Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche
Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.
© Dietmar Friedrich 2019
1. Auflage
„Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH,
Norderstedt“
ISBN 978-374-945-9933
Heide, den 21. Juni 1996
Fahrt auf der Autobahn in Richtung Norden, mit dem Ziel Dänemark. Von dort aus will ich mit der Fähre nach Island übersetzen. Bei Heide, einer kleinen Stadt in Schleswig Holstein, fuhr ich von der Autobahn ab, da das Benzin sich dem Ende zuneigte. An der Ausfahrt kündeten Schilder, dass in der Nähe ein Motorradtreffen stattfinden soll. Kurzentschlossen entscheide ich mich, ihnen zu folgen, da ein solch orgiastisches Fest stets nach meinem Geschmack ist. Den Abend verbrachte ich zwischen Lagerfeuer und Bar. Führe „Benzingespräche.“ Das in der Gegend um Heide gesprochene Idiom gleicht so ziemlich Eins zu Eins der Sprache, wie man sie aus dem Werner-Filmen kennt. „We´nä, tu mal den Bölkstoff rübää!“
Heide, den 22. Juni 1996
In einer hiesigen Werkstatt wechselte ich am Morgen, auf die Schnelle, den hinteren Reifen meines Motorrads, da sich der grobstollige Gummi während der gestrigen Autobahnfahrt aufzulösen begann. Er ist wohl für raues Gelände, nicht jedoch für die Autobahn ausgelegt. So kam es, dass meine Reisekasse gleich einmal um zweihundert Mark erleichtert wurde.
An Bord der Norröna, den 23. Juni 1996
Die Fähre nach Island ist relativ spartanisch eingerichtet. Auch ihre Größe ist nicht eben beeindruckend. So sind etwa die meisten Fähren, die zwischen Dänemark und Norwegen verkehren, weitaus größer und auch luxuriöser ausgestattet. Das überrascht, da doch die Strecke über den Nordatlantik kaum mit dem kurzen Sprung über den Skagerrak zu vergleichen ist.
*
Obwohl die See relativ ruhig ist, wird das Schiff doch immer wieder von einzelnen Brechern, oder besser gesagt, unregelmäßigen Wellen, getroffen, die es oftmals stark schlingern lassen. Diese plötzlichen Stöße sind unangenehmer, als es das starke Schaukeln bei höheren Wellengang wäre. Etliche der Passagiere sind seekrank. Besonders scheinen die Kinder betroffen.
Wenn ich in ihre fahlen, apathischen Gesichtchen blicke, durchflutet mich eine starke Welle des Mitleids. Ich mache mir einige Sorgen, dass auch ich seekrank werden könnte, da ich in den letzten drei Tagen gerade einmal ein Steak-Brötchen gegessen habe und noch immer keinen Hunger verspüre. Aber ich denke, diese Sorge ist wohl unbegründet. Schließlich geriet ich auf dem Schiff, das mich vor einigen Jahren von Ägypten nach Syrien brachte, in einen wirklichen Sturm. Fast alle Passagiere wurden seekrank. In meiner Kabine, die ich noch mit etlichen anderen teilte, war das einzige Waschbecken bis zum Überlaufen mit Erbrochenen angefüllt. Aber selbst unter diesen Umständen verspürte ich nicht die geringsten Anzeichen von Übelkeit, geschweige denn von Seekrankheit.
Oyndarfjørður, den 24. Juni 1996
Die Faröer Inseln. Wellenumbrandete Felsen im Nordatlantik. Grünes, Nebel- verhangenes Fjordland. Schön wie das Lächeln einer blonden, stolzen Frau. Die Inseln begrüßten mich mit dem typischen Nordatlantikregen. Vielleicht wollten sie mich, als Neuling, mit ihren Wassern taufen. Doch hier herrscht an jeder Biegung der Straße ein anderes Wetter. Nachdem ich im Landesinnern durch dichten, undurchdringlichen Nebel fuhr, brach bald darauf die Sonne durch die Wolken. Dann wieder, hoch über den Fjorden, peitschten Sturmböen über Felsen und Wiesen hinweg. Nun sitze ich hier, auf den fetten Wiesen über dem Oyndarfjord, trinke Tee und rauche gemütlich eine Pfeife. Unter mir singen die Wellen ihr leises Lied. Es ist bereits nach zehn Uhr abends und noch immer taghell. Diese lichten Sommernächte - das ist es, was ich am Norden so liebe.
