Autor/-innen

Ulf Harding, Dr. med., Facharzt für Anästhesiologie und Notfallmedizin, Leitender Oberarzt in der Zentralen Notfallaufnahme am Klinikum Wolfsburg.

Matthias Riesen, Dipl.-Medizinpädagoge, exam. Gesundheits- und Krankenpfleger, pädagogische Leitung der Fachweiterbildung Notfallpflege und Leitung der staatlich anerkannten Schule für Rettungssanitäter, Bildungszentrum Städtisches Klinikum Braunschweig.

Stefanie Schröder, exam. Gesundheits- und Krankenpflegerin, Fachkraft für Intensiv- und Anästhesiepflege, Praxisanleiterin für die Fachweiterbildung Notfallpflege am Städtischen Klinikum Braunschweig.

 

Harding/Riesen/Schröder

Notaufnahme

 

 

 

 

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

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ISBN 978-3-17-037298-6

 

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Inhalt

  1. Geleitwort
  2. Vorwort
  3. I      Basics
  4. 1     Die Zentrale Notaufnahme
  5. 1.1     Veränderungsprozesse in den Notaufnahmen
  6. 1.2     Definition Notfall
  7. 1.3     Organisationsformen (gestuftes System der Notfallversorgung)
  8. 1.4     Ersteinschätzungsinstrumente
  9. 1.5     Interdisziplinarität und Interprofessionalität
  10. 1.6     Das Besondere der Notfallpflege
  11. 1.7     Gründe für die Einführung einer Fachweiterbildung Notfallpflege
  12. 1.8     Fachweiterbildung Notfallpflege – Das Braunschweiger Konzept
  13. 1.9     Pädagogische Hinweise
  14. II     Fälle
  15. 2     »Akute Lebensgefahr und keine Beschwerden – geht das?«
  16. 2.1     Fallbeschreibung
  17. 2.2     Ersteinschätzung
  18. 2.3     Medizinische Aspekte
  19. 2.4     Pflegerische Aspekte
  20. 2.4.1     Eins-zu-eins-Bindung
  21. 2.4.2     Strikte Bettruhe bei hochgradigem V. a. Aortendissektion
  22. 2.4.3     Monitorüberwachung und Reanimationsbereitschaft
  23. 2.4.4     Begleiteter Transport zur Computertomografie
  24. 2.4.5     Maßnahmen nach der CT (OP-Vorbereitung)
  25. 2.4.6     Beratung von Angehörigen
  26. 2.5     Pädagogische Aspekte
  27. 2.6     Weiterer Verlauf
  28. 3     Gelbe Haut und Oberbauchbeschwerden
  29. 3.1     Fallbeschreibung
  30. 3.2     Ersteinschätzung
  31. 3.3     Medizinische Aspekte
  32. 3.3.1     Der Stellenwert der Laborentnahme
  33. 3.4     Pflegerische Aspekte
  34. 3.4.1     Die Bedeutung der Anamnese und das SAMPLER-Schema
  35. 3.4.2     Das 12-Kanal-EKG – Gewusst wie!
  36. 3.4.3     Wann ist ein Basismonitoring erforderlich?
  37. 3.5     Pädagogische Aspekte
  38. 3.6     Die Zeit nach der ZNA
  39. 4     Wenn ältere Menschen stürzen
  40. 4.1     Fallbeschreibung
  41. 4.2     Ersteinschätzung
  42. 4.3     Medizinische Aspekte
  43. 4.3.1     Anamnese, Abklärung der funktionellen und sozialen Situation vor dem Unfall
  44. 4.3.2     Diagnostik
  45. 4.3.3     Klassifikation der Schenkelhalsfraktur
  46. 4.3.4     Weitere Maßnahmen während der Versorgung
  47. 4.3.5     Prophylaxe der venösen Thromboembolie
  48. 4.4     Pflegerische Aspekte
  49. 4.4.1     Das Leitsymptom Schmerz
  50. 4.4.2     Monitoring und Stabilisierung der Vitalwerte
  51. 4.4.3     Infusionstherapie – Gewusst wie!
  52. 4.4.4     Assistenz zur weiteren Diagnostik
  53. 4.4.5     Verlegung und Übergabe an die Schnittstelle Intensivstation
  54. 4.5     Pädagogische Aspekte
  55. 4.6     Die Zeit nach der ZNA
  56. 5     Die Tür geht auf… »Vorsicht! Heiß!«
  57. 5.1     Fallbeschreibung
  58. 5.2     Ersteinschätzung
  59. 5.3     Medizinische Aspekte
  60. 5.4     Pflegerische Aspekte
  61. 5.4.1     Kommunikation mit Acun und seinem Vater
  62. 5.4.2     Wundversorgung und Verbände
  63. 5.4.3     Übergabe an das Intensivverlegungsteam
  64. 5.5     Pädagogische Aspekte
  65. 5.6     Weiterer Verlauf
  66. 6     »Ich gehe jetzt nach Hause! Ihr könnt mich alle mal!«
  67. 6.1     Fallbeschreibung
  68. 6.2     Ersteinschätzung
  69. 6.3     Medizinische Aspekte
  70. 6.4     Pflegerische Aspekte
  71. 6.4.1     Eins-zu-eins-Bindung
  72. 6.4.2     Deeskalation: »Den Wind aus den Segeln nehmen«
  73. 6.4.3     Ärger, Wut, Aggression und Gewalt
  74. 6.4.4     Immobilisation oder Fixierung aufgrund hoher Aggressivität
  75. 6.4.5     Zusammenarbeit mit der Polizei und die Wahrung von Datenschutz und Schweigepflicht
  76. 6.5     Pädagogische Aspekte
  77. 6.6     Weiterer Verlauf
  78. 7     Und plötzlich wird es dunkel
  79. 7.1     Fallbeschreibung
  80. 7.2     Ersteinschätzung
  81. 7.3     Medizinische Aspekte
  82. 7.3.1     Die Übergabe im Schockraum
  83. 7.3.2     Diagnostik und Befunde
  84. 7.4     Pflegerische Aspekte
  85. 7.4.1     Umlagerung der Patientin im Schockraum
  86. 7.4.2     Vorbereitung Schockraum
  87. 7.5     Pädagogische Aspekte
  88. 7.6     Die Zeit nach der ZNA
  89. Literatur
  90. Stichwortverzeichnis

