Cover

Das Buch

Die Zukunft: Die Galaxis wird von der Kompetenz, einem gewaltigen interstellaren Bündnis, das aus neunundzwanzig hoch entwickelten Zivilisationen besteht, regiert. Sogenannte Pazifikatoren bereisen im Auftrag der Kompetenz die gesamte Galaxie, um mögliche Konflikte diplomatisch beizulegen. Einer von ihnen ist Corwain Tallmaster, der nach mehrfachem Klonen bereits Hunderte von Jahren alt ist. Als seine jüngste Mission kläglich scheitert, wird Corwain zu Unrecht des Mordes beschuldigt. Er ist sich sicher, dass er einem Komplott zum Opfer gefallen ist, doch noch bevor er das beweisen kann, passiert etwas völlig Unvorhergesehenes: Das Kosmotop – ein gigantisches Weltenschiff, dessen Ziel es ist, »Proben« aus jeder Zivilisation zu integrieren – dringt in die Galaxie ein und hinterlässt eine Spur der Verwüstung. Für Corwain ist die neue Situation ganz besonders prekär, denn die einzige Person, die seine Unschuld beweisen kann, sitzt im Kosmotop fest. Corwain braucht sein ganzes Geschick und seine jahrhundertelange Erfahrung, um einen Plan zu entwickeln, von dessen Gelingen nicht nur sein eigenes Schicksal abhängt, sondern das der ganzen Galaxis …

Der Autor

Andreas Brandhorst, 1956 im norddeutschen Sielhorst geboren, schrieb bereits in jungen Jahren Erzählungen für deutsche Verlage. Es folgten zahlreiche fantastische Romane, darunter mit dem Kantaki-Zyklus eine episch angelegte Zukunftssaga. Sein Mystery-Thriller Äon war ein riesiger Publikumserfolg.

Mehr zu Andreas Brandhorst und seinen Romanen erfahren Sie auf:

www.diezukunft.de

ANDREAS

BRANDHORST

DAS

KOSMOTOP

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Taschenbuchausgabe 03/2020

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2014 by Andreas Brandhorst

Copyright © 2020 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

(Johan Swanepoel, GrandeDuc)

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-13140-1
V004

www.diezukunft.de

Hier ist ein Tropfen

im Ozean der Zeit,

und er enthält 14 721 Leben.

Aber es werden immer weniger.

SICH SELBST ZU GRABE TRAGEN

1

Es geschah zum siebzehnten Mal, dass Corwain Tallmaster – jetzt Corwain 18Tallmaster – seiner Bestattung beiwohnte. Mehr noch, er trug seinen Leichnam in den eigenen Armen. Ein kleiner Gravitator reduzierte das Gewicht, damit es nicht zu anstrengend für die gerade neu gewachsenen Armmuskeln wurde.

»Ich finde es ein bisschen … morbid?«, zwitscherte Solace.

»Das klingt nach einer Frage. Bist du nicht sicher?«

»Liebst du den Tod?«

Corwain blieb am Rand seines Friedhofs stehen. Wind strich übers violette Gras, und einige Meter weiter vorn wartete die Grube, ausgehoben von zwei Adjus. Dahinter ragten sechzehn Grabsteine auf, der erste von ihnen anderthalbtausend Jahre alt. Er bestand aus echtem Stein, aus dem kalten, toten Leib des Asteroiden gehauen, und Corwain erinnerte sich noch daran, wie er die Inschrift hineingemeißelt hatte, mit seinen eigenen Händen. Jetzt war sie kaum mehr zu lesen.