*
Hier auf den Faröer-Inseln scheint es noch etwas besonderes zu sein, wenn man Motorrad fährt. Als ich hier in Oyndarfjørður ankam liefen gleich ein halbes Dutzend blonder Jungs zusammen, um meine Maschine zu bestaunen. Eine ähnlichen Auflauf habe ich zuletzt erlebt, als ich kurz nach der Wende, nach Sachsen und Thüringen fuhr. Es ist aber auch kein Wunder, wenn auf Inseln, auf denen es zweihundertachtzig Tage im Jahr regnet, Motorräder eher selten sind.
Oyndarfjørður, den 26. Juni 1996
Bis etwa drei Uhr Dauerregen. Habe aber trotzdem, am späten Nachmittag, eine kleine Rundfahrt über die Insel Esturoy gewagt. Am Abend besichtigte ich dann den Rinkursteinar, einen mächtigen Fels, der sich trotz seiner Größe und seines Gewichts im Takt der Brandung auf und nieder bewegt. Man kann das sehr deutlich an einem Seil sehen, das zwischen Fels und Ufer gespannt ist.
Seyðisfjörður, den 27. Juni 1996
Jetzt bin ich in Island. Ich will es noch gar nicht glauben. Alles kommt mir ein wenig unwirklich, fast wie im Traum, vor. Wie lange schon war es mein innigster Wunsch gewesen, hier an diesen Küsten einmal zu landen und meinen Fuß auf isländischen Boden zu setzen!
In den Ostfjorden, den 28. Juni 1996
Übernachtung mit dem Zelt am Ufer des Meeres. Tiefer, zwölfstündiger Schlaf. Die Träume wie stetig wechselnde Vexierbilder. Unter anderem las ich im Schlaf einen Traktat, der vom nachlassenden Genie im Alter handelte. Als typisches Alterswerk wurde Goethes Faust genannt. Allerdings, so lautete dieser Traktat weiter, erfordere die im Alter nur noch tröpfchenweise fließende Genialität, einige Geduld vom Leser. So müsse der Faust mit einer kühlen Ruhe gelesen werden und nicht mit der fiebernden Leidenschaft der Jugend, wie etwa der Werther.
*
Die Straßen hier in Island verlangen vollste Konzentration. Einmal kam ich unversehens zu weit in die Mitte der Straße, wo der Belag aus losen Schotter besteht. Die Folge war, dass mein Vorderrad arg ins Schlingern geriet, so dass ich mit dem Lenker gerade noch korrigieren konnte, um einen Sturz zu vermeiden. Die Straßen hier verlangen viel von Fahrer und Material. Ich sah das schon, als ich in Island mit der Fähre ankam. Ich traf da ein paar Motorradfahrer, die nach abenteuerlicher Tour durch Island die Heimreise antraten. Ihre Maschinen sahen wirklich sehr mitgenommen und lädiert aus, während im Vergleich die meine blitzte und blinkte, als käme sie neu aus dem Laden.
Abb. 1: Die ersten Kilometer auf isländischen Straßen
Auf dem Vatnajökull, den 29. Juni 1996
Langsam begreife ich, dass ich in Island bin. Langsam beginnt das Land reale Gestalt anzunehmen. Ich fühle die Nässe des Regens auf der Haut, ich spüre den Wind, der von der See her bläst, höre den Schrei der Küstenseeschwalben und rieche den Geruch des Meeres. Nun erst bin ich wirklich ganz, mit Körper und Seele, hier angekommen. All die letzten Tage empfand ich, als würde ich im Traum, anstatt in der Realität, durch dieses wilde, surreale Land reisen. Freilich, die isländische Landschaft, dieses Reich der Feen und Trolle, der Vulkane und Gletscher, weit entfernt von jeglichem Mittelmaß, von jeder Alltagserfahrung, erweckt leicht ein instinktives Misstrauen, eine Empfindung von Traum und Täuschung. Da wachsen vielfarbig oxidierte Vulkankegel aus nacktem Gestein empor, da speien Solfatare schwefligen Dampf und Geysire heiße Wasserfontänen in die Luft. Bilder von Hölle und Inferno, von einem angstvoll zitternden