Cover

Ulrike Schweikert

Dracas

Die Erben der Nacht

Karte von Transsilvanien

WIEDERSEHEN IN WIEN

Luciano ließ seinen Blick über die Särge schweifen, die sich an der Wand entlangreihten. Unzählige Kleidungsstücke lagen darauf ausgebreitet: Jacken, Gehröcke, Hosen, Hemden und Westen von verschiedenem Schnitt und in allen erdenklichen Farben, dazu Halsbinden, Hüte, Schuhe, Handschuhe und ein eleganter Gehstock mit einem geschnitzten Knauf.
Nachdenklich sah er an sich herunter und betrachtete die moosgrüne Jacke, die er über einer gestreiften Weste und kräftig braunen Pantalons trug. Eine knallgelbe Halsbinde und Lackschuhe mit weißen Gamaschen vervollständigten die Aufmachung.
Mit einem Seufzer nahm Luciano den neuen Zylinder vom Kopf und warf ihn auf den Sarg vor sich. »Ich weiß nicht so recht. Dario, was hast du noch?«
Wortlos reichte ihm der Diener ein weißes Seidenhemd, eine schwarze Frackhose und die dazu passende Jacke mit den langen Schößen aus gleichem Tuch. Luciano sah an sich herab und zog eine Grimasse.
»Ist etwas nicht in Ordnung, liebster Cousin?« Chiara erhellte mit ihrem Lächeln den feuchten Raum in einem Seitenflügel der Domus Aurea, des ehemaligen Neropalasts in Rom, der wie eine Gruft anmutete.
Luciano hob die Arme. »Ich weiß nicht, was ich nach Wien mitnehmen soll. Ich habe nichts Passendes zum Anziehen!«
»Du Armer!«, spottete die Vampirin. »Ich dachte, diese Bemerkung sei ein Privileg des weiblichen Geschlechts.«
Chiara trat näher. Wieder einmal musste Luciano neidvoll anerkennen, dass seine Cousine umwerfend aussah. Wie die meisten Mitglieder des Clans der Nosferas hatte die Natur sie mit prächtigen schwarzen Locken und üppig weiblichen Formen gesegnet. Doch Chiara war eine der wenigen des römischen Clans, die nicht zu übermäßigem Blutgenuss neigte, einer Angewohnheit mit unübersehbaren Folgen. Ihr Vetter Maurizio war da ein gutes Beispiel, man konnte ihn nur noch als unförmige Masse bezeichnen. Wobei sein Kater Ottavio inzwischen genauso fett war wie sein Herr.
Chiara dagegen standen ihre Formen verführerisch gut zu ihrem zugegeben runden, aber hübschen Gesicht und sie verstand es, mit ihren Kleidern jedes Gramm an sich vorteilhaft zur Geltung zu bringen. Heute trug sie ein Kleid aus saphirblauem Seidentaft, das in unzählige Falten gelegt bis zum Boden herabwallte. Die weiße Haut ihres Dekolletés rahmte schwarze Spitze und auf dem Ansatz ihrer Brüste funkelte ein Collier aus Perlen und Saphiren.
Luciano fiel es schwer, sich von diesem Anblick loszureißen. Und dabei war sie seine Cousine! Er fragte sich, wie die anderen Erben der Clans auf ihre Erscheinung reagieren würden. Vielleicht würde er Chiara in diesem Akademiejahr ein wenig im Auge behalten müssen, damit keiner es wagte, ihr zu nahe zu treten. Sie waren schließlich keine Kinder mehr. Luciano zählte – wie seine Cousine – bereits sechzehn Jahre.
Chiara sah sich in seinem steinernen Gemach um und erfasste die ausgebreiteten Kleidungsstücke mit einer Handbewegung. »Ist das alles?«, fragte sie spöttisch.
Luciano nickte unglücklich. »Bisher ja.«
»Und was ist das dort drüben?« Sie deutete auf einen Stoffberg, der die auf den Särgen liegenden Kleidungsstücke um ein Vielfaches übertraf.
»Lauter altes Zeug, das ich nicht mehr anziehen kann.«
Chiara pickte eine elegante Hose und eine weinrote Jacke hervor und hielt sie vor ihn hin. »Das finde ich nicht schlecht und auch nicht zu altmodisch. Zieh mal an!«
Luciano gehorchte unter Protest. »Das ganze Zeug passt mir nicht mehr. Ich bin über den Sommer mindestens eine Handspanne gewachsen.«
»Und erheblich dünner geworden«, stellte sie verblüfft fest, als er die Hose schloss, die ihm über die Hüften zu rutschen drohte. Ihr Blick wanderte zum Saum hinunter, der sich irgendwo im unteren Bereich seiner Waden verlor. Chiara schüttelte lachend den Kopf. »Nein, davon kannst du wirklich nichts mehr anziehen. Versuche es mit dem schwarzen Frack, den Dario dir herausgesucht hat.«
Luciano gehorchte. »Ja, nicht schlecht, aber so düster – naja, schwarz eben. Findest du nicht?«
»Das nennt man elegant.« Chiara kam mit wiegenden Hüften näher und pikte ihn mit ihrem gepflegten langen Fingernagel in die Brust. »Nicht, dass ich etwas gegen farbenprächtige Kleider einzuwenden hätte, doch mir ist, als könne ich bereits Franz Leopolds ätzende Kommentare hören, wenn er dich darin sieht.«
Luciano zog eine Grimasse. Er konnte Chiara nicht widersprechen.
»Lass dir lieber noch einen schwarzen Frack schneidern«, riet sie, »und vielleicht einen Gehrock zu Pantalons aus hellgrauem Tuch. Wenn du auf deine geliebten Farben nicht völlig verzichten willst, dann wähle ein dunkles Blau!«
»Wenn du meinst«, gab er nach und zupfte den neuen Frack zurecht, während Dario ihm die schmale weiße Schleife band.
Chiara trippelte zur Tür und wandte sich dann noch einmal um. »Weißt du eigentlich, wie gut du aussiehst?«
Luciano sah misstrauisch auf, konnte aber weder in ihrem Tonfall noch in ihrer Miene einen Hauch von Spott erkennen.
»Ich?«, vergewisserte er sich ein wenig ungläubig. Verlegen fuhr er sich durch das schwarze Haar, dass es wieder einmal nach allen Seiten abstand.
Chiara nickte mit ernster Miene. Dann trat ein schelmisches Lächeln auf ihre Lippen. »Ich freu mich jetzt schon darauf, zu sehen, wie Franz Leopold sich vor Neid windet!« Fröhlich lachend tänzelte sie hinaus.