»Ob ich den Tod liebe? Natürlich nicht.« Wie konnte sie so etwas fragen? Wie konnte sie das für möglich halten? Dann fiel ihm ein, dass sie zum ersten Mal dabei war. So lange kannten sie sich noch nicht, nur … zehn Jahre? Vielleicht elf. Kaum mehr als ein Wimpernschlag. Dort stand sie, schlank und schön, von Kopf bis Fuß in winzige Federn gehüllt, halb Mensch und halb Vogel, aber ganz und gar Frau. Ein leises Knistern kam jetzt vom Federflaum, der an den sichtbaren Stellen einen lehmbraunen Ton zeigte, und Solace schlang die dünnen Arme um sich, als wäre ihr kalt. Zwar neigte sich die künstliche Sonne vor ihnen dem nahen Horizont entgegen, aber hinter ihnen ging die nächste bereits auf – die Temperatur der Gashülle unter dem Schirmfeld sank nie unter zwanzig Grad. Eine kleine Welt, die ganz allein ihnen gehörte, immer warm und immer hell, mit einem Maschinenkern, der alles zur Verfügung stellte, was sie brauchten. Die Tallmaster-Residenz seit vielen Jahrhunderten. Wenn er nicht in der Galaxis unterwegs war, um seine selbst gewählte Aufgabe wahrzunehmen und Frieden zu stiften.

Er blickte auf die Leiche in seinen Armen, einen Mann in den besten Jahren, der die Augen geschlossen hatte und zu schlafen schien. Er hätte noch zehn oder fünfzehn Jahre leben und altern können, aber Corwain hatte beschlossen, vorher in einen neuen Körper umzuziehen, vielleicht weil er sich vor dem Alter fürchtete.

Kurzes Zwielicht setzte ein, als beide Sonnen den Horizont berührten, die eine auf dem Weg nach unten und die andere nach oben.

»Es ist meine Art, das Leben zu ehren«, sagte Corwain und ging weiter, zum offenen Grab, wo er den Toten – seine siebzehnte Inkarnation – in den Sarg aus leicht abbaubarem Syntho legte. »Wenn ich mich selbst begrabe, habe ich die Kostbarkeit des Lebens vor Augen.«

»Deines Lebens?«

Corwain gab den beiden Adjus ein Zeichen, und sie ließen den Sarg ins Grab hinab. Er griff nach der Schaufel; dies gehörte zum Ritual.

»Auch mein Leben ist kostbar«, sagte er, fast so, als müsste er sich rechtfertigen. »Es gehört zu den wenigen, die noch geblieben sind.«

»Meinst du deine Spezies?«

Er nahm die Nervosität in Solace’ Stimme wahr, und er hörte auch, wie Erde von der Schaufel auf den Sarg fiel, etwas von der zwanzig Meter dicken, biologisch aktiven Krume, die den Asteroiden bedeckte.

»Es ist nicht nur meine, sondern auch deine, das weißt du. Du bist zur Hälfte Mensch, mindestens.« Corwain ließ die Schaufel fallen und beobachtete, wie die mechanischen Adjutanten das Grab füllten. »Wir sind nur noch wenige«, sagte er nachdenklich, jemand, der vor wenigen Stunden gestorben und wiedergeboren war. »Mit ›wir‹ meine ich …«

»Alle Menschen?«, trillerte Solace.

»Ja. Nur noch 14 722 sind von uns übrig, in der ganzen Galaxis verstreut.«

Eine andere Stimme erklang, eine, die er jetzt, in diesem neuen Körper, zum ersten Mal hörte, obwohl sie ihm vertraut war: die Stimme der Nadel, die noch heiß und spitz in seinem Rückgrat steckte, jung wie er selbst, aber bereits mit den Membranen und dem Kommunikationssystem der Kompetenz verbunden. Während er sprach, stellte sie Verbindung mit seinem Nervensystem her und übermittelte ein Ping Es sind nur noch 14 721. Avvin Gelder geriet gestern auf Nodderat in eine Falle der Incera. »14 721«, verbesserte er sich. »Ich erfahre gerade, dass gestern einer von uns gestorben ist, für immer.«

»Das Ding in dir spricht?«

»Ja, das ›Ding‹ in mir, die Nadel. Ich habe es dir erklärt.« Hatte er das? Der Bewusstseinstransfer spielte manchmal den einen oder anderen Streich, wenn es um Erinnerungen an das vorherige Leben ging.

»Offenbar fiel er den Incera zum Opfer. Sie haben es noch immer auf uns abgesehen, nach all der Zeit.«

Die Adjus hatten das Grab zugeschaufelt und stellten den Grabstein auf. Die Inschrift lautete: Hier ruht Corwain 17Tallmaster, der 21 Konflikte löste und damit zahlreiche Leben rettete.