Unbewussten des Menschen, vor Äonen geboren, klingen an, scheinen Wirklichkeit geworden zu sein. Wie surrealistische Konstruktionen einer überhitzten Phantasie tauchen plötzlich bunte Liparitberge im Blickfeld des Reisenden auf, beflügeln bizarre Felsgebilde die Phantasie. Wie in einem verzerrenden Jahrmarkts-spiegel finden sich die wunderlichsten Formen und Urtypen des Unterbewussten in dieser eigentümlichen Landschaft gespiegelt. Und wie sollte da nicht, wo das Unbewusste, die Quelle der Träume, auf so Verwandtes und Entsprechendes stößt, ein Eindruck wie von Traum und traumhafter Täuschung entstehen. Und auch heute wieder empfand ich dieses instinktive Gefühl der Irrealität von Neuem, als ich in der Ferne zum ersten Male die ätherische Schildkappe des Vatnajökull, des größten Gletschers Islands und Europas, erblickte. Flach und geduckt lag der Gletscher, wie eine schlafende Urgestalt, auf dem Land. In einem atmosphärischen Blau ragten einzelne Bergkuppen aus dem Eis, wirkten winzig und unscheinbar vor den ungeheuren Eismassen. Dort hinauf wollte ich! Wollte meinen Fuß auf das Eis setzen und die Kälte und Unwirklichkeit dieser Urnatur am eigenen Leibe spüren. Der Fläajökull ist eine der zahlreichen Gletscherzungen, die der Vatnajökull der Südküste und dem Meer entgegenstreckt. An dessen Fuße zweigte eine Piste von der großen Ringstraße ab, die hinauf an den Rand des Gletschers führt. Auf diese Piste lenkte ich mein Motorrad.
Steil führte die Schotterpiste empor. Auf nur zwölf Kilometer Luftlinie stieg sie von Meereshöhe auf etwa achthundert Meter über Normalnull an. Bald befand ich mich in einer urwüchsigen Berglandschaft. Ich durchfuhr eisige Gebirgsbäche und schroffe Felsschluchten, fuhr vorsichtig an steilen Felswänden entlang und tastete mich über grobes, loses Geröll. Das Motorrad, mit seiner schweren Last an Gepäck, war nur schwer unter Kontrolle zu halten. Als es Abend wurde und ich den Gletscherrand noch immer nicht erreicht hatte, beschloss ich umzukehren und an einem kleinen Gletschersee, an dem ich vorbei gekommen war, zu übernachten. Dort stellte ich mein Zelt auf und überlegte, während ich mein Abendessen zubereitete, das weitere Vorgehen. Das Fahren auf den steilen Gebirgswegen war eine Tortur gewesen. Zu instabil war das schwer beladene Motorrad. Ich hatte oft alle Mühe, die Balance zu halten. Ein Entschluss war schnell gefasst. Morgen würde ich alles Gepäck hier im Zelt zurücklassen und mit dem unbeladenen Motorrad, das letzte Stück hinauf zum Gletscher, zurücklegen. Ich wusste zwar nicht, wie weit es noch sei, aber sicher hatte ich mehr als die Hälfte der Strecke bereits hinter mir.
*
Nach dem Abendessen machte ich einen Spaziergang um den kleinen See herum, an dem ich lagerte, und erkundete die Umgebung, der ich mich anvertraut hatte. Weite Geröllflächen breiteten sich ringsumher aus, die wohl aus tausenden, abertausenden, vielleicht sogar aus Millionen von rund geschliffenen Kieselsteinen bestanden. Auf dem kleinen Hochplateau, auf dem ich mich befand und das von unzähligen kleinen Bachläufen durchflossen war, wuchsen nur vereinzelte arktische Tundragräser, Moose und Flechten. Die dunklen Felswände hingegen, die den kleinen See im Hintergrund überragten, waren bar jeglicher Vegetation, wirkten dunkel und bedrohlich. Beim Anblick dieser wüsten, chaotischen Naturlandschaft stieg in mir eine dunkle Empfindung empor, die mir nur langsam bewusst und deutlich wurde.
