Claudia Spahn und Bernhard Richter

Musik mit Leib und Seele

Was wir mit Musik machen und sie mit uns

2. Auflage

herausgegeben von Wulf Bertram

Zum Herausgeber von »Wissen & Leben«:

Wulf Bertram, Dipl.-Psych. Dr. med, geb. in Soest / Westfalen, Studium der Psychologie, Medizin und Soziologie in Hamburg. Zunächst Klinischer Psychologe im Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf, nach Staatsexamen und Promotion in Medizin Assistenzarzt in einem Sozialpsychiatrischen Dienst in der Provinz Arezzo / Toskana, danach psychiatrische Ausbildung in Kaufbeuren / Allgäu. 1995 wechselte er als Lektor für medizinische Lehrbücher ins Verlagswesen und wurde 1988 wissenschaftlicher Leiter des Schattauer Verlags in Stuttgart, 1992 dessen verlegerischer Geschäftsführer. Im gleichen Jahr gründete er zusammen mit Thure von Uexküll und medizinischen Fachkollegen die Akademie für Integrierte Medizin, deren Vorstand er seitdem angehört. Aus seiner Überzeugung heraus, dass Lernen ein Minimum an Spaß machen müsse und solides Wissen auch unterhaltsam vermittelt werden kann, konzipierte er 2009 die Taschenbuchreihe »Wissen & Leben«. Bertram hat eine Ausbildung in Gesprächs- und Verhaltenstherapie sowie in Psychodynamischer Psychotherapie und arbeitet neben seiner Verlagstätigkeit als Psychotherapeut in eigener Praxis.

Für sein Lebenswerk, seine »wissenschaftlich fundierte Verlagstätigkeit im Sinne des Stiftungsgedankens«, wurde Bertram 2018 der renommierte Wissenschaftspreis der Margrit-Egnér-Stiftung verliehen, deren Ziel es ist, zu einer humaneren Welt beizutragen, in welcher der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit im Mittelpunkt steht.

Impressum

Prof. Dr. med. Claudia Spahn

Prof. Dr. med. Bernhard Richter

Freiburger Institut für Musikermedizin

Hochschule für Musik Freiburg und

Universitätsklinikum Freiburg

Elsässerstraße 2m, 79110 Freiburg

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Schattauer

www.schattauer.de

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Marion Drachsel, Berlin

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © Margo Lion /Archiv Der Akademie

der Künste, Berlin

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-40000-7

E-Book: ISBN 978-3-608-11539-0

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20424-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

»Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.«

Victor Hugo (1802 – 1885)

Vorwort

Liebe Leserin,

lieber Leser,

mit Musik kommen wir alle in Berührung – und dies sogar schon, bevor wir das Licht der Welt erblicken, da unser Hörorgan, das Ohr, bereits im Mutterleib vollständig ausgereift ist und wir, neben anderen Geräuschen, dem Herzschlag unserer Mütter lauschen – musikalisch und emotional eine äußerst interessante Erfahrung. Welche tief gehende Bedeutung die Musik für uns alle besitzt – auch wenn dies individuell unterschiedlich sein kann –, gerät dennoch manchmal aus dem Blickfeld.

Es ist uns deshalb ein Herzensanliegen, das Thema »Was wir mit Musik machen und sie mit uns« auf die »Bühne des Lebens« zu bringen und es aus unterschiedlichen Perspektiven mit möglichst hellen »Scheinwerfern« farbig zu beleuchten. So ist ein Buch entstanden, welches wir »mit Leib und Seele« geschrieben haben und das in seiner Vielfalt die innige Beziehung zwischen Psyche, Körper und Geist beim Musizieren und beim Hören von Musik spürbar machen soll.

Als Musikermediziner, die Musik und Medizin studiert haben und die sich sowohl an Musikhochschulen, an Universitäten als auch an Universitätskliniken »bewegen«, sind unsere Tätigkeitsfelder in Lehre, Forschung und Krankenversorgung sehr vielfältig. In diesem Buch kommt die künstlerische Seite zum Zuge und zu ihrem Recht. Unser Anliegen hinter allem ist: Kultur!

Die Musik – und in gleicher Weise der musische Mensch an sich – gehört in untrennbarer Weise zu unserem Menschsein. Gerade die Musik als Trägerin von Kultur und Bildung bedarf der aktiven Pflege und Praxis. In diesem Sinne ist sie nicht luxuriöses Beiwerk, sondern Grundnahrungsmittel. Diese Tatsache lässt sich historisch gut mit der Gründung der Hochschule für Musik in Freiburg im Jahre 1946 illustrieren: Mitten im stark zerstörten Freiburg wurde direkt nach dem Zweiten Weltkrieg eine Ausbildungsstätte für Musiker geschaffen! Die Gründung erfolgte in einer Zeit, in der es nahezu an allem fehlte und in der (fast) alles materiell und immateriell »verwüstet« war – sie entstand quasi wie Phönix aus der Asche. Damit wurde der Wichtigkeit und Unverzichtbarkeit der Musik ein mutiges Zeichen gesetzt!

