MATHIAS RICHLING

Deutschland to go

Demokratie zum Schnellverzehr

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-0312-3

© Ullstein Buchverlage, Berlin 2012

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Deutschland to go® ist eine eingetragene Marke von Mathias Richling.

Satz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Inhalt

Prêt-à-Demokratie?

Formsache Demokratie

Demokratie als Dresscode

Wie viele Meinungen haben Sie?

Die demoskopierte Meinung

Talkokratie Deutschland

Ein Fall von Westerwelle (auf Englisch: Westerwelle)

Auslegungssache Wahrheit

Die wahre Lüge

Steuern sind eine Wahrheit für sich

Zauberkunststück Etat

Gleichheit als Halluzination

Reichtum der Armut

Planungsfehler Alter

Sterbehilfe als Lebenslösung

Systemische Gesundheit

Die Randgruppe der dicken Mehrheit

Raucher zu Asche

Muss der Sozialstaat sozial sein?

Kapitale Hoffnungen

Die SPD als breite Mitte

Links – geschnitten oder am Stück?

Die rechte Geschichte der Linken

Grün, Rot-Grün, Grün-Rot, Grün-Grün? Passe!

Grün trägt sich zu allem

Kaperei in schwerer See

Geld als Feind des Kapitalismus

Griechenland – Wiege und Bahre der Demokratie

Staat machen mit Deutschland

Darsteller der Demokratie

Die »Einheit« war verschreibungspflichtig

Kraut und Rüben, Kohl und drüben

Politik kaufen oder leasen?

Vorteilsannahme nach dem Amt

Friedliche Nutzung von Atomkatastrophen

Klimahandel

Wir führen Frieden in Afghanistan

Schuld aus Prävention

Der durchschaubare Deutsche

Der Deutsche ist immer der Täter

Der gesicherte Deutsche

Der Bürger als Kollateralschaden

Informationsabfluss

Im Netz will jeder alles von sich wissen

Wie viel Gewalt braucht der Staat?

Mut zur Katastrophe

Für einen Bahnhof wird die Demokratie umgegraben

Alle Gewaltlosigkeit geht vom Volk aus

Fall-Beispiel Wulff

Der Deutsche bringt alles fertig

Prêt-à-Demokratie?

»Deutschland to go« …

Was will uns der Dichter denn damit schon wieder sagen?

Deutschland zum Mitnehmen?

Und wenn ja, wohin? Nach Hause?

Ist gemeint, dass unsere Demokratie nur noch taugt für den schnellen Verzehr in den eigenen vier Wänden? Meistens nimmt man zu viel mit im Warenkorb politischer Wünsche, und dann wird der überwiegende Teil – wie in der modernen Konsumgesellschaft längst auch bei Lebensmitteln üblich – nach ein paar Tagen weggeschmissen.

Meint »Deutschland to go« etwa, wir verbrauchen Demokratie nur mehr zur kurzen Erfrischung? Oder im Falle von Mattheit oder Unterzuckerung über den Tag wie Kaffee oder Sandwiches?

Wird also Demokratie nur zwischendurch und ganz persönlich konsumiert? Und weil man für mehr auch gar keine Zeit hat?

Wenn es den eigenen Interessen dient und den eigenen Bedürfnissen und dem eigenen Nutzen zugute kommt?

Wird Demokratie demnach immer weniger konsumiert in Landtagen, im Bundestag, in den kommunalen Parlamenten? Dafür schon lange viel mehr am Fernseher und im Fernsehen, in Polit-Talkshows, in Gesprächsrunden und in Berichterstattungen?

»Drive in« also und »find out«?

»Find out«, welche demokratischen Angebote am besten zu einem passen. »Find out«, aber finde dich nicht zurecht!

Dabei ist die Frage tatsächlich nicht, ob Politik trivialisiert wird, sondern wie lange sie schon trivialisiert wird.

Bedeutet »Deutschland to go« also nichts anderes, als dass Deutschland als das, was es sein soll, nämlich als Demokratie, dahingeht? Sich verflüchtigt?

Versuchen wir Antworten zu finden, auf die gar keine Fragen mehr gestellt werden.

Zumal der Politiker im Allgemeinen auch Antworten zu geben pflegt, nach denen nicht gefragt wurde. Fragen nach dem Verwirklichungsgehalt seiner Versprechungen etwa beantwortet er gerne mit der Präambel des Programms seiner Partei. Und fragt man ihn, welche Wirkung seine Maßnahmen zur Wirtschaftskrise zeigen, spricht er von seinen persönlichen Erfolgen in den letzten Umfragen.

Eine Antwort einer Kanzlerin der Bundesrepublik lautete sinngemäß:

»Druck ist hier der falsche Weg. Ich will keine schärferen Regeln. Ich will nur Anreize schaffen durch Anregungen und Angebote.«

Man dachte sogleich, dass die Frage dazu nur lauten konnte: »Wie lösen Sie die Krise im Börsenhandel?« Es wäre auch die Frage denkbar gewesen: »Wie verhindern Sie Ausschreitungen wie die der französischen oder englischen Jugend in Deutschland?« Die richtige Frage zu ebendieser Antwort lautete jedoch in diesem Gespräch: »Wie regeln Sie die Ungerechtigkeit der unterschiedlichen Mehrwertsteuer – bei Hundefutter und bei Babynahrung?«

Wir können erkennen, dass sich mit einer einzigen Antwort ganze Berge von Problemen in Deutschland vielsagend und bündig abtragen lassen.