»Die Incera sind böse«, sagte Solace. Ihre Augen verfärbten sich. »Schlimm und böse.«

Sie hatten einmal ihre Heimatwelt Sirmion überfallen, vor hundert Jahren; Solace wusste, wovon sie sprach, denn sie hatte das Chaos damals als Schlüpfling miterlebt.

Corwain ging zu ihr und umarmte sie. Wie weich sie war, wie zart und doch stark; es erstaunte seine neuen Hände. Als sie zur Hütte am See zurückkehrten – die er selbst gebaut hatte, aus gewachsenem Holz und einigen wenigen Syntho-Materialien –, sagte er: »Es tut mir leid, Solace. Ich hätte dich darauf vorbereiten sollen. Auf die Bestattung.«

»Du zelebrierst den Tod.« Diesmal klang es nicht wie eine Frage.

»Wir sind ein sterbendes Volk«, sagte Corwain. »Vielleicht liegt es daran.« Er schaute über den See, der spiegelglatt dalag, jetzt nur noch im Licht einer künstlichen Sonne; die andere war hinter dem Horizont versunken. Dann hob er den Blick zum Himmel, an dem sich einige andere nahe Asteroiden der Residenzgruppe zeigten wie kleine Monde. »Wenn es mir wie Avvin Gelder ergeht, dem Mann, der gestern gestorben ist, wie mir die Nadel gesagt hat …«

»Die Incera kommen nicht hierher, unmöglich.« Solace schüttelte heftig den Kopf. »Die Koryphäen verhindern das, bestimmt.«

Corwain strich ihr über die flaumige Wange. »Ich könnte einem Unfall zum Opfer fallen. So was passiert. Selbst die Unsterblichen sind damals gestorben. Niemand lebt ewig. Wenn ich sterbe …«

»Nein«, zwitscherte Solace.

»Dann möchte ich im Mausoleum beigesetzt werden, bei Esebian, der damals die Drei Feldzüge gegen die Incera führte. Versprichst du mir, meinen letzten Leichnam dorthin zu bringen, zum Mausoleum auf der Alten Erde, damit ich bei Esebian, Leandra und all den anderen toten Unsterblichen ruhen kann?«

Ihre Augen wurden groß. »Du redest dummes Zeug.«

Corwain grinste plötzlich. »Ich bin gerade neu geboren. Neugeborene müssen viel lernen.«

»Oh.« Solace ergriff seine Hand und zog ihn zur Hütte. »Ich helfe dir, das eine oder andere zu lernen.«

2

Später lag Corwain erschöpft auf der Ruhematte und sehnte sich nach Dunkelheit, die Solace fürchtete. Sein neuer Körper reagierte gut, wenn auch vielleicht noch nicht gut genug. Der Sex mit Solace war immer anstrengend gewesen, auf eine sehr angenehme Art und Weise, aber diesmal fühlte er sich erschöpft; das durch die Fenster strömende Licht lastete schwer auf seinen Lidern und hielt den Schlaf fern. Seltsame Gedanken gingen ihm durch den Kopf, im schmalen Niemandsland zwischen Wachen und Schlafen, Bruchstücke von Erinnerungen, und eine alte Frage tauchte dazwischen auf: Wie viel ist mir geblieben von meiner Seele? Wie viel ist noch von ihr übrig? Solace nahm ein Stück davon, ein kleines Stück, bei jedem Orgasmus, der ihrer eigenen Seele die Flügel verlieh, die ihrem Körper fehlten. Unbewegt lag sie jetzt da, wie erstarrt, die Federn an ihrem Leib still, während die Seele flog, getragen von den Schwingen der Ekstase. Auf den Ellenbogen gestützt beobachtete Corwain sie: das schmale, flaumige Gesicht mit der spitzen Nase, die beinahe wie ein Schnabel aussah, die großen Augen, die ihre Farben ebenso verändern konnten wie das Gefieder und sich unter den geschlossenen Lidern bewegten. Es geschah oft, wenn sie den Höhepunkt erreichte, und Corwain wusste noch immer nicht, ob es sich um eine absichtlich herbeigeführte Veränderung des Bewusstseinszustands handelte – um eine gut genutzte Gelegenheit – oder um eine unwillkürliche psychische Reaktion. Für einige Sekunden, manchmal auch für ein oder zwei Minuten, sank Solace in Trance, in die »Kognition«, wie sie es nannte. Sie hatte von Fenstern und Türen im Haus des Wissens gesprochen, die sich dann für sie öffneten, und vom »Seelenwind«, der ihr Geschichten erzählte von Vergangenheit und Zukunft.

