Für unsere Mutter Elsa Dunkelmann,
geb. Bernhardt

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© 2019 Ruth Alice Dunkelmann
Grafik: Seita/ Strike Pattern/ Shutterstock.com
Umschlagdesign, Satz, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7494-7469-1

Inhalt

Vorwort

Der 85. Geburtstag von Tante Gertrud im Oktober 2010 in Schwäbisch Hall wird feierlich begangen. Zahlreiche Gratulanten treffen ein und der Besucherstrom scheint kein Ende zu nehmen.

Nach dem Mittagessen warten alle auf den Kaffee. Die Aufregung hat sich etwas gelegt und Tante Gertrud lehnt sich entspannt zurück. »Ja, ja, zehn Geschwister waren wir einmal, nun sind wir nur noch drei«, sagt sie zu ihren beiden Schwestern Hanna und Elsa. Alle Anwesenden nicken nachdenklich, dann werden sämtliche Namen und Geburtsdaten aufgezählt. Das ist gar nicht so einfach, zumal die Geschwister nicht zusammen aufgewachsen sind, sondern sich teilweise erst als Erwachsene getroffen haben.

Wieder einmal frage ich bei dieser Gelegenheit nach Lina. Aber auch heute erhalte ich nur eine kurze, ungenaue Antwort: »Die Nazis haben damals alle Behinderten umgebracht.« Auch das höre ich nicht zum ersten Mal. Ich versuche, weitere Fragen zu stellen, gebe aber schnell auf, da ich merke, dass keine der Schwestern Näheres über Linas Schicksal weiß.

»Die Liesl hättest du fragen müssen«, meint meine Mutter daraufhin. Tante Liesl war die älteste und ist schon vor Jahren gestorben.

Ich ärgere mich sehr, dass ich nicht früher nachgefragt habe. »Es ist schon traurig, dass sich nun niemand mehr an Lina erinnert«, sage ich daraufhin zu meiner Mutter. »Immerhin war sie ja deine Schwester und meine Tante.«

Der Gedanke an Lina verfolgt mich von da an hartnäckig. Schließlich mache ich mich ernsthaft auf die Suche nach ihr.

Im Internet stoße ich auf die Diakonie in Stetten, wo Lina bei einer Gedenkfeier erwähnt wird. Dort existiert tatsächlich noch ihre Krankenakte. Auch in Lichtenstern gibt es ein paar Zeilen über Lina und ihre Geschwister. Schließlich helfen mir auch alte Listen, die im Staatsarchiv Ludwigsburg lagern.

An dieser Stelle bedanke ich mich bei Herrn Reiff vom Archiv in Stetten, bei Frau Richter von der Evangelischen Stiftung Lichtenstern und bei den freundlichen Mitarbeiterinnen im Staatsarchiv Ludwigsburg. Sie haben mir sehr geholfen, endlich wurden fast alle meine Fragen beantwortet. Leider habe ich bei all diesen Recherchen kein eindeutiges Foto von Lina gefunden. Aber sie hat nun endlich, über 70 Jahre nach ihrem Tod, ein Gesicht und eine Stimme bekommen.

Ruth Alice Dunkelmann, im Februar 2019

Geschichte

Unter Berufung auf die Lehre von der Rassenhygiene waren Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen während des Nationalsozialismus schon frühzeitig Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt. Ab Januar 1934 wurden sie aufgrund des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« Zwangssterilisationen unterworfen. Ungefähr 400.000 Menschen erlitten bis Kriegsende dieses Schicksal, ca. 5.000 starben an den Folgen der Operationen.

Spätestens im Sommer 1939 war in der Umgebung Hitlers der Entschluss gefasst worden, geistig behinderte und psychisch kranke Menschen als »lebensunwertes Leben« zu vernichten.

Die von den Tätern als »Euthanasie« bezeichneten Morde wurden systematisch geplant. Im Rahmen unterschiedlicher Mordaktionen (z. B. »T4-Aktion«, »Reichsausschußkinder«, »Aktion 14f13« oder »Zweite Mordphase«) verloren zwischen Herbst 1939 und Kriegsende 1945 ca. 300.000 Menschen unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihr Leben.