Heute – in Zeiten eines wieder entstandenen Wohlstandes – scheint es manchmal, als ob wir uns der Notwendigkeit von Kunst und Kultur nicht mehr ausreichend bewusst sind. Auf die Frage »Was wären wir ohne sie?« gibt es ein wunderbares Zitat des Schriftstellers Hans Pleschinski, der in seinem in Düsseldorf spielenden Roman »Königsallee« den Stadtkämmerer und enthusiastischen Amateur-Organisten Dr. van Seeken auftreten und in einer Gesprächsrunde erregt erklären lässt:

»Meine Herren, […] der Nutzen von Kunst ist nicht messbar. Ohne Kunst hätten wir ausschließlich Thyssen, Mannesmann, Henkel und die Wohnunterkünfte drum herum. Das darf nicht der ganze Rahmen unserer Erdentage sein. […] Die Künste adeln uns und nicht die Lohntüte und die Titel. […] Wer spricht von den Steinbrüchen Ägyptens? Die Pyramiden sind’s, die uns anziehen und geheimnisvoll begeistern.«

Gerade heute, im vermeintlichen Überfluss, lassen sich für die Pflege und Förderung der Musik viele Begründungen anführen: Musik schafft Raum für Muße und Kreativität – Musizieren fördert Gemeinschaft und Gesundheit – Musik ist wichtig für die kulturelle Identität der Gesellschaft – Musik fördert in positiver Weise die Persönlichkeitsentwicklung unserer Kinder und Jugendlichen – und mit Musik ist das Leben einfach schöner!

Wie kam es zu den einzelnen Kapiteln und was verbindet sie?

Zuvörderst handelt es sich um eine Auswahl von Themen, die unserem Erfahrungshintergrund entspringen und die wir häufig in Präsentationen und Vorträgen als anschauliche und anziehende Beispiele verwenden. Es ist sozusagen die persönliche Auswahl des »Was wir (die Autoren) mit Musik machen und sie mit uns« – und damit rein subjektiv!

Hierzu gehört auch die Musizierpraxis, d. h. die intensive Auseinandersetzung beim Musizieren selbst und beim Produzieren von Klängen, die für uns Autoren von Kindesbeinen an eine konkrete alltägliche Erfahrung darstellt. Diese Erfahrung umfasst das Spiel unterschiedlicher Instrumente, wie Blockflöte, Geige, Klavier, Gitarre und den Gesang sowie sehr verschiedene Aufführungsformate wie klassisch orientierte Konzerte als Solisten sowie in diversen Instrumentalensembles und im Knabenchor, Auftritte auf zahlreichen Kleinkunstbühnen im Musik-Cabaret sowie deutsch-französische Musiktheaterproduktionen im Stile der interdisziplinären Aufführungspraxis mit »La Compagnie Trompe l’Œil au Chateau du Tertre« in Bellême, Frankreich.

In den elf Kapiteln finden Sie, liebe Leserin und lieber Leser, eine Mischung aus übergeordneten Themen sowie die Beschäftigung mit einzelnen Werken.

Letztere haben eines gemeinsam: Sie befassen sich mit der Musik selbst, mit ihrer Wirkung auf den Menschen und mit den Chancen, die darin liegen. Musik ist dabei verbunden mit Liebe und Beziehung, denn Musik ist das Mittel, die Geliebte zu finden (Zauberflöte und Dschungelbuch), sie wiederzufinden (Orfeo/Orphée), oder sie zu »gewinnen« (Sängerkrieg der Heidehasen). Im umfassenden Sinne bildet hierfür der Orpheus-Mythos die Grundlage, welcher die Musikdramen der gesamten Musikgeschichte – mit Gesang und Lyra – durchzieht und auch als Motivik beispielsweise in der Zauberflöte im Zauberklang der Flöte und des Glockenspiels aufgegriffen wurde. Aber auch im Sängerkrieg der Heidehasen erhält der beste Sänger die Prinzessin als »Preis« und nicht zuletzt übt auch im Dschungelbuch das Mädchen durch seine Stimme und sein Singen die entscheidende Anziehung auf den Jungen Mogli aus.

Die Auswahl der übergeordneten Themen gruppiert sich zwanglos um die Einzelthemen herum: Singen und Musizieren mit Leib und Seele – als Überblick und Hinführung in den gesamten Themenkomplex; die Stimme – ihre göttliche Wirkung und ihre Bedeutung in den Medien; das Ohr und der Gehörsinn – als Tor zur Seele und zur Musik; die Sprache/der Spracherwerb und ihre Verbindung zur Musik sowie Rituale auf der Bühne und beim Auftritt: toi, toi, toi!

Dieser Band wäre nicht entstanden, wenn uns nicht der Herausgeber der Reihe »Wissen & Leben« und Verleger des Schattauer Verlages, Dr. Wulf Bertram, hierzu aufgefordert hätte. Für diese spannende Möglichkeit, einmal etwas – abseits der täglichen Routine der Fachartikel und Forschungsanträge – »Essayistisches« zu schreiben, gilt ihm unser ganz persönlicher Dank. In diesen Dank schließen wir ausdrücklich Dr. Petra Mülker und ihre kompetente Mitarbeiterin im Lektorat, Ruth Becker, mit ein. An der zweiten Auflage haben mitgewirkt die hervorragende Lektorin Marion Drachsel sowie die Projektmanagerin Dr. Nadja Urbani. Natürlich danken wir ganz besonders herzlich auch allen Freunden, Mitarbeitern und Kollegen, die uns bei der Erstellung des Buches durch Lesen der Texte und fachdienliche Hinweise unterstützt haben.