Geleitwort

 

 

 

Die Ausübung des Pflegeberufs wird immer anspruchsvoller: Professionelles Pflegehandeln umfasst verantwortungsvolles Planen, Gestalten und Auswerten von Pflegesituationen. Die Settings, in denen diese berufliche Tätigkeit ausgeübt wird, werden zunehmend vielfältiger und die Aufgaben immer komplexer. Deshalb müssen gerade in der generalistischen Ausbildung die einzelnen Bereiche besondere Berücksichtigung finden. »Notaufnahme« ist ein Band der Buchreihe »Pflege fallorientiert lernen und lehren«, einem Kompendium für die Pflegeausbildung, das sowohl die verschiedenen Versorgungsbereiche, in denen Pflegekräfte tätig werden, als auch die unterschiedlichen Lebensalter und -situationen der Pflegeempfänger abbildet.

Die Bände der Reihe spiegeln die wesentlichen Institutionen und Pflegebereiche wider, in denen pflegerische Versorgung stattfindet. Alle Bände folgen der gleichen Struktur und demselben Aufbau. In einem Einleitungsteil wird in die Besonderheiten des jeweiligen Settings eingeführt. Pflegewissenschaftliche Expertenstandards und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse werden dabei ebenso berücksichtigt wie die Ausbildungsziele der aktuellen Prüfungsordnung für eine generalistische Pflegeausbildung. Die Präsentation der Inhalte erfolgt in Form von Musterfällen; dabei werden die unterschiedlichen Aspekte pflegeberuflichen Handelns aufzeigt und fallbezogene Besonderheiten und Schwerpunkte professioneller Pflege exemplarisch illustriert. Die fallorientierte Aufbereitung von Lerngegenständen greift die aktuellen berufspädagogischen Erkenntnisse fachdidaktisch auf und zielt auf eine Kompetenz- und Handlungsorientierung.