Etwas verwirrt wandte sich Luciano an seinen Diener. »Sie übertreibt mal wieder maßlos. Jeder weiß, dass die Dracas mit verschwenderischer Schönheit gesegnet sind – zumindest, was den äußeren Schein betrifft. Über ihre Charakterzüge wollen wir hier nicht reden.« Luciano deutete mit einer Grimasse an, was er davon hielt. »Und Leo ist leider – einfach perfekt.«
»Das ist Geschmacksache«, antwortete der Schatten emotionslos, wie es sich gehörte. »Doch wenn Ihr auf meine Meinung wert legt, so muss ich Fräulein Chiara beipflichten, dass Ihr Euch sehr gewandelt habt und den Vergleich mit keinem anderen Vampir scheuen müsst. Auch nicht mit einem Dracas.«
Luciano war sprachlos. Hatte er sich wirklich so sehr verändert? Er sah an seinem schlanken Körper herab und betrachtete seine langen Fingernägel, an denen er nicht mehr, wie noch in den ersten Akademiejahren, nervös herumkaute. Luciano dachte an Ivy und spürte, wie ein Lächeln über seine Lippen huschte. Nun freute er sich noch mehr, die anderen Erben der Clans wiederzusehen und mit ihnen in einem weiteren Jahr der Akademie junger Vampire neue magische Fähigkeiten zu lernen. Auch wenn es ausgerechnet in Wien sein musste. Nicht dass er gegen diese Stadt etwas einzuwenden hatte. Nichts lag ihm ferner, als den Hass der menschlichen Bewohner Roms gegen die Habsburger und ihr Reich zu übernehmen. Es waren die Dracas, die ihm Bauchschmerzen bereiteten, wenn er nur einen von ihnen zu Gesicht bekam!
Ja, die Vampirclans hegten ihre eigenen Vorlieben und noch mehr ihre eigenen Feindschaften, die sie jahrhundertelang in unzähligen Kriegen vertieft hatten. Doch diese sollten nun der Vergangenheit angehören. Aus diesem Grund hatten sich vor vier Jahren die Clanführer der Nosferas aus Rom, der Vamalia aus Hamburg, der Lycana aus Irland, der Dracas aus Wien und der Vyrad aus London getroffen und die Akademie gegründet. Seitdem versuchten wenigstens die jungen Vampire, die alten Vorurteile zu überwinden. Was recht gut gelang, fand Luciano. Immerhin waren seine besten Freundinnen Alisa de Vamalia und Ivy de Lycana. Zugegeben, mit Franz Leopold de Dracas war das Verhältnis nicht gerade herzlich. Aber immerhin schon besser, zumindest manchmal.
*
Eine lange Zugfahrt lag hinter ihnen. Eingesperrt in ihre Transportkisten waren die Vampire gezwungen gewesen, Stunden über Stunden still zu liegen und nur dem Rattern der Räder auf den Schienen zu lauschen. Das Schlimmste an dieser Art zu reisen war, dass einen dabei nichts von seinem Blutdurst ablenken konnte.
»Ich sterbe gleich vor Hunger!«, stöhnte Chiara und presste sich die Handflächen gegen ihr eng anliegendes Mieder.
»Stell dich nicht so an«, entgegnete Luciano kühl. »Du kannst nicht sterben – und schon gar nicht, weil du ein paar Stunden kein Blut bekommen hast.«
Chiara funkelte ihn an. »Danke für die Belehrung. Und das ausgerechnet aus dem Mund meines verfressenen Cousins. Oder willst du etwa behaupten, dich würde der Blutdurst nicht quälen?«
Luciano dachte kurz darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, so schlimm ist es nicht«, stellte er erstaunt fest. »Hauptsächlich freue ich mich darauf, die anderen wiederzusehen.«
»Pah, Gefühlsduselei!«, meinte sein älterer Vetter Maurizio und biss in die Ratte, die ihm sein treuer Kater Ottavio gefangen hatte. »Es geht nichts über frisches, warmes Blut!«
»Ja, das sieht man dir an«, gab Luciano zurück. Wie fett und unansehnlich Maurizio in den vergangenen Jahren geworden war. Neben der hageren Leonarda, Chiaras Servientin, wirkte er geradezu grotesk. Leonarda steckte noch immer in dem mageren Körper einer Dreizehnjährigen, wie an dem Tag, an dem sie von einem Nosferas gebissen und zum Vampir gewandelt worden war. Im Gegensatz zu den Vampiren reinen Blutes veränderten sich die Unreinen, Schatten oder Servienten, wie manche Clans sie auch nannten, nicht mehr, egal, wie alt sie wurden. Jeden Abend erhoben sie sich aus ihrem Sarg, als sei es noch immer die Nacht ihres Todes. Rein äußerlich zumindest. Denn wie bei alle anderen Vampire nahmen ihre Kräfte, ihre Erfahrung und ihr Wissen zu und machten sie zu tödlichen Jägern. Wobei Unreine keine Menschen zu Vampiren wandeln konnten – oder es zumindest nicht durften. Luciano wusste nicht, ob je ein Servient das Verbot missachtet und es versucht hatte. Doch ob rein oder unrein, irgendwann erreichte jeder Vampir den Zenit und von da an wurde er mit zunehmendem Alter auch schwächer. Nicht dass er wie ein Mensch einfach sterben konnte. Die Altehrwürdigen begannen sich nach und nach zurückzuziehen, gingen immer seltener auf die Jagd und überließen es irgendwann den Jungen und Starken, für ihr Wohl zu sorgen. So existierten sie weiter, bis zu dem Tag, an dem sie beschlossen, für immer zu gehen. Dann suchten sie sich einen abgeschiedenen Platz, um von dort aus ein einziges letztes Mal die Sonne aufgehen zu sehen.
Im Gegensatz zu Chiaras mädchenhaftem Schatten war Maurizios Servient Pietro ein großer Mann, dessen kräftige Arme Leonarda nun mit einem ganzen Stapel von Chiaras Hutschachteln belud. Daneben stand Dario – sein eigener neuer Schatten, an den sich Luciano noch immer nicht gewöhnen konnte. Francesco war sein Schatten gewesen, bis ihn in Irland eine silberne Kugel ins Herz getroffen und ihn vernichtet hatte. Clanführer Claudio hatte darauf bestanden, ihm einen neuen Servienten zu geben, und so diente ihm nun Dario, der einst Schatten des altehrwürdigen Giuseppe gewesen war, Claudios Großvater und sein Vorgänger als Führer der Nosferas. Giuseppe hatte ein schreckliches Ende gefunden. Die Klinge eines Schwerts war in sein Herz gedrungen und hatte ihm den Kopf vom Hals getrennt. Luciano durchfuhr ein Schauer beim Gedanken an jene schreckliche Nacht.
»Luciano!« Alisas Stimme ließ ihn herumfahren und vertrieb die düsteren Erinnerungen. Die langen Röcke gerafft, kam sie über den nächtlichen Bahnsteig auf ihn zugelaufen. Er konnte die Volants um ihre entblößten Knöchel schwingen sehen.
Typisch Alisa! Sie war zwar ebenfalls ein wenig gewachsen und ihr burschikoser Körperbau ein wenig weicher und weiblicher, das hieß aber offensichtlich nicht, dass auch ihr Verhalten damenhafter geworden war. Über das ganze Gesicht strahlend fiel sie ihm um den Hals.