Corwain wartete geduldig, bis die Bewegungen unter den ockerfarbenen Lidern aufhörten und Solace die Augen öffnete.

»Schlimm«, gurrte sie. »Schlimm.«

Corwain hob die Brauen. »Das ist ein vernichtendes Urteil«, sagte er. »Mir ist klar, dass ich im Bett schon besser gewesen bin, aber bitte denk daran, dass dieser Körper erst wenige Stunden alt ist.«

»Nein, nicht das.« Sie drückte ihm einen Finger auf die Nase. »Ich meine, etwas anderes ist schlimm«, sagte sie und blinzelte, wodurch sich die Farbe der Augen veränderte. Sattes Gold ging in ein leuchtendes Smaragdgrün über. »Ich habe den Seelenwind gehört, und er hat mir erzählt …« Sie zögerte kurz. »Er hat mir eine schlimme Geschichte erzählt, die dich betrifft.«

»Mich?« Corwains Brauen kamen noch etwas weiter nach oben.

»Ein Schiff ist hierher unterwegs, ein Resonanzschiff der Kompetenz«, sagte Solace. »Es soll dich abholen. Damit beginnt alles. Bitte sei vorsichtig, Corwain, das ist wirklich schlimm, glaub mir.«

»Vielleicht ein neuer Auftrag.« Corwain atmete tief durch und spürte, wie sich die Müdigkeit verflüchtigte. »Neue Arbeit für den neuen Tallmaster.«

Die Nadel in seinem Rückgrat meldete sich mit einem Ping Wichtige Nachricht.

Durch die offene Tür sah er, dass im Salon der Hütte die Funktionssäule ganz aus dem Boden gekommen war. Er hob die Hand für das Gesteninterface, und die Adju-Stimme des Hauses sagte:

»Die Kondor befindet sich im Anflug und bittet um Landeerlaubnis. ID-Signatur bestätigt. Kompetenz-Sicherheitscode. Priorität eins.«

»Höchste Priorität?«

»Wichtig und schlimm«, zwitscherte Solace leise.

Ping Wir brauchen dich. Mach dich abflugbereit.

»Landeerlaubnis erteilt«, sagte Corwain. Er sah Solace an, die sich aufgesetzt hatte. »Tsertser kommt, mit der Kondor. Und ja, er will mich abholen. Zumindest in dieser Hinsicht hat dein Seelenwind die Wahrheit gesagt.«

»Er lügt nie.«

»Manchmal glaube ich, du hättest das Zeug zu einem Pattern-Master«, sagte Corwain nachdenklich.

»Zeug?«

»Die Begabung, die Fähigkeit«, erklärte er. »Wir könnten einen Pattern-Master gut gebrauchen. Es gibt nur noch einen, die Veritas auf Lundblad im Perseus-Arm. Sie kann Lüge und Wahrheit voneinander unterscheiden, immer und überall.«

»Hört sie auch den Seelenwind? Wandert sie in der Kognition durch das Haus des Wissens?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Corwain. »Aber ich weiß, dass sie Entwicklungsmuster erkennt, noch bevor die Koryphäen dazu imstande sind, und das will einiges heißen. Sie sieht die Muster, die Patterns, wie es in einer unserer alten Sprachen heißt, und in ihnen sieht sie die Zukunft. Du könntest deine Kognition von der Kompetenz untersuchen lassen und …«

»Nein, und wieder nein«, sagte Solace heftig. »Wir haben schon einmal darüber gesprochen. Der Seelenwind ist etwas sehr Persönliches. Zu persönlich für die Kompetenz. Und außerdem … Du hast mir gesagt, dass sich die Veritas von der Kompetenz getrennt hat, schon vor hundert Jahren.«

Wir haben schon einmal darüber gesprochen?, dachte Corwain. Und ich habe es vergessen? Und er dachte, ein wenig besorgt: Wie viel lassen wir in unseren alten Leben zurück? Und wie viel stiehlt mir Solace’ Ekstase, Stück für Stück?