Die vorliegenden Ausführungen geben einen sehr guten Einblick in die facettenreichen pflegerischen Aufgaben in der Notfallversorgung. In diesem pflegerischen Bereich sind die Handlungs- und Kompetenzanforderungen an die Pflegefachkräfte besonders komplex und erfordern eine Zusammenschau pflegerischen, medizinischen aber auch psychosozialen Wissens.

Der vorliegende Band gewährt anschauliche Einblicke in diese Besonderheiten anhand einschlägiger Fallbeispiele und bietet exemplarische Lösungen an. Dieses Lehr- und Lernbuch ermöglicht dadurch die Entwicklung spezifischer Fachkompetenz für die professionelle Pflege.

Dieser Band sowie die gesamte Reihe wenden sich an Lernende und Lehrende in den Pflegeausbildungen an Schulen, Hochschulen oder Praxisstätten sowie an Studierende der Pflegepädagogik. Neue Formen der Pflegeausbildung – wie z. B. primärqualifizierende Pflegestudiengänge – hatten die Herausgeberinnen bei der Konzeption der Reihe und der Betreuung der Bände sowie die Autorinnen und Autoren der einzelnen Bände ganz besonders im Blick.

Karin Reiber

Juliane Dieterich

Martina Hasseler

Ulrike Höhmann

Vorwort

 

 

 

»Der Nächste bitte!« »Wer ist jetzt als nächstes dran?« Dieses Szenario oder auch das Ziehen einer Nummer, welche die Behandlungsreihenfolge festlegt, dürfte in deutschen Notaufnahmen der Vergangenheit angehören.

Die Veränderungen im Bereich der klinischen Notfallmedizin sind gravierend. Die Bezeichnung »Aufnahmestation« verschwindet langsam aus dem Vokabular. Ebenso wie »Unfallambulanz« oder »Interne Aufnahme«.

Stattdessen halten Begriffe wie Ersteinschätzung, Interdisziplinarität, Notfallmedizin und Notfallpflege Einzug in den wandelbaren Sprachschatz der Medizin.

Ob im Detail sinnvoll oder nicht, die gesundheitspolitische Entwicklung hat diesen Weg vorgezeichnet und die gesellschaftlichen Veränderungen haben ihn notwendig gemacht. Die Praktikerinnen vollziehen diesen Entwicklungsprozess mit großer Kreativität und Motivation, aber oft auch begleitet von Ängsten und kritischer Abwehrhaltung.

Mit der Notfallpflege hat sich eine Spezialisierung auf dem Gebiet der klinischen Notfall- und Akutversorgung entwickelt, die mit den geänderten Umständen Schritt halten kann und Patienten aus allen Lebenslagen entsprechend der Dringlichkeit fachlich adäquat versorgt. Zur Unterstützung auf dem Weg zur Notfallpflegerin oder auch als Teil des lebenslangen Lernens sollen die in diesem Buch zusammengetragenen Fälle aus der Praxis der Autorin und Autoren beitragen. Neben einem ausführlichen Überblick über die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Notfallversorgung sind die Fallbeschreibungen das Herzstück dieses Bandes. Menschen in akuten Situationen, die auf unterschiedlichen Wegen in die Notaufnahmen gekommen sind, um ihre Symptome zu schildern und schnelle Hilfe zu bekommen. Oder auch nicht.

Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass die beschriebenen Fälle mit ihren medizinischen und pflegerischen Verläufen der beruflichen Alltagspraxis entstammen, zum Schutz der Privatsphäre der Patienten modifiziert wurden und nicht als Handlungsempfehlung zu verstehen sind.

Die geschilderten Verläufe dienen einschließlich aller Herausforderungen der Illustration der Behandlung in einer Notaufnahme und stellen damit nicht zwingend den »Goldstandard« dar und haben nicht automatisch Vorbildcharakter. Dennoch halten wir alle Fälle für geeignet, um in ruhiger Lernatmosphäre daraus für die Zukunft zu lernen und sich an geeigneter Stelle mit den entsprechenden Leitlinien und Behandlungsstandards zu beschäftigen.