Hoffen wir, dass bei all dem, was Politiker uns vorsetzen, noch Antworten übrig sind, die weniger Fragen offenlassen …

Wenn der Dichter nur wüsste, was wir damit gesagt bekommen wollen!

Formsache Demokratie

Die Bundesrepublik Deutschland sei eine Demokratie!

So gibt es das deutsche Grundgesetz von 1949 vor.

Jedenfalls meint der normale, durchschnittliche und politisch nur maßvoll interessierte Bürger sich an diese Formulierung zu erinnern nach jahrzehntelanger Praxis von Landtagswahlen, Bundestagswahlen, Superwahljahren und einigem Gerede über Bürgernähe.

Allerdings ist die Formulierung »Deutschland ist eine Demokratie« so allgemein und unpräzise wie etwa zu sagen: »Der Deutsche ist ein Mensch.«

Ja, aber was für einer?

Ein europäischer, ein asiatischer?

Spricht er? Kann er zuhören? Kann er mitfühlen?

Der deutsche Mensch kann bei großen Katastrophen eine Menge spenden. Aber kann er mitfühlen? Der deutsche Mensch hat zum Beispiel an einem einzigen Abend nach der Berichterstattung zum Erdbeben von Haiti im Januar 2010 22 Millionen Euro gespendet. Unabhängig von den Abermillionen, die in den Tagen davor und danach gespendet wurden. Insgesamt eine dreistellige Millionensumme. Nur für Haiti. Nachdem die Deutschen ihre Geldbeutel entleert hatten, hat man von Haiti nicht mehr viel hören wollen.

Allerdings auch nichts zu hören bekommen.

Es war erledigt.

Eine neue Katastrophe war wichtiger, die uns nicht so viel Geld gekostet hatte: der Prozess um einen Herrn Kachelmann. Darüber hinaus waren die Spenden für Haiti die Ablasszettel. Wir haben uns teuer erkauft, dass wir nicht weiter entsetzt sein mussten.

So sehr Mensch ist der Deutsche.

Aber die Betroffenen in Haiti sind eben auch Menschen. Also sagt »Mensch« nicht viel aus über den Deutschen. So wie »Demokratie« wenig aussagt über das, was in Deutschland von Staats wegen praktiziert wird.

Demokratie als Dresscode

Auffällig ist jedenfalls, dass ein Kanzler – in diesem Fall war es schon wieder eine Kanzlerin, vermutlich war es dieselbe – zu bedenklichen Zeiten explizit hervorhob, dass wir in einer »repräsentativen Demokratie« leben.

Das ist natürlich nicht gerade nicht richtig.

Die Staatsform der Bundesrepublik Deutschland ist eine mittelbare, eine parlamentarische und dadurch aber eben repräsentative Demokratie, in der das Volk als der eigentliche Herrscher, süffisant im Grundgesetz auch »Souverän« genannt, sich eine Volksvertretung zusammenwählt, deren Mehrheit beispielsweise Gesetze beschließt und eine Regierung bildet, die von der Volksvertretung kontrolliert werden soll. Aber eben ab der Wahl nicht mehr vom Volk, dem großen »Souverän«, kontrolliert werden kann. Wie auch die Gesetze selbst, einmal in der Hand der Volksvertreter, nicht mehr vom Volk beeinflusst werden können.

Denn Volksentscheide sind zwar auch bundesweit vorgesehen, haben aber seit 1949 im Bund nie stattgefunden und auf lokaler respektive Länderebene ausgesprochen selten.

Wenn also der Wähler bei deutschen Wahlen seine Stimme abgibt, ist das nicht nur ein billiger Kalauer.

Es ist auch eine Tatsache mit schwerwiegender Realität:

Er hat fortan zu schweigen.

Zumindest, bis er nach vier, manchmal auch fünf Jahren wieder aufgefordert wird, für eine Gesamtheit von Entscheidungen quasi blanko zugestehend seine Stimme hervorzukramen.

Auf diesen komplexen Umstand der »repräsentativen Demokratie« zu insistieren ist deswegen besonders infam, weil es in einer Zeit geschieht, in der sich der Bürger besinnt auf das, was Demokratie noch alles heißen könnte.

Nicht dass dieser deutsche Bürger plötzlich anarchisch würde. Er beruft sich nur auf das, von dem er meint, dass ihm das Grundgesetz es zugestünde, sogar zusichere:

Volksherrschaft.

Mitsprache.

Wille des gesamten Volkes.

Dagegenhalten dürfen.

Hinterfragen.

Rückgängig machen können.

Das alles sind sicher Dinge, die der Deutsche selbst jahrzehntelang vernachlässigt hat. Sträflich vernachlässigt hat.

Das wird ihm mit einem Mal in dieser Zeit bewusst.

Und plötzlich will er das alles sogar ändern:

In Volksentscheiden über Rauchergesetze in Bayern. Oder über Schulreformen in Hamburg. Und mit Demonstrationen zu Stuttgart 21. Und letztlich sogar in Wahlen, die zu scheinbar radikalen Regierungswechseln führen wie im März 2011 in Baden-Württemberg, als ein grüner Regierungschef eine CDU ablöste.