»Luciano, endlich. Wir anderen sind alle bereits gestern angekommen.«
Ein wenig verlegen schob Luciano die Vamalia eine Armeslänge von sich. Vielleicht lag es an dem Strahlen in ihren hellblauen Augen oder an dem rötlichen Schimmer, den die Gaslaternen ihrem nachlässig aufgesteckten Blondhaar verliehen, dass ihre Wangen fast menschlich rosa schienen und nicht so porzellanartig blass wie die Haut der anderen Vampire.
»Du siehst gut aus!«, begrüßte sie Luciano mit einem anerkennenden Nicken. Alisa lächelte ihn offen an.
»Du nimmst mir die Worte aus dem Mund!« Sie pfiff ganz undamenhaft durch die Zähne. »Luciano, ich sehe es kommen, du wirst allen Wienerinnen den Kopf verdrehen!«
»Verehrte Alisa, seit wann besitzt du hellseherische Fähigkeiten? Soweit mir bekannt ist, bist du nicht einmal des Gedankenlesens mächtig.«
Die näselnde Stimme rief in Luciano so manche für ihn peinliche Situation in seine Erinnerung zurück, die er gerne für immer verdrängt hätte. Franz Leopold de Dracas reichte ihm die Hand und grinste ihn unverschämt an.
»Lass das, Leo!«, fauchte Luciano leise. »Versuche nicht in meinen Gedanken zu lesen.«
Franz Leopold machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was heißt hier versuchen? Ich gebe mich nicht mit Versuchen ab, wenn ich mir etwas vornehme. Aber reg dich ab. Was kann es da schon Interessantes zu finden geben, das ich nicht längst wüsste?«
Luciano ging nicht auf ihn ein. Er wandte sich stattdessen an Alisa.
»Wie geht es den Vamalia? Wohnt ihr immer noch auf der gestrandeten Fregatte?«
Alisa schüttelte den Kopf. »Nein, das war dann doch ein wenig eng für alle. Wir haben ein altes Gebäude am Rand des Hafens bezogen, das uns aber auch nur vorübergehend als Quartier dienen wird, bis die Speicherstadt steht. Du glaubst nicht, wie schnell die modernen Bauten aus Eisenträgern und Backsteinen Tag für Tag in die Höhe wachsen. Sie haben Pfähle in das sumpfige Gelände der Wandrahminsel gerammt, auf denen die riesigen Speicherbauten ruhen können …«
Luciano hörte schon gar nicht mehr zu. Sein Blick wurde von einer zierlichen Gestalt mit silbernem Haar angezogen, die nun auf ihn zukam, wie gewohnt den weißen Wolf an ihrer Seite.
Ivy-Máire de Lycana reichte ihm ihre schmale, weiße Hand und sah ihn aus ihren türkisfarbenen Augen so intensiv an, dass Luciano fürchtete, ihm könne schwindelig werden.
Die volle Stimme wollte nicht so recht zu dem mädchenhaft schlanken Körper passen. »Luciano, welch Freude, dich wiederzusehen.«
Alisa hakte sich bei der Freundin aus Irland unter. »Wie er gewachsen ist. Und nicht nur das!«, sagte sie noch immer mit Bewunderung in der Stimme.
Ivy nickte und ergänzte neckend: »Du hast recht. Er ist ein richtiger Adonis geworden.«
Lucianos Lächeln verblasste, als er die beiden Vampirinnen so nebeneinander stehen sah. Ja, er hatte sich deutlich sichtbar weiterentwickelt. Ebenso Alisa und all die anderen Erben. Umso deutlicher musste jedem ins Auge fallen, dass Ivy noch immer in dem unveränderten Körper der Dreizehnjährigen steckte, den sie einst als Mensch besessen hatte.
Vierzehn! Ich war vierzehn. Mach mich nicht jünger als ich bin, erklang Ivys Stimme ein wenig tadelnd in seinem Kopf.
»Das ist nichts, worüber man scherzen sollte«, murmelte der Nosferas. »Wenn die anderen Augen im Kopf haben und dich nur einmal wachen Sinnes ansehen, dann drängt sich ihnen die Wahrheit geradezu auf!«
Ivy schüttelte den Kopf. »In manchen Dingen sind Vampire so blind wie Menschen. Auch sie sehen nur, was sie sehen wollen und was ihr Wissen ihnen eingibt: eine Erbin der Lycana!«
»Ich sehe es aber und ich wage mir nicht auszumalen, was passiert, wenn die Dracas dein Geheimnis erfahren.«
Eine Unreine in der Mitte ihrer Erben! Ivy aus der Akademie zu verbannen, wäre noch das Harmloseste, was sie tun würden. Luciano warf Franz Leopold einen forschenden Blick zu. Dessen Miene war nun grimmig.
»Dann sollten wir zusehen, dass es ein Geheimnis bleibt!«
Luciano erwiderte den Blick. »Was siehst du mich so an? Ich werde es niemandem sagen, da kannst du sicher sein!«
»In unserem Haus muss man nicht nur auf seine Worte achten!«, fügte Franz Leopold hinzu. Auch auf seine Gedanken!
Luciano presste sich beide Handflächen auf die Schläfen, so sehr dröhnte die Stimme des Dracas in seinem Kopf.
»Verflucht, was soll das?«
Franz Leopold hob die Schultern. »Ich habe dich lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass du selbst mit deinen leichtsinnigen Gedanken Ivy am meisten in Gefahr bringst. Erschreckt sah Luciano zu Ivy, doch die schien alles andere als beunruhigt zu sein. Oder sie verstand es wieder einmal meisterlich, ihre Sorgen vor ihren Freunden zu verbergen. Noch einmal griff sie nach Lucianos Händen.
»Du wirst mich ganz sicher nicht verraten, denn wenn du an mich denkst, siehst du mich nicht als eine Unreine. Auch Leo hat es nicht in deinem Geist gefunden, obwohl du die Wahrheit längst kanntest.«
Franz Leopolds Miene verfinsterte sich. »Lasst uns gehen. Die Fiaker sind längst vorgefahren und die anderen steigen bereits ein.«
Er drehte sich abrupt um und ging mit langen Schritten davon. Offensichtlich wollte er nicht an den für ihn so schmerzlichen Moment zurückdenken, an dem er hatte erkennen müssen, dass die Vampirin, in die er sich verliebt hatte, nicht reinen Blutes war und sie alle getäuscht hatte. Wieder einmal fragte sich Luciano, welche Enttäuschung für den Dracas schwerer wog. Er jedenfalls verübelte Ivy nicht, dass sie ihre Abstammung vor ihnen geheim gehalten hatte, und er fand auch nichts dabei, dass sie eine Unreine war, obgleich er sie nie auf die Ebene der Servienten stellen würde. Ivy war etwas ganz Besonderes! Und das würde sie für ihn auch immer bleiben.