Die Medizin unterliegt einem stetigen Wandel und Wissenszuwachs, die zu Veränderungen führen, die sich auf unsere Behandlung und die medikamentöse Therapie auswirken. Daher ist jede Leserin angehalten, Dosierungen, Kontraindikationen und Wirkverhalten von eingesetzten Medikamenten sorgfältig anhand der Fachinformationen oder durch Konsultation von Spezialistinnen zu prüfen.

Für den besseren Lesefluss haben wir uns auf die Verwendung entweder der weiblichen oder männlichen Form verständigt, wobei jedoch in allen Berufsgruppen beide Geschlechter gleichermaßen gemeint sind und selbstverständlich in einer Notaufnahme Patienten jedweder geschlechtlichen Identität nach dem Ausmaß der Dringlichkeit behandelt werden.

Nicht zuletzt gebührt unser Dank all denen, die uns bei diesem Buch unterstützt haben.

In diesem Sinne wünschen wir allen Leserinnen und Lesern lehrreiche und interessante Einblicke in den Arbeitsbereich der Notaufnahme.

Die Autoren

 

 

 

I           Basics

1          Die Zentrale Notaufnahme

 

 

1.1       Veränderungsprozesse in den Notaufnahmen

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist es zu deutlichen Veränderungen in der Notfallmedizin und den Notaufnahmen in Deutschland gekommen. War in der Vergangenheit der Begriff der Notfallmedizin fast ausschließlich mit dem prähospitalen Einsatz im Rettungsdienst verbunden, so hat insbesondere im Bereich der Notfallaufnahmen eine deutliche Weiterentwicklung stattgefunden. Durch die Weiterentwicklung notfallmedizinischer Behandlungsstrategien sowie Veränderungen der Krankenhauslandschaft ist es zu einer Bildung von Zentren gekommen, in denen bestimmte Krankheitsbilder spezialisiert versorgt werden können (z. B. Herzinfarktversorgung, Schlaganfallversorgung, Polytraumaversorgung). Auch zwischen den Krankenhäusern sind Zusammenschlüsse in Netzwerken entstanden (z. B. Traumanetzwerke, telemedizinische Beratung) (Gries et al. 2017).

Im Bereich der Notaufnahmen hat es eine Orientierung hin zu zentralen Notaufnahmen gegeben. Während in der Vergangenheit Notfall- und Akutpatienten oft durch medizinisch nicht qualifiziertes Personal einer Fachabteilung zugeordnet wurden, gibt es durch die Konzentrierung auf einen Ort eine zentrale Anlaufstelle für alle Patienten. Hier kann eine Ersteinschätzung durch medizinisches Personal erfolgen und eine symptomorientierte Versorgung anhand von definierten Behandlungspfaden erfolgen. Unterschieden werden muss jedoch zwischen interdisziplinär arbeitenden zentralen Notfallaufnahmen, in denen eine fachübergreifende Erstversorgung stattfindet und Notaufnahmen, in denen zwar gemeinsame Räumlichkeiten und Strukturen genutzt werden, die Versorgung jedoch fachbezogen stattfindet (Harding 2016).

Die Fallzahlen im Rettungsdienst und in den Notaufnahmen sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen und es lastet ein hoher Druck auf den einzelnen Bereichen der Notfallversorgung. Dies hat zu einer Auseinandersetzung mit weiteren Veränderungsprozessen durch die Politik geführt. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat im Sommer 2018 das Gutachten »Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung« präsentiert und umfangreiche Empfehlungen für eine sektorenübergreifende Versorgung gegeben (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2018).

Durch den gemeinsamen Bundesausschuss sind im April 2018 Regelungen zu einem gestuften System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern beschlossen worden (Gemeinsamer Bundesausschuss 2018). Dieses System sieht für die an der Notfallversorgung teilnehmenden Krankenhäuser in Deutschland drei Stufen vor: die Basisnotfallversorgung (Stufe 1), die erweiterte Notfallversorgung (Stufe 2) sowie die umfassende Notfallversorgung (Stufe 3). Eine weitere Stufe besteht für die Nichtteilnahme an der Notfallversorgung. Die jeweiligen Stufen beinhalten Vorgaben zur Ausstattung (Fachabteilungen, Medizintechnik, Intensivstationen) sowie Personalvorhaltung sowie Strukturen und Prozesse der Notaufnahmen. Neben den Stufen werden zusätzlich Module beschrieben, wie beispielswiese für die Notfallversorgung von Kindern oder Schwerverletzten.