Man merkt diesem Land seine Dynamik und seine Unruhe an. Nicht unendlich langsame tektonische Verschiebungen und unmerklich von statten gehende Verwitterungen, prägen das Antlitz dieser Landschaft, sondern blitzartig und über Nacht hereinbrechende Katastrophen und die Urgewalt des aufgewühlten Gletschereises, das auf der Landschaft lastet. Sintflutartige Gletscherläufe, die durch vulkanische Tätigkeit unter dem Eis verursacht werden, reißen, mit ihren chaotischen Wassermassen, alles mit sich, was ihnen in den Weg tritt. Unermüdlich lädt der Gletscher seine Geröll- und Sedimentfracht an seinen Randgebieten ab. Regelmäßige Vulkanausbrüche speien ihre Asche darüber und die atlantischen Stürme, mit ihren sintflutartigen Regengüssen, schwemmen die Ablagerungen schließlich wieder ins Meer.
Jung ist dieses Land. Und man merkt es ihm an. Alles was dich in diesem Land umgibt, Gletscher, Sanderflächen, Vulkane, Wasserfälle und reißende Gebirgsflüsse, alles zeugt von schöpferischer Dynamik, von Wandel, vom Werden und Vergehen in der Schöpfung. Diese Landschaft ist ein Gleichnis. Sterne, funkelnde Diamanten, das starre Gold und die Bergriesen dieser Erde sprechen eine andere Sprache zu uns. Zwar sind auch sie, wie alles, dem Wandel und der Vergänglichkeit unterworfen, diese todes-starren Titanen der Zeit; Zeiträume, die für uns, deren Leben so schnell verweht, Ewigkeiten gleichen. Sie scheinen einer anderen Hierarchie, einer anderen Wirklichkeit anzugehören. Einem Reich, das für uns Sterbliche auf Ewig verschlossen bleibt. Dieses dynamische, sich stetig verändernde Land hingegen scheint uns verwandt. Und vielleicht ist dies eines der Geheimnisse warum Island und diese Reise so wichtig für mich sind. Warum dieses Land so ganz mein Denken und meine Empfindung beherrscht.
Skaftafell, den 30. Juni 1996
Heute bereiteten mir die steilen Schotterwege keine Probleme mehr. Die Maschine reagierte auf jeden kleinsten Dreh mit der Gashand, auf jede Verlagerung des Gewichts, äußerst grazil. Mein Motorrad war von einem Packesel wieder zu einem schlanken Rennpferd geworden. Nur der Nebel war wieder so dicht, dass ich kaum drei Schritte weit sehen konnte. Irgendwann merkte ich dann, dass ich oben auf dem Gletscher-plateau sein musste. Sehen konnte ich den Vatnajökull nicht, aber der eisige Lufthauch, der mir nun ins Gesicht blies, zeigte mir seine Nähe an. Die Berghütte, die direkt am Rand des Gletschers errichtet war, und von der aus die Motorschlittenexkursionen organisiert werden, sah ich erst, als ich unmittelbar davor stand. Ich hatte noch einige Stunden Zeit, bis es losgehen sollte. Ich war früh dran und außerdem zögerten die beiden isländischen Führer den Start der Gletscherexkursion wohl auch ein wenig hinaus, weil sie hofften, der Nebel würde etwas aufreißen.
Ich vertrieb mir die Zeit mit dem Studium von Postkarten und ließ mir von den hübschen Isländerinnen, die während des Sommers in dieser Hütte arbeiten und an die Touristen Ansichtskarten vom Gletscher, Getränke und sogar Speiseeis verkaufen, Kaffee servieren und schaute aus dem Fenster der Hütte auf chaotisch übereinander getürmte Eisblöcke, die der Gletscher bis dicht an die Hütte heran geschoben hatte.