»Ganz egal, was passiert, ich bin für dich da und bleibe an deiner Seite«, sagte er, obgleich ihm bewusst war, dass sie – trotz des mädchenhaften Körpers – Kräfte besaß, die er nicht einmal erahnen konnte. Und dann war da noch Seymour, der Werwolf und Bruder an ihrer Seite. Sein Schwur war einfach nur lächerlich!
Ivy schien das nicht zu denken. Sie lächelte ihn an und dankte ihm. »Auch wenn ich denke, dass gar nichts passieren wird. Dieses Mal werden wir ein ruhiges Akademiejahr erleben, in dem wir unsere Kräfte ganz den neuen magischen Fähigkeiten widmen können«, sagte sie voller Zuversicht.
Ob sie insgeheim wusste, dass es anders kommen sollte? Ihr Blick wanderte zum Nachthimmel empor, wo eine Schar Raben über ihren Köpfen kreiste, sich dann nach Norden wand und ihren Blicken entschwand. Mit abwesender Miene reichte Ivy Luciano ihren Arm und ließ sich über den Bahnsteig führen. Luciano fragte sich, woran sie gerade dachte. Nur Alisa berichtete fröhlich von ihrer Anreise und schien sich der düsteren Stimmung nicht bewusst, die sich unvermittelt wie ein schwarzer Schleier über sie legte.
*
Zu viert nahmen sie in dem offenen Landauer Platz. Die Pferde zogen an. Die Kutsche, in der Chiara und Maurizio saßen, und die beiden Karren, die das Gepäck transportierten, entschwanden bereits ihren Blicken. Der Fiaker folgte einer breiten Straße, zu deren Rechten sich zwei prächtige Schlösschen erhoben, die durch einen lang gezogenen Park verbunden waren. Die barocke Fassade des höher am Hang gelegenen Gebäudes spiegelte sich im davorliegenden See.
»Wie schön!«, rief Alisa entzückt. »Wer wohnt dort?«
Franz Leopold hob die Schultern. »Eigentlich niemand mehr. Die beiden Belvederes gehören inzwischen den Habsburgern, die sie für ihre Kunstsammlung nutzen oder ab und zu eine Redoute in den Prunkräumen veranstalten. Erbaut wurden sie für Prinz Eugen von Savoyen, den die Wiener so gerne als ihren Helden und Retter vor der Türkengefahr sehen. Sie bezeichnen ihn als ihren edlen Ritter und vergessen großzügig, dass er Franzose war und folglich aus dem Land ihrer Erzfeinde stammte. Und auch an die Gräueltaten will sich keiner mehr erinnern, die er als Feldherr auf seinen Kriegszügen an mancher Stadtbevölkerung beging. Das könnte ja den Glanz der edlen Rüstung trüben, die sie ihm angedichtet haben.« Franz Leopold machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nicht so wichtig. Ein großer Feldherr war er allemal.«
Sie näherten sich der Stadt. Die vereinzelten zwischen Gärten verteilten niedrigen Häuser wurden von mehrstöckigen Stadtpalais und Zinshäusern abgelöst. Die Kutsche überquerte einen lang gestreckten Platz, auf dem ein Brunnen eine unvorstellbar hohe Wasserfontäne in den Himmel spie, die alle umstehenden Gebäude um Längen überragte.
»Was für ein außergewöhnlicher Brunnen!«, bemerkte Ivy. »Wien scheint gutes Wasser im Überfluss zu haben.«
Franz Leopold schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Die Wasserversorgung war immer ein großes Problem. Vor allem wenn die Wien und die Donau durch Hochwasser verschmutzt wurden, brach immer wieder die Cholera aus. Aber seit einigen Jahren gibt es in Wien die Erste Kaiser-Franz-Joseph-Hochquellleitung, ein Wunder der modernen Technik: Sie sammelt das Wasser aus Quellen in den Bergen, die mehr als einhundert Kilometer entfernt sind. Mit dem Brunnen wollen sich die Erbauer wohl täglich an ihre großartige Leistung erinnern, die den Wienern endlich gutes Trinkwasser beschert.«
Sie fuhren weiter. Trotz der nächtlichen Stunde herrschte auf den Straßen noch reger Verkehr. Allerdings waren es eher schwer beladene Gefährte als Fiaker oder vornehme Privatkutschen, die sie in flottem Tempo überholten. Einige der Fuhrknechte schrien ihnen Verwünschungen hinterher und hoben die Fäuste, doch das schien Franz Leopolds Schatten Matthias, der auf dem Kutschbock saß, nicht zu stören.
»Über die großen Plätze darf man nur noch im Schritt fahren und in den restlichen Straßen der Stadt höchstens im kleinen Trab. Man kann die Unfälle kaum mehr zählen, die durch unvorsichtige Fiaker verursacht werden.« Franz Leopold grinste breit. »Aber die Männer der Sicherheitswache, die nachts auf Patrouille gehen, würden es nie wagen, eine Kutsche mit einem fürstlichen Wappen anzuhalten, um dem Kutscher ein Strafgeld aufzubrummen. So etwas trifft nur die kleinen Leute.«
»Das ist ungerecht!«, protestierte Alisa.
Franz Leopolds Augen glitzerten. »Ja, aber praktisch.«
Am Ende des Platzes bog Matthias in halsbrecherischem Tempo in eine erstaunlich breite Allee ein, die von prächtigen jungen Rosskastanien gesäumt wurde. Nur an einigen Stellen standen Platanen, denen das Wiener Klima aber nicht so recht zu bekommen schien.
»Matthias, kannst du etwas langsamer fahren, damit wir uns in Ruhe umsehen können?«, rief Ivy, die von dem Anblick der Prachtstraße ebenso beeindruckt schien wie Alisa.
Der Servient überholte mit einem eleganten Schlenker noch einen auf seinen Schienen dahingleitenden Pferdetramwagen, ehe er die Rösser in den Schritt zurückfallen ließ. Die Besucher sahen sich staunend um.
»Die Straße muss mehr als sechzig Schritt breit sein«, vermutete Alisa.
Franz Leopold nickte. »Ja, dort drüben verläuft die Reitbahn, das da ist der Fußweg und hier ist die Straße für die Pferdetram und die Kutschen. Einfache Karren müssen die Laststraße benutzen, die hinter diesen Häusern weiter außen um Wien herum verläuft.«
»Also eine Straße, die ausschließlich der Pracht und der Eitelkeit der Wiener Gesellschaft huldigt«, bemerkte Luciano spöttisch, der die Fahrt bis dahin geschwiegen hatte.
Franz Leopold wiegte den Kopf hin und her. »Wenn du damit meinst, dass sich der neureiche Geldadel hier ein Denkmal mit seinen Palais setzt, so muss ich dir recht geben. Kaum einer, der von altem Geblüt ist und zu den hoffähigen Familien gehört, hat sich hier an der Ringstraße ein Palais erbauen lassen. Die alten Barockpaläste stehen in der Herrengasse, die Sommersitze mit ihren Parkanlagen finden sich draußen vor dem Linienwall.