 

1.2       Definition Notfall

Für den medizinischen Notfall gibt es keine einheitlich anerkannte Definition. Diese Tatsache ergibt sich aus den unterschiedlichen Wahrnehmungen und Sichtweisen der jeweils beteiligten Personen. Auch wenn Kriterien definiert werden, kann eine eindeutige Zuordnung eines Ereignisses erst im Verlauf erfolgen.

Unabhängig von einzelnen Definitionen oder Definitionsversuchen handelt es sich jedoch um eine akute Situation, die Hilfe erfordert. Aus den unterschiedlichen Sichtweisen können Konflikte entstehen, da der Patient beispielsweise eine umfassende und definitive Diagnostik und Behandlung wünscht, aus Sicht der Helfer der Auftrag in einer Stabilisierung und Erstversorgung besteht, bis die definitive Versorgung im Verlauf erfolgen kann.

Eine recht weit gefasste Definition des medizinischen Notfalls, die sich auf den Rettungsdienst bezieht, bietet die DIN 13050 »Rettungswesen – Begriffe«:

Ereignis, das unverzügliche Maßnahmen der Notfallrettung erfordert.

Näher definiert wird der medizinische Notfall im Pschyrembel Anästhesiologie:

»[…] akuter, vital bedrohlicher Zustand durch Störung der Vitalfunktionen oder Gefahr plötzlich eintretender, irreversibler Organschädigung infolge Trauma, akuter Erkrankung oder Intoxikation.« (v. Koppenberg & Moecke 2014, S. 466)

Mehrheitlich umfassen andere Definitionen folgende Punkte:

  akuter Eintritt

  bedrohliche Störung von Bewusstsein, Atmung oder Kreislauf bzw. anderer Organfunktionen

  drohende dauerhafte Schädigung oder Tod

  unmittelbare Hilfeleistung erforderlich

Unzureichend werden in den meisten Definitionen psychiatrische Notfälle berücksichtigt, bei denen Störungen der vitalen Organfunktionen fehlen können, die aber zum Beispiel durch Suizidalität oder Eigengefährdung bei Psychosen durchaus lebensbedrohlich und akut sind.

 

1.3       Organisationsformen (gestuftes System der Notfallversorgung)

Die Notfallversorgung ist in unterschiedlichen Bereichen organisiert.

Der ärztliche Bereitschaftsdienst der niedergelassenen Vertragsärzte gewährleistet eine Versorgung außerhalb der Praxiszeiten. Hierzu besteht gemäß § 75 Abs. 1 SGB V ein gesetzlicher Sicherstellungsauftrag. An vielen Orten gibt es spezielle Bereitschaftsdienstpraxen, die von Patienten bei Bedarf aufgesucht werden können. Teilwiese sind diese Praxen räumlich an Notaufnahmen der Krankenhäuser angegliedert oder auch integriert (»Ein-Tresen-Modell«). Darüber hinaus gibt es Praxen an unabhängigen Standorten. In einigen Städten existieren spezielle fachärztliche Bereitschaftsdienstpraxen, z. B. für augen- oder kinderärztliche Bereitschaftsdienste. Daneben gibt es einen mobilen Bereitschaftsdienst für Hausbesuche nicht gehfähiger Patienten.

Der Auftrag des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes besteht in einer Untersuchung und Versorgung bis zur nächsten regulären Behandlungsmöglichkeit während der Praxisöffnungszeiten im niedergelassenen Bereich oder bei Bedarf der Einweisung in ein Krankenhaus.