Nicht zuletzt soll die Lektüre – passend zum Thema »Musik mit Leib und Seele« – unterhaltsam und kurzweilig sein. Auf die Lesereise durch die einzelnen Kapitel möchten wir Ihnen als Leserinnen und Leser ein Zitat aus einem anderen Buch aus dem Jahr 1557 mit auf den Weg geben, welches auf dem Titelblatt mit folgenden Worten angepriesen wird:

»Wegkürtzer. Ein sehr schön lustig vnd auß dermassen kurtzweilig Büchlin, der Wegkürtzer genant, darinn vil schöner lustiger vnd kurtzweyliger Hystorien, in Gärten, Zechen, vnnd auff dem Feld, sehr lustig zu lesen, geschriben, vnd newlich zusamen gesetzt. Durch Martinum Montanum von Straßburg.«

Als Autoren freut es uns sehr, dass ob der großen Nachfrage nun bereits nach drei Jahren seit Erscheinen der ersten eine zweite Auflage notwendig wird.

Wir haben diese Chance ergriffen, um den bisherigen Text noch einmal zu »putzen« und an wenigen Stellen zu aktualisieren. Außerdem haben wir einem weiteren »Herzensthema«, dem Musikkabarett, Raum gegeben und ein elftes Kapitel hinzugefügt.

Wiederum wünschen wir den geneigten und geschätzten Leserinnen und Lesern Spaß bei der Lektüre!

Ihre

Claudia Spahn und Bernhard Richter

Freiburg im Breisgau,

im Winter 2018/19

1 Singen und Musizieren mit Leib und Seele

Für uns Menschen ist Musik allgegenwärtig. Dabei begegnet sie uns in ganz unterschiedlichen Formen: als hörbares Ereignis wie beim Klang einer Klarinette, die zum Tanz aufspielt, als gedachtes Ereignis wie bei einer Melodie, die uns im Kopfe herumgeht, oder auch als Konzept von Musik wie bei der Sphärenharmonie von Pythagoras (um 570 v. Chr. bis nach 510 v. Chr.), wonach Musik durch die Bewegung der die Planeten tragenden »Kugeln«, der sogenannten Sphären, im Weltall entstehen soll.

Musik ist ihrem Wesen nach zutiefst menschlich, denn sie wird durch den Menschen erzeugt und wirkt auf ihn zurück – sei es auf den Musizierenden oder auf den Zuhörenden. Musik ist demnach eine »humane« Kunst – wie der Autor und Pianist Roberto Cotroneo in seinem im Jahr 2006 in Buchform veröffentlichen Brief an seinen Sohn über die Liebe zur Musik mit dem Übertitel Frag mich, wer die Beatles sind ausführt.

Dass Musik eine ganz besondere Form des Ausdrucks darstellt, war vermutlich schon den Flötenschnitzern bewusst, die vor 35 000 Jahren mit viel Mühe und Geschick aus dem Flügelknochen eines Geiers ein funktionstüchtiges Instrument anfertigten. Nach heutigem Kenntnisstand und den Veröffentlichungen von William Tecumseh Fitch und William Hardy McNeill kann angenommen werden, dass gemeinsames Singen, Musizieren und Tanzen eine wichtige Funktion für die soziokulturelle Evolution besaß, da hierdurch die Kooperationsbereitschaft der Wir-Gruppe und deren Zusammenhalt gestärkt wurden.

Musik, Gesang und Tanz stellen in den unterschiedlichsten Kulturen weltweit zentrale Elemente des Soziallebens sowie auch der Heilkunst dar. Hildegard von Bingen (1098–1179), der deutschen Mystikerin, Äbtissin und Heilkundlerin, lagen Fragen der Gesundheit und die Pflege der Musik gleichermaßen am Herzen. Musik war für sie verbunden mit einem Zustand himmlischen Wohlbefindens – dem Gesundheitsideal schlechthin. Aus ihrer christlichen Überzeugung heraus drückt sie dies so aus: »In der Musik hat Gott den Menschen die Erinnerung an das verlorene Paradies hinterlassen.« Mittlerweile besitzen wir zahlreiche wissenschaftlich fundierte Belege dafür, dass Kultur im Allgemeinen und das Singen im Besonderen positive gesundheitliche Wirkungen für den Einzelnen besitzen. Dem interessierten Leser sei für einen Überblick über die vielfältigen Wirkungen von Musik das von Günther Bernatzky und Gunter Kreutz herausgegebene Buch Musik und Medizin empfohlen.

Schon Mitte der 1990er Jahre konnte die Arbeitsgruppe um Bygren zeigen, dass Menschen, die häufig an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, eine signifikant höhere Lebenserwartung haben als Menschen, die kulturell nicht aktiv sind. Dass Musizieren auf Körper und Geist gleichermaßen positiv wirkt, ließ sich auch beim Singen nachweisen. So konnte die Arbeitsgruppe um Gunter Kreutz bei Menschen, die aktiv singen, gesteigerte Abwehrkräfte des Immunsystems feststellen. Singen führt außerdem unmittelbar – wie Thomas Biegl fand – zu vermehrter Ausschüttung von »Glückshormonen«, den Endorphinen.