Die Kutsche passierte nun zur Rechten einen schönen Park, während sich links weiter ein vierstöckiges Palais mit Mezzanin am anderen reihte.
»Nach deinen abfälligen Worten über den neuen Geldadel zu schließen, wohnen die Dracas sicher nicht an der Ringstraße«, vermutete Alisa. »Ich würde sagen in der altehrwürdigen Herrengasse bei ihresgleichen?«
Franz Leopold ließ sich nicht provozieren. »Ersteres ja, Letzteres nein. Wir residieren standesgemäß im Palais Coburg auf der Braunbastei mit auf ewig garantiert freiem Blick über den Stadtpark.«
Gerade als der Dracas die Worte aussprach, endete die Häuserreihe zu ihrer Linken mit einem Palais, dessen Baustil an einen römisch-barocken Palast erinnerte. Ein terrassenartig abgestuftes Gartengelände mit niederen Pavillons unterbrach die sonst geschlossene Häuserzeile, um den Blick auf das dahinter aufragende Gebäude freizugeben.
»Ja, die Dracas residieren prächtig«, musste Luciano widerstrebend zugeben, als sein Blick über die vorgesetzten Säulenreihen glitt, die den Mittelbau beherrschten. Die zurückgesetzten Seitenflügel führten das Motiv als Halbsäulen harmonisch weiter. Das Dach wurde von Steinbalustraden bekränzt und von zahlreichen Skulpturen geschmückt. In respektvollem Abstand umkreisten ein halbes Dutzend Raben das Palais und seinen umzäunten Garten.
Selbstbewusst schien sich das Anwesen im hellen Mondlicht zu präsentieren. Die Grundfesten des Palasts erhoben sich etliche Meter über der Ringstraße, ja selbst über die Dächer der benachbarten Gartenbaugesellschaft. Fast wie eine mittelalterliche Feste auf ihrem Burghügel.
Franz Leopold nickte zustimmend, als Alisa den Gedanken aussprach. »Das ist nicht so falsch gedacht«, bestätigte er, als die Kutsche die ansteigende Straße hinauf in die Seilerstätte zur städtischen Fassade des Palasts rollte. »Wie ich vorhin sagte, ist das Palais auf der Braunbastei erbaut worden, das heißt auf der alten Stadtbefestigung. Im Mittelalter bestand diese nur aus Stadtmauer, Türmen und einem vorgelagerten Graben. Doch im sechzehnten Jahrhundert wurde sie zu einer sternförmigen Festung ausgebaut, mit vorstoßenden Basteien und den Mauerabschnitten dazwischen, die man Kurtine nennt. Davor nahm eine weite unbebaute Fläche, das Glacis, dem anrückenden Feind jede Deckung. Auf dieser Fläche wurde nach Abriss der Stadtbefestigung die Ringstraße errichtet. Von der alten Festung ist nur unter unserem Palais noch ein kleines Stück übrig geblieben. Ich kann es euch gern zeigen, es ist ein Teil der Kasematten, der ehemaligen Verbindungsgänge und Waffenkammern. Sie sind nicht nur als Pferdeställe zu gebrauchen.« Er grinste, dass seine spitzen Zähne im Lampenschein blitzten.
Matthias lenkte die Pferde in eine Toreinfahrt, die sich kurz darauf in ein Vestibül öffnete.
Luciano sah sich verwundert um. »Hier drin zu wenden, schafft nicht einmal Matthias.«
»Muss er auch nicht«, entgegnete Franz Leopold. »Dort führt der Kutschenumgang unter dem Gebäude weiter in einer Biegung bis zur Seilerstätte zurück.«
»Sodass sich die Dame des Hauses keinesfalls nasse Schuhe beim Aussteigen aus der Kutsche holen muss«, fügte Alisa mit affektierter Stimme an, die ein wenig an Franz Leopolds Cousinen erinnerte.
»Genau«, gab er zurück. »Es freut mich, dass selbst eine Vamalia die Notwendigkeit dieser Konstruktion erkennt.«
Obwohl die Art ihrer Wortgefechte Luciano an frühere Streitereien erinnerte, fand er, dass beider Tonfall weicher geworden war. Sie lächelten einander sogar an.
Ein Servient öffnete mit einer Verbeugung den Wagenschlag und reichte den Vampirinnen die Hand zum Aussteigen, ohne dass Luciano die Chance erhielt, Ivy seine Hilfe anzubieten.
»Meint er, wir würden ohne seine Hilfe über unsere eigenen Röcke fallen?«, murmelte Alisa ein wenig verärgert.
Ivy schüttelte den Kopf. »Es ist einfach nur eine Geste der Höflichkeit und der Ehrerbietung.«
»Der Dracas anderen Clans gegenüber? Das kann ich mir kaum vorstellen«, widersprach Alisa. »Du wirst doch nicht glauben, sie hätten sich geändert?«
Ivy lächelte ein wenig gezwungen. »Man darf doch wenigstens hoffen.«
»Pah, nicht auf Dinge, die unmöglich sind!«, gab Alisa zurück und warf dem Servient einen misstrauischen Blick zu. Der jedoch schien durch sie hindurch zu sehen. Hölzern verbeugte er sich.
»Darf ich die Herrschaften hier entlang die Treppe hinaufbitten? Sie werden in der Galerie erwartet.«
Die vier Freunde stiegen die Treppe zu einem von Säulenpaaren getragenen Vorplatz hinauf, wo die eigentliche Prunkstiege in die Beletage begann. Im ersten Stock mussten sie noch eine Vorhalle durchschreiten, ehe sich die Flügeltüren in die Galerie öffneten. Geblendet vom verschwenderischen Glanz der Kerzen in Kristalllüstern traten die Erben ein, um sich von den Oberhäuptern der Dracas zu einem weiteren Akademiejahr begrüßen zu lassen.
*
Die Raben umkreisten das Palais Coburg, ohne der um das Dach verlaufenden Steinbalustrade oder auch nur dem schmiedeeisernen Stafettenzaun, der um den Garten und die Terrasse verlief, zu nahe zu kommen. Es war, als hielte ein unsichtbarer Bann sie auf Abstand. Und dennoch schienen sie jede Bewegung rund um das Haus genau zu beobachten. Zwei von ihnen ließen sich auf dem First eines Pavillons nieder, der zur Anlage der Gartenbaugesellschaft gehörte, und beäugten die Gestalten, die sich vor dem Palais müßig auf der Terrasse ergingen. Zwei andere nahmen auf den Gaslaternen vor dem Haus gegenüber in der Seilerstätte Platz, während die anderen weiter ihre Runden um das Anwesen drehten. Sie konnten sehen, wie die Kutschen mit den Erben durch die Einfahrt verschwanden und kurz darauf zwei der Fahrzeuge aus einem anderen Tor auf die Straße zurückkehrten.
