblitze belohnt. Jetzt wusste er, wo der Turshian-Mouth-Leuchtturm lag.
Moore zog Kayani an sich heran, um ihn zu stabilisieren. Der Leutnant, der immer wieder das Bewusstsein verlor, schaute Moore jetzt groß an. Als er jedoch das Feuer vor ihnen bemerkte, geriet er in Panik. Er streckte die Hand aus und packte Moore mit aller Kraft am Kopf. Offensichtlich wusste er gar nicht genau, was er da tat, wie es bei Menschen unter Schock ja oft der Fall ist. Moore musste allerdings sofort darauf reagieren, sonst hätte ihn der rasende Leutnant leicht ertränkt.
Moore presste also seine Handflächen mit ausgestreckten Fingern an Kayanis Hüften, wobei er diesem die Daumen fest in die Seite presste. Danach drückte er Kayani in eine horizontale Lage zurück. Durch den Hebeleffekt gelang es ihm, den Griff des Mannes zu lösen. Als Moore seinen Kopf wieder frei bewegen konnte, schrie er: »Ganz ruhig! Ich lasse Sie nicht im Stich! Tief durchatmen!« Dann packte er ihn am Kragen. »Ab jetzt ziehe ich Sie. Lassen Sie sich einfach auf dem Rücken treiben.«
Moore wählte den Seitenschwimmstil, wie ihn die Kampfschwimmer benutzten, wenn sie im Einsatz Lasten hinter sich herziehen mussten. Mit dem Leutnant im Schlepptau schwamm er um die brennenden Trümmer herum. Dabei kamen sie manchmal den hell lodernden Diesellachen bedrohlich nahe. Moores Ohren begannen infolge der ständigen Donnerschläge und der wie ein ständiges lautes Fauchen klingenden Geräusche der Brände allmählich zu schmerzen.
Kayani blieb ruhig, bis sie auf die Leichen einiger seiner Männer stießen, die reglos im Wasser trieben. Er rief laut ihre Namen, und Moore verdoppelte seine Anstrengungen, um möglichst schnell von ihnen wegzukommen. Trotzdem wurde das Meer immer grausiger. Immer wieder schwammen einzelne Gliedmaßen, hier ein Arm, dort ein Bein, an ihnen vorbei. Vor ihnen tauchte etwas Dunkles auf. Auf dem Wasser trieb ein Turban. Der Turban des Gefangenen. Moore hielt an und schaute nach rechts und nach links, bis er eine leblose Gestalt ausmachte, die auf den Wellen dümpelte. Er schwamm hinüber und drehte den Körper auf die Seite, bis er das bärtige Gesicht, den schwarzen Overall und den schrecklichen Schnitt quer über die Kehle erkennen konnte, der dessen Halsschlagader durchtrennt hatte. Es war ihr Mann. Moore biss die Zähne zusammen und packte Kayani wieder fest am Kragen. Bevor er weiterschwamm, schaute er in Richtung des Unterseeboots. Es war bereits verschwunden.
In seiner Zeit bei den SEALs konnte Moore auf offener See ohne Flossen eine Strecke von 3,2 Kilometer in weniger als 70 Minuten schwimmen. Mit einem anderen Mann im Schlepptau war das natürlich nicht möglich, aber er war entschlossen, auch diese Aufgabe zu meistern.
Er konzentrierte sich auf den Leuchtturm, atmete ruhig und stieß sich methodisch und regelmäßig mit den Beinen vorwärts. Seine Bewegungen waren bedachtsam und flüssig, er vergeudete keine Energie. Jeder Arm- und Beinschwung lenkte die Kraft dorthin, wo sie gebraucht wurde. Immer wieder hob er kurz den Kopf über Wasser, machte einen tiefen Atemzug, um danach seinen Weg mit der Präzision einer Maschine fortzusetzen.