Endlich, so gegen Mittag, ging es los. Der Nebel war noch genauso dicht wie am frühen Morgen. In einer lang gezogenen Karawane von etwa einem halben Dutzend Motorschlitten preschten wir über das Eis. Ich bildete mit einem Führer den Schluss der Karawane und konnte die Spitze derselben im dichten Nebel schon nicht mehr erkennen. Der giftige Zweitaktmotor des Schlittens reagierte nervös auf jede kleinste Drehung am Gasgriff. Das angetaute, matschige Eis stob von den Kufen und der Antriebskette hoch in die Luft. Vereinzelt tauchten Felsenschatten aus dem dichten Nebel auf. Einmal hielten wir an einem steilen Eisabbruch, den ich, wäre ich allein gewesen, sicher nicht gesehen hätte. Dort hielten wir Rast, während einer unserer Führer einen kurzen Vortrag über den Vatnajökull hielt. Wir erfuhren zum Beispiel, dass dieser Gletscher mit 8400 Quadratkilometern mehr als doppelt so groß ist, wie alle Alpengletscher zusammen genommen, dass bereits zur Zeit des Wikingerfreistaats eine Route über das Eis führte, die häufig begangen wurde, und dass unter dem Schild des Gletschers zahlreiche Vulkane schlummern, die von Zeit zu Zeit ausbrechen und das Eis abschmelzen lassen. Als Folge hiervon stürzen gewaltige Wassermassen vom Gletscherplateau herab, dem Meer zu, und reißen alles mit sich, was sich ihnen in den Weg stellt. Der Führer erzählte uns auch, dass man den Gletscher anbohrt, um Eis aus den unteren, uralten Schichten zu gewinnen. Dieses Eis wird dann tiefgefroren nach New York verschickt, wo es in teuren Bars und Restaurants zerkleinert in den Whiskey -gläsern der Gäste landet. Wenn das Eis im Whiskey schmilzt, erklärte der Führer, dann entweicht die jahrtausendealte Luft, die unter hohem Druck im Eis eingeschlossen worden war, unter Zischen und Knistern.
*
Als wir schließlich von unserer Motorschlittenexkursion zu der Hütte zurückkehrten, begann der Nebel, der uns bislang ohne Unterlass eingehüllt hatte, aufzureißen. Und als ich schließlich mit meinem Motorrad denselben Weg hinabfuhr, auf dem ich am Morgen herauf gekommen war, hingen nur noch vereinzelte, weiße Nebelfetzen über der Landschaft. Island, diese stolze, kühle Schönheit, hatte für einen kurzen Augenblick ihren Schleier gelüftet. Tief unter mir, dort wo mein Zelt stand, entdeckte ich ein weites Hochplateau, durchfurcht von zahllosen Gletscherbächen und bewachsen mit kurzen, arktischen Tundragras. Das Grün wirkte von hier oben, wo es nichts als schwarzes Vulkangeröll und kompaktes Eis gab, beinahe paradiesisch. Eine seltsame Empfindung überkam mich. Für Augenblicke war es mir, als würde die Zeit mit einem Male transparent, durchsichtig, wie ein reiner Bergkristall. Es schien, als würde ich durch ein Zeitloch tausende von Jahren in die Vergangenheit blicken. Nicht in Räume blickte ich hinab, sondern in die Abgründe der Zeit. Unter mir lag keine Hochebene mit Gebirgsbächen und arktischem Tundragras, sondern die Eiszeit. Wie ein Adler über dem Land, kreiste ich über der Zeit und spähte in die Jahrtausende hinab. Mammuts, Höhlenbären und fellbekleidete Urzeitmenschen waren nicht weit. Eiszeitkünstler malten Bisons, Antilopen und magische Rituale an Höhlenwände. Und das Alles erschien mir für kurze Augenblicke nicht wie ein Konstrukt meiner Phantasie, sondern wie eine ferne, nebelhafte Erinnerung an selbst Durchlebtes, selbst Gesehenes.
*
In solch kurzen, seltenen Augenblicken, in denen sich die sonst undurchdringlichen Strukturen der Zeit aufzulösen scheinen, um einer ätherischen Transparenz zu weichen, ist es so, als befände man sich im ruhigen Auge des Orkans. Von wilden, alles mit sich reißenden Zeitwirbeln umtost. Selbst jedoch für Augenblicke dem Sturm, dem alles verschlingenden Strudel der Zeit, entronnen.
*
Außer auf dem Vatnajökull in Island habe ich solche Augenblicke unmittelbarer historischer Einfühlung bislang höchstens zwei, oder drei Mal in meinem Leben erfahren. Wenigstens von einem solchen Augenblick muss ich noch erzählen, weil er in den Gefühlen, die er auslöste, dem ruhigen, anschauenden Glück, beim Anblick der Eiszeitlandschaft in Island, Antipode und doch zugleich so etwas wie Ergänzung war. Es war an einem heißen Junitag in Rom gewesen. Unbarmherzig brannte die Sonne auf die Häuser der Stadt herab. Ich besuchte das Kolosseum; dieses seltsame Denkmal, das zugleich Größe und Grausamkeit des Imperium Romanums symbolisierte wie kein Zweites. Glutversengt ragten die nackten Ruinen in den stahlblauen Himmel Roms. Wie Blei lastete die hitzeschwere Luft auf den Gewölben der Katakomben, den unterirdischen Raubtierzwingern und den ehemaligen Verliesen. Eine dünne Staubschicht bedeckte die uralten Mauern. Mit einem Male spürte ich die Grausamkeit dieses Ortes, wie eine fremde Macht, die durch mich hindurch floss und von mir Besitz zu ergreifen schien. Es waren hier Ströme von Blut und Tränen geflossen. Für unzählige Menschen waren die Mauern des Kolosseums das Letzte, was sie in ihrem Leben sahen. Trotz der Hitze lief mir ein kalter Schauder über den Rücken. Meine Fingerspitzen kribbelten, als wären sie von atmosphärischer Elektrizität durchflossen. Für einen Augenblick des Grauens, fühlte ich mich über die Zeiten hinweg in den Strudel des Schreckens und der Angst gezogen, die diese Arena einst erfüllt hatten.