Eine CDU übrigens, die durch ihre vererbten Ansprüche an Macht nach 60 Jahren ähnlich entsetzt und entwurzelt war und befürchtete, auf ein Abstellgleis der Demokratie geschoben zu werden, wie seinerzeit Kaiser Wilhelm II. bei seiner erzwungenen Abdankung 1918.

Immerhin mussten Herr Mappus als vorerst letzter schwäbischer konservativer Regent und sein Verein nicht in ein Exil ins innerdeutsche Ausland wie Bayern oder Sachsen.

In dieser Situation also betont eine Frau Merkel diese »repräsentative Demokratie«!

Mit anderen Worten:

Sie misst dem deutschen Wähler die Rolle der Königin Elisabeth II. von England zu! Diese Queen ist repräsentativ. Sie kann nur und soll nur das vorlesen, was ihr der englische Premierminister als Regierungserklärung vorlegt.

Sie kann daran nichts ändern.

Sie ist nur die Souffleuse der Monarchie.

Und wenn es nach Frau Merkel ginge, sollen wir also auch Demokratie nachplappern. Der Unterschied ist lediglich – und das könnte natürlich gefährlich für uns sein –: Die Queen ist ein Touristenmagnet. Sie spielt jedes Jahr finanziell sechzigmal so viel ein wie das, was sie ihre Untertanen kostet. Aber welcher japanische oder amerikanische Urlauber würde schon den deutschen Wähler fotografieren und sein Bild auf Tassen und Taschentüchern kaufen?

Der deutsche Wähler hat keinen Mehrwert.

Wir kosten die Regierungen nur Geld.

Geld, das wir ihnen vorher gegeben haben.

Und vor allem kosten wir sie Nerven.

Und oft hat man das Gefühl, wir stehen kurz vor unserer Abschaffung. Eine Drohung, mit der die Königin von Großbritannien sich auch zeit ihres Lebens herumschlagen muss.

Gleichwohl bleibt Frau Merkels ausdrückliche Betonung der Tatsache, dass Deutschlands Demokratie eben »repräsentativ« sei, eine Spitze, die weit mehr betont als diese Tatsache. Denn was heißt in diesem Zusammenhang repräsentativ?

Soll die Demokratie da sein zum Repräsentieren?

Zum Herzeigen?

Der Bundespräsident ist zum Beispiel der höchste Repräsentant in diesem Staat. Er ist da, um hergezeigt zu werden. Er hat Politik nicht zu bestimmen. Er ist ein Grüß-Gott-Onkel. Vielleicht ist unsere Demokratie das in gewisser Weise auch: ein Grüß-Gott-Onkel.

Sagen wir nicht anderen artig »Guten Tag« damit, um sie davon abzuhalten, zu viele Bürgerrechte und Menschenrechte bei uns einzuklagen?

Und es funktioniert sogar auch ganz gut:

Deutschland wurde im letzten Bericht von Amnesty International bei den Menschenrechtsverletzungen zwar angesiedelt im mittleren Bereich. Aber im Grunde wird nicht viel Aufhebens gemacht, wenn Polizisten mal Verdächtige zusammenschlagen oder Schüler in Stuttgart mit Wasserwerfern beschädigen.

Wenn früher im alten Russland der Zar ein abgewirtschaftetes Dorf besichtigen wollte, wurden herrliche Häuserfassaden aufgestellt, die hinten hohl waren. Man tat dies, um den Zar mit der Pracht seines Reiches zu erfreuen.

Und man nannte es »Potemkinsches Dorf«.

Unsere Demokratie ist auf eine Art ein Potemkinsches Dorf.

Das, was der Bürger zu sehen bekommt, ist innen hohl geworden und wird hinter der Fassade mit nichts aufgefüllt.

Und wenn der Bürger sich dagegenlehnt, wie wegen des Bahnhofs in Stuttgart, kippt schnell alles nach hinten weg.

Also heißt »repräsentative Demokratie« nichts anderes, als dass der Wähler für den Bundestag alle vier Jahre mehrere Tausend Politiker angeboten bekommt, aus denen er etwa 650 auswählen soll, die er in den meisten Fällen nicht persönlich kennt. Und die ihn nicht kennen. Und dann entscheiden diese paar Abgeordneten über ein ganzes Volk, von dem sie keine Ahnung haben und das von ihnen keine Ahnung hat. Und sie merken es nicht.

Das nennen wir Demokratie.

Und wenn dann eine Bundeskanzlerin in dieser Weise eine »repräsentative Demokratie« so besonders betont, ist eigentlich nirgends und niemals in kürzerer Form der absolute Wille zur Ignoranz und zur Nichtachtung des Wunsches des Souveräns – des Volkes – geäußert worden.

Da aber per Definition das Volk der Souverän ist – und im Grundgesetz wird er eben nicht als »repräsentierender Souverän« abgekanzelt –, da es also der Herrscher ist, der Machthaber, haben wir es hier zu tun mit einer vollendeten Majestätsbeleidigung.

Und zwar durch jene, die Seine Majestät Volk einbestellt haben zu Geschäftsführern: Kanzler, Minister, Staatssekretäre, Abgeordnete. Sie alle bilden den Hofstaat des Souveräns. Wir wollen nie vergessen: Sie alle sind unsere Angestellten!

Wir haben sie nur zu lange gewähren lassen.

Wenn der Restaurantleiter vom Inhaber nie Anweisungen oder Ermahnungen bekommt, sondern immer nur den Lohnzettel, glaubt er irgendwann, er sei der Chef. Frau Merkel, Herr Steinmeier, Herr Gabriel, Herr Westerwelle – sie glauben wirklich, sie seien die Chefs.

Natürlich liegt das an uns.

Wir haben ihnen das jahrelang durchgehen lassen.

Und wir haben in über 60 Jahren meist nicht genutzt, wozu die deutsche Verfassung uns auffordert:

uns einen Willen zu bilden.

Vor allem auch deswegen, weil man einen Willen nur bilden kann, wenn man zu etwas eine Meinung hat.

Aber haben wir die?

Wie viele Meinungen haben Sie?

Ist es nicht vielmehr so, dass wir uns Beurteilung anlesen? Ist es nicht so, dass einer Zeitungsmeldung oder dem Bericht eines Nachrichtenmagazins Unbedingtheit und Richtigkeit zugestanden werden, selbst wenn uns ein Augenzeuge persönlich den Vorfall ganz anders schildert?

Haben wir nicht immer noch einen ungeheuren Respekt vor dem öffentlich verbreiteten Wort? Vor der vereinfachten und allgemein gemachten, weil allgemein bekannt gemachten Meinung?

Und ist unsere Meinung oft nicht nur eine wiedergekäute?

Trotzdem werden wir pausenlos gefragt nach unserer Meinung, in Tausenden von Umfragen demoskopischer Institute:

»Wen würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre?«

»Wen würden Sie wählen, wenn die Wahl am Dienstag wäre?«

»Wen würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Sonntag wäre?«

»Wen würden Sie wählen, wenn Sie wüssten, wen Sie wählen würden?«

»Wenn Sie nicht wissen, wen Sie wählen würden, würden Sie dann trotzdem wählen?«

Umfragen erfordern wesentlich mehr Wissen und Meinung als jede einzelne Wahl!

Aber nicht, dass es mit der Wahl genug sei.

Nach einer Wahl geht die Meinungsforschung munter weiter:

»Haben Sie gewählt?«

»Oder haben Sie die Möglichkeit gewählt, nicht zu wählen?«

Und da kommt in den letzten Jahren meistens heraus, dass bis zu 50 Prozent der Wahlberechtigten bei Landtags- oder Kommunalwahlen sich tatsächlich nicht entscheiden konnten, zur Wahl zu gehen. Aber gerade diese Nichtwähler haben auch vorher irgendwann eine Umfrage beantwortet.

Das ist natürlich demokratisch unverantwortlich.

Es ist eine gesellschaftliche Gesamtlüge.

Ein Hintergehen der Gemeinschaft.

Man kann doch als Deutscher nicht lauten und lauteren Instituten ins Mikrofon sagen, man würde das und das wählen, und es dann real gar nicht machen. Man kann sich doch nicht am Telefon umfragen lassen, welchen Klarspüler man verwendet, und dann am Wahltag nicht einkaufen, sondern SPD wählen. Oder umgekehrt. Da stimmt dann nichts mehr. Das wäre, wie wenn man im Restaurant ein Hochzeitsessen bestellt für 80 Personen und man kommt dann nur zu zweit, weil einem eine andre Braut zugelaufen ist. Der Koch hat eingekauft. Da lagern 80 Portionen, und 78 Schweinesteaks und Plumpuddings sollen vergammeln?

Und genauso ist es bei einer Wahl:

Der CDU war zum Beispiel einmal per Demoskopie versprochen worden, sie komme bei der Wahl auf 42 Prozent. Es handelte sich um die Bundestagswahl 2005. Das reale Wahlergebnis erbrachte dann aber gerade einmal 35 Prozent. Und jetzt? Wer sollte den Rest jetzt fressen?

Weil der Wähler die CDU endlich gefressen hatte?

Das ist unseriös. Die CDU hatte sich auf 42 Prozent eingestellt. Sie hatten in dieser Partei Vorbereitungen getroffen und alles Mögliche an Ideen eingekauft. Und jetzt drohte alles zu vergammeln! Sie hatten Personal bereitgestellt. Einen Kauder, einen Pofalla, einen Mißfelder. Die würden sich auch nicht ewig halten …

Also, wir sehen:

Meinung ist etwas furchtbar Schwieriges.

Vor allem, wenn man sie abgeben muss.

Wem ginge es nicht so, dass er auf die Frage, wen er denn wählen würde, antwortet, er nähme die SPD. Fragt der Frager aber dann fragend: »Meinen Sie wirklich?«, wird einem sogleich klar: Also, meinen tut man das eigentlich nicht.

Und diese Wechselhaftigkeit zieht sich durch den Alltag eines jedes Einzelnen, der eine Meinung zu haben glaubt:

Ob es das Kostüm ist oder das Parfüm oder das Jägerschnitzel – man wählt etwas aus, und fragt daraufhin irgendjemand: »Meinst du?«, steht man schon bekleckert da und merkt, dass die eigene Meinung mit dem, was man ausgewählt hatte, nicht das Geringste zu tun hat.

Natürlich hängt das damit zusammen, dass die Fragen nicht nur im Zwischenmenschlichen, sondern sogar bei den scheinbar professionellen Umfragen stets falsch gestellt sind:

»Wen würden Sie wählen, wenn Sie am Sonntag wählen würden?« Das ist ein doppelter Konjunktiv.

Es sind Traumwelten, wenn man antwortet, man würde SPD wählen. Man würde sich auch ein Haus kaufen. Man würde auch vielleicht in die Karibik fahren.

Man würde. Aber man tut es nicht!

Weil man für beides gar kein Geld hat.

Und so, wie man kein Geld hat, hat man doch auch keine Meinung. Wer kann sich heute noch Meinung leisten? Meinung ist ein unglaublicher Luxus. Um eine Meinung zu haben, muss man informiert sein. Für Zeitungen aber haben viele wirklich kein Geld mehr. Um eine Meinung zu haben, muss man unter Umständen einen gewissen Bildungsgrad mitbringen. Aber in den Bildungsetats wird überall herumgestrichen. Meinung setzt Studium voraus, anhören, ausloten, hinterfragen, genaues Abwägen. Eine Meinung kann man nur haben zu etwas, wovon man eine Ahnung hat. Nur: Wer hat denn eine Ahnung von den Parteien?

Nehmen wir ein Beispiel aus diesen Parteien:

Sie wollten keinen sofortigen Atomausstieg, sondern erst einen in etwa 30 Jahren. Sie wollten die Bundeswehr im Ausland kämpfen sehen. Sie sagten, Gewalt ist Mittel der Politik, denn man muss auch mal drauflosschlagen können. Sie sagten, Natur darf auch mal verschandelt werden durch ein Heer von Riesenbauwerken, die eng nebeneinander auf romantischen Wiesen und an traumhaften Ufern stehen.

Dann sprechen wir, meinen Sie, doch eindeutig von der CDU. Nein, eben nicht. Wir sprechen von den Grünen, denn die Riesenbauwerke sind Windräder, die die Umwelt nur deswegen vor CO2 bewahren, weil man sie vorher mit ihnen zugebaut hat.

Und so weiter und so weiter.

Also kann man unschwer zugeben:

Meinung ist harte Arbeit.

Die demoskopierte Meinung

Aber wer den ganzen Tag schuftet, will natürlich nicht nach Feierabend auch noch seinen Geist beackern und sein Meinungsfeld dauernd umgraben. Wir gehen nicht mehr in die Tiefe. Wir sind nicht mehr fundiert. Wenn etwas analytisch wird, zappen wir zu geistig leichter verdaulichen Happen. Zumal man allgemein davon gehört hat, dass man abends auch mental nichts zu sich nehmen soll, was schwer im Hirn liegt.

Und so haben wir von allem nur noch:

eine Last-Minute-Meinung.

Damit stimmen wir bei Wahlen schnell ab, und fertig ist unsere Ansichtsterrine. Und eine vorherige Umfrage ist immer nur ein Meinungsquickie: schnell die Hose im Hirn runtergelassen und den Erguss von Ansichten über das Papier ausgebreitet.

Und das heißt, Meinung ist an sich Zufall.

Und hat mit der Realität nicht viel zu tun.

Manchmal stimmen beide Seiten zwar überein – die Meinung und die Realität. Manche Umfragen entsprechen dann auch dem Ergebnis. Weil sie eben stehengeblieben sind. So wie es der bekannte Vergleich von der Uhr sagt, die stehengeblieben ist und so auch zwei Mal am Tag die richtige Zeit anzeigt.

(Das funktioniert natürlich nur bei analogen Uhren!)

Das heißt, dass die meisten eigentlich gar keine Meinung haben. Weil sie ihnen zusätzlich unnötig erschwert wird:

»Wen würden Sie wählen am nächsten Sonntag?«

Die Frage ist ähnlich wie jene, welche Sprache man sprechen würde am nächsten Donnerstag, wenn man am Donnerstag sprechen könnte.

Kirgisisch vielleicht.

Und? Kann man es dann nächste Woche? Na also.

Können wir wirklich wählen, wenn wir mal wählen können?

Können wir sprechen, wenn wir sprechen können?

Und die Sprache der Parteien versteht man noch weniger.

Weil die Parteien sie einem auch nicht beibringen.

Nein, Umfragen sind eine große Irritation.

Weil sie nicht berücksichtigen, dass der Deutsche an sich selten eine fundierte Meinung hat. Aber er äußert sie gerne.

Nehmen wir ein Beispiel:

Jahrelang ging man davon aus, dass ein gewisser Oskar Lafontaine ein Linker aus der SPD sei, der dann zum Linken der sogenannten Linken geworden war. Dann vermeldeten irgendwann die Medien, wie und in welchem Zusammenhang er das Wort »Fremdarbeiter« gebrauchte. Nun ja, meinte man, das sagen andere auch. Was soll schon die geschichtliche Assoziation mit diesem Vokabular? Da hat er eben nicht daran gedacht. Aber dann ergänzte dieser Lafontaine, die Nazis »waren nicht in erster Linie fremdenfeindlich, sondern rassistisch«.

Es war eine Äußerung, die man eher aus dem Munde eines Rechtsradikalen hätte hören sollen. Aber weil man meinte, man habe eine Meinung, und weil man weiter meinte, man lasse sich doch seine Meinung nicht durch subjektive Äußerungen von anderen und noch nicht mal von Äußerungen des Objektes der eigenen Meinung kaputtmachen, meinte man weiter, Lafontaine sei links.

Und das bedeutet, dass Meinung meistens nichts anderes ist als ein Vorurteil. Dazu braucht man keine Bildung, und man kann sie genauso leicht äußern.

Nehmen wir ein anderes Beispiel:

Wenn der Kellner nach dem Essen im Restaurant fragt, ob es geschmeckt hat, und man sagt »ja«, ist er am Ende beleidigt, wenn man nicht mehr kommt, weil das Essen zum Übergeben war. Trotzdem hat es natürlich geschmeckt. Nur halt scheußlich. Es hat scheußlich geschmeckt.

Es war richtig beantwortet, aber es ist falsch gefragt worden.

Aus diesen wenigen Beispielen lässt sich leicht schlussfolgern, dass Meinung eine große Gefahr für die Demokratie ist.

Weil sie kaum einer beherrscht.

Nur weil Sie sich heute beim Arzt eine Salbe verschreiben lassen für Ihre rauen Lippen, können Sie morgen auch keine Tipps geben für eine Blinddarmoperation.

Das meinen aber manche Patienten.

Meinung ist wie Geld – man hat es nicht. Aber man träumt davon, was man damit machen würde, wenn man es hätte. Und wenn man dann mal ein paar Kröten oder ein paar Ansichten zusammenhat, dann gehen die drauf für Alltäglichkeiten und Grundbedürfnisse.

Was nun die Demoskopie an sich angeht –

so ist sie nur die Lehre von der Meinung.

Und zwar von der Meinung, die das Volk vor einer Wahl abgeben soll, wenn es nicht so darauf ankommt. Damit das Volk diese Meinung nicht mehr hat, wenn etwas zu entscheiden ist.

Aber mittlerweile macht das Volk ja, was es will.

Das Volk ändert pausenlos diese seine Meinung.

Und das ist natürlich in der Demoskopie nicht vorgesehen.

Und in der Demokratie auch nicht.

Denken Sie nur an die Bundestagswahl 1998. Da hat das Volk gemeint, es müsse plötzlich mit Rot-Grün links wählen. Also blieb den sogenannten Linken, der von nun an regierenden rot-grünen Koalition, nichts anderes übrig, als selbst konservativ zu werden. Sonst hätte es ja einen politischen Umsturz gegeben in Deutschland. Die Entwicklung eines solchen Umsturzes war jedoch in den Umfragen vorher nicht erkannt worden. Wie so oft musste man zugestehen, dass Demoskopen von Meinung keine Ahnung haben.

Sondern nur davon, wie man eine Meinung abgibt.

Und meistens auch noch eine Meinung, die man gar nicht hat.

Allerdings darf man zugeben, dass diese Demoskopen gleichwohl Dinge herausbekommen, die einen selbst oft überraschen. Wer einmal in einer Umfrage angekreuzt hat, dass er im Urlaub nach Mallorca fährt, dort abends ARD-Programme im Fernsehen anschaut, das Handtuch nur benötigt, um den Liegestuhl zu reservieren, und auch dort gerne Kalbshaxe isst, wundert sich, dass die Demoskopen herausbekommen, dass er Deutscher ist. Das ist wirklich phänomenal.

Das heißt, je mehr Informationen man von sich hergibt, umso leichter werden Tatsachen herausgefunden, die man auch mit einem einzigen Wort hätte preisgeben können.

Aber sagt man ihnen nur ein einziges Wort, verheddern sich Demoskopen völlig in Tausenden von Vermutungen über den Befragten. Sagt man zum Beispiel, man wähle CDU, wird ein komplettes Profil von einem offenbar, und alle wissen sofort:

Der Ausgehorchte färbt sich die Haare, aber nur am Kopf, trinkt nur lauwarmes Bier und hat Teppichboden auch an den Wänden. Und alles nur, weil er CDU wählt.

Das alles zeigt: Man kann nicht einfach wählen, was man will.

Wir sind in Deutschland.

Wir befinden uns in einer rechtsstaatlichen, parlamentarischen Demoskopie.

Man kann hier nicht seine Meinung abgeben und dann gegen die eigene Meinung wählen. Das können Politiker machen, wenn sie gewählt sind. Aber die sind die Einzigen, die nie eine Umfrage beantworten müssen.

Demokratie ist vielleicht die Herrschaft des Volkes.

Aber Demoskopie ist die Herrschaft der Meinung über das Volk. Eine Meinungsdiktatur.

Nun, nicht ganz. Denn man darf ja nach der Meinungsäußerung immer noch wählen. Also haben wir praktisch eine konstitutionelle Diktatur der Meinung. Es ist eine Beteiligung der Meinungsforschung an der Zusammensetzung des Parlaments.

Und wir haben es selbst so weit kommen lassen. Wir haben es so weit kommen lassen, dass das Volk nicht mehr Träger der Staatsgewalt ist und nicht mehr seinen Willen kundtun soll, sondern nur noch seine Meinung.

Deswegen berief sich ein Herr Schröder nach der Bundestagswahl 2005 auch nicht auf das letzte Wahlergebnis, weil er da im Vergleich mit dem neuen Wahlergebnis verloren hatte.

Er berief sich auf die letzten Umfragen vor der Wahl, und im Vergleich zu denen hatte er massenhaft Stimmen dazugewonnen.

Dieser Herr Schröder war überhaupt der erste demoskopisch gewählte Bundeskanzler. Viele Deutsche haben nur gemeint, er habe regiert.

Interessant ist, dass die Frage noch nie umgefragt wurde:

»Wozu braucht man überhaupt Demoskopen?«

Die Antwort kann nur lauten:

Damit man behaupten kann, dass das Wahlergebnis zwar so und so ist. Aber es hätte auch so sein können. Oder eben noch wieder ganz anders. Und das führt dazu, dass es vor der einzelnen Wahl einen regelrechten Meinungsterror gibt:

Habe ich bei Forsa nachgeguckt, wusste ich, dass ich mehrheitlich der Ansicht bin, für die SPD zu sein. Dann hat mir aber Allensbach gesagt, dass meine Meinung zur CDU am selben Tag um ein halbes Prozent abgesackt war. Und erst am Wahltag war ich wohl der Meinung, dass ich nur noch zu 37 Prozent für die SPD war. Aber 34 Prozent von mir waren wohl für die CDU. Und eine Minderheit meiner persönlichen Ansichten konnte sich offenbar mit FDP, Grünen und den Linken anfreunden.

Daran erkennt man die wahre Kunst der Meinungsforscher:

Ich habe zwei Stimmen abgegeben. Aber diese zwei Stimmen sind unter fünf oder sechs oder sieben Parteien im Bundestag aufgeteilt worden. Wie die Meinungsinstitute das verteilt und herausbekommen haben, bleibt ein Rätsel. Aber es zeigt, dass Demoskopen Informationen über den Wähler haben, die dieser Wähler in seinem ganzen Leben nie über sich erfahren wird.

Mit anderen Worten:

Die meisten Wählenden sind am Wahlabend regelrecht überrumpelt worden von ihrer Meinung. Denn – wie bis hierher ausführlich hergeleitet – man macht sich immer erst dann ein Bild von einer Sache, wenn man schon lange eine Meinung dazu hat.

So haben diese Demoskopen nämlich auch herausgefunden, dass fast zwei Drittel der Deutschen gar nicht von Politikern belästigt werden wollen. Gleichzeitig wissen die meisten Deutschen allerdings nicht, was Politik ist.

Trotzdem werden sie befragt.

Man wird angerufen und ausgehorcht nach seiner Ansicht über zwei Fläschchen, die die gleiche Verpackung haben, und es wird einem gesagt, darin seien zwei verschiedene Parfüms. Und man möge jetzt bitte beantworten, welcher Duft einem besser gefällt! Am Telefon!

Aber nicht anders wird beim Thema Parteien verfahren:

Man weiß nicht, was drin ist. Man weiß nur, dass die Verpackungen gleich sind und dass es einem stinkt. Eigentlich sind Umfragen und Wahlen nichts anderes, als irgendwelche Knöpfchen zu drücken an einem einarmigen Banditen.

Das Geld ist in jedem Fall weg.

Es bleibt dem Wähler nach der Wahl jedenfalls nur noch zu sagen: Mit dieser Meinung von mir habe ich nicht gerechnet.

Im Grunde kann doch niemand mehr Umfragen im Ernst ertragen:

»Wen würden Sie wählen, wenn es CDU und SPD nicht gäbe?«

»Wen würden Sie wählen, wenn Ihre Partei die Mehrheit hätte?«

»Wenn Sie morgen nichts essen –

gehen Sie dann trotzdem aufs Klo?«

»Wenn Merkel nicht Kanzlerin bleibt –

übergeben Sie sich dann dennoch?«

»Wenn am Freitag schon Sonntag wäre -

was machen Sie dann am Montag?«

Und dann schaltet man den Fernsehapparat ein, und in irgendeiner Talkshow wird gefragt:

»Als du bei einer Umfrage CDU angekreuzt hast, was hast du dabei empfunden?«

Das ist der nächste Teil unserer repräsentativen Demokratie:

Sie wird nur mehr repräsentiert.

Gefühlt und repräsentiert.

Talkokratie Deutschland

Diese Demokratie wird aber nicht repräsentiert im Bundestag. Und nicht in den Ausschüssen.

Nein, sie wird repräsentiert in den Talkshows.

Und in Gesprächsfetzen.

In denen werden immer gleiche Fragen gestellt.

Und in denen wird Demokratie immer mehr zu einer zur Schau gestellten Staatsform.

In diesen Gerede-Sendungen wird auf Antworten der Politiker hin gefragt. Das bedeutet, dass ein Herr Gabriel, ein Herr Ernst, eine Frau Künast oder eine Frau Merkel und so weiter prägnante Textstellen ihrer Programme oder vorformulierte Aussagen zu aktuellen Ereignissen vortragen. Und die einladenden Fragehansel stellen mit viel Instinkt jene Frage vor die erwartete Antwort, von der sie meinen, dass sie gerade jetzt geäußert werden wird.

In glücklichen Momenten funktioniert das sogar.

In den meisten Fällen jedoch ist das Durcheinander von Fragen und Antworten nicht mehr zu durchschauen. Der Zuschauer bildet sich nur ein, dass es funktioniert, weil die Antworten der Politiker dermaßen nivelliert sind, also abgefeilt, eingeebnet und unpräzise gemacht, dass sie auf die meisten Fragen zu passen scheinen.

Dadurch ergibt sich für viele Gastgeber die Frage, ob es wirklich noch sinnvoll ist, mit einer Frage zu fragen. Oder ob man nicht besser mit einer Antwort eine Antwort provozieren sollte, indem man die Antworten schon in die Frage verpackt:

»Herr Berufspolitiker! Sie stammen von hier, sind berufstätig, Schützenkönig und Gesangsvereinler. Und Sie sind Vater, Ehemann, Katholik, Sie haben studiert, Grundwehrdienst geleistet, das Zweite Staatsexamen gemacht. Was machen Sie außer der Politik?«

Die Fragen selbst wirken tatsächlich oft so, als habe ein Redakteur sich alle möglichen Fragewörter, die aus einem unerfindlichen Grund mit einem W anfangen – wann, wo, was, wieso oder wer –, notiert und dann geprüft, welches Thema zu welchem Fragewort passt. Und danach wird gefragt.

Da muss sich natürlich dann auch der Frager fragen lassen:

»Ist die Frage Ihr bester Freund?«

»Sind das eigene Fragen?«

»Und wenn Sie die Frage stellen, fragen Sie dann oder tun Sie nur so?«

Geht es ihm um die Frage oder um das, was dahintersteckt? Wird ihm vielleicht erst durch die Frage klar, was er gemeint haben könnte, wenn er die betreffende Frage gar nicht gestellt hätte? Ist also eine Antwort eine Antwort auf die Frage? Oder könnte sie auch ohne Frage stehen, weil die Frage als Frage gar nicht erkennbar ist?

Und wäre der Politiker dann sogar doch entschuldigt?

Denn dann ist es wiederum kein Wunder, dass viele Gäste als Fremdkörper empfunden werden. Oft kommen sie einem sogar vor wie Teilnehmer einer Karaokeshow:

Alte Texte zu neuem Mund.

Weswegen der Bundestag meistens leer ist.

Es heißt zwar immer, alle seien in allen Ausschüssen.

In Wahrheit quatschen sie in ARD und ZDF und den Privaten herum. Wir haben eine parlamentarische Talkokratie.

Und in der wirken Politiker wie präsentiert auf einer Plakatwand für die Parolen entlang der Straßengräben der deutschen Politik.

Inhaltlich werden sie hie und da schon eingeholt von den Zooshows. Zebra, Eisbär und Schildkröte vermitteln uns inzwischen mehr Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit als unsere Volksvertreter.

Die Vokabel »Volksvertreter« weist andererseits darauf hin, dass man von deutschen Politikern das erwartet, was der deutsche Wähler selbst in Talkshows vorbringt, da dieser Politiker diesen Wähler ja vertritt, also darstellt, also wiedergibt in der Öffentlichkeit. Und da besteht eben heute nicht nur Politik, sondern vor allem das gesamte Leben aus Talk. Und die, die früher schon nicht gelebt haben, erzählen jetzt, wie das Leben nicht ist.

Was früher beim Bäcker morgens schnell in fünf Minuten während des Brötchenholens vertratscht wurde, findet heute 24 Stunden in jedem Wohnzimmer statt.

Vielleicht ist das auch ein Grund, warum immer weniger am Morgen zum Bäcker gehen, sondern einmal am Wochenende ihre Tiefkühlspeisen aus Getreide, Wasser und Triebmittel im Großmarkt besorgen.

Die aber, die 24 Stunden diesem Tratsch zugucken, werden schon aus Mangel an menschlichem Material und aus Fülle an zur Verfügung gestellter Sendezeit auch irgendwann einmal in den Fall kommen, selber gesehen zu werden in diesen Sendungen. Das hat eine solche – wenn auch kurze – Popularität zur Folge, dass einem auf der Königstraße, auf der Kö oder auf dem Ku’damm kaum jemand mehr hinterherruft:

»Den kenn ich doch vom Fernsehen!«

Heute schreit man höchstens:

»Hast du den gesehen? Der war noch nie in einer Sendung!«

Uns steckt der Talk im Nacken.

Und worüber der Deutsche nicht mal mit sich selbst spricht, darüber redet er wie selbstverständlich im Fernsehen.

Das lässt erkennen:

Die Zeit der sexuellen Revolution ist vorbei.

Der Deutsche will keine Peepshow mehr sehen.

Wir sind nicht mehr Voyeure.

Wir wollen dabei gesehen werden!

Sex ist out.

Talk ist in!

Wer hätte auch gedacht, dass Schweißfüße und Haarausfall am Oberschenkel nicht medizinisch zu heilen sind, sondern indem man darüber quatscht? Früher hat man Lassie und Flipper dressiert. Heute kann der deutsche Fernsehzuschauer als Talkgast schon bei weitem mehr als Fury vor 30 Jahren.

Man muss nur einschränkend sagen:

Die Formel, es gäbe keine dummen Fragen, sondern nur dumme Antworten, ist so ziemlich das Dümmste, was in diesem Genre jemals auf den Redewendungsmarkt geworfen wurde.

Es gibt wahrhaftig noch sehr viel dümmere Fragen, als es dumme Antworten gibt!

NATO

Das Leben ist der Aknepickel.

Das Leben ist der Rasen, den Frau Prisnitz von gegenüber wieder zu spät gemäht hat und der dadurch den Löwenzahnsamen so reifen ließ, dass er sich in alle anderen Gärten verstreuen konnte.

Das Leben ist die geliehene halbe Zwiebel, die der Nachbar seit Wochen nicht zurückgibt.

Und dieses Leben bekommt von Woche zu Woche mehr Sendeplätze.

Natürlich ist auf diese Weise Politik auch nur noch bloße Verpackung.

Politik wird dargestellt.

Politik ist Showgeschäft.

Das sagt sich flott.

Es heißt aber: Politik wird gespielt.

Von Darstellern, die die Kunst aber nie erlernt haben, darstellen zu können.