Plötzlich hörte er hinter sich jemand rufen. Als er anhielt und sich umdrehte, entdeckte er eine kleine Gruppe von vielleicht 10 bis 15 Männern, die ihn mit aller Macht zu erreichen versuchten.
»Folgt mir einfach!«, rief er ihnen zu. »Folgt mir.«
Jetzt versuchte er nicht nur, Kayani zu retten. Er musste die übrigen Überlebenden motivieren, mit ihm zusammen das Ufer zu erreichen. Dies waren zwar Marinesoldaten, die ein hartes Schwimmtraining absolviert hatten. Trotzdem waren 5 Kilometer auf offener See eine entsetzlich lange Strecke, vor allem wenn man sie mit Verletzungen zurücklegen musste. Deshalb durften sie ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren.
In seinem Schwimmarm und seinen Beinen sammelte sich immer mehr Milchsäure an. Der Muskelkater wurde von Meter zu Meter schlimmer. Er schraubte seine Geschwindigkeit etwas zurück und schüttelte die Beine und den überbeanspruchten Arm, atmete noch einmal tief durch und befahl sich selbst: Ich werde nicht aufgeben. Niemals.
Von nun an konzentrierte er sich auf diesen Gedanken. Er würde seine Gruppe anführen und alle diese Männer heil an Land bringen – selbst wenn ihn dies das Leben kosten sollte. Er geleitete sie durch die steigenden und fallenden Wogen, ein Schwimmstoß und ein Beinschwung nach dem anderen, auch wenn ihm diese zunehmend schwerer fielen. Er lauschte den Stimmen aus seiner Vergangenheit, den Stimmen seiner Ausbilder und ersten Vorgesetzten, die ihr Leben der Aufgabe gewidmet hatten, bei ihm und vielen anderen den Kampfgeist zu wecken, der tief in ihrem Herzen geschlummert hatte.
Fast 90 Minuten später hörte er zum ersten Mal die Uferbrandung. Jedes Mal, wenn ihn die Wellen emportrugen, sah er, dass sich zahlreiche Taschenlampen am Strand entlangbewegten. Wo es Taschenlampen gab, musste es auch Menschen geben. Sie waren ans Ufer geeilt, um die Brände und Explosionen draußen auf dem Meer zu beobachten. Jetzt würden sie wohl bald auch ihn bemerken. Moores Geheimoperation würde bald kein Geheimnis mehr sein. Er fluchte und warf einen Blick nach hinten. Die Gruppe der Überlebenden war mindestens 50 Meter zurückgefallen. Sie hatten mit Moores strammem Tempo nicht mithalten können. Jetzt konnte er sie kaum noch sehen.
Als seine nackten Füße den sandigen Boden berührten, war Moore völlig fertig und ließ alles, was er noch bei sich hatte, in der Arabischen See zurück. Kayani kam immer noch nur kurz zu Bewusstsein, als ihn Moore durch die Brandung schleppte und auf den Strand zog, wo sich sogleich fünf oder sechs Dorfbewohner um die beiden scharten. »Ruft Hilfe herbei!«, brachte er gerade noch heraus.
In der Entfernung schlugen immer noch Flammen hoch. Es wirkte wie ein Hitzegewitter, das ein Negativbild der Wolken hervorrief. Die Silhouetten der beiden Schiffe waren jedoch verschwunden, nur der Rest des auf dem Wasser schwimmenden Treibstoffs brannte weiterhin ab.
Moore zog sein Handy heraus, aber es hatte den Geist aufgegeben. Wenn er das nächste Mal Gefahr lief, von einem U-Boot angegriffen zu werden, wollte er sich zuvor eine wasserdichte Version zulegen. Er bat einen der Dörfler, einen milchbärtigen Jungen im Oberschulalter, ihm sein Mobiltelefon zu leihen.
»Ich habe gesehen, wie die Schiffe explodiert sind«, stieß der Junge atemlos hervor.