Bei der »Aktion T4« wurden in den Gaskammern von sechs Tötungsanstalten zwischen Januar 1940 und August 1941 ca. 70.000 Menschen ermordet. Als letzte von ihnen wurde die Tötungsanstalt Hadamar eingerichtet. In ihrer Gaskammer wurden von Januar bis August 1941 ca. 10.000 Patientinnen und Patienten getötet. Nach einer Pause von einem Jahr nahm die vormalige Landesheilanstalt Hadamar die Funktion einer Tötungsanstalt wieder auf. Als solche war sie eingebunden in die »Zweite Mordphase«, in der vor allem mit überdosierten Medikamenten und gezielter Mangelernährung gemordet wurde. Von August 1942 bis Kriegsende starben noch einmal ca. 4.500 Menschen in Hadamar.

(http://www.gedenkstaette-hadamar.de,

Abrufdatum: 28.07.2012)

Bei den Eltern

Es ist Sommer im Jahre 1926. Die zweijährige Lina liegt auf dem Bett und jammert leise. Alles tut ihr weh, vor allem die rechte Körperseite schmerzt unerträglich. Hunger und Durst plagen sie auch, aber das ist nichts Neues für Lina.

»Mama«, heult sie müde und brabbelt unverständlich vor sich hin. Sprechen hat sie noch nicht gelernt, nur ein paar einfache Wörter, an die sie sich jetzt kaum mehr erinnert. Angestrengt starrt sie zur Tür.

Endlich kommt Liesl herein, die schon sieben Jahre alt ist. Lina strahlt ihre Schwester an und ruft: »Huhu.«

»Ja, ich weiß schon, dass du Hunger hast«, meint Liesl. »Hier, trink deinen Tee, den hat die Mutter extra für dich gekocht.«

Lina greift nach der Tasse und nach Liesls Hand. »Blei mi«, stammelt sie und versucht, das Mädchen mit den Augen festzuhalten.

»Ich kann nicht bleiben, ich muss wieder raus«, erklärt Liesl. »Die Nachbarin gibt mir ein Marmeladenbrot, wenn ich ihr die Wäsche aufhänge, ich bring dir dann was davon.« Und schon ist sie wieder zur Tür hinaus.

Lange Tage liegt Lina auf dem Bett in der Küche. Meistens schläft sie oder dämmert vor sich hin. Wenn sie wach ist, starrt sie zur Tür und wartet auf Liesl oder ihren Bruder Fritz. Erst abends kommt die Mutter mit dem kleinen Schwesterchen heim.

Nachts kuschelt sich Liesl zu ihr ins Bett. Lina freut sich, denn sie ist nicht gerne alleine. Liesl erzählt ihr, was sie den ganzen Tag gemacht und gesehen hat. Einmal flüstert sie ihr ein Geheimnis ins Ohr: »Bald kriegen wir noch ein kleines Brüderle, weil das andere Brüderle doch zurück zum lieben Heiland gegangen ist.« Lina nickt stumm und ergriffen, sie findet das unglaublich spannend.

Manchmal schiebt die Mutter den Korb mit der kleinen Gertrud neben das Bett der Mädchen. Lina kann gar nicht genug bekommen von den winzigen Händchen und dem niedlichen Gesicht. Immer wieder versucht sie, das Baby zu streicheln, aber ihre Hand tut zu sehr weh und lässt sich nicht richtig bewegen.

Lina hat hohes Fieber, die Mutter bringt sie ins Diakonie-Krankenhaus in Schwäbisch Hall.

Ängstlich reißt Lina die Augen auf, es ist sehr hell um sie herum. Ein großer Raum mit weißen Wänden und die Leute sind auch ganz in Weiß gekleidet.

Ein Mann beugt sich über sie und starrt ihr ins Gesicht. Lina schreit erschrocken auf. Zum Glück ist die Mutter da, die sie im Arm hält.

»Schon gut, Lina«, sagt sie leise, »reg dich nicht auf, der Herr Doktor macht, dass dir’s bald besser geht.«

Der Arzt schaut ziemlich streng: »Kinderlähmung wahrscheinlich. Das ist nicht gut, es bleibt sicher was zurück; Masern hat sie wohl schon gehabt«, murmelt er. Die Mutter nickt.

Lina ist es sehr heiß und sie kann die Augen nicht länger aufhalten. Im Fieber fantasiert sie vor sich hin, träumt von kleinen Kindern und vom Brüderchen im Himmel, das mit den Engeln spielt.

Zu Hause wird sie von lautem Geschrei geweckt. Es ist der Vater, der schreit: »So ein Saustall, das ist doch keine Wohnung mehr! Und zu essen gibt’s auch nix Gescheites! Ist doch kein Wunder, dass die Kinder krank sind.«

»Wovon soll ich denn was kochen, wenn du kein Geld heimbringst? Musst ja unbedingt alles in die Wirtschaft tragen und versaufen!«, schreit die Mutter genauso laut zurück.