Ein anschauliches Beispiel dafür, wie stark die Musik uns erreichen kann, ist bei Kindern zu beobachten, die wie gebannt zuhören, wenn man ihnen etwas vorsingt – fast könnte man sagen: wie hypnotisiert! Eine vergleichbare Intensität im emotionalen Ausdruck zeigen auch Kinder, die voller Freude – und völlig selbstvergessen – beim Fahrradfahren aus vollem Halse singen!

Wie schrecklich es für die Gesellschaft wäre, wenn die Musik fehlen würde, möchte man sich gar nicht ausmalen müssen. Die Augsburger Puppenkiste hat im Jahr 2000 den sehens- und hörenswerten Versuch unternommen, das Thema »Musik und Kultur für Groß und Klein« in einer 13-teiligen Serie mit dem Titel Lilalu im Schepperland aufzuarbeiten. Die Filmemacher zeigen nicht nur, was der Verlust der Musik für das Land Melodanien bedeutet (das Land, in dem nicht »Milch und Honig«, jedoch unablässig schöne Töne fließen), sondern sie sorgen auch dafür, dass die von einer bösen Hexe mit dem sinnreichen Namen »Synkopia« (Herrscherin des Schepperlandes Kakofonien) entführte melodanische Prinzessin Lilalu durch ihre Freunde Pimpernell und Lukulla befreit wird und schließlich die Musik obsiegt: ein Happy End – glücklicherweise!

Singen und Musizieren kann man also wahrlich als »Grundnahrungsmittel« begreifen – so wie der Philosoph und Komponist Friedrich Nietzsche (1844–1900) es formulierte: »Ohne die Musik wäre das Leben ein Irrtum.«

Leib und Seele – Problem, Dilemma, Einheit?

Aus der Sicht eines Musikers scheint es klar zu sein, dass Musizieren nur in der Einheit von Leib und Seele möglich ist. Diese Einheit hat Man Ray (1890–1976) in seiner berühmten Fotografie Le Violon d’Ingres im Jahr 1924 ver(sinn)bildlicht, die zu Beginn dieses Kapitels zu bewundern ist. Auf dem Bild sieht man den nackten Rücken einer Dame mit Turban, auf welchem die beiden F-Löcher einer Violine platziert sind. Das Modell, deren schöner Rücken uns »anlächelt«, ist die legendäre Kiki de Montparnasse (eigtl. Alice Ernestine Prin, 1901–1953), Muse aller Musen im Paris der 1920er Jahre, den »Années folles« (vgl. Exkurs »Kleine Musenkunde« in Kap. 11). Der Bildaufbau ist ein Zitat des berühmten Bildes La Baigneuse dit de Valpinçon (Die Badende von Valpinçon; 1808) von Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780–1867), den Man Ray verehrte. Der Titel ist reichlich doppelbödig: Auf Französisch bedeutet »Violon d’Ingres« »Steckenpferd«. Er leitet sich ab vom Maler gleichen Namens, der wohl recht leidenschaftlich auf der Geige »dilettierte« (sich ergötzte) – Kiki war zu der Zeit, als das Foto entstand, die Geliebte von Man Ray – honi soit qui mal y pense.

Wechselt man aus der musikalischen Perspektive in diejenige der Philosophie, so ist die Frage, ob und, wenn ja, wie Leib und Seele zusammengehören eine »überdauernde philosophische Fragestellung«, wie es Jochen Fahrenberg formulierte. Ja, es ist nicht nur eine Fragestellung, sondern häufig ein Problem, welches manchmal sogar als Dilemma dargestellt wird, auf Deutsch also eine Zwickmühle, ein Konflikt. Für Schopenhauer war es der »Weltknoten«, er formulierte 1813 in seiner Schrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde in § 42: »Die Identität nun aber des Subjekts des Wollens mit dem erkennenden Subjekt, vermöge welcher (und zwar notwendig) das Wort ›Ich‹ beide einschließt und bezeichnet, ist der Weltknoten und daher unerklärlich.« Dieses Zitat ist für »Nicht«-Philosophen durchaus nicht auf Anhieb zu verstehen …

Um sich hier nicht im philosophischen »Dschungel« zu verlieren, wird an dieser Stelle bewusst darauf verzichtet, die Gedanken weiterer bedeutender Denker wie Sokrates, Platon, Aristoteles, Demokrit, Epikur, Lukrez, Descartes, Leibniz oder Eccles darzustellen und zu diskutieren – um nur eine unvollständige Auswahl derjenigen zu nennen, die sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt haben. Dem interessierten Leser sei für einen ersten Überblick die Zusammenstellung von Achim Stephan im Lexikon der Neurowissenschaften empfohlen; hier finden sich auch Angaben zur vertiefenden Lektüre.

Sehr stark vereinfacht kann man sagen, dass Denkschulen, die von einer Einheit von Leib und Seele ausgehen (sog. Monismus) anderen gegenüberstehen, die eine Trennung beider Elemente postulieren (sog. Dualismus). Diese Fragen werden keineswegs nur in der Philosophie abgehandelt, sondern auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen wie beispielsweise der Theologie, der Psychologie und nicht zuletzt auch in der Medizin, wie es Olaf Meyer in seiner Monografie Leib-Seele-Problem und Medizin ausführlich beschreibt. Je nach Blickwinkel und Denkschule können sogar benachbarte Fächer wie Psychologie, Psychiatrie und Psychosomatik zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen, die großen – vorentscheidenden – Einfluss auf Diagnostik und Therapie haben können.

Man kann diese »Weltverknotungen« nicht einfach lösen und auch nicht zerschlagen, wie es weiland Alexander der Große mit dem sprichwörtlichen »Gordischen Knoten« tat. Man kann allerdings versuchen, mit der Frage von Leib und Seele kreativ umzugehen.

Hierfür liefert die Musik ein gutes Modell. Sowohl in der aktiven Musikausübung – beim Singen und Musizieren – als auch in der Wahrnehmung von Musik spielen Prinzipien der Balance und harmonischen Ausgewogenheit eine wichtige Rolle. Disharmonien können – wenn sie aufgrund der Hörgewohnheiten als solche wahrgenommen werden – vegetativ zu erhöhter körperlicher Aktivierung führen. »Die Vorstellung des Chaos« zu Beginn der Schöpfung von Joseph Haydn (1732–1809) ist hierfür ein berühmtes Beispiel.

Auch für die Gesundheit ist es wichtig, dass die Harmonie von Körper und Seele gefördert wird, wie Klaus Bergdolt in seiner Monografie Leib und Seele – Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens aus dem Jahr 1999 ausführlich darlegt. Dabei sollte »ganzheitlich« und »integrativ« gedacht und gehandelt werden. Wenn wir heute von »Psyche« sprechen, meinen wir die seelischen Anteile des Menschen, welche in die Bereiche der Gefühle und der Gedanken (Kognitionen) aufgeteilt werden. Interessanterweise war dies nicht immer so. In der Antike herrschte noch die Vorstellung einer Ganzheit des Menschen vor: Der Begriff »psyché« bedeutete ursprünglich im Griechischen Atem und Leben. Der römische Dichter Juvenal prägte am Übergang vom ersten zum zweiten Jahrhundert nach Christus das bekannte Ideal »Mens sana in corpore sano« (gesun-der Geist in einem gesunden Körper). Mit dem Aufkommen der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise des Menschen in der Medizin im 18. und 19. Jahrhundert etablierte sich im westlichen Denken eine Spaltung von Körper und Seele, die bis heute nicht gänzlich überwunden ist. Während sich diese Spaltung allmählich ausformte, wurde sie bereits von Zeitgenossen deutlich kritisiert. So formulierte Nietzsche: »Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen; (…) Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivier- und Registrier-Apparate mit kaltgestellten Eingeweiden.« Die Etablierung des Fachgebiets der Psychosomatischen Medizin (vom griechischen »sõma« = Körper) im letzten Jahrhundert trägt dazu bei, diese Trennung von Leib und Seele unter einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen in seinen bio-psychosozialen Aspekten zu überwinden.

Thure von Uexküll (1908–2004) problematisierte als einer der prominentesten Vertreter und als einer der Gründerväter der Psychosomatik den Dualismus von Leib und Seele. Seine Gedanken finden sich in gut rezipierbarer Form in einem Aufsatz mit dem Titel Die Entstehung der psychosomatischen Medizin aus der Geschichte des Leib-Seele-Dualismus und darüber hinaus in den einleitenden Kapiteln seines Standardwerks Psychosomatische Medizin wieder. Hier kritisiert er das »dualistische Paradigma« der Medizin mit der Spaltung in einen »kranken Körper ohne Seele und eine leidende Seele ohne Körper«. Als Lösungsansatz entwickelte er die sogenannte »Integrierte Medizin«, welche für eine gemeinsame Wahrnehmung körperlicher und seelischer Aspekte plädiert und damit eine isolierte Sichtweise biomechanischer oder psychologischer Aspekte in der Patientenbetreuung überwinden hilft.

Neben diesen Konzepten der »Psychosomatischen Medizin« ist Musizieren ein möglicher Weg zur sinnvollen Vereinigung von Leib und Seele – frei nach Novalis, der formulierte: »Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem – ihre Auflösung eine musikalische Auflösung.« Musizieren kann die Einheit von Leib und Seele direkt erfahrbar machen: Das »Voca me cum benedictis« aus Mozarts Requiem – gedacht, gehört oder gesungen – oder Ständchen in Schuberts Vertonung des Textes »Leise flehen meine Lieder« von Ludwig Rellstab – um nur zwei subjektiv herausgegriffene Beispiele zu wählen – überdauern Zeit und Raum und ermöglichen einen Transport von Emotionen über Generationen und Grenzen hinweg – besser und zuverlässiger als es jede noch so ausgefeilte »Cloud« im digitalen Orbit der Zukunft je können wird.

Im Folgenden sollen deswegen im Geiste der Musik Beispiele und Lösungsvorschläge unterbreitet werden, wie man mit Dichotomien kreativ umgehen kann. Scheinbar unüberbrückbare Gegensätze wie Klassik – Pop, Beatles – Stones, Alt – Jung können dabei nicht gänzlich aufgelöst werden, aber sie verlieren an Bedeutung, wenn man sie »integriert« und nicht separiert betrachtet!

Universelle Wirkung von Musik

Musik wird häufig als universelle Sprache bezeichnet – hat sie aber auch eine universelle Wirkung? Aus unserer Sicht ist die Antwort eindeutig: Ja – was zu zeigen sein wird!

Musik ist heute in den Ländern, die Zugang zu elektronischen Medien haben, fast überall und fast immer verfügbar (s. Kap. 8). Die sogenannte Klassische Musik ist europäischen Ursprungs und weltweit ein Exportschlager – so ähnlich wie italienische Pasta! Die Verantwortlichen für die Außendarstellung der Donaumetropole Wien haben dies verstanden und es ist ihnen gelungen, ihre Stadt zu der Botschafterin der »Schönen Künste«, insbesondere der klassischen Musik von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und den Mitgliedern der Strauss-Dynastie, zu machen. Dass diese Musik tatsächlich als Exportschlager taugt, kann man beim alljährlichen Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker sehen. So wird das Konzert jährlich vom ORF in 90 Länder weltweit übertragen und von mehr als 50 Millionen TV-Zuschauern verfolgt – eine Spitzenquote!

Auch die erste, am 25. Juni 1967 weltweit live per Satellit ausgestrahlte TV-Sendung »Our World« war wesentlich von kulturellen Beiträgen getragen. Nach Schätzungen der European Broadcasting Union (EBU) konnten in 31 Ländern zwischen 300 und 700 Millionen Menschen diese Sendung sehen.

The Beatles waren als Vertreter der damals endgültig auf dem Siegeszug in Richtung Mainstream befindlichen Pop-Musik in der Sendung zu erleben, die fast zweieinhalb Stunden dauerte. Gezeigt wurde eine Aufnahmesession aus den Abbey Road Studios in London. Die Beatles sangen »All you need is love« mit Unterstützung von Mick Jagger und Keith Richard von den Rolling Stones und zudem noch Eric Clapton (Cream), Marianne Faithfull, Keith Moon (The Who) und Graham Nash (The Hollies) – wow, welcher Cast! Dies ist hinsichtlich der »Qualität« der beteiligten »Celebrities« vergleichbar mit der Uraufführung der 7. Sinfonie von Ludwig van Beethoven (1770–1827) am 8. Dezember 1813 in Wien, bei der unter Leitung des Meisters im Orchester u. a. so herausragende Musiker und Komponisten wie Giacomo Meyerbeer (1791–1864), Louis Spohr (1784–1859), Johann Nepomuk Hummel (1778–1837), Bernhard Heinrich Romberg (1767–1841) und Antonio Salieri (1750–1825) mitwirkten.

»All you need is love« ist musikalisch eine der vielschichtigsten Kompositionen der Beatles, was sicherlich nicht unwesentlich ein Verdienst des genialen Produzenten George Martin war, der wegen seines großen Einflusses, den er auf die Fab-Four ausübte, auch als »fünfter« Beatle bezeichnet wird. Die Rhythmik ist mit den häufigen Taktwechseln von einem 4/4-Takt zu einem 3/4-Takt nicht trivial – ebenso wenig wie die prägnante Bass-Linie von Paul McCartney und die durch Overdubbing verfremdete Lead-Stimme von John Lennon sowie der Einsatz von klassischen Streichinstrumenten. Zahlreiche Musikzitate unterstreichen die universelle und über die Rock-/Pop-Musik hinausreichende Intention des Stückes. Es erklingen Ausschnitte aus der »Marseillaise«, einer zweistimmigen Invention von Bach (BWV 779), dem englischen Volkslied »Greensleeves«, »In the Mood« von Glen Miller sowie Selbstzitate der Band aus den Titeln »She loves you« und »Yesterday«. Diese Titel sind teils ineinander verwoben und überlappend zu hören und durch Verwendung untypischer Instrumente wie der Trompeten in der Bach’schen Invention sowie eines Streichorchesters im Volkslied verfremdet – grandios.

Fast beiläufig beantworten mit dieser Session die Künstler selbst durch ihr »kollegiales« Miteinander die viel gestellte – und nicht selten als Dilemma bezeichnete – Frage, ob man die Platten der Beatles oder die der Stones auf die sprichwörtliche »einsame Insel« mitnehmen würde: ALLE von beiden Bands!

Die Beatles waren im Jahr 1967 auf dem absoluten Höhepunkt ihrer Popularität angelangt. Ihre Entwicklung begann als Liverpooler »Underdog«-Band mit Halbstarken-Image, deren Musik von den Erwachsenen als »Negermusik, die aus dem Urwald kam« angesehen wurde – wie Klaus Voormann, Wegbegleiter der Beatles seit gemeinsamen Hamburger Tagen, seine Mutter zitiert. Sie entwickelten sich zu der von den Massen der Teenager in Zeiten der Beatlemania abgöttisch geliebten Band, welcher jedoch von konservativen Kreisen immer noch eine so »zersetzende« Wirkung auf die Jugend zugeschrieben wurde, dass man ihre Platten in den USA verbrannte (sic!) (s. u.), nachdem John Lennon 1966 in einem Interview mit Maureen Cleave für den »London Evening Standard« einen – von der Presse missinterpretierten – Vergleich mit Jesus machte (»We’re more popular than Jesus now«). Schließlich erreichten die Beatles in der Vor-Woodstock-Ära und weit darüber hinaus den Status von Pop-Ikonen.

Diese Jugendbewegung wurde weltweit wesentlich von der Musik getragen und geprägt, die Beatles waren nur ein Teil davon – wenn auch kein geringer. Bob Dylan, Jimi Hendrix, Janis Joplin und viele andere mehr drückten das Lebensgefühl einer ganzen Generation aus – ein im wahrsten Sinn des Wortes »nachhaltiger« Effekt, der bis heute andauert.

Ein weiteres, sehr interessantes Beispiel für die universelle Wirkung und Gültigkeit von Musik ist ein Video, welches unter dem Titel »Une tribu en Amazonie regarde pour la première fois des images sur notre civilisation« bei YouTube zu finden ist. Es zeigt Filmaufnahmen eines Stamms von Ureinwohnern des Amazonasgebietes, der noch wenig Kontakt zur westlichen Kultur hatte und von Ethnologen besucht wird. Die Wissenschaftler führen einer Gruppe von Männern aller Altersstufen verschiedene »kulturelle« Errungenschaften der westlichen Kultur in einem Film auf dem Computer vor – die »besten« und die »schlimmsten«, wie es im Off-Kommentar zum Film heißt – und bitten sie um Reaktionen: Unter anderem ist hier Maria Callas zu erleben. Sie singt Ausschnitte der Arie »Casta diva« aus der Oper Norma von Vincenzo Bellini (1801–1835) in einer Aufzeichnung der Galaaufführung vom 19.12.1958 an der Opéra de Paris. Alle, auch die Jüngeren, lauschen gebannt. Ein Sprecher der Gruppe sagt, dass sie sehr viel Respekt vor Sängern hätten, die sich trauen würden, öffentlich vor anderen zu singen. Ein Vertreter der Jüngeren sagt, dass dies nicht ihre Kultur sei, sie würden die Beispiele nicht kennen, aber es würde sie dennoch berühren. Ein Älterer sagt, er findet das überwältigend, er ist erschüttert – ohne es zu verstehen: Voilà, dem ist wenig hinzuzufügen.

Ein anderer Beleg für die universelle Wirkung von Musik ist die anhaltende und ungebrochene Begeisterung »fernöstlicher« Menschen für die westliche Musikkultur. Obwohl die Hörerfahrungen sowohl der westlichen Popmusik als auch der westlich orientierten klassischen Musik recht weit von der traditionellen Musik in den asiatischen Ländern entfernt sind, sehen viele Menschen im Erlernen gerade dieser westlichen Musikstile ihren Lebensinhalt. Aus der Popmusik sei nur ein Beispiel herausgegriffen: der nachhaltige Erfolg der deutschen Rockband Scorpions, die besonders in Japan grandiose Erfolge feierte – Stichwort Tokyo Tapes. Eine ähnliche Begeisterung für weltweit tourende Rock-/Popbands kann man auch auf anderen Kontinenten beobachten, dies ist vermutlich ein Spezifikum der weltweit – als Folge einer einheitlichen Mediennutzung (s. Kap. 8) – recht uniformen Jugendkultur. Jedoch erstaunt immer wieder die anhaltende Begeisterung der Menschen aus Japan, Korea, China und Taiwan für klassische Musik. Im Folgenden seien drei Beispiele herausgegriffen, welche dieses Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.

Zunächst: Trip to Asia. Dies ist ein Film von Thomas Grube, der eine Konzertreise der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Simon Rattle durch die asiatischen Länder China, Hongkong, Taiwan, Südkorea und Japan im Jahr 2008 dokumentiert. Thomas Grube hatte mit den Berliner Philharmonikern bereits andere Filmprojekte, wie Rhythm is it, erfolgreich gedreht, sodass in Trip to Asia ein besonders nahes, fast könnte man sagen intimes Portrait des Orchesters und seiner einzelnen Musiker gelingen konnte. Dieser Aspekt wurde von der Kritik, wie beispielsweise von Kai Luehrs-Kaiser, besonders lobend hervorgehoben. In der Tat erlaubt der Film hier erstaunlich ungeschminkte Einblicke in das Seelenleben einzelner Orchestermusiker – fast ist man manchmal irritiert ob solcher Offenheit vor der Kamera. Aber ebenso berührend wie die Portraits der Musiker ist die Darstellung des Publikums und seiner Reaktionen: reine Begeisterung für die klassische Musik! Während in Deutschland in klassischen Konzerten allenthalben eine »Vergreisung« des Publikums und ein Schwund der Besucherzahlen beklagt werden, stammten die Zuhörer bei den Konzerten der Berliner Philharmoniker in den genannten Ländern aus allen Altersschichten; vor allem junge Menschen strömten in Massen zu den Konzerten. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist die Szene in Taipeh, bei der Zigtausende, die wohl keine Karten für das Konzert bekommen hatten, das Geschehen im Public Viewing verfolgten. Nach dem Konzert feierten sie Sir Simon und seine Musiker wie Popstars – eine erstaunliche Erfahrung für klassische Musiker, was auch in den anschließend geführten Interviews zu hören und zu spüren ist!

Dann: »Bach«. Die Rezeption der Werke von Johann Sebastian Bach (1685–1750) hat in Japan erst nach der Öffnung des Landes im Jahr 1887 begonnen, wie Seiko Itô und Shinji Koiwa beschreiben. Besonders in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde die Auseinandersetzung mit Bach und die Aufführung seiner Werke intensiviert. Wie lebendig die Bach-Pflege heute ist, zeigt das Bach Collegium Japan (BCJ), welches von Masaaki Suzuki im Jahr 1990 im Geiste der historisch informierten Aufführungspraxis gegründet und seitdem zu Weltruhm geführt wurde. Im Rahmen dieses erstaunlichen Projektes ist es gelungen – neben zahlreichen Konzerten und anderen Aufnahmen –, in einem Zeitraum von fast 20 Jahren das komplette Kantatenwerk von Bach einzuspielen! Dieses Vorhaben ist nicht singulär, u. a. wurde es auch schon von Karl Richter mit dem Münchener Bach-Orchester und dem Münchener Bach-Chor, von Helmuth Rilling mit seiner Gächinger Kantorei, von John Eliot Gardiner mit seinem Monteverdi Choir sowie von Ton Koopman mit dem Amsterdam Baroque Orchestra realisiert. Beim BCJ geschah dies jedoch in einer gänzlich fremden Sprache aus einem sehr unterschiedlichen Kulturkreis kommend – und trotzdem in so hoher musikalischer Qualität – Chapeau!

Last but not least: »Musikstudierende«. Aus den genannten Beispielen lässt sich vielleicht auch ein weiteres bemerkenswertes Phänomen besser verstehen: die hohe Zahl von Interessierten aus den genannten Ländern – und ihren Anrainerstaaten – für einen Studienplatz an einer deutschen Musikhochschule. Ein vergleichbares Interesse in umgekehrte Richtung, d. h. von Deutschen, die in asiatischen Ländern Musik studieren wollen, ist nicht festzustellen. Es gibt also hier eine Art »Sogwirkung«, die von klassischer westlicher Musik auf »Leib und Seele« auszugehen scheint. Aus diesem großen Interesse – und einem damit einhergehenden hohen künstlerischen Niveau – resultiert auch ein sehr hoher Anteil asiatischer Studierender an den deutschen Musikhochschulen. Ein Faktum, das manchmal durchaus Fragen hinsichtlich der sprachlichen und – neben der Musik – kulturellen Integration dieser Studierenden in den Alltag einer Musikhochschule aufwerfen kann. Jedoch lässt sich diese Situation auch als Chance begreifen, denn kultureller Austausch nützt allen und ist eine Investition in die Zukunft. Wie herrlich sich diese Investition künstlerisch auszahlen kann, sei an dem Beispiel der koreanischen Sängerin Sunhae Im verdeutlicht, die auf zahlreichen CD-Produktionen in makellosem Deutsch, Italienisch, Französisch und Englisch zu bewundern ist; unter anderem verkörpert sie die Papagena in der Referenzaufnahme der Zauberflöte (s. Kap. 5) aus dem Jahr 2010 mit René Jacobs – zauberhaft!

Vielleicht ist an dieser Stelle einmal der – banal anmutende – Spruch angebracht: »Qualität setzt sich durch«. Bach, Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert – nicht zu unterschätzen die Callas sowie die Beatles – welch’ illustre Reihe. Hinsichtlich der hervorragenden musikalischen Qualität passen sie zusammen. Auch die Beatles stellen längst keinen Fremdkörper mehr dar – spätestens seitdem Leonard Bernstein (1918–1990), der großartige Musiker, Komponist und Musikvermittler, die Musik der Beatles als »the Schubert-like flow of musical invention« beschrieb und sie damit in einer Art »Ritterschlag« mit Schubert auf eine Stufe stellte. Diese Musik, stellvertretend für viele andere Beispiele, hält uns aufrecht, ganz im Sinne von Bernstein, der im Jahr 1979 sein Lob über die Beatles mit dem Satz schloss: »(…) three bars of ›A Day in the Life‹ still sustain me, rejuvenate me, inflame my senses and sensibilities.«

Musik, Sprache und Gedanken

Wie sehr im Singen von Liedern Musik und gedankliche Einstellung verknüpft sind, kann man an der Rolle der musikalisch ausgeformten Gedanken der Befreiungsbewegungen ablesen, die in Europa zum Ende der Feudalherrschaft geführt haben. Die gemeinschaftsstiftende Bedeutung der französischen Nationalhymne, »La Marseillaise«, ist in diesem Zusammenhang legendär (s. Kap. 4). Die Melodie der Marseillaise kommt als Symbol der Befreiung auch am Anfang von »All you need is love« der Beatles vor (s. o.), wobei es etwas paradox erscheint, dass in diesem friedensbewegten Song ausgerechnet ein so »blutrünstiges« Lied wie die Marseillaise zitiert wird. Im Text der Hymne ist »die blutige Fahne« gehisst (»L’étendard sanglant est levé«), die »grausamen« Soldaten (Feinde) »brüllen« (»Mugir ces féroces soldats«) und »erwürgen« nicht nur die »Söhne« und die »Gefährtinnen« (»Égorger vos fils, vos compagnes«), sondern es wird auch die Absicht erklärt, dass so lange marschiert (gekämpft) werden soll, »bis unreines Blut unserer Äcker Furchen tränkt!« (»Marchons, Marchons, qu’un sang impur abreuve nos sillons !«). Eigentlich starker Tobak – oder?

Casablanca