»Wie viel Zeit bleibt uns?«, fragte Solace.

Ping Die Kondor trifft in einer Stunde ein, sagte die Nadel.

»Eine Stunde«, sagte Corwain.

»Nicht viel Zeit, aber genug«, zwitscherte Solace. Sie nahm ihn in die Hand, und er wurde schnell groß darin, ein Vogel, der in sein Nest zurückwollte.

*

Ein anderer Vogel, aus silbernem Syntho und vom Maschinenkern unter der Hütte als Schiff der Kompetenz identifiziert, fiel vom Himmel und landete auf einem opalblauen Gravkissen beim See, nicht weit vom Friedhof entfernt, auf dem es jetzt siebzehn Gräber gab. Die Luke der Kondor schwang auf, und Corwain Tallmasters Nadel empfing die persönliche ID-Signatur, noch bevor Tsertser auf die Rampe trat, die Beine nur halb entfaltet, den Thorax – fast so blau wie das Gravitationskissen unter dem Schiff – nach vorn gestreckt. Die Sensorhaare über den großen, glänzenden Augen des Insektomorphen zitterten unruhig.

»Seid ihr fertig?«, fragte Tsertser ohne einen Gruß. »Können wir los?«

Die vagen orangefarbenen Schlieren der Resonanzaura an den Flanken des Schiffes wiesen darauf hin, dass die Resonatoren der Kondor noch immer arbeiteten. Es bestand nach wie vor Kontakt mit den Membranen, was darauf hindeutete, dass Tsertser den Transit sofort fortsetzen wollte.

»Du scheinst es sehr eilig zu haben«, sagte Corwain. Mit Solace an seiner Seite ging er zum Schiff. »Was ist passiert?«

»Eine große Sache«, erwiderte Tsertser. »Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Koryphäen sind alarmiert.«

Corwain blieb stehen. »Die Koryphäen sind alarmiert?«

Tsertser winkte ungeduldig mit einem mehrgelenkigen Arm. »Kommt an Bord. Ich erkläre es euch unterwegs.«

Als der Asteroidenschwarm mit insgesamt siebzehn Menschenresidenzen nur noch ein kleiner Fleck in den Sichtfeldern war und nicht mehr die Gefahr bestand, seine Stabilität durch Resonanzwechselwirkungen mit den lokalen Gravitationsfeldern zu beeinträchtigen, fuhr Tsertser die Resonatoren hoch, brachte die Kondor in die Membranen und beschleunigte sie auf ein Vielfaches der Lichtgeschwindigkeit.

»Etwas ist am Rand der Galaxis erschienen«, sagte er dann. »Beim Cygnus-Arm. Etwas Großes. Der Transitschock hat erhebliche strukturelle Schäden bei den Katapulten des dortigen Sprungbretts zur Sagittarius-Zwerggalaxie angerichtet.«

»Befürchtet ihr einen Angriff?«, fragte Corwain. »Braucht ihr mich deshalb?«

»Wir sind noch nicht sicher, ob es sich um einen Angriff handelt. Die Koryphäen haben auf dich verwiesen und uns zu verstehen gegeben, dass vielleicht deine Dienste als Pazifikator gebraucht werden. Der Hinweis stammt von Jael höchstpersönlich.«

Damit meinte er Jae-al-Escoe-Hoivinio-tan-Mauleon-Caliquire-tan-Nesluzan, eine der alten Maschinenintelligenzen, aus denen sich die Koryphäen entwickelt hatten. Jaels Wurzeln – wenn man sie so nennen konnte – reichten angeblich bis in die Zeit des legendären Esebian zurück.

Die virtuellen Kontrollen vor ihnen zeigten, dass die Kondor direkt upstream zum Sagittarius-Sprungbrett flog, mit der stärksten Resonanz, zu der sie fähig war. Ein solcher Upstream-Transit – gegen die mächtige Gravitation der Milchstraße und den daraus resultierenden Downstream-Sog der Membranen – bedeutete, dass ihre Resonatoren ausgebrannt sein würden, wenn sie das Ziel erreichte.