Lina streckt die Arme nach dem Vater aus, aber er sieht sie nicht. Heute wird er wohl nicht mit ihr am Tisch sitzen und sie füttern. Sonst macht er das öfters und Lina liebt es, auch wenn die Mutter meint, sie müsse selber essen – es geht einfach noch zu schwer mit ihrer bösen Hand.

Fritz sitzt am Küchentisch und heult leise vor sich hin. Er ist sechs Jahre alt und gerade in die Schule gekommen; viel Spaß macht ihm das nicht. Heute hat ihn der Lehrer böse verhauen, weil er immer noch kein Heft dabei hatte. Die Mutter wollte ihm keines kaufen – das sei unnötig in der ersten Klasse, hat sie gesagt.

»Ich brauch jetzt aber doch ein Heft«, jammert Fritz, als die Tür krachend ins Schloss fällt. Der Vater poltert die Treppe hinunter und knallt unten auch noch die Haustüre zu.

»Ja, abhauen – das kannst du, und ich hock da mit dem ganzen Elend!«, schreit ihm die Mutter durchs Fenster hinterher. »Und du«, sie dreht sich zu Fritz um, »du sagst deinem Lehrer, dass wir kein Geld haben für den Unsinn. Wofür habt ihr eine Tafel! Und jetzt will ich nichts mehr hören, hast mich verstanden?«

Fritz sagt nichts mehr – er wird schon ein Heft bekommen. Die Nachbarn schenken ihm ab und zu etwas, wenn er sehr bettelt. Oder er wird Liesl fragen, vielleicht gibt sie ihm ein paar Seiten aus ihrem Heft. Er weiß, dass er sich selber helfen muss, denn mit der Mutter ist heute nicht mehr zu reden. Das sieht er an ihrem roten Gesicht und dem komischen Glanz in ihren Augen.

Die Mutter und der Vater

Marie Luise und Friedrich Bernhardt haben am 17. August 1918 geheiratet. Es war eine Kriegstrauung, Friedrich kam nur auf Urlaub in die Heimat. Wenige Monate später ging der Krieg zu Ende und ihr gemeinsames Leben konnte beginnen.

Marie Luise ist als Tochter einer Dienstmagd in Enslingen bei Schwäbisch Hall geboren. Ihre Mutter war ledig, was damals eine ziemliche Schande bedeutete. Luise bekam dies sicher ihre gesamte Kindheit hindurch zu spüren. Friedrich stammt aus einer kinderreichen Familie aus Flossholz, einem winzig kleinen Ort im Wald, nicht weit von Schwäbisch Hall entfernt.

Vielleicht haben sie sich auf einem Dorffest getroffen oder beim selben Bauern gearbeitet? Im Familienregister stehen nicht mehr als ein paar Daten und Namen, die wir mit unserer Vorstellungskraft nur notdürftig mit Leben füllen können.

Nach der Heirat ziehen sie nach Steinbach (heute ein Stadtteil Schwäbisch Halls). Beide haben von zu Hause nichts weiter mitbekommen als ein paar gute Ratschläge. Was sie zum Leben brauchen, müssen sie sich selbst verdienen.

Friedrich arbeitet in Fabriken und auch im Steinbruch. Die Arbeit ist sehr hart und der Lohn immer zu wenig. Sie kaufen nur den nötigsten Hausrat für eine kleine bescheidene Wohnung.

Nach Feierabend geht Friedrich oft ins Gasthaus. Ein Bier kostet nicht die Welt und Wirtschaften sind an jeder Ecke. Dort treffen sich auch die anderen Burschen und Mädels aus dem Ort. Man kennt sich und verbringt ein paar fröhliche Stunden zusammen.

Luise kommt gelegentlich mit, aber meistens muss sie lange bei den Bauern in der Umgebung arbeiten, vor allem im Sommer. Dort gibt’s dann Most zu trinken und immer zu wenig zu essen. »Ein guter Most isch scho auch was wert, weil Wasser trinkt das liebe Vieh«, sagen lachend die anderen Knechte und Mägde.

Auch wenn der Most stark verdünnt ist, merkt Luise die Wirkung des Alkohols schnell, zumal sie kaum etwas im Magen hat. Eigentlich findet sie das gar nicht mal so unangenehm. Die Stumpfsinnigkeit des Alltags und die niemals endende Arbeit sind dann eher auszuhalten. Alles wird etwas leichter und erträglicher. Die vielen kleinen und größeren Sorgen rücken in den Hintergrund und das Lachen fällt leichter.