Einer der Raben, vermutlich der größte unter ihnen, dessen eines Auge weißlich trüb schimmerte, stieß unvermittelt ein heiseres Krächzen aus, worauf die anderen ihre Beobachtungsposten verließen und sich dem Rest des Schwarms anschlossen. Sie drehten noch eine Runde, ehe sie nach Nordwesten davonflogen.
Die Raben hielten auf den hoch aufragenden Turm des Doms zu und umkreisten ihn einmal, ehe sie ihren Weg fortsetzten. Kurz dahinter erhob sich die barocke Peterskirche mit ihrer weitgespannten Kuppel. Die Raben hatten sie noch nicht erreicht, als plötzlich Fledermäuse aus einer Öffnung in der Fassade des Ostturms zu quellen begannen. Erst waren es nur ein Dutzend, dann wurden es immer mehr, bis eine wogende Wolke die Raben einzuhüllen schien. Fledermäuse – selbst die großen Abendsegler mit ihrer Spannweite von mehr als einer Elle – zählten nicht gerade zu den Tieren, vor denen sich ein Rabe in Acht nehmen müsste. Eher im Gegenteil! Doch dieser Schwarm von Tieren, die sie immer dichter umhüllten und pfeilschnell mit ihrem schrillen Pfeifen von allen Seiten auf sie herabschossen, irritierte die Raben. Sie ließen sich von ihrem Weg abdrängen und ergriffen die Flucht. Erst über dem Michaelerplatz vor der Hofburg ließen die Fledermäuse von ihnen ab, zerstreuten sich und kehrten zur Peterskirche zurück.
Die Raben flogen einige Runden über den Dächern der Hofburg und spähten misstrauisch nach allen Richtungen, doch die Fledermäuse kehrten nicht wieder. Der Einäugige rief sie schließlich zusammen, um ihren Weg zum Währinger Friedhof fortzusetzen.
Er war einer der Friedhöfe, die Kaiser Joseph II. Ende des achtzehnten Jahrhunderts außerhalb des Linienwalls hatte anlegen lassen, nachdem auf seinen Befehl hin aufgrund der schlechten Trinkwasserqualität die Kirchhöfe und Grüfte der Stadt geschlossen worden waren. Die meisten hier Begrabenen waren Patienten des allgemeinen Spitals im Alsergrund, das ebenfalls von Kaiser Joseph II. gegründet worden war und zu seiner Zeit als eines der besten und modernsten galt. Doch auch Ludwig van Beethoven ruhte auf dem mehrfach erweiterten Friedhof, Karoline Pichler und die Eltern Franz Schuberts.
Inzwischen jedoch hatte der Währinger Friedhof seine Tore längst geschlossen. Die Toten dämmerten still dem Zerfall entgegen. Kein Sterblicher störte ihre Ruhe, keine Gräber wurden mehr ausgehoben und kein Totenkondukt zog mit Wagen und Fackelträgern durch die inzwischen verrosteten Tore, seit Kaiser Franz Joseph im Süden der Stadt den riesigen Zentralfriedhof hatte anlegen lassen. Somit war hier ein geeigneter Rückzugsort, wo man keine Überraschungen fürchten musste.
Die Raben landeten auf einer düsteren Eibe inmitten des Friedhofs. Sie brauchten nicht lange zu warten, da bewegte sich die schwere Steintür einer Familiengruft mit einem schabenden Geräusch und eine Frau erschien in der Öffnung. Sie war groß und hager. Ihr langes, dunkles Haar rahmte das unnatürlich weiße Gesicht ein, das an Hals und Schläfe Narben trug. Die schwarzen Augen wurden von fein gebogenen Brauen überwölbt. Sie streckte die Hand aus. Der Einäugige erhob sich von seinem Ast, segelte herab und landete auf ihrem Arm.
»Was habt Ihr zu berichten?«, fragte die Frau mit rauer Stimme. Der Rabe öffnete den Schnabel, doch es drang kein Laut aus seiner Kehle. Dennoch nickte die Frau mit grimmiger Miene.
»Gut, dann wird es Zeit zu handeln.« Sie hob die Stimme. »Kommt alle hervor! Die Erben sind nun vollzählig im Haus der Dracas versammelt.«
Der Rabe erhob sich wieder in die Lüfte und kehrte zu seinesgleichen auf den Baum zurück, während überall auf dem Friedhof Stein auf Stein scharrte, sich Grüfte öffneten und Steinplatten über Gräbern zur Seite geschoben wurden.

DAS PALAIS COBURG

»Willst du mich nicht begleiten?« Bram Stoker schenkte seinem Freund noch etwas dunkelroten Portwein nach, der einen erdigen Geruch verströmte. Dem jungen Mädchen an seiner Seite reichte er eine frische Limonade.
Oscar Wilde trank einen Schluck und stellte dann das Glas mit einem breiten Lächeln ab. »Wohin? Nach Wien? Den verstaubten Habsburgkaiser und seine verrückte Kaiserin besuchen? Wobei die schöne Sisi zu dieser Jahreszeit vermutlich eher irgendwo hier in England halsbrecherische Jagden reitet, als an der Seite ihres Gatten das Reich zu regieren, oder zumindest das, was davon noch übrig ist. Der Kaiser zeigt eine seltene Gabe, Ländereien zu verlieren.«
»Du bist ein wenig ungerecht«, widersprach Bram Stoker. »Nur weil er sich in Italien überschätzt hat.«
»Nur? Es war eine maßlose Selbstüberschätzung, das oberste Kommando zu übernehmen!«, widersprach Oscar Wilde.
Bram nickte. »Ja, dass er kein General Radetzky ist, musste Kaiser Franz Joseph schmerzlich erfahren.«
»Er? Seine Armee! Sie wurde geradezu …«
Das Mädchen nippte an seiner Limonade und seufzte gelangweilt auf, was die beiden Männer davon abhielt, weiter über Politik zu sprechen.
»Und was ist mit dir, Latona? Möchtest du mich auf meiner Reise begleiten?«
Bram betrachtete das junge Mädchen an seiner Seite und versuchte, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen. Obwohl er es ihr den Sommer über an nichts hatte fehlen lassen, waren ihre Wangen eingefallen und unter ihrem eng anliegenden Mieder zeichneten sich die Rippenbögen ab. Sie war sicher schon immer schlank gewesen, doch ihre jetzige Erscheinung schien ihm nicht gesund. Und so sehr die Gesellschaft einen hellen Teint schätzte, ihre Blässe ließ sie fast geisterhaft erscheinen, was das dunkle Haar, das sie von ihrer italienischen Mutter geerbt hatte, noch betonte.
Vampirhaft, korrigierte Bram seine Worte und wieder spürte er die Sorge um sie wie einen Stich.
»Was soll ich in Wien?«, fragte das Mädchen ein wenig bockig.