Je nach Bundesland sind in der Regel alle niedergelassenen und angestellten Fachärzte zur Teilnahme am Bereitschaftsdienst verpflichtet, Anforderungen an eine spezielle notfallmedizinische Qualifikation existieren meist nicht. Für Niedersachsen ist beispielsweise von der Kassenärztlichen Vereinigung lediglich gefordert, dass sich die Ärzte regelmäßig für die Tätigkeit fortbilden. Nähere Details zu Art und Umfang der Fortbildung sind nicht festgelegt.

Der Rettungsdienst liegt im Verantwortungsbereich der Länder. Unterschieden wird zwischen dem Krankentransport und der Notfallrettung sowie Verlegungen zwischen zwei Krankenhäusern, auch unter Fortführung intensivmedizinischer Maßnahmen.

Die Anforderungen an das Personal unterscheiden sich je nach Landesrettungsdienstgesetz. Rettungssanitäter werden vorwiegend im Krankentransport oder als Fahrer in der Notfallrettung eingesetzt. Die Ausbildung umfasst 520 Stunden.

Rettungsassistenten wurden zwei Jahre lang ausgebildet und als Einsatzleiter auf dem Rettungswagen oder als Fahrer von Notarzteinsatzfahrzeugen eingesetzt. Mit Etablierung des Notfallsanitäters als neues Berufsbild im Rettungsdienst ist eine Ausbildung zum Rettungsassistenten nicht mehr möglich, die Berufsbezeichnung darf jedoch von qualifizierten Personen weiter geführt werden.

Das Berufsbild des Notfallsanitäters existiert seit 2014. Die Ausbildung ist im Notfallsanitätergesetz geregelt und dauert drei Jahre vergleichbar mit anderen Ausbildungsberufen. Notfallsanitäter werden als Einsatzleiter auf dem Rettungswagen oder als Fahrer von Notarzteinsatzfahrzeugen eingesetzt. Die Kompetenzen umfassen weitergehende Maßnahmen nach Festlegung durch den Ärztlichen Leiter Rettungsdienst und gehen über die des Rettungsassistenten hinaus

Neben der Notfallrettung einzelner Patienten gehört auch die Beherrschung größerer Schadenslagen mit mehreren verletzten oder erkrankten Personen zu den Aufgaben des Rettungsdienstes. Für den Massenanfall von Verletzten/Erkrankten (MANV) bestehen in den einzelnen Rettungsdienstbereichen feste Konzepte unter Unterstützung durch benachbarte Gebietskörperschaften sowie Einheiten des erweiterten Rettungsdienstes und (Teil-)Einheiten des Sanitäts- und Betreuungsdienstes des Katastrophenschutzes.

Die an der Akutversorgung teilnehmenden Krankenhäuser sind gesetzlich verpflichtet, jederzeit die Versorgung von lebensbedrohlich Verletzten und Erkrankten sicherstellen zu können. Diese findet überwiegend in den Notfallaufnahmen statt ( Kap. 1.1). Abzugrenzen ist die innerklinische Notfallversorgung bereits stationär aufgenommener Patienten durch Notfallteams des Krankenhauses.

 

1.4       Ersteinschätzungsinstrumente

Zur Festlegung der Behandlungsreihenfolge und Ermittlung der Behandlungsdringlichkeit kommen in nahezu allen Notaufnahmen Ersteinschätzungsinstrumente zum Einsatz. Ziel ist es, durch eine qualifizierte Einschätzung vital bedrohte Patienten frühzeitig und sicher zu identifizieren sowie die Reihenfolge der Behandlung nach medizinischer Dringlichkeit festzulegen. Das Ergebnis legt neben der Behandlungsreihenfolge in Abhängigkeit des eingesetzten Systems ebenfalls die maximal vertretbare Zeit bis zum ärztlichen Behandlungsbeginn fest.

Die Ersteinschätzung wird hierbei in aller Regel durch eine qualifizierte Pflegekraft durchgeführt. Hierin besteht der wesentliche Unterschied zur bei einem Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten (MANV) durchgeführten Sichtung. Gemäß Definition der Konsensuskonferenz beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) ist die Sichtung eine ärztliche Aufgabe und legt im Großschadensfall die Behandlungspriorität fest (Heller et al. 2018).