»Ich auch«, blaffte ihn Moore an, um dann jedoch freundlicher hinzuzufügen: »Danke für das Handy.«
»Geben Sie es mir«, rief Kayani vom Strand herüber. Seine Stimme klang zwar noch recht brüchig, aber er schien jetzt doch wieder klar im Kopf zu sein. »Mein Onkel ist Oberst in der Armee. Er schickt uns innerhalb einer Stunde einen Hubschrauber. Das ist der schnellste Weg, um hier wegzukommen.«
»Hier, nehmen Sie es«, sagte Moore. Er hatte die Karten genau gelesen und wusste deshalb, dass es mit dem Auto bis zum nächsten Krankenhaus Stunden dauern würde. Als Treffpunkt der beiden Schiffe hatte man ja ganz bewusst einen Punkt vor einer dünn besiedelten ländlichen Küste ausgewählt.
Kayani erreichte seinen Onkel. Dieser versprach ihm, sofort einen Helikopter loszuschicken. Danach rief Kayani seinen Kommandeur an und bat ihn, eine Rettungsoperation der Küstenwache anzufordern, die nach weiteren Schiffbrüchigen suchen sollte. Allerdings verfügte die pakistanische Küstenwacht nicht über Rettungshubschrauber, und ihre in China gebauten Korvetten und Patrouillenboote würden erst am Spätvormittag eintreffen. Moore fing erneut an, die Brandung zu beobachten. Jede anrollende Welle suchte er mit den Augen nach eventuellen Überlebenden ab.
Fünf Minuten. Zehn. Nichts. Keine einzige Seele. Er musste an das Blut und die abgerissenen Körperteile denken, auf die sie im Wasser immer wieder gestoßen waren. Die hatten inzwischen bestimmt alle Haie der näheren und weiteren Umgebung angelockt. Die wohl überwiegend verwundeten Schwimmer hatten deren Angriffen wahrscheinlich nicht viel entgegenzusetzen.
Nach einer halben Stunde entdeckte Moore den ersten leblosen Körper, der wie ein Stück Treibholz auf den Wellen dümpelte und schließlich an Land gespült wurde. Viele andere würden folgen.
Erst nach über einer Stunde näherte sich von Nordwesten ein Mi-17-Helikopter. Das Dröhnen seiner beiden Turbinen und das laute Sirren der Rotoren wurden von den Hügeln der Umgebung wie ein Echo zurückgeworfen. Der Hubschrauber war von den Sowjets speziell für ihren Krieg in Afghanistan entwickelt worden und schließlich sogar zu einem Symbol dieses Konflikts geworden, als diese Goliathe der Lüfte von den afghanischen Davids immer häufiger vom Himmel geholt wurden. Die pakistanische Armee verfügte über fast hundert dieser Mi-17. Moore hatte sich dieses eigentlich recht triviale Detail deshalb gemerkt, weil er schon öfter als Passagier in einem Mi-17 mitgeflogen war. Einmal hatte sich dabei der Pilot laut über diesen »Schrotthaufen« beklagt, der bei jedem zweiten Einsatz den Geist aufgeben würde. Auch die anderen fast hundert Exemplare der pakistanischen Armee seien in keinem besseren Zustand.
Leicht beunruhigt bestieg Moore den Hubschrauber, der ihn und Kayani jedoch schnell und sicher in das Sindh-Government-Krankenhaus in Liaquatabad Town, einem Vorort von Karatschi, beförderte. Unterwegs verabreichten die Sanitäter dem pakistanischen Leutnant so starke Schmerzmittel, dass sich dessen verzerrte Gesichtszüge zusehends entspannten. Als sie landeten, ging gerade die Sonne auf.
Etwa eine Stunde später fuhr Moore mit dem Aufzug in den ersten Stock des Krankenhauses hinauf, um Kayani in seinem Krankenzimmer zu besuchen. Den Leutnant würde ab jetzt eine hübsche Kampfnarbe zieren, was es ihm bestimmt leichter machen würde, schöne junge Frauen ins Bett zu bekommen … Beide Männer waren stark dehydriert, weswegen der Pakistani jetzt auch am Tropf hing.