Und dieses Erlebnis im Kolosseum zu Rom, kam mir beim Ausblick vom Rand des Vatnajökulls wieder in den Sinn und schob sich über die Gegenwart, wie eine durchsichtige Schablone, das Hier und Jetzt zwar überlagernd, doch nicht verdeckend. Und so geschieht es häufig bei mir, dass sich zu einem harmlosen oder glücklichen Gedanken, zu einer freundlichen Erinnerung, auch deren Gegenteil und Antipode gesellt, um diese gewissermaßen zu kompensieren und und in den Mischungen der Empfindungen und Gefühle etwas durchaus Neues entstehen zu lassen. So etwa wie man Kupfer und Zinn mischt und dabei etwas völlig anderes, nämlich Bronze, erhält.
*
Während der Fahrt auf der Ringstraße, lasse ich mir einige isländische Wörter, die ich unterwegs aufgeschnappt habe, durch den Kopf gehen. „Karlar“ steht beispielsweise auf den Türen der Toilettenhäuschen geschrieben, die ab und an am Wegesrand aufgestellt sind. Ich übersetze den Ausdruck für mich in „für Kerle“. So wird die fremde Sprache schon ein bisschen vertrauter. Ich verstehe auch manches, was auf den Verkehrsschildern am Rande der Straße geschrieben steht. „Einbreiðbrú“, heißt es da etwa. Die drei Wörter, aus denen der Begriff zusammengesetzt ist, muten nicht gerade fremdartig an. Man versteht leicht „ein“ als „ein“, „breið“ als „breit“ und „brú“ als Brücke. Und spätestens wenn man einmal über eine solche „einbreiðbrú“ gefahren ist, weiß man, dass es sich dabei um eine Brücke handelt, die eben nur eine Fahrbahn breit ist. Kommen zwei Fahrzeuge zu gleicher Zeit, von verschiedenen Richtungen, an diese Brücke, so muss irgendeiner der beiden Entgegenkommenden, den anderen passieren lassen. Wer Vorfahrt hat scheint nicht geregelt zu sein. Meistens hält derjenige, der glaubt, dass der andere ein schnelleres Fahrzeug besitzt. Weil ich ein Motorrad fahre, lassen mich viele deshalb zuerst passieren. Ich bedanke mich jedes Mal mit einem Handzeichen. Meistens winkt der andere freundlich zurück.
Etwas länger rätsele ich an der Bedeutung eines Schildes mit der Aufschrift „blindheað“ herum. Das Wort „Blind“ gibt es ja auch im Deutschen. Und wahrscheinlich hat es in beiden Sprachen, die ja einer gemeinsamen Wurzel entstammen, auch eine ähnliche Bedeutung. Beim isländischen Wort „heað“ hilft mir das englische Wort „head“ weiter, welches ja bekanntlich „Kopf“ bedeutet. Nun ist „blindheað“ freilich kein isländisches Schimpfwort, wie man im ersten Moment vielleicht glauben möchte. Etwa: „Du Blindkopf, du dummer!“ Nein, es findet ja als Warnung im Straßenverkehr Verwendung. Dort bezeichnet es den blinden, also unübersichtlichen Kopf- oder Scheitelpunkt der Fahrbahn. „Unübersichtliche Straßenkuppe“ würden wir wohl im Deutschen sagen.
Auf solche Weise versuche ich mir die isländischen Wörter zu übersetzen, was mir Vergnügen bereitet, so wie man etwa beim Lösen eines Kreuzworträtsels Vergnügen empfinden mag.
*