»Mich ins Theater oder in die Oper begleiten? Vielleicht gar auf einen Ball, bei dem der berühmte Johann Strauss zum Walzer aufspielt?«, schlug Bram freundlich vor, ihren ablehnenden Tonfall ignorierend.
Latona wirkte nicht interessiert. War das für ein Mädchen ihres Alters normal? Vielleicht war sie kränker, als er dachte. Befallen von einer Seuche, die man unter Menschen sonst nicht kannte. Der Vampir hatte sie gebissen und ihr viel Blut ausgesaugt. War ihre Schwäche nur eine Folge des Blutverlustes oder ging etwas Unheimliches in ihr vor, das er nicht zu benennen wusste? Bram hätte sie längst auch gegen ihren Willen zu einem Arzt geschleppt, wenn er auch nur im entferntesten gehofft hätte, dort Hilfe oder zumindest eine Antwort zu finden.
War es möglich, dass sie sich nach und nach zu einem Wesen der Nacht wandelte, bis sie dem Vampir glich, der sie gebissen hatte?
»Ich war bereits in Paris in der Oper«, bemerkte Latona abweisend.
Oscar lachte hell auf. »Dass du das vergessen konntest, lieber Freund! Sie war schon einmal in der Oper und das sollte doch für die kurze Zeitspanne eines Menschenlebens genügen!«
Bram fiel in das Gelächter ein, während Latona schmollend die Lippen aufwarf. Die Männer gingen nicht darauf ein. Stattdessen wollte Oscar von seinem Freund wissen, was ihn dazu brächte, nach Wien zu reisen.
»Und nun sage nicht, die Oper und die Strauss-Walzer, denn das nehme ich dir nicht ab.
Bram lächelte ein wenig verlegen. »Nein, keines von beiden.«
Oscar verdrehte die Augen und warf Latona einen verschwörerischen Blick zu. »Was wollen wir wetten, dass es sich wieder um finstere Wesen der Schattenwelt handelt?«
Latonas trüber Blick schärfte sich unvermittelt und sie betrachtete die beiden Männer aufmerksam, während Oscar scherzhaft weitersprach.
»Irgendwelche Habsburger Blutsauger? Und ich will betonen, dass ich in diesem Fall nicht von den Bankiers der Ringstraße spreche. Gestehe, mein Freund! Ich sehe es in deiner Miene, dass ich dich bei der Planung eines weiteren haarsträubenden Unternehmens ertappt habe. Als ob die Sache mit dem Phantom der Oper nicht schon genug gewesen wäre!«
Bram wand sich, ehe er widerstrebend zugab: »Meine Reise nach Wien hat tatsächlich etwas mit Vampiren zu tun. Ich will mich mit einem Mann treffen, der zu Recht als Experte auf diesem Gebiet gilt.«
»Ein Vampirjäger?«, rief Latona, die nun hellwach wirkte. »Doch nicht etwa van Helsing?«
»Van Helsing? Nein, ist der denn in Wien? Das wäre mir neu.«
Latona schüttelte den Kopf. »Nein, ich dachte nur. Wer ist es dann?«
Doch mit ihrer unbedachten Bemerkung schien sie Bram auf eine Idee gebracht zu haben. »Van Helsing«, murmelte er und nickte dann. »Stimmt. Er wäre dafür der rechte Mann. Dass ich nicht früher daraufgekommen bin.«
»Worauf?«, drängte Latona, aber Bram ging nicht darauf ein, stattdessen beantwortete er die vorherige Frage.
»Ich habe mit einem Mann namens Ármin Vámbéry korrespondiert. Er ist Professor in Budapest, stammt aus Ungarn und hat dort – vor allem in den östlichen Provinzen in Siebenbürgen, aber auch in Serbien – die Phänomene des Vampirismus studiert. Nein, ich denke er ist kein Vampirjäger, der eine Klinge in ihre Herzen bohrt und ihnen den Kopf abschlägt, um deine Frage zu beantworten. Es ist ein Mann der Wissenschaft, von dem ich mir Aufschluss über die vielen Dinge zu verschaffen hoffe, die mir Kopfzerbrechen bereiten.«
»Na dann viel Erfolg, mein Freund«, wünschte Oscar und prostete ihm zu. »Ich kann leider nicht die Hoffnung hegen, ein schrumpeliger Vampirforscher aus Ungarn könnte meine Probleme lösen, die mir Kopfzerbrechen bereiten. Daher muss ich dich dieses Mal alleine ziehen lassen. Ich werde mich stattdessen einem Roman widmen. Vielleicht sollte ich über etwas recht Düsteres und Schauriges schreiben. Du siehst, mein Freund, dein Vampirfanatismus ist ansteckend wie Pest und Cholera.«
Bram schmunzelte. »Was schwebt dir vor? Willst du mich dann nicht doch zu Recherchezwecken nach Wien begleiten?«
Oscar hob abwehrend die Hände. »Nein, nein, keine Vampire. Keine Blutsauger, das verdirbt mir den Appetit. Wobei ich sagen muss, das Zeitlose an ihnen fasziniert mich. Wie wäre es, wenn ein Mann nicht alterte und immer jung und schön bliebe?«
»Einfach so?«, mischte sich Latona ein, die der Einfall anscheinend wider Willen faszinierte.
»Nein, nichts bekommt man einfach so. Solch Handel ist meist ein Teufelspakt, der am Ende die Seele kostet.«
»Vielleicht wäre es das wert, wenn man immer jung und schön bleiben könnte«, überlegte Latona.
Bram schüttelte den Kopf. »Es wäre nur eine Fassade, die irgendwann künstlich und leer wäre, sinnentleert, ohne die Erfahrung, die uns reifen lässt.«
Oscar sah interessiert von einem zum anderen. »Ah, die Geschichte wächst in mir heran. Eine Fassade sagst du? Ja, das ist gut. Ein Bildnis muss es sein, ein Porträt, das statt des Menschen zu altern beginnt. Mit einem düsteren Fluch …« Oscar sprang so unvermittelt auf, dass der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, krachend umkippte. Latona zuckte zusammen, Oscar dagegen schien es nicht einmal bemerkt zu haben.
»Entschuldigt mich, entschuldigt mich. Ich muss das niederschreiben, ehe es wieder verfliegt.«
Mit abwesender Miene eilte er davon, während Bram den Stuhl aufhob und Latona ihm nachstarrte.
Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber. Latona leerte ihre Limonade, Bram das Glas Portwein.
»Ich werde Sie nach Wien begleiten«, sagte Latona unvermittelt und fügte dann grummelnd hinzu: »Sie werden mich eh nicht alleine hier in London zurücklassen.«
Bram verbarg sein Lächeln, so gut es ging. »Nein, das könnte ich nicht verantworten, nachdem ich durch den Tod deines Onkels unverhofft zu deinem Beschützer erkoren wurde.«
»Es hat Sie niemand darum gebeten«, sagte Latona spitz.