»Wie geht es Ihnen?«
Kayani hob mit Mühe den Arm und griff an seinen Kopfverband. »Ich habe immer noch Kopfschmerzen.«
»Das geht vorbei.«
»Allein hätte ich es nicht zurückgeschafft.«
Moore nickte. »Es hatte Sie ganz schön erwischt, und Sie haben ziemlich viel Blut verloren.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ein schlichtes Dankeschön genügt wohl nicht.«
Moore nahm einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche, die ihm eine Krankenschwester gereicht hatte. »Hey, geschenkt, das war doch selbstverständlich.« Eine Bewegung auf dem Gang erregte Moores Aufmerksamkeit. Es war Douglas Stone, ein CIA-Kollege, der jetzt über seinen grau melierten Bart strich und ihn über den Rand seiner Brille hinweg fixierte. »Ich muss gehen«, sagte Moore.
»Mr. Fredrickson, warten Sie einen Moment.«
Moore runzelte die Stirn.
»Kann ich Sie irgendwie erreichen?«
»Sicher, warum?«
Kayani blickte Stone an und spitzte den Mund.
»Oh, er ist okay. Ein guter Freund.«
Der Leutnant zögerte noch ein paar Sekunden und sagte dann: »Ich möchte Ihnen danken … irgendwie.«
Moore riss von einem kleinen Block auf dem Nachttischchen ein Blatt Papier ab, kritzelte darauf eine E-Mail-Adresse und reichte den Zettel dem Leutnant.
Dieser umklammerte den Zettel mit der Faust. »Ich melde mich.«
Moore zog die Schultern hoch. »Okay.«
Auf dem Gang warf er Stone einen scharfen Blick zu und zischte ihn an: »Also, Doug, erzähl mal … was zum Teufel ist da draußen passiert?«
»Ich weiß, ich weiß.« Stone wählte seinen üblichen beruhigenden Ton. Dieses Mal kam er jedoch bei Moore damit nicht durch.
»Wir haben den Indern ausdrücklich versichert, dass es bei der Übergabe keinerlei Probleme geben würde. Sie mussten ja in pakistanisches Hoheitsgewässer einfahren. Deshalb waren sie äußerst besorgt.«
»Uns hat man gesagt, dass die Pakistani alles arrangieren würden.«
»Und wer hat dann Scheiße gebaut?«
»Angeblich hat der U-Boot-Kommandant nie den Befehl erhalten, in diesem Zeitraum im Hafen zu bleiben. Jemand hat das wohl vergessen. Er war dann auf seiner üblichen Patrouillenfahrt und dachte, er habe eine indische Geheimoperation entdeckt. Er gibt an, dass er die Schiffe mehrmals vergeblich aufgefordert habe, sich zu identifizieren.«
Moore kicherte. »Na ja, nach ihm Ausschau gehalten haben wir tatsächlich nicht – und als wir ihn dann sahen, war es bereits zu spät.«
»Der Kommandant hat auch noch berichtet, er habe an Bord der Inder Gefangene gesehen, die er für Pakistani gehalten habe.«
»Er war also bereit, auf seine eigenen Leute zu schießen?«
»Schon möglich.«
Moore blieb abrupt stehen, wirbelte herum und starrte seinen Kollegen an. »Der einzige Gefangene, den sie hatten, war unser Taliban-Typ.«
»Schon gut, Max, ich weiß, was du gerade hinter dir hast.«
»Schwimm fünf Kilometer mit mir durchs offene Meer, dann weißt du es wirklich.«
Stone nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. »Sieh mal, es könnte schlimmer sein. Wir könnten jetzt auch unsere Botschafter in Delhi sein und uns überlegen müssen, wie wir uns so bei den Indern entschuldigen, dass sie keine Atombombe auf Islamabad werfen.«
»Das wäre nett – denn dort muss ich als Nächstes hin.«