»Das verspricht interessant zu werden«, sagte Corwain, und in seinen Worten lag die noch jugendliche Unbekümmertheit seines neuen Lebens.

»Es wird schlimm«, pfiff Solace leise. »Schlimm.«

CODE L

DER LENKER

»Wach auf, MeT«, sagte die Stimme. So nannte sie ihn, MeT, obwohl sein richtiger Name anders lautete. »Wach auf, es wird Zeit für dich, du wirst gebraucht.«

Bin ich nicht wach?, dachte er. Dies war Nacht und Ruhe, eine Zeit für Träume und Erinnerungen, für Wünsche und Hoffnungen, auch – obwohl er nicht zu den Entscheidern zählte – für Pläne und Überlegungen, wie man sie am besten in die Tat umsetzte. Während des Flugs durch die gewaltigen leeren Räume zwischen den Galaxien, während der Sprünge durch das Große Nichts, in dem man mit den richtigen Ohren das Brodeln des Quantenschaums hören konnte und darin den knisternden, prasselnden Gesang der Wahrscheinlichkeitswellen, brauchten die Lenker nicht zu lenken. Ein Fragment von ihnen – ein Wanderer in den Datensphären von Kh’smT’p – genügte, um nach Hindernissen Ausschau zu halten: braune Zwerge, die sich in der Dunkelheit versteckten; Irrläufer oder kleine Sternhaufen, vor Äonen von gravitationellen Gezeitenkräften aus Galaxien herausgerissen; manchmal auch mono- oder bidirektionale Anomalien, vergleichbar mit denen, deren Technik einst für die Sprünge geschaffen und seitdem immer wieder verbessert worden war, Anomalien, die in manchen Fällen künstlichen Ursprungs waren, hinterlassen von den Jak’h’nda, die das Universum vor Jahrmilliarden durch ein kosmisches Portal verlassen hatten, auf der Flucht vor der Metastabilität.

»Wach auf, hörst du, MeT?«, erklang erneut die Stimme. »Es wird Zeit für dich, es wird Zeit, dass du uns aus dem Sprung holst. Wir haben das Ziel fast erreicht.«

Das Ziel?, dachte Mebrat T’hr’rl; so lautete sein richtiger, vollständiger Name. Es ist nur eine Etappe auf einer langen Reise, denn es gibt noch viel zu sammeln, bevor wir dem Beispiel der Jak’h’nda folgen können.

»Die neue Galaxie, wir sind fast da, du bist ein Lenker, du musst lenken«, sagte die Stimme. »Wach auf, MeT!«

Die Stimme sprach jetzt mit mehr Nachdruck; sie klang strenger, und vielleicht lag auch etwas Ärger in ihr. Ich bin wach, dachte er und schickte diesen Gedanken in die Datenräume, aus denen die Stimme kam.

»Hast du verlernt, mir zur vertrauen, MeT?«, fragte die Stimme. »Wach auf! Du bist noch immer in Nacht und Ruhe, wach auf, und erinnere dich an deine Pflicht. Kh’smT’p braucht deine Augen, deine Ohren, deine lenkende Hand.«

Wie dumm diese Worte waren, wenn man genauer über sie nachdachte, doch er behielt diesen Gedanken für sich. Immerhin, er war seit vielen Jahrmillionen blind und taub; er konnte sich nicht einmal daran erinnern, ob er jemals eigene Augen und Ohren gehabt hatte. Oder Hände, dazu imstande zu berühren und zu lenken.

Aber natürlich vertraute er der Stimme; es gab überhaupt keinen Grund für ihn, ihr nicht zu vertrauen. Deshalb öffnete er die Augen, die nicht seine waren, und wusste sofort, dass er tatsächlich geschlafen hatte, in Nacht und Ruhe. Wie lange?

»Lange genug«, sagte die Stimme. »Ich helfe dir, ich helfe deinem Körper, fühlst du ihn? Ich helfe ihm, ich wecke ihn ebenfalls. Du bist noch immer an ihn gebunden, erinnerst du dich?«

O ja, daran erinnerte er sich. Andere Lenker hatten die Bindung aufgegeben, um ganz in den Datensphären aufzugehen. Einige von ihnen waren in Nacht und Ruhe verloren gegangen, nicht nur Fragmente von ihnen, sondern ihr Haupt-Ich, mit allen Träumen und Erinnerungen. Sie existierten noch, nichts ging verloren, aber niemand – nicht einmal die Stimme – wusste, wo sie sich befanden und wie sie zurückgeholt werden konnten. Mebrat beneidete sie manchmal, denn sie konnten ganz in ihren Träumen aufgehen.

»Träume sind Träume, MeT«, sagte die Stimme. »Träume sind nicht die Wirklichkeit.«

»Welche Rolle spielt das, wenn es für die individuelle Wahrnehmung keinen Unterschied gibt?« Es hatte ein Gedanke sein sollen, leise, auf seinen eigenen Datenraum beschränkt, aber er war jetzt ganz und gar wach, nicht nur ein Fragment von ihm, und der Gedanke reiste über die Verbindungen und wurde laut.

»Auch du hast einen Traum, erinnerst du dich?«, fragte die Stimme, und jetzt sprach sie wieder sanft. »Einst bist du nur ein Jassid gewesen, der Traum hat dir den Aufstieg zum Lenker ermöglicht, weil du den Unterschied zwischen Vision und Realität kanntest.«

Ja, Mebrat erinnerte sich. Er stellte sich manchmal vor, ein Entscheider zu sein, Kh’smT’p nicht nur zu lenken, sondern auch zu bestimmen, wohin es flog, welche Galaxien es zu besuchen galt, was gesammelt werden sollte und was nicht. Und wann es Zeit wurde für den Letzten Sprung.

»Jetzt bist du wach«, sagte die Stimme. »Bist du auch bereit?«

Noch war seine Welt klein: ein Ruhesaal, in ihm Behälter, die die Körper von insgesamt neun Lenkern am Leben erhielten und Teile von ihnen erneuerten, wenn Erneuerung notwendig wurde. Die anderen acht schliefen, schon seit mehreren Sprungzyklen. Es bedeutete, dass seine Dienste den Entscheidern gefielen, denn sie hatten entschieden, ihm die Verantwortung für die letzten Sprünge zu geben.

»Bist du bereit, MeT?«, fragte die Stimme erneut.

Er sah sich selbst mit den Augen des Saals: ein Haufen aus lebendem Fleisch, aufgedunsen und fleckig, bedeckt von Sensoren, Stimulatoren und Signalgebern, gespickt mit Kathetern und multifunktionalen Maschinenkomponenten.

Der Mund öffnete sich.

»Ja, ich bin bereit«, sagte er und hörte er sich sagen.

Er bekam tausend neue Augen, dann eine Million, und ebenso viele Ohren, sah und hörte Kh’smT’p, nahm mit sensorischer Äquivalenz die angenehmen Aromen von Stabilität und energetischer Balance wahr – alle Teile diesseits der monodirektionalen und strahlungssynchronisierten Barriere des Ereignishorizonts befanden sich im Gleichgewicht. Kh’smT’p flog wie ein großer Vogel durch das Nichts des intergalaktischen Leerraums, und Mebrat fühlte die ausgebreiteten Schwingen wie seine eigenen. Wozu brauchte er Arme und Beine – und gewöhnliche Augen und Ohren –, wenn er solche Flügel hatte, und einen so großen, kräftigen Leib?

Dort vorn leuchteten die Sternenmassen der Galaxie, die das Ziel der aktuellen Etappe war, ihr Rand nur noch wenige Millionen Sprechlängen entfernt. Ein perfekter Zeitpunkt für das Ende des Sprungs; die gravitationellen Wechselwirkungen blieben hier auf ein selbst mit den Kompensatoren unvermeidbares Minimum beschränkt.

»Der Lenker soll lenken«, sagte die Stimme.

Aus den Flügeln wurden Datenarme, Hunderte an der Zahl und jeweils viele Sprechlängen lang, und mit diesen Armen bediente er die Kontrollen der Anomaliemotoren. Am Rand der Galaxie bildete sich ein Riss im Gefüge der Raumzeit, und durch diesen Riss kehrte Kh’smT’p aus der Sprungphase in den normalen Raum zurück.