»Nein, aber es ist ein Gebot des Anstands. Wie hätte ich dich schutzlos und alleine in Paris zurücklassen können?«
»Ich war weder allein noch ohne Schutz!«
Bram seufzte. »Ja, du warst in Begleitung eines Vampirs, der im Begriff war, dir das Leben zu nehmen.«
»Er hätte mich zu seinesgleichen gemacht und ich könnte nun für immer mit ihm zusammen sein«, widersprach das Mädchen heftig.
»Die Liebe kann Segen und Fluch sein. Und sie macht uns vermutlich blind. Ich verstehe dein Leiden, doch ich kann nicht zulassen, dass du dich diesem Vampir in die Arme wirfst. Du siehst nur seine betörend blauen Augen und seine schöne Gestalt, aber ich kann den Tod sehen, den er dir bringt.«
»Und deshalb nehmen Sie sich das Recht heraus, mich daran zu hindern, nach Malcolm zu suchen.«
Ihre Stimme klang bitter und Bram fragte sich, wie lange ihm das noch gelingen konnte. Wenn sie nicht zur Vernunft kam, dann war er machtlos. Irgendwann würde sie ihm entwischen und sich auf die Suche machen. Vielleicht hatte nur ihre noch immer andauernde körperliche Schwäche sie bisher daran gehindert.
Plötzlich verdrängte ein verstehendes Lächeln ihre Bitterkeit. »Ja, die Liebe macht uns blind. Träumen Sie nicht oft gar bei Tage von einem zarten Mädchen mit silbernem Haar? Und sagen Sie nun nicht, Sie seien ein verheirateter Mann und über solche Träume erhaben. Nein, seien Sie ehrlich! Ich kenne diesen Blick, der einen Schleier herabzuziehen scheint. Also beleidigen Sie mich nicht mit einer Lüge!«
Bram sagte nichts. Er wollte ihr nicht gestehen, dass die irische Vampirin Ivy-Máire Nacht für Nacht seine Träume erfüllte und dass die Sehnsucht, sie wiederzusehen, ihm manches Mal den klaren Verstand zu rauben drohte. War er deshalb so besessen davon, noch mehr über Vampire zu erfahren? Vielleicht. Jedenfalls stand sein Vorsatz fest. Er würde noch in dieser Woche nach Wien fahren und sich mit Ármin Vámbéry treffen.
*
Die Erben versammelten sich in der Galerie, einem beeindruckenden Raum mit vom Boden bis zur Stuckdecke reichenden Rundbogenfenstern. Dort hing eine Reihe lebensgroßer Porträts von Mitgliedern des Clans der Dracas. Luciano erkannte den Baron und seine Schwester Antonia. Die anderen Bilder zeigten vielleicht Clanführer früherer Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, wenn man von der Kleidung der Porträtierten auf ihre Lebenszeit schließen konnte. Ob sich unter den Dracas begabte Künstler befanden? Oder hatten sie die bevorzugten Maler gewandelt und zu Servienten gemacht, sodass sie über Jahrzehnte zu ihren Diensten stehen konnten? Dass die Vampire Menschen Modell gestanden haben konnten, erschien Luciano nicht sehr wahrscheinlich.
Wie erwartet, fiel die Begrüßung nicht gerade herzlich aus. Außer Baron Maximilian und Baronesse Antonia hatte Luciano bisher noch keinen der anderen Vampire gesehen, erkannte sie aber sofort als Mitglieder der reinen Blutlinie der Dracas. Schon alleine durch ihren hochmütigen Gesichtsausdruck, den sie ausnahmslos zur Schau trugen. Drei der Anwesenden schienen bereits zu den Altehrwürdigen zu gehören. Im Gegensatz zu den anderen war ihr Haar schlohweiß und ihre Haut spannte sich pergamentartig über ihre Schädelknochen. Doch selbst bei ihnen konnte man die legendäre Schönheit, die allen Dracas eigen zu sein schien, noch erahnen. Die anderen Clanmitglieder waren mittleren Alters, von hohem, schlankem Wuchs mit den edlen Zügen und dem dunklen Haar, das Luciano von Franz Leopold, seinem Vetter und seinen Cousinen her kannte. Dennoch sah er auch Unterschiede und musste zugeben, dass Franz Leopold der am besten aussehende aller Vampire hier in der Galerie war. Die schönsten Vampirinnen waren ohne Zweifel Baronesse Antonia und Anna Christina. Franz Leopolds Cousine hatte sich zu Lucianos Erstaunen nicht zu den Erben gesellt, sondern stand abseits vor einem der hohen Fenster. Auch Alisa fiel dies auf. Sie beugte sich zu Luciano vor.
»Ich glaube, unsere allseits geliebte Anna Christina will uns demonstrieren, dass sie nicht mehr zu uns gehört und nicht vorhat, weiter an der Akademie teilzunehmen.«
»Verständlich. Vom Alter her kann man sie bereits zu den Erwachsenen zählen und zu lernen gibt es für sie hier im eigenen Haus ja auch nichts«, gab Luciano genauso leise zurück. »Vielleicht hat sie über den Sommer an ihrem Ritual teilgenommen und darf nun alleine auf die Jagd gehen.« Er konnte selbst den Neid in seiner Stimme hören. Alisa zuckte nur mit den Schultern. Ihr schien der Gedanke nicht so verlockend. Da fiel ihm auf, dass noch ein anderer junger Vampir in ihrer Gruppe fehlte.
»Malcolm ist ja gar nicht mitgekommen.«
Alisa nickte gequält. »Das ist mir nicht entgangen.« Die Enttäuschung stand ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass Luciano versucht war, nach ihrer Hand zu greifen, um sie zu trösten. Er hatte die seine schon erhoben, als er sie im letzten Moment wieder zurückzog. Nein, das war keine gute Idee. Sicher wäre es Alisa unangenehm zu wissen, was er in ihrer Miene gelesen hatte.
Wie rücksichtsvoll!
Luciano funkelte Franz Leopold wütend an. »Kann man denn keinen Gedanken mehr fassen, ohne dass du dich einmischst?«
Der Dracas hob lässig die Schultern. »Du wirst dich daran gewöhnen müssen, dass hier im Palais Coburg nur selten etwas geheim bleibt. Aber tröste dich, so interessant sind deine Gedanken nicht, dass es sich lohnte, länger bei ihnen zu verweilen.«
»Nun, wir werden ja sehen, wie es dir gefällt, wenn ich in deinem Gedächtnis herumwühle«, gab Luciano zornig zurück.
In seinem Kopf hallte ein spöttisches Kichern. Du glaubst doch nicht etwa, deine geistigen Fähigkeiten würden ausreichen, diese hohe Kunst der Magie zu erlernen?
Luciano wandte sich ab. Fast hätte er vergessen, was für ein Ekel Franz Leopold war. Heute übertraf er sich wieder einmal selbst. Da huschte ein Gedanke durch seinen Sinn, der ihn erstaunte. War der