Spätestens seit dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) über die Regelungen des gestuften Systems von Notfallstrukturen (Gemeinsamer Bundesausschuss 2018) ist die Durchführung einer Ersteinschätzung in der Notaufnahme rund um die Uhr obligat. So fordert der GBA:

»Es kommt ein strukturiertes und validiertes System zur Behandlungspriorisierung bei der Erstaufnahme von Notfallpatienten zur Anwendung. Alle Notfallpatienten des Krankenhauses erhalten spätestens zehn Minuten nach Eintreffen in der Notaufnahme eine Einschätzung der Behandlungspriorität.« (Gemeinsamer Bundesausschuss 2018, S. 5)

Neben dem Ziel, bedrohte Patienten zügig zu erkennen, soll das Ergebnis der Ersteinschätzung möglichst objektiv und valide sein. Zum Einsatz kommen in deutschen Notaufnahmen verschiedene Ersteinschätzungsinstrumente, die ihren Ursprung in aller Regel außerhalb Deutschlands haben und für das deutsche Gesundheitssystem adaptiert wurden. Um eine ausreichende Differenzierung der Behandlungsdringlichkeit zu erreichen, kommen fünfstufige Systeme zum Einsatz, die ein standardisiertes Vorgehen ermöglichen. Wichtig ist einerseits eine möglichst valide Einschätzung des zu behandelnden Patienten, andererseits aber auch die Durchführung mit geringem Zeitaufwand, um nicht bei Fokussierung auf einen Patienten eine mögliche Gefährdung der noch nicht eingeschätzten Patienten in der Warteschlange zu vermeiden.

Weltweit sind vier Ersteinschätzungssysteme mit fünfstufiger Skala verbreitet:

  Die Australasian Triage Scale (ATS),

  Die Canadian Triage and Acuity Scale (CTAS),

  Der Emergency Severity Index (ESI) aus den USA und

  Das Manchester Triage System (MTS) aus dem Vereinigten Königreich.

Einen Überblick über alle Systeme bietet Krey in einer Übersichtsarbeit (Krey 2016). In Deutschland sind ESI und MTS die am weitesten verbreiteten Systeme.

Emergency Severity Index (ESI)

Der ESI wurde in Boston in den USA in den Jahren 1998 und 1999 entwickelt und mehrfach überarbeitet. Neben der Identifizierung vital bedrohter Patienten schätzt der ESI auch den Bedarf an Ressourcen ab, die der Patient im Rahmen der Versorgung benötigt. Bei Patienten, die nicht unmittelbar behandelt werden müssen und somit nicht den ersten beiden Dringlichkeitsstufen zuzuordnen sind, erfolgt bei hohem Ressourcenbedarf eine Messung der Vitalparameter (Puls, Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung). Hiervon ist abhängig, ob eine Zuordnung zu Stufe 2 oder 3 erfolgt.

Für Patienten der Stufe eins ist eine unmittelbare Behandlung erforderlich, Patienten der Stufe zwei in etwa 10 Minuten, für Patienten der Stufen drei, vier und fünf sind keine Wartezeiten definiert ( Tab. 1.1).

Manchester Triage System (MTS)

Das MTS hat seinen Ursprung, wie im Namen enthalten, in Manchester in England. Aus der Unzufriedenheit, dass jedes Krankenhaus in Manchester eine unterschiedliche Ersteinschätzung durchführte, wurde ein gemeinsames Vorgehen entwickelt. Das System orientiert sich an den vom Patienten geäußerten Beschwerden und Symptomen und legt dann eine von fünf Stufen potenzieller Gefährdung fest ( Abb. 1.1). Gleichzeitig ist es möglich, eine räumliche Zuweisung in Anpassung an lokale Gegebenheiten festzulegen (z. B. Schockraum, interner Behandlungsraum, Wartezimmer, KV-Bereitschaftsdienstpraxis).

Abb. 1.1: Manchester Triage System (MTS)-Diagramm »Generelle Indikatoren« (Mackaway-Jones et al. 2018, S. 218, mit freundlicher Genehmigung des Hogrefe Verlages Bern)