1919 bis 1926

Schon bald kündigt sich das erste Kindchen an. Dass es »ehelich« geboren wird, ist sehr wichtig für Luise, denn sie hat die Hänseleien noch nicht vergessen. Ihre Kinder werden diese »Schande« nicht ertragen müssen, wenigstens dafür hat sie gesorgt. Das Geld ist zwar knapp, doch die Kinder werden immer einen Vater haben.

Wenn Friedrich nur nicht so leichtsinnig mit dem Geld umgehen würde. Immer wieder verliert er seine Arbeitsstelle, er ist einfach nicht beständig genug. Dauernd hat er etwas an seinen Arbeitgebern oder Vorarbeitern auszusetzen. Luise weiß selbst, dass die Bauern oft »Saubauern« sind, aber was kann man schon tun? Es gibt so viele, die eine Arbeit suchen, gerade jetzt nach dem Krieg. Dann muss man halt ein paarmal schlucken und weitermachen. Luise ist das gewohnt. Der Friedrich ist da aber anders, der schluckt nicht einfach alles runter.

Das erste Kind ist ein Mädchen. Luise soll es heißen, wie die Mutter, aber es wird von allen nur »Liesl« gerufen. Die Eltern freuen sich sehr und der Vater meint: »Gut so, das Zweite wird dann ein Bub, auf den kann die Liesl gleich aufpassen.«

Und er soll recht behalten. Kaum ist Liesl ein Jahr alt, kann der Vater seinen Namen an den ersten Sohn weitergeben. Er wird der Einfachheit halber »Fritz« gerufen.

Die kleine Familie könnte nun eigentlich zufrieden und glücklich sein, denn zwei gesunde Kinder sind ein Segen. Aber sie machen auch eine Menge Arbeit. Luise kann kaum noch beim Bauern arbeiten, denn beide Kinder kann sie schlecht mitnehmen.

Das Geld ist knapp, Friedrich hat mal wieder keine Arbeit. Wenn er sich überhaupt zu Hause blicken lässt, schimpft er meistens, dass die Kinder nicht ordentlich versorgt seien. Auch der Haushalt ist ihm nie sauber genug. Aber Luise fällt alles noch schwerer als sonst. Traurig streicht sie über ihren dicken Bauch.

Liesl ist gerade vier Jahre alt geworden und Fritz noch keine drei, da kommt noch ein Bub zur Welt: Karl. Mit ihm hat Luise nicht nur eine schwere Geburt gehabt, die Hebamme hat gleich gesagt: »Au au, der wird nix Rechtes.« Karlchen ist sehr schwach und will nicht richtig essen und wachsen.

Auch mit zwei Jahren hat er sich noch nicht gut entwickelt. Aber die Mutter kann nun noch weniger nach ihm schauen, denn inzwischen ist Karoline, genannt »Lina«, dazugekommen. Für Luise ist es fast unmöglich, sich um alle zu kümmern. Weil sie zu Hause bleiben muss, holt sie sich Heimarbeit: Säckestopfen. Eine langweilige Tätigkeit, für die sie wenigstens ein paar Pfennige bekommt. Das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Dann werden die beiden kleinen Kinder auch noch krank: Masern. Eine Katastrophe. Schnell bringt die Mutter Liesl und Fritz bei Nachbarn unter.

Den Kleinen geht es gar nicht gut, vor allem Karl wird immer schwächer. Sogar den Doktor müssen sie holen, das hat die Hebamme verlangt. Sie könne nichts mehr tun, hat sie gesagt.

Aber es ist zu spät. Karl schafft es nicht, er stirbt mit zweieinhalb Jahren. »Er ist zurück zum lieben Heiland gegangen«, erklärt die Mutter den Geschwistern. »Vielleicht war das gar nicht so dumm von ihm.«

1927

Endlich darf Lina wieder aufstehen und es geht ihr auch etwas besser. Die Lähmungen in der rechten Hand und im rechten Bein sind geblieben, aber Lina ist dennoch fröhlich. Sie weiß gar nicht mehr, dass es auch anders sein könnte.

Sie sitzt mit Liesl und der kleinen Gertrud auf der Treppe vor dem Haus. Zufrieden wackelt sie mit dem Kopf und singt: »Komm ei Vogel gefloge …« »Tu doch nicht so dumm«, schimpft Liesl, »du bist doch kein Depp!« Lina umarmt die kleine Gertrud und singt ihr leise weiter ins Ohr. Die freut sich und patscht ihr ausgelassen ins Gesicht.

»Pssst«, macht Liesl, »hört ihr schon das Brüderle schreien?« Angestrengt lauschen die Kinder, auch Fritz hat sich nun auf die Stufen gesetzt. Es ist der 12. Dezember und nicht sehr gemütlich draußen, aber die Hebamme hat alle rausgeschickt. »Hat’s Christkindl das Brüderle bracht?«, fragt Lina plötzlich. Die Kinder schauen sich fragend an. »Das wäre aber ein blödes Geschenk«, sagt Fritz schließlich.

Tatsächlich kommt an diesem Tag der kleine Bruder Emil zur Welt. Dadurch wird es für die Familie nicht leichter – im Gegenteil. Im Frühjahr geht die Mutter wieder zur Arbeit bei den Bauern, den kleinen Emil nimmt sie mit. Die anderen Kinder werden zu Hause in der Küche eingesperrt. Es geht nicht anders.

Das Ofentürchen zwirbelt die Mutter mit Draht zu, damit sie es nicht aufmachen können. Außerdem hämmert sie den Kindern ein, nur ja nicht an das Dachfenster zu gehen und es bloß nie aufzumachen. Um ihnen Angst einzujagen, erzählt sie von einem Mann mit langem Haken, der Kinder aus dem Dachfenster zieht. Ängstlich schauen die Geschwister immer wieder zum Dachfenster hoch, ob sie vielleicht den »Haken-Karle« sehen können.

Oft gehen Liesl und Fritz einfach nicht zur Schule, was die Mutter nicht so schlimm findet. Besser, sie passen zu Hause auf die kleinen Geschwister auf – vor allem auf Lina, die nach ihrer Krankheit nicht mehr ganz »echt« ist, wie Luise manchmal sagt. Das hat gerade noch gefehlt.

Die Kinder sind den ganzen Tag in der Küche eingesperrt und wie immer hungrig. Als sie die Zuckerbüchse entdecken, stecken sie gierig ihre Finger hinein und schlecken sie fast leer. Die Mutter schimpft sehr, als sie es bemerkt, und verbietet es ihnen natürlich.

Zuerst halten sie sich daran. Aber als der Hunger mal wieder zu groß ist, angelt Fritz doch nach der Büchse und verzieht sofort das Gesicht. »Bäääh! Igitt!«, schreit er erschrocken und schiebt die Blechdose wieder zurück. Die Mutter hat sie mit Salz gefüllt und den Zucker woanders versteckt. Damit ist ihnen die Lust am Zuckerschlecken vergangen.

Ab und zu sind die Kinder ziemlich lange eingesperrt. Sie verhalten sich dann nicht mehr so ruhig, was wiederum den Nachbarn nicht verborgen bleibt. Viele Familien sind in ähnlicher Lage und haben eigentlich mit ihrem eigenen häuslichen Elend genug zu tun. Aber es bleibt nicht aus, dass man sich über die Familie Bernhardt »unterhält« – zu viel ist da »nicht in Ordnung«. Fritz bettelt immer wieder bei den Nachbarn um Brot: »Für’s Schwesterle«, sagt er, »die war doch so arg krank.«

Das Schuleschwänzen wird nicht mehr länger hingenommen. Die Lehrer von Liesl und Fritz wenden sich an die Schulbehörde und lassen dort auch das verwahrloste Äußere der Kinder nicht unerwähnt. Von fehlenden Hausarbeiten und unzureichenden Schulsachen ist sowieso schon lange die Rede.

Wieder sitzen die Kinder müde und hungrig in der Küche. Der Heimweg der Mutter führt an vielen Wirtschaften vorbei. Eigentlich geht sie nur hinein, um nach Friedrich zu suchen. Aber dann trinkt sie doch ein Glas und manchmal auch eins zu viel.

Die Nachbarn sehen sie endlich heimkommen und stecken die Köpfe zusammen. Drinnen warten hungrige Kinder, schmutzige Kleider, ein Berg ungewaschenes Geschirr und das Essen reicht hinten und vorne nicht. Immer ist alles dreckig, die Kleidchen sind so zerrissen, dass Luise nicht mehr weiß, wo sie mit Flicken anfangen soll. Der Haushalt wächst ihr über den Kopf.

Zu allem Elend ist Friedrich auch noch beim »Stehlen« erwischt worden. Eigentlich hat er ja nur genommen, was ihm zusteht, meint er. Weil der Bauer ihn nicht anständig bezahlt hat für seine Schufterei, hat Friedrich einen Sack Kartoffeln mitgenommen – zu Hause waren sie alle froh darüber. Aber der garstige Bauer hat ihn nun mal angezeigt.