Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Zitat 1
  7. Zitat 2
  8. Personenverzeichnis
  9. Prolog
  10. 1
  11. 2
  12. 3
  13. 4
  14. 5
  15. 6
  16. 7
  17. 8
  18. 9
  19. 10
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  38. 29
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  40. 31
  41. 32
  42. 33
  43. 34
  44. 35
  45. Epilog
  46. Karte
  47. Glossar
  48. Anmerkung und Dank

Über das Buch

Ein stimmungsvoller, spannender Historischer Roman, inspiriert vom Leben der historischen Medica Jakoba die Glückliche

Lüneburg im 14. Jh. Nach dem Tod ihrer Familie hat die junge Adlige Jakoba in einem Kloster ihre Bestimmung als Krankenpflegerin gefunden. Doch ihr Bruder zwingt sie in eine neue Ehe, und als ihr brutaler Mann einem Unfall zum Opfer fällt, muss Jakoba fliehen. Nur der Hilfe Arnolds, eines Theriak-Krämers, hat sie es zu verdanken, dass sie sich nach Paris durchschlagen und als Heilerin einen Namen machen kann. Rasch ist sie so erfolgreich, dass sogar der sieche König nach ihr ruft und nach der »Arznei der Könige« verlangt. Doch damit macht sie sich gefährliche Feinde …

Über die Autorin

Sabine Weiß, Jahrgang 1968, arbeitet nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin. 2007 veröffentlichte sie ihren ersten Historischen Roman, der zu einem großen Erfolg wurde und dem viele weitere folgten. Im Sommer 2017 erschien ihr erster Kriminalroman Schwarze Brandung. Unabhängig davon, ob sie gerade einen Krimi oder einen Historischen Roman schreibt: Sabine Weiß liebt es, im Camper auf den Spuren ihrer Figuren zu reisen und direkt an den Schauplätzen zu recherchieren. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nordheide bei Hamburg.

Sabine Weiß

Die Arznei der Könige

HISTORISCHER ROMAN

BASTEI ENTERTAINMENT

Die Seele ist wie ein Wind, der über die Kräuter weht,
und wie der Tau, der auf die Gräser träufelt,
und wie die Regenluft, die wachsen macht.

Genauso ströme der Mensch
sein Wohlwollen aus auf alle,
die da Sehnsucht tragen.

Ein Wind sei er, indem er den Elenden hilft,
ein Tau, indem er die Verlassenen tröstet,
und Regenluft, indem er die Ermatteten aufrichtet
und sie mit der Lehre erfüllt wie Hungernde:
indem er ihnen seine Seele hingibt.

Hildegard von Bingen (1098–1179)

Vernimm die starke Gewalt des vielfältig zusammengesetzten Antidotes,
O Kaiser, du Spender sicherer Freiheit.
Vernimm es, Nero; preisend nennt man sie die heitere, sonnige Galene,
Die sich um dunkle Häfen nicht kümmert.

Galen (ca. 129–200) über den Theriak des älteren Andromachus

Personenverzeichnis

KLOSTER EBBEKESTORPE

Jakoba von Dahlenburg, Adelige, Novizin, Heilerin(*)

Walburga, Nonne und Infirmaria

Konegundis, Novizin

Make, Knecht

DAHLENBURG

Anno von Dahlenburg, Jakobas Bruder

Immeke, Annos Frau

Wulf, Annos Hofmeister und Vertrauter

Tönnies, Knecht

Paul von Krakau, junger Streuner

LÜNEBURG

Gevehard Reppenstede, Patrizier und Vertreter des herzoglichen Vogts

Herzog Otto von Braunschweig, genannt der Strenge*

Lene, Magd

BRAUNSCHWEIG UND UMGEBUNG

Elmbert von Dahlenburg, Jakobas Großvater

Cyeke von Dahlenburg, Jakobas Großmutter

Meister Arnold, Theriak-Krämer

Maimona, genannt Mona, Arnolds Frau

Otto von Braunschweig, Meister des Hauses des Tempels von Jerusalem und der Komtur von Süpplingenburg*

VENEDIG UND UMGEBUNG

Ser Maffio, Pfandleiher

Ser Filipo, Spezereienhändler und Theriak-Krämer

Baldino, sein Sohn

Portia, seine Frau

Ser Zanzio, Geleitsführer

Vidal, Schutzreiter

Eljakim Lämmlin, Kaufmann aus Augsburg

PARIS

Roger d’Aval, Ritter im Dienste von Louis de Bourbon,
Comte de Clermont

Comtesse d’Obazine, Adelige

Thierry d’Obazine, Ritter

Violante d’Obazine, Adelige

Agnes, ihre Magd

Gaspard, Apotheker

Celie, Frau des Apothekers

Marsilius, Priester

König Philipp der Lange*

König Karl der Schöne*

Jean de Padua*, Magister der Medizin und Ritter

Johannes de Bethunia*, Gelehrter

* Historisch belegte Persönlichkeiten

Prolog

April 1317

Das Sonnenlicht brach sich im Geäst wie in einem Kristall. Gleißend splitterte es über altrosa Blüten, runzelige Baumrinde und den Morgendunst, der über dem Fluss waberte, flüchtig wie eine schwindende Erinnerung. Der Himmel spannte sich tiefblau, und die Sonne ließ schon den Duft früher Wildblumen ausströmen. Willekin stakste durch das Gras und ließ giggelnd die Halmspitzen seine Handflächen kitzeln.

»Da! Godesperdeken!«, rief der Zweijährige begeistert. »Will fangen!«

Er streckte die pummeligen Hände aus und hob die nackten Beine höher, um die blaugrün schillernde Libelle einzuholen. Rasant durchmaß das Insekt die Flussaue. An dieser Stelle war die Neetze tief und hatte eine starke Strömung. Jakoba ließ den Ledereimer fallen und lief ihrem Sohn nach. Kurz bevor er das Ufer erreicht hatte, umfasste sie seine Hüfte und hob ihn hoch. Willekin protestierte lautstark. »Büschen noch! Hab Godesperdeken fast! Düst so!«

Jakoba schwang ihn um sich. »Du bist auch so ein düsendes Gottespferdchen!«, neckte sie ihn. Sie drehte sich mit dem juchzenden Kleinkind, bis ihr taumelig wurde. Lachend und außer Atem ließen sie sich fallen. Aneinandergekuschelt lagen sie dann im taufeuchten Gras und sahen in den Himmel. Es würde ein wunderbarer Tag werden.

1

Ebbekestorpe, Anfang März, Anno Domini 1318

Als Jakoba erwachte, war ihr schwindelig vor Hunger. Hart presste sie ihre Faust in den Magen. Der Hunger quälte sie weniger als die Trauer, dieses grausame Nagen in ihrem Herzen. Entschlossen schob sie die Beine von der Pritsche – nur nicht mehr darüber nachdenken. Auf den frostigen Steinplatten des Dormitoriums zogen sich ihre Fußsohlen stechend zusammen. Das Läuten der Glocken verklang – spät dran, wieder einmal. Jakobas Augen waren verquollen, die Glieder schwer. Es war drei Uhr in der Nacht, und auch nach einem knappen Jahr im Kloster hatte sie sich noch nicht an die Aufstehzeit gewöhnt. Vermutlich würde sie bei der Matutin wieder gegen den Schlaf ankämpfen müssen und bei den wunderschönen, aber komplizierten Chorälen vor lauter Müdigkeit den Faden verlieren.

Sie durchschlug das Eis auf der Waschschüssel, spritzte sich Wasser ins Gesicht und fuhr mit dem Lappen über ihre Haut. Dann spülte sie ihren Mund aus und verbarg die kurzen rotblonden Haare unter dem Schleier. Offenbar verzichteten die anderen Schwestern auf Körperpflege, diesen eitlen Luxus. Bei der Kälte war ihr Verhalten beinahe verständlich.

Jakoba zog das Novizenhabit der Benediktinerinnen an. Ihre Finger waren steif von der Kälte. Die Schwäche ihrer Glieder machte sie langsam, als wäre sie nicht achtzehn Jahre alt, sondern achtundfünfzig. Erst am Nachmittag würde es etwas zu essen geben – die einzige Mahlzeit des Tages, und auch die würde nicht gerade üppig ausfallen. Im Gegensatz zu anderen Nonnen, die glaubten, durch das Fasten Heiligkeit erlangen zu können, hatte sie einfach nur einen Bärenhunger.

Gerade wollte Jakoba zu den anderen in den Chor eilen, als sie hinter sich ein Husten hörte. Also hatte noch jemand verschlafen. Sie drehte sich um und sah, wie eine schmale Gestalt zwischen den Schlafmatten zusammenbrach – Konegundis! Jakoba eilte zu ihr und nahm die Hand der Dreizehnjährigen, um ihr aufzuhelfen. Der schmale Körper strahlte eine gewaltige Hitze aus, die Augen waren rot unterlaufen. Hatte die Bettnachbarin denn nicht bemerkt, wie krank das Mädchen war?

»Muss gestolpert sein … die Matutin … nicht zu spät kommen.« Konegundis versuchte, sich hochzustemmen, konnte jedoch nicht einmal die Ellbogen aufsetzen. Sie musste in den Krankensaal, und zwar so schnell wie möglich! Entschlossen hob Jakoba sie hoch – ein Federgewicht. Der Körper des Mädchens war ein einziger Widerspruch: trotz der Kälte schweißnass, ihr Leib war heiß und zitterte doch vor Schüttelfrost.

»Was … tust du, Schwester? Wir dürfen uns doch nicht … verspäten.«

Jakoba teilte die Besorgnis des Mädchens, lief aber trotzdem los. Sicher schlugen die anderen Nonnen schon das kleine Kreuz über den Lippen und beteten: »Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde.« Wenn Jakoba wieder zu spät zur Matutin käme, würde die Priorissa sie erneut rügen und möglicherweise sogar ihre Aufnahme in den Orden infrage stellen. Das wollte sie keinesfalls riskieren!

Jakoba hatte das Noviziat beinahe hinter sich, am Sonntag würde sie das Gelübde ablegen. Eigentlich war sie nicht für das Kloster gemacht, zu sehr liebte sie das Leben. Ihr fehlte im Kloster so viel: einen Sommertag auf der Blumenwiese vertrödeln, nach einem glühend heißen Tag in den Fluss springen, mit Freundinnen ratschen und lachen, sich fein herausputzen, tanzen, bis sich alles um einen drehte, der Duft eines geliebten Mannes, der Genuss guten Essens und noch besseren Weins. Als sie aber vor elf Monaten zwischen Irrsinn und Todessehnsucht geschwankt hatte, da hatte ihr Vater sie ins Kloster geschickt. Den hochwohlgeborenen Herrn Zacharias, Reichsritter und Gebieter über die Dahlenburg samt dazugehöriger Ländereien, hatte im Alter, nach einem Leben voller Fehden und Feldzüge, die Angst um sein Seelenheil gepackt. Im Kloster, so sein Plan, sollte Jakoba seine ganz persönliche Fürsprecherin vor Gott sein. Es war eine der wenigen Taten, für die sie ihrem Vater dankbar sein musste, denn erst im Kloster hatte Jakoba ihren Frieden wiedergefunden.

Ein Hustenanfall schüttelte Konegundis. »Darf die ehrwürdige Mutter nicht verärgern. Am Sonntag werden wir doch mit … dem Herrn Jesus vermählt.« Die Andeutung eines Lächelns zeichnete sich in ihrem blassen Gesicht ab.

»Bis dahin bist du längst wieder gesund!«, versicherte Jakoba, obgleich der Atem des Mädchens schnell und rasselnd ging. Jakoba fürchtete, dass sie nur wenig für die Kleine würde tun können. Dass es zu spät war, wieder einmal. Dabei war Konegundis noch so jung! Mädchen gab es viele in Ebbekestorpe, Schülerinnen, die in Latein, Chorgesängen und Weißstickereien unterrichtet wurden. Kinder das Gelübde ablegen zu lassen erschien Jakoba hart, wussten sie doch nicht, auf was sie verzichteten. Aber nach drei apokalyptischen Jahren, in denen sich kaum die Sonne am Himmel gezeigt hatte, nach monatelangem Dauerregen, der in grausame Fröste übergegangen war und diese wieder in endlose Regenfälle und erneute Schneefälle, nach Ernteausfällen, Hungersnot und Viehpest musste selbst dieses reiche Kloster sehen, wo es blieb. In dem kalten und harten letzten Winter waren etliche Nonnen von Seuchen dahingerafft worden, und jede Profess brachte Geld in die Klosterkasse.

Konegundis’ Lider flatterten. »Die Brautkrone … der goldene Ring …«

»Du wirst eine wunderschöne Braut sein.« Jakoba keuchte leicht. Sie war robust, ja zäh – »Wechselbalg eines Bauern« schimpfte sie ihr Vater manchmal –, aber auch sie hatte in den letzten Monaten viel Kraft und Gewicht verloren. Durch die Last schwerfällig, schleppte sie sich den Kreuzgang entlang. Sie musste bei jedem Schritt achtgeben. Es war stockfinster, zudem waren viele Bodenziegel rutschig. Das backsteinrote Kloster lag zwar idyllisch im Schwienautal, der Untergrund war aber sumpfig, und insbesondere wenn es viel regnete, stieg die Feuchtigkeit in die Klostermauern auf.

Ihre Gedanken wanderten zur Jungfrauenweihe, dem Ritus, den alle Novizinnen herbeisehnten. Erst einmal hatte Jakoba diese Zeremonie miterlebt. Es war ein besonders feierlicher Moment, wenn die Novizinnen das ewige Gelübde ablegten. Im Kapitelsaal des Klosters wurden sie durch den Propst und die Priorissa ein letztes Mal befragt, bevor sie Gehorsam gelobten. Etwas später wurde die Professfeier im Nonnenchor vollzogen, bei der die Jungfrauen in unbefleckter Keuschheit dem Herrn Jesus vermählt wurden und den goldenen Ring angesteckt bekamen. Anschließend wurde ihnen der geweihte Schleier überreicht, auf den die Jungfrauenkrone gesetzt wurde. Wie Königinnen sahen sie dann aus, heilig und erhaben. Für Jakoba jedoch war der Gedanke an die Profess mit Zweifeln verbunden, denn sie hatte noch immer nicht erfahren, wie das Aufnahmeritual bei ihr aussehen würde. Schließlich war sie anders als die anderen Novizinnen: Sie war schon lange keine Jungfrau mehr, hatte trotz ihres geringen Alters ein Kind geboren und verloren, war verwitwet.

Stöhnen und Weinen in der Nachtschwärze verrieten ihr, dass sie das Infirmarium beinahe erreicht hatte. Ursprünglich war der Krankensaal nur für die Versorgung der etwa vierzig Nonnen des Klosters gedacht gewesen, aber seit Hunger und Seuchen grassierten und immer mehr kranke Pilger bei ihnen strandeten, hatte der Propst gestattet, dass die Siechenmeisterin auch weltlichen Kranken half. Mit einer hölzernen Wand hatte die Mutter Oberin einen Teil des Infirmariums abtrennen lassen, um die Klausur der Nonnen nicht zu stören. Allerdings herrschte in Ebbekestorpe ohnehin kein strenges Klosterregiment, vor allem das Armuts- und das Schweigegelübde wurden oft gebrochen. Manche Nonnen besaßen Zierrat, Kleinodien und eigene Psalter, tätigten Geschäfte oder hielten sich Dienerinnen. Seit der letzten Oberin mangelnde Disziplin vorgeworfen worden war, versuchten Propst Nikolas und Priorissa Elisabeth, die Regula Benedicti wieder strenger durchzusetzen.

Nur das ewige Licht brannte vor dem Altar des Krankensaals. Jakoba überfiel Trauer, als ihr die leeren Lager ins Auge fielen. Viel zu viele Menschen hatte sie in den vergangenen Monaten in den Tod begleitet, und sie hoffte, dass jeder Einzelne von ihnen Frieden bei Gott gefunden hatte. Andererseits hatte sie auch viele heilen können.

»Ora et labora et lege« war das Motto der Benediktiner in Ebbekestorpe – »Bete und arbeite und lies« –, aber Jakoba hatte darum gebeten, dass sie weder den Buchmalerinnen noch den Weißstickerinnen zugeteilt wurde, sondern dem Infirmarium. Für das Kopieren von Büchern und die kostbaren Stickereien, für die die Klöster im Fürstentum Lüneburg berühmt waren, fehlte ihr die Geduld. Sie wollte mit Menschen zu tun haben, ihnen helfen. Durch ihre drei Brüder, die sich ständig in den Ritterkünsten geübt hatten, hatte Jakoba notgedrungen einiges über Wundpflege gelernt. Später hatte sie oft mit dem Leibarzt ihres Vaters zu tun gehabt – zu oft. Das Herz wurde ihr bei der Erinnerung schwer. Würde sie jemals so viel Gleichmut erlangen, dass die Vergangenheit sie nicht mehr quälte?

Im Kloster kamen ihr ihre Fertigkeiten zugute. Sie war zu Schwester Walburga geschickt worden, der Infirmaria, einer gutmütigen und rüstigen älteren Nonne. Walburga kannte unzählige Rezepte für Salben und Tränke, ob gegen Seuchen, Steinleiden oder Schmerzen bei der Monatsblutung. Sie wusste schnell, von welchem Temperament ein Kranker war, welche Körpersäfte in ihm unausgewogen waren und wie sie wieder ins Gleichgewicht gebracht werden konnten. Soviel Jakoba auch schon von der Infirmaria gelernt hatte, sie würde noch Jahre brauchen, bis sie das Wissen der alten Frau erlangt hatte.

Die Magd, die die Nachtwache innehatte, schreckte aus ihrem Nickerchen und stürzte Jakoba entgegen, um ihr mit Konegundis zu helfen. »Schwester Jakoba, warum seid Ihr nicht bei der Matutin? Ihr wisst doch, wie sehr die ehrwürdige Mutter auf die Einhaltung der Gebetszeiten achtet!«

»Keine Sorge, ich gehe gleich. Ich habe Konegundis gefunden – sie fiebert stark. Hol mir schnell die Kräuter und Decken«, bat Jakoba. Sie sah sich nach einem sauberen Lager um und bettete Konegondis darauf. Das Mädchen hustete heftig, schaumiger Auswurf quoll aus ihrem Mund; kaum schien sie wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Jakoba eilte zum Arzneimittelschrank. Sie schabte etwas trockenes Ahornholz und die doppelte Menge gedörrter Weide in einen Becher Wasser. Anschließend fügte sie ebenso viel getrockneten Odermennig wie Weide hinzu. Sie versuchte, Konegundis die Flüssigkeit einzuflößen, doch ein Großteil rann an Mundwinkeln und Kinn des Mädchens hinab. Die Medizin würde hoffentlich gegen das Fieber helfen, was aber sollte sie Konegundis gegen den Schaumhusten geben? War Lungenkraut hier das Richtige? Oder Nesselsamen? Sie würde Schwester Walburga befragen, sobald das Stundengebet vorüber war.

»Gibt es Brot oder Fleisch für die Kranken?«, fragte Jakoba. In Krankheitsfällen wurde nach der Regula Benedicit das Fastengebot etwas gelockert.

»Noch nicht. Ihr solltet nun aber wirklich in die Kirche eilen! Ich werde mit der Kranken beten«, mahnte die Magd. »O du truwe nodhelper bescerme unde beware dine Kindere«, begann sie ein Stoßgebet an einen der vierzehn Schutzpatrone.

Nur mühsam riss Jakoba sich los. Sie wandte sich dem Ausgang zu. Im Vorbeigehen an den Krankenlagern griff eine Hand nach ihr. Eine Greisin krallte sich in Jakobas Gewand, ihre tief liegenden Augen wirkten im Dämmer wie Kohlestücke, der zahnlose Mund wie ein Abgrund.

»So helppe my, Suster! God erbarmet, geve my bröd.«

Jakoba löste die knotigen Finger. »Ich habe selbst nichts, aber später werden wir das Mahl teilen. Bete einstweilen«, sagte sie sanft.

»Ik bün so hungerich! Der Rosenkranz macht nicht satt!«

Trotz allem Verständnis erbosten diese Worte Jakoba. »Wenn du die Zuflucht des Klosters nicht mehr in Anspruch nehmen willst …«, sagte sie und schämte sich sogleich für ihre Härte. Sie war wirklich dünnhäutig geworden.

Verschreckt sah die Greisin sie an und begann sogleich zu beten: »O moder Christi Maria, moder der mildicheyt unde barmharticheyt …«

»Ich bringe dir nachher deine Portion und teile auch mein Brot mit dir, ich verspreche es«, sagte Jakoba, um die Alte zu beruhigen.

Im Weitergehen passierte Jakoba einen Mann, der krampfhaft sein Haupt umklammerte und die Fingernägel in die Kopfhaut grub. Niemand wusste so recht, woran er litt, aber seine Qualen schienen gewaltig zu sein. Jakoba gab ihm einen kleinen Schluck von dem kostbaren Mohnsaft und legte sanft die Hände auf seine Schläfen, bis die Anspannung in seinem Gesicht nachließ.

»Gott schütze Euch, Schwester«, sagte er matt und küsste ihre Hand. Sie ließ es geschehen, wohl wissend, dass Walburga sie für den Verbrauch des Mohnsaftes schelten würde. Heilkräuter und Arzneihonig waren knapp. Wegen der feuchten und kalten Sommer war die Blütezeit kurz gewesen, zudem waren viele der geernteten Gräser und Kräuter verschimmelt, bevor man sie hätte trocknen können. Und teure Heilmittel waren schon lange nicht mehr gekauft worden.

Die Magd bog um die Ecke, einen Ledereimer mit Wasser zu einem Kranken schleppend, der sich besudelt hatte. »Ihr seid ja immer noch hier … das wird der Priorissa gar nicht gefallen!«, sagte sie vorwurfsvoll.

Jakoba eilte weiter. So viel wäre hier zu tun, so vielen Menschen musste geholfen werden. Aber sie durfte ihre Profess nicht gefährden, indem sie sich der Oberin gegenüber ungehorsam zeigte. Wenn Priorissa Elisabeth sich weigerte, sie in die Klostergemeinschaft aufzunehmen, müsste sie zu ihrer Familie zurück – und das wollte sie auf keinen Fall.

Als Jakoba die Tür erreicht hatte, schrillte eine Frauenstimme durch den Saal: »Gott hat den dritten Reiter der Apokalypse ausgesandt. Der Weltuntergang ist nah!« Wegen ihrer Wahnvorstellungen und Zuckungen hatten sie die Frau vor dem Abbild des heiligen Antonius ans Bett binden müssen. Jakoba bekreuzigte sich. Die Kranke hatte etwas ausgesprochen, was auch viele Nonnen dachten: Gott hatte die Hungersnot geschickt, um die Gläubigen zu strafen. Seit der Papst nicht mehr in der heiligen Stadt Rom residierte, sondern vom französischen König ins Exil nach Avignon gezwungen worden war, zürnte Gott ihnen.

Ihre sorgenvolle Stimmung verflog, als sie die Stimmen der anderen Nonnen hörte. Überirdisch schön war der Vorgesang der Cantrix. Die Musik streichelte ihr aufgewühltes Gemüt. Oft begleiteten sich die Nonnen auch selbst auf der Harfe, der Einhandflöte oder dem Glockenbaum. Leise versuchte sie, durch die Kirchentür zu schlüpfen und sich unauffällig in die letzte Reihe zu knien, die für die Nachlässigen vorgesehen war, doch der missbilligende Ausdruck im Gesicht der Priorissa entging ihr nicht. Weiß stieg Jakobas Atem auf, als sie in den Gesang einstimmte. Wenn ihr Latein nur besser wäre! Aber durch die viele Arbeit im Infirmarium vernachlässigte sie den Unterricht, der von allen Nonnen in Ebbekestorpe erwartet wurde, damit sie die lateinischen Texte verstanden.

Ihre Schienbeine und Füße wurden auf dem Boden schnell taub, und die Kälte kroch ihren Körper hoch. Inbrünstig und voller Kummer betete Jakoba für ihren Sohn. Die Erinnerung war wie ein Splitter in ihrem Herzen. Wäre sie nur statt seiner gestorben! Tatsächlich fiel ihr das Mitsingen schwer – ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Am Schluss des Gottesdienstes musste Jakoba öffentlich Buße tun für ihr Zuspätkommen.

Die Glocken schlugen zur achten Stunde des Morgens, und die Nonnen nahmen ihre Arbeit auf. Jakoba schloss sich Schwester Walburga an. Die alte Nonne tapste vorsichtig über die unebenen Steinplatten.

»Du bist zu spät gewesen, wieder einmal«, rügte Walburga sie leise. »Die Regularien des heiligen Benedikt verlangen, dass man alles sofort aus der Hand legt und in größter Eile herbeikommt, wenn man das Zeichen zum Gottesdienst hört.«

Jakoba senkte den Blick. »Das ist mir bekannt, Schwester.«

Die Alte stolperte, und Jakoba packte sie, damit sie nicht hinfiel. Dankbar drückte Walburga ihre Finger. »Warum handelst du dann nicht danach? Du darfst deine Aufnahme ins Kloster nicht gefährden. Ich brauche dich im Infirmarium. Noch nie habe ich eine so kundige Helferin gehabt«, wisperte sie.

Ihre Worte freuten Jakoba sehr. Sie hatte nicht viel Lob in ihrem Leben erhalten. »Und ich hatte noch nie eine so gütige Lehrmeisterin.« Eigentlich war es ihnen bis auf wenige Minuten des Tages verboten zu sprechen, aber jetzt skizzierte sie knapp Konegundis’ Zustand.

Sie hatten das Infirmarium erreicht und Schwester Walburga schaute sich selbst Konegundis an. Die Atemzüge der Kranken waren kurz und flach, Reste erneuten Auswurfs bedeckten das Laken. Jakoba hatte den Eindruck, dass die Arme und Beine des Mädchens bläulich schimmerten.

»Hast du eine Harnschau vorgenommen?«, wollte Schwester Walburga wissen.

»Dafür war keine Zeit.«

»Mit dem Lungenkraut hättest du nichts falsch gemacht. Wir werden noch etwas Nesselsamen und getrocknete und zerstoßene Fuchslunge hinzufügen«, beschloss Walburga. Jakoba setzte den Kräutertrank an und verabreichte ihn der Novizin.

Von außen drangen die Rufe der Wartenden zu ihnen. In kurzer Zeit würde die Armenspeisung beginnen, und danach würde das Getöse in Schimpfen umschlagen, denn die Vorräte des Klosters waren streng rationiert worden. Jakoba und Schwester Walburga versorgten die Wunden der Kranken, wuschen sie und beteten mit ihnen. Jakoba tröstete die Kranken. Oft weinte sie mit ihnen, aber wann immer es ging, versuchte sie, sie aufzuheitern, erzählte ihnen Geschichten, lachte und scherzte mit ihnen. Sie war überzeugt davon, dass ein heiteres Gemüt zur Heilung beitrug.

Schließlich gab Schwester Walburga den Famuli das Zeichen, dass sie den Eingang öffnen sollten. Mit einem Stoßgebet wappnete Jakoba sich dafür, dass gleich die Hölle losbrechen würde.

Von der Feuchtigkeit verzogen, schrammten die Türen über den Boden. Ein eisiger Windstoß züngelte herein und brachte ihre Umhänge zum Flattern. Knochige Hände streckten sich durch den Spalt, magere Körper drängten herein, tief liegende Augen suchten ihre Blicke, flehten um Hilfe, um Erlösung. Es waren dreißig, vierzig Männer, Frauen und Kinder. Vermutlich lagen draußen noch mehr, denen bereits die Kraft zum Aufstehen fehlte. Viele arbeiteten als Bauern auf den Besitztümern des Ordens, andere stammten aus den umliegenden Dörfern oder waren Pilger, die am Grab der Ebbekestorper Märtyrer – sächsischer Kämpfer, die hier von heidnischen Normannen getötet worden waren – beten wollten. Husten, Auswurf und Fieber waren noch das Geringste ihrer Übel. Schlimmer waren die Erfrierungen, die blauroten Beulen und Knoten an Fingern, Zehen und im Gesicht. Grausam die Folgen des Hungers, die die Nonnen kaum zu lindern vermochten.

Jakoba erschrak über den Anblick eines Jungen, der mit seinem aufgeblähten Bauch, den hervortretenden Knochen und seinem faltigen Gesicht aussah, als wäre er ein Greis. Etliche Hilfesuchende waren so ausgezehrt, dass sie nichts mehr bei sich behalten konnten und nach ihren Ausscheidungen stanken.

Ein Mann schob sich nach vorn. Sein Gesicht war von Qualen verzerrt, den linken Arm hielt er umklammert, die Hand war schwarz und abgestorben, ein Bein zog er hinterher. Die Knechte halfen ihm zum Bild des heiligen Antonius, dessen Hilfe er erflehen sollte. Jakoba eilte zum Arzneischrank und holte den Balsam, den sie eigens für die an der Kribbelkrankheit Erkrankten angemischt hatte. Lattich, Wegerich, Holunderblätter und Brennnessel würden die Wunden und die Schmerzen des Mannes zwar lindern, das Absterben des Fleisches konnten sie aber nicht aufhalten. Da es der Siechenmeisterin verboten war, in die Haut der Kranken zu schneiden, mussten sie warten, bis der Bader zum vierteljährlichen Aderlass vorbeikam oder die abgestorbenen Gliedmaßen von selbst abfielen.

Brennendes Mitleid plagte Jakoba. War das wirklich alles, was sie gegen das Heilige Feuer tun konnten? Es musste doch eine andere Möglichkeit geben, diesen Kranken zu helfen!

Der Mann war auf die Knie gesunken und betete, wobei seine Stimme immer wieder brach. Neben ihm wand sich die ans Bett gefesselte Kranke in ihren Zuckungen und stieß unverständliche Laute aus. Solche Krämpfe waren oft tödlich, das wusste Jakoba. Eigentlich müssten sie Männer und Frauen ja trennen, aber bei der derzeitigen Enge ging es im Infirmarium nicht anders.

»Bitte helft mir! Dieses Feuer – ich verbrenne!«, flehte der Mann.

Jakoba sah, dass auch seine Nase, seine Finger und seine Unterschenkel bereits brandig waren. Sie öffnete den Tiegel und strich, ihren Ekel zurückdrängend, das verfaulte Fleisch mit dem heilkräftigen Schweineschmalz ein. Nie hätte sie in ihrer Kindheit, als ihr Vater zu aufwendigen Turnieren lud und seine Sprösslinge aufs Feinste herausputzte, damit gerechnet, dass sie eines Tages den Ärmsten oder gar Aussätzigen helfen würde. Aber sagte Jesus nicht: »Was ihr getan habt für einen meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan«?

Das Schrammen von Holz auf Stein. Weinen. Aus dem Krankensaal war ein Kreischen zu hören: »Bitte nicht! Haltet ein!«

Was war da los? Eilig verabreichte Jakoba der Frau mit den Krämpfen einen Löffel des gefährlichen Nachtschattentrunks, dann lief sie los. Im Saal herrschte Aufruhr. Menschen rannten durcheinander, suchten etwas, kämpften miteinander. Furcht packte Jakoba. Anscheinend wollten sich die Notleidenden nicht mit den Almosen zufriedengeben.

»Rückt das Brot raus – aber sofort!«, brüllte ein Mann.

Einige zerrten an den Truhen und Schränken, andere wühlten nach Essbarem und nahmen mit, was ihnen in die Finger kam. Wieder andere versuchten, die Diebe aufzuhalten, was zu Handgemengen führte.

Nonnen und Mägde hoben hilflos die Stimmen. »In Gottes Namen, haltet ein!«

Einer der Klosterknechte versuchte, die Eingangspforte zu schließen, ein anderer schleifte einen Dieb hinaus. Über alldem lagen die verzweifelten Rufe nach Brot. Eine Frau hatte den Schrank erreicht, in dem die Nonnen ihre Heilkräuter verwahrten, und riss wahllos Tontöpfe, Holzschachteln und Lederbeutel heraus. Die kostbaren Kräuter landeten im Dreck – und niemand hielt die Frau auf. Instinktiv warf Jakoba sich zwischen die Frau und den Schrank.

»Halt! Lasst das!«, rief sie, doch die Frau war derart in Rage, dass sie Jakoba an den Schultern packte und wegstieß.

Jakoba stürzte auf die Fliesen, rappelte sich aber sofort wieder auf. Die Knechte waren noch in Handgemenge verwickelt. Was sollte sie nur tun? Kurzerhand packte Jakoba den Arm der Plünderin und drehte ihn auf den Rücken, wie sie es bei ihren Brüdern beobachtet hatte. »Jetzt ist es aber genug!«

Die Frau heulte auf, aber Jakoba ließ sich nicht beirren, sondern schob sie zur Pforte hinaus. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Nonnen sie anstarrten. Röte schoss ihr in die Wangen. Beschämt fing sie an, Kräuter und Salben zu bergen und wieder sicher zu verstauen. Was hatte sie getan? Dieses Benehmen würde die Priorissa ganz sicher nicht gutheißen!

Es dauerte lange, bis endlich alle Aufrührer aus dem Krankensaal befördert und die Türen geschlossen waren. Wütend hämmerten die Menschen gegen das Holz. »Gebt uns Brot! Gebt uns Brot!«

Die Schreie ängstigten die Nonnen zutiefst. Gerüchte über Klosterplünderungen hatten bereits die Runde gemacht. Jedermann wusste: Das Kloster Ebbekestorpe war reich, auch weil ihm durch Almosen und Stiftungen Anteile an den Lüneburger Salzpfannen vermacht worden waren. Würden die Aufrührer beim nächsten Mal bewaffnet angreifen? Und wer wäre dann da, um die Nonnen zu schützen?

Jakoba verband Make. Der Knechte war beim Verteidigen der Klosterfrauen verletzt worden. Als sie gerade nach Konegundis sehen wollte, trat die Subpriorissa ein. Sie betrachtete missbilligend das Durcheinander und befahl Jakoba mitzukommen.

Jakoba ließ die Schultern hängen und rechnete mit dem Schlimmsten. Hatte eine der Nonnen sich bereits über ihr handfestes Eingreifen gegen die Aufrührer beschwert? Oder wollte die Priorissa sie erneut für ihr Zuspätkommen rügen? Hatte ihre öffentliche Buße noch nicht ausgereicht? Sie warf einen Blick auf Konegundis, die im Fieberwahn zuckte, prüfte rasch den Zustand ihrer Novizentracht und folgte der Subpriorissa hinaus.

Die Priorissa nahm in ihrer Kammer die neuesten Kopien und Illuminationen aus dem Scriptorium in Augenschein; es waren herrliche Arbeiten. Wie viele Schwestern dieses Klosters stammte Elisabeth aus altem Adel. Sie strahlte Hoheit aus, wenn sie auch sehr matt wirkte. »Wenn aller Sand, der im Meer ist, Pergament wäre, und alle Grashalme Schreibfedern und alle Gewässer schwarze Tinte, man könnte die geringste Freude, die in dem Himmel ist, damit nicht aufschreiben«, murmelte die Priorissa. Als sie Jakoba bemerkte, presste sie die Zeigefinger auf die Nasenwurzel.

»Seid Ihr nicht wohl? Kann ich etwas für Euch tun?«, erkundigte sich Jakoba besorgt.

»Silentium!« Die Stimme der Priorissa war schneidend. »Schweig! Du hast genug getan, mehr als genug.« Mit einer Geste gab sie Jakoba zu verstehen, dass sie auf die Knie sinken sollte.

Jakoba gehorchte. »Ich musste Kranke versorgen. Eine Novizin, Konegundis …«, wollte Jakoba sich verteidigen.

»Ich sagte dir, schweig still! Immer wieder durchbrichst du das Schweigegebot! Die Ordensregel ist strikt, und ich werde dafür sorgen, dass sie auch in Ebbekstorpe wieder eingehalten wird! Und wenn ich das Infirmarium schließen muss, damit hier wieder Ruhe einkehrt, werde ich es tun.«

Jakoba war schockiert. »Aber ich … die Kranken brauchen mich. Sagte der heilige Benedikt nicht, die Sorge für die Kranken müsse über allem stehen?«

Die Priorissa rümpfte die Nase. »Diese Art Eitelkeit meine ich, wenn ich deine Eignung fürs Klosterleben anzweifle. Ruft uns nicht die Heilige Schrift zu: ›Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden‹? Denke daran: Die Seele wird durch die Krankheit des Geistes geprüft und geläutert. Krankheit ist immer auch eine Folge der Sünde. Christus ist der wahre Heiler, weitere Medizin brauchen wir nicht. Du wirst dich unseren Regeln freudig unterordnen. Wenn du das nicht kannst, bist du hier fehl am Platze.«

Auf keinen Fall wollte Jakoba zu ihrem Vater zurück. Er würde sie nur wieder an den Meistbietenden verheiraten, und noch eine lieblose Ehe würde sie nicht ertragen …

Sie senkte ihr Haupt. »Ich werde mich fügen, ehrwürdige Mutter.«

»Ein Tor lässt sich durch Worte nicht bessern, deshalb werde ich dich zu Fasten und Rutenschlägen verurteilen«, entschied die Priorissa.

Jakoba wollte erneut protestieren, biss sich jedoch auf die Lippen. So durchdringend musterte die Priorissa sie, dass Jakoba schon fürchtete, tatsächlich heimgeschickt zu werden.

»Am Sonntag sollst du die Profess ablegen«, sagte Elisabeth schließlich. »Ich bin nicht die Einzige, die an deiner Eignung zweifelt. Auch andere Schwestern sind der Ansicht, dass du die Ordensregeln zu wenig respektierst. Aber du hast in Schwester Walburga eine überzeugende Fürsprecherin gefunden, deren Wort Gehör findet. Bist du von der Wahl des geistlichen Wegs nach wie vor überzeugt?«

»Ja, ehrwürdige Mutter.«

Die Priorissa stemmte sich in ihrem Stuhl hoch. »Dann teile das auch deinem Bruder mit, der im Besuchszimmer auf dich wartet.«

Jakobas Blut stockte. Anno! Was machte er hier? Ihre Knie waren auf einmal so weich, dass sie zu stürzen fürchtete. Unsicher folgte sie der Priorissa in den kleinen, düsteren Besuchsraum und spähte durch das vergitterte Sprechfenster. Er war es, tatsächlich! Die schmale Gestalt hoch aufgerichtet, die Hand am Schwert und, wie stets, standesbewusst gekleidet: Panzerhemd und wappengeschmückter Gambeson, darüber ein Pelzumhang. Anno war zehn Jahre älter als Jakoba, ebenfalls rotblond, wirkte aber im Gegensatz zu ihr blass und anämisch. Als er sie durch das Gitter musterte, wanderte seine Oberlippe missbilligend nach oben.

»Ich werde mich nie an diesen Anblick gewöhnen – aber das muss ich wohl auch nicht. Pack deine Sachen – du reist ab!«, sagte Anno schroff.

Überrumpelt starrte Jakoba die Priorissa an.

»Schwester Jakoba kann Euch nicht begleiten. Sie wird am Sonntag ihre Profess ablegen, wie wir es mit Eurem Vater vereinbart hatten«, sagte die Priorissa in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Annos Finger krallten sich ins Metallgitter. Instinktiv wollte Jakoba zurückweichen, zwang sich aber, ruhig zu bleiben. »Vaters Wille zählt nicht mehr. Du wirst mir gehorchen«, zischte er. »Unsere Eltern sind gestorben, dahingerafft von einer Seuche, wir mussten sie bereits begraben.« Etwas sanfter setzte er hinzu: »Jakoba, deine Familie braucht dich jetzt. Du hast Nichten und Neffen, die dich vermissen. Denk dir, mein kleiner Lüder hat neulich seinen Vetter im Ringkampf besiegt und in einen Schlammpfuhl geworfen. Du hättest Dietrichs Gesicht sehen sollen.« Ihr Bruder grinste. Dietrich war sein Schwager und stellte gerne seinen höheren Stand heraus, was Anno in seinem Stolz traf.

Jakobas Hals schnürte sich zusammen. Sie konnte nicht fassen, dass Anno ihr so beiläufig vom Tod ihrer Eltern berichtete. Trauer breitete sich in ihr aus, obgleich sie gerade ihren Vater zu Lebzeiten beinahe gehasst hatte. Zu viel hatte er ihr angetan … Die Kälte, mit der ihr Bruder gesprochen hatte, schockierte sie. Aber Mitgefühl war Anno schon immer fremd gewesen.

Sie sammelte sich, so schwer es ihr auch fiel. »Ich habe meine Pflicht an meiner Familie getan, deshalb hat Vater mir gestattet, ins Kloster zu gehen.« Jakoba spürte ein angstvolles Pochen in ihrem Hals. »Ich werde den geweihten Schleier nehmen. Gerade wenn unsere Eltern gestorben sind, benötigen ihre Seelen meine Fürbitten.« Sie neigte das Haupt vor der Priorissa und wandte sich der Tür zu.

Anno rüttelte am Sprechgitter. »Du wirst jetzt nicht gehen! Du gehorchst! Du lässt mich hier nicht so stehen – Jakoba!«

Erst als sie die Protestschreie ihres Bruders nicht mehr hörte, atmete Jakoba auf. Doch dann erinnerte die Priorissa sie an die Bußstrafe.

Später, im Nonnenchor, liefen ihr die Tränen hinunter. Eigentlich war dieser Kirchenraum nur für die gemeinsamen Gebete gedacht, aber ihr half die feierliche Atmosphäre, zur Ruhe zu kommen, weshalb sie sich manchmal auch außerhalb der Stundengebete hierherstahl. Außerdem mochte sie die große Weltkarte, die die Hauptwand bedeckte. Das einzigartige Stück diente der Andacht und der Lehre. Das Erdenrund war darauf zu sehen, mit der heiligen Stadt Jerusalem im Zentrum. Könige waren abgebildet, Menschen fremder Erdteile und Monstervölker. Die Orte, an denen sich biblische Begebenheiten zugetragen hatten, aber auch Schauplätze des Lebens von Alexander dem Großen. Städte wie Paris, Rom oder Lüneburg. An den Rändern waren das Haupt Christi sowie seine Hände und Füße zu sehen – er hielt ihre Welt zusammen, die Heiligen wie die Sünder, und gleichzeitig schützte er sie. Angesichts der Schönheit des Kosmos wurde Jakoba bewusst, dass sie nur Staub und Asche waren und wieder zu Asche werden würden.

Jakobas Rücken brannte von den Bußschlägen, vor lauter Hunger war ihr übel, und ihr Körper bebte derart, dass sie die Hände kaum heben konnte. Sie fixierte das Abbild des heiligen Mauritius, des Schutzheiligen des Klosters und der Kreuzfahrer, und betete für die Seelen ihrer Eltern. Insgeheim fürchtete sie allerdings, dass auf ihre Eltern eher das Höllenfeuer als die himmlischen Freuden wartete. Ihre Mutter hatte der Völlerei gefrönt, ihr Vater war hartherzig und gewalttätig gewesen. Dennoch trauerte Jakoba. Von ihren engsten Verwandten waren jetzt nur noch ihr Bruder Anno und ihre Großeltern am Leben, alle anderen waren an Seuchen oder Unfällen gestorben. Die Großeltern waren weit weg, sie lebten im fernen Braunschweig.

Gewissensbisse quälten sie. Durfte sie Anno wirklich mit der drückenden Verantwortung für die Familie allein lassen? Durfte sie sich weigern, ihm zu helfen, wenn er sie doch bat? Gleichzeitig hatte die Todesnachricht auch ihre Verzweiflung neu entfacht, die sie seit dem Tod ihres Sohnes beherrschte. Nie würde sie damit fertigwerden, dass Willeken gestorben war. Wie hatte sie sich gewünscht, dass ihre Seele im Kloster Frieden finden würde! Und dann Konegundis, die nach wie vor im Fieber delirierte. Ein Schluchzen stieg in Jakoba auf, das sie nicht zurückhalten konnte.

Sie hörte ein Schlurfen, und wenig später ließ sich Schwester Walburga neben ihr auf die Knie sinken. Ihre Ellbogen lagen aneinander, eine kleine Berührung nur, die Jakoba jedoch tröstete. Wenn jemand vorbeikommen würde, würde er denken, sie beteten Seite an Seite. »Was quält dich so?«, fragte die alte Nonne leise.

Jakoba war erleichtert, ihren Kummer teilen zu können. »Noch immer geht es Konegundis so schlecht. Der Trank hilft einfach nicht! Ich habe Angst, dass sie stirbt. Sie ist noch so jung«, schloss sie kummervoll.

»Du hast getan, was du konntest. Vergiss nicht, dass Christus der wahre Heiler ist. Konegundis’ Leben liegt in seiner Hand«, sagte Walburga voller Gottvertrauen. Als würden diese Worte nicht ausreichen, legte die Infirmaria die Hand auf Jakobas Arm und setzte hinzu: »Es gab einst einen Papst, der Medicus war. Meine frühere Lehrmeisterin kannte einige seiner Schriften. Er sagte: Leben ist lebenslanges Sterben. Unser Lebensfutter wird zeitlebens ausgedörrt und vernichtet. Aber erst wenn die Seele den Körper verlässt, geht dieser zugrunde und zerfällt.«

Jakoba hatte oft beobachtet, wie sich der Anblick von Sterbenden mit dem letzten Atemzug veränderte, wie ihr Gesicht wächsern und kalt wurde. »Ich weiß, dass manche Krankheiten von den Organen wie Leber oder Nieren kommen, aber wo hat die Seele ihren Sitz? Wie können wir sie stärken?«

»Das Herz ist die Wohnstätte der Seele, so wie die Sinneskräfte im Gehirn zu Hause sind. Es ist der Lebensgeist, der vom Gehirn in die Nerven strömt und diese durchstrahlt, wie das Licht der Sonne einen Kristall.«

Das poetische Bild baute Jakoba auf. »Woher weißt du das alles?«

Schwester Walburgas Blick wanderte für einige Atemzüge zur Weltkarte von Ebbekestorpe. »Mein Leben war lang. Ich war nicht immer hier im Kloster. Manches lässt sich lernen, wenn man in die Welt hinausgeht. Aber Frieden finden wir nur in uns.« Sie stützte sich auf Jakoba und kam mühevoll auf die Füße. »Komm jetzt, die Kranken brauchen uns.«

Im Infirmarium bereiteten sie alles für die heilige Messe vor. Jakoba half dabei, die Kranken aufzusetzen, stützte sie oder schob ihnen Kissen in den Rücken, bis jeder den Altar sehen konnte. Nur Konegundis ließ sich nicht aus ihrer Bewusstlosigkeit wecken. Wie heiß sie noch immer war, wie schnell ihr Puls ging und wie stockend die Atemzüge! Noch einmal gab Jakoba ihr von dem Kräutertrunk und wechselte das schweißnasse Laken.

Der Priester vollzog die Messe und ging anschließend die Bettenreihe ab, um die Sakramente zu spenden. Auch bei Konegundis machte er halt. Jakobas Brust war eng, als der Priester die Letzte Ölung vornahm.

»O here Ihesu Christi ik byn de armeste den du gheschapen hest van dyner vaderliken kraft«, rezitierte er.

Aber noch war Konegundis nicht tot, und Jakoba nahm sich vor, alles zu tun, damit das Mädchen sich von der Krankheit erholte.

Ihre Lider waren schwer, so schwer. Sie musste wach bleiben! Wie die Abdrücke von Hühnerfüßen tanzten die Buchstaben auf dem Manuskript. Die dritte Nacht in Folge wachte sie schon an Konegundis’ Bett. Jakoba starrte erneut auf das Pergament. »Gegen Unterschenkelgeschwüre an den Schienbeinen«, las sie. »Sie heilen schnell, selbst wenn schon die Knochen herausschauen. Man reibt Schimmel von trockenem Käse und etwas weicherem Schafdung zu gleichen Teilen und gibt ein klein wenig Honig hinzu: Es heilt innerhalb von zwanzig Tagen.« Vor Aufregung wurde sie wacher. Vielleicht würde der Auszug aus dem alten Klosterhandbuch gegen das Heilige Feuer helfen! Sie würde die Celleraria gleich morgen um die Zutaten bitten.

Das nächste Rezept brachte sie jedoch erneut zum Gähnen: Wenn einen das kalte Fieber überkam, sollte man Wasser lassen und Roggen in den Urin werfen. Aus dem Teig solle man kleine Kugeln formen und diese an Fische verfüttern. Davon vergehe das Fieber, »duth js vor socht«, versicherte der Schreiber die Erprobtheit der Arznei.

Jakoba hingegen zweifelte an der Wirksamkeit. Ihre Augen brannten. Wenn es nur nicht so dunkel im Siechensaal wäre! Immerhin war die Arbeit weniger geworden – seit dem Angriff war die Pforte zum Infirmarium geschlossen geblieben. Die Sicherheit der Nonnen ging vor. Alle schliefen, nur sie nicht. Jakoba bohrte die Fingernägel in die Handballen, doch auch das half nicht mehr gegen die Erschöpfung. Jetzt eine kleine Stärkung … etwas Hirsebrei oder Mandelmilch … ein Krapfen oder frisch gebackener Brotfladen mit Obstmus. Das Wasser lief ihr bei dem Gedanken im Munde zusammen. Es wurde Zeit, dass sie endlich etwas zu essen bekam. Sie befühlte den Umschlag um Konegundis’ Brust. Noch musste er nicht gewechselt werden. Um die Müdigkeit abzuschütteln, lief sie eine Runde durch den Krankensaal.

Der Wind pfiff um die Mauern und zerrte an den Fensterläden. An die Wand gelehnt, schnarchte die Magd laut. Aus den Betten drang leises Seufzen und Wehklagen. Jakoba hörte ein Rascheln und Knarren aus Richtung der Pforte und drehte sich um. Nur einen kleinen Kreis erhellte das Licht. In der Finsternis schienen die Schemen zu tanzen. Waren das die Geister der Verstorbenen? Die Seelen, die noch im Zwischenreich ausharren mussten? Oder nur eine Ratte? Eigentlich war dieses Ungeziefer seit dem Ausbruch der Hungersnot verschwunden. Es gab nicht mehr genug Futter für Mäuse und Ratten, stattdessen wurden diese von Notleidenden selbst am Spieß gebraten oder in den Eintopf geschnitten. Jakoba wagte nicht nachzusehen, was das Geräusch verursacht hatte. Die Augen starr in die Dunkelheit gerichtet, tastete sie sich zu ihrem Schemel zurück. Wieder knarrte es. Machte sich jemand an der Tür zu schaffen? Kamen die Plünderer? Sollte sie die Knechte wecken?

Jakoba fiel vor Schreck beinahe vom Schemel, als der Fensterladen neben der Pforte aufflog und laut im Wind klapperte. Die ersten Kranken jammerten unruhig. Die Magd zuckte im Schlaf.

Nur der Wind, beruhigte sich Jakoba und hatte trotzdem Herzrasen, als sie zum offenen Fenster ging. Ängstlich streckte sie die Hand nach dem Griff aus. Eisregen schlug ihr entgegen und verschlang die Sterne am Firmament. Da hatte sie den Griff. Sie zog gegen den Widerstand des Windes an, verschloss das Fenster und legte sorgfältig den Riegel vor.

Im gleichen Augenblick hörte sie ein Krachen. Die Pforte neben ihr sprang auf, und ein Schatten schoss auf sie zu. Der Statur nach zu urteilen, war es ein Mann, das Gesicht halb unter einem Tuch verborgen. Das Kloster wurde überfallen! Bevor Jakoba weglaufen konnte, hatte er sie schon im Schwitzgriff.

Jakoba versuchte, sich zu wehren, kam aber nicht gegen ihn an und wurde hinausgezerrt. Bitterkalt war der Sturm, der sie vor den Klostermauern umfing. Ein Mann wartete dort mit zwei Rössern. Sein Gesicht lag im Dunkeln. Der Wind riss an seinem Umhang. Unwillkürlich kam ihr der apokalyptische Reiter in den Sinn.

Verzweifelt schrie Jakoba um Hilfe.

2

Dahlenburg

Sie zitterte am ganzen Leib. Ihr Kopf dröhnte. Die Striemen auf ihrem Rücken brannten, und Jakoba war übel vor Hunger. Die Erinnerung war sofort wieder da. Bevor ihr jemand hatte zu Hilfe kommen können, hatte ihr Angreifer sie niedergeschlagen, und Jakoba hatte das Bewusstsein verloren. Wohin hatte man sie gebracht? Vor Kopfschmerzen blinzelnd, sah sie sich um. Dicke Feldsteinmauern, die fadenscheinigen Vorhänge des Himmelbetts, die altertümliche Einbaumtruhe – sie war in ihrer alten Kammer in der elterlichen Burg. Ihr Blick verschwamm. Nur das nicht! Anno war es also gewesen, der sie aus dem Kloster entführt hatte! Sie hätte es voraussehen und die Priorissa warnen müssen!

Mühsam stemmte sie sich hoch. Es dauerte lange, bis das Schwindelgefühl nachließ. An den Rundmauern entlang tastete sie sich zum Fenster. Vorsichtig löste sie die Ziegenhaut, die die Öffnung verschloss. Das Panorama ihrer Kindheit und Jugend tat sich vor ihr auf: Wälder und Weiden, eine bescheidene Ansammlung Häuser, eine Straße, ein Fluss. Früher war Dahlenburg ein Bollwerk gegen die Slawen gewesen, die hier einfielen, Kirchen zerstörten und Dörfer verheerten. Noch ihr Vater hatte die Heiden im eigenen Land bekämpft. Heute bestand die wichtigste Bedeutung des Fleckens Dahlenburg darin, dass hier der Zoll an der Handelsstraße von Lüneburg nach Magdeburg kassiert wurde.

Im Vorhof der Sattelburg übten sich trotz des Schneegriesels Anno und seine Söhne im Ringkampf. Leo und Lüder waren sechs und sieben und in dem einen Jahr, in dem Jakoba sie nicht gesehen hatte, kräftig in die Höhe geschossen. Bald würden sie in die Obhut eines Ritters gegeben werden und als Pagen ihre Ausbildung antreten. Jetzt glühten die Wangen der Jungen, und sie bewegten sich langsam, als bereite jeder Schritt ihnen Mühe. Anno trieb sie an und fuhr ihnen mit einem langen Stock in die Beine, wenn sie nicht